Freitag, 17. März 2023

Wie es am Tat-Termin klingt: W o r t z u m S o n n t a g

 Münster allzeit-bereit/Westfalen: Sanct Lambertini


 

 

 

Exempla zum Termin: 

Das Wort  zum Sonntag :

 

 

 

Alltägliche Lehren aus dem TV-"Wort zum Sonntag" (und aus Parodien auf es)


Anlaß für meine kleine Sammlung von Satiren auf die TV-Selbstverständlichkeit des kirchlich organisierten "Wort zum Sonntag" war die öffentliche Debatte in den Medien, ob ein Pastor Fliege, Moderator und Show-Star einer nachmittäglichen Talk-Show, denn ein neu gestyltes "Wort zum Sonntag" sprechen dürfe. Es war aufgefallen: Seit 40 Jahre beanspruchte diese Standard-Sendung öffentlich-rechtlicher Unterhaltung, pardon: "Belehrung", am Samstagabend seine Alibi-Funktion: Wir haben noch eine religiös geprägte Wochenkultur, mit einer Vorfeier zum Sonntag. Wir bereiten uns vor auf den Tag des Herrn vor. Wir leben nach christlichen Auffassungen und wollen sie auch im Medienbrei von Talk-Vera (sat 1) bis Show-Verona (bei rtl) verkündet sehen.

Neue, interaktive Möglichkeiten, wie bei Rundfunkübertragungen von Sonn- oder Feiertagsmessen (im DLF oder in der jeweiligen Landesrundfunkanstalt z.B.), die einen Telefondienst eingerichtet haben für Rückfragen, für religiöse Aussprache und psychosoziale Herzensangelegenheiten.

Die Fragen bleiben meist ungestellt: Wer kennt das "Wort zum Sonntag"? Wo kann ich mir dessen Texte besorgen? Wird es überhaupt gedruckt? Was sagen die Kurzinszenierungen mir und anderen? Lohnt es sich, mich privat oder im Unterricht mit ihnen auseinandersetzen?

Die 40 Jahre lang bescheiden geübte Praxis hat eine schwer zu beschreibende, unmöglich zu kontollierende Wirkung, und vielleicht ist sie fast gänzlich wirkungslos, da es bisher keine Affären, keinen Skandal gab, die den Nutzen der Übung öffentlich signalisiert oder zur Diskussion gebracht hätten. Und siehe: Die Textsorte "Wort zum Sonntag" taucht in keinem Theologie-Lexikon auf; die kirchlichen Bemühungen um Auswahl der Vortragenden und die gesprochene Lehre bleiben öffentlich unbekannt, ebenso interne Reaktionen. Zugespitzt gefragt: Wie viele Menschen sind durch es bewegt, angeregt, überrascht, gar bekehrt worden, wie viele haben sich abends, nach dem letzten geistlich inspirierten "Gute Nacht!" der theologisch fachkundig Vortragenden (männlich und weiblich) anrühren, gar bekehren lassen; wieviele ließ das geistliche Wort gleichgültig, bestärkte vielleicht die kirchlich Abstinenten, die häufig zitierten, aber nicht umworbenen Randständigen? Alles offene Fragen... Aber von Isa Vermehren, einer Samstagabend-TV-Gallionsfigur, weiß man: sie ist die katholisch lizensierte, junggebliebene Gute-Laune-Nonne, die einsatzbereit ist an der medialen Front - ohne Erregung öffentlichen Ärgernisses...

Doch in diesem verwunderlichen Sommer 98 hat es eine öffentliche Diskussion der wöchentlichen Fünf-Minuten-Religionssparte "Wort zu Sonntag" gegeben.

In einem Interview beklagt die Johanna Haberer, die Rundfunkbeauftragte der evangelische Kirche, den Grundton der üblichen TV-Verkündigung: "Wie haben einen moralinsauren Gestus gegenüber dem Fernsehen, den wir uns abgewöhnen müssen. Bis zum Ende der Achtziger hat man in der Kirche einen heiligen Schwur auf die Öffentlich-Rechtlichen geleistet oder war überhaupt ganz gegen das Fernsehen. Und plötzlich hat man gemerkt: Oje, es gibt ja schon 32 Programme und wir kommen gerade mal in den öffentlich-rechtlichen vor." (...) "Dort kommen [nur] lauter Schöne und Reiche und Begabte vor." Deshalb umreißt Frau Haberer zukünftige Aufgaben: "Wir sind Experten für Tod, Elend und allgemeines Leid. Zu dieser Rolle müssen wir stehen. Ich kann nicht sagen: Kirche ist nur Fun. Und das Leben mit den Mühseligen und Beladenen ist ja ausgesprochen spannend. Ganze Krimiserien leben davon. Es kann doch nicht angehen, dass der Bildschirm wochenlang behinderten- und arbeitslosenfrei ist. Da entfernt sich das Fernsehen von den Menschen und wird zur Volldröhne. Dieses Fernsehen ist dann kein Lebensmittel mehr, das der Mensch braucht." (Angelika Onland: Ein Christ als Serienheld? In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt. 40/1998. S. 33)

Zurück in die Alltags- und Unterhaltungswelt der Medienöffentlichkeit und ihren möglichen psychologsichen und religiösen Intentionen: Was lehren uns die Medien, wenn sie zu Menschennutz und -unterhaltung, gar zur Seelenhatz aufbrechen, wenn sie einplanen, was unplanbar ist: die Begegnung mit Gott, die Verantwortung vor Gott, die Chance, seine und die eigene Identität zu befragen?

Von einer geeplanten aufwendigeren, attraktiveren Aufmachung der Minisendung ist die Rede; die Zahl der Sprecherinnen und Sprecher soll reduziert werden auf sechs - nach optischen und theologischen Kriterien ausgewählt. Bunte Trailer und eine Seelsorge-Hotline sollen hinzukommen.

https://www.daserste.de/information/wissen-kultur/wort-zum-sonntag/index.html

 

Für die Analyse gilt, und das ist nun die Intention ex negativo aus der vorgestellen Satire-Definition: Der intelligente, undogmatische und gerechte und helle und gute Gott! Er ist eine Fiktion aller Religionsbedürftigen! Jedenfalls nach den Vorstellungen und Leistungen seines medienbeauftragten Bodenpersonals. Man müßte es besser machen können und dürfen. Auch indem man die Parodien öffentlich zur Kenntnis nimmt, sie diskutabel macht, auch wenn im ersten Augenblick die besonders bei katholischen Würdeträgern (den sogenannten verantwortlichen Seelsorgern) die kulturspezifische Schmerzgrenze durch Kritik und Satire überschritten sein mag; sie fühlen sich so leicht beleidigt, obschon sie nur höchst irrende Vertreter eines geistig revolutionären Prinzips sind. Sind sie auf ihre Rollen im Hier und Jetzt vorbereitet - oder sind sie statusmäßig fixiert auf klerikal-vergeistigte Weltfremdheit?

Doch Satire ist per definitionem intelligentiae (seit den Tagen des klassisch-römischen Horaz, fortentwickelt in den Tagen der Urstände der deutschen Aufklärung): Satire ist eine ästhetisch sozialisierte Aggression, deren Intention ex negativo vom Leser bzw. Zuhörer zu erfassen ist.

Seien wir also mutig, es ist die aufgeklärte Öffentlichkeit, die kulturelle Wirklichkeit, die einem ständisch-klerikalen Zopf (samt zugehörigem Kopf) hinterruft: Merkt ihr nicht, daß ihr den Zopf tragt? Und: Unterm Kinn getragen, ist er nur ein um 180° gewendeter Eitelkeitspinsel, kein besenartiger Wisch, mit dem man den sichtbaren Staub des Unverständnisses und eines Hörigkeits- und Selbstseligkeitskultes aus den Kammern des Geistes fortfegen kann.

Z.B. ist die Verkündigungsprache der offiziellen, katholischen Kirche häufig autistisch-zölibatär, männlichkeitsorientiert, gar sklerotisch 1] und wirklichkeitsfremd, sie schließt kritisch fähige und historisch kundige Menschen aus und erklärt sie häufig leichtfertig oder feindlich mißgestimmt zu Querulanten und Übelwollenden. Die kirchlichen Realitäten unserer Tage bedürfen der Kritik und Diskussion, auch der (angeblich oder vermutlich) schmerzenden, überzeichnenden Satire. Ihre Denk- und Kritikmöglichkeiten karikieren den respektlosen Umgang mit den innerhalb der Kirchen selbstverständlichen Usancen, dem spezifisch-seelenvollen, religiösen Wortmaterial, dem weihevoll-sakralen Stil einer Predigt und ihrer religiös und pädagogisch aufdringlichen, zitatmäßig abgesicherten Pointierung in den Schlußsätzen.

1] Vgl. die wiederholte, gut fundierte Kritik, die Prof. Hans-Josef Kuschel wiederholt öffentlich niedergelegt hat, der im Grenzbereich von Literatur und Theologie Bemerkenswertes leistet. Vgl. seine grundlegenden Werke: Der Andere Jesus. München 1987. Serie Piper 625. Und: Jesus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. München 1978. Serie Piper 627.

 

Text 1



Hannsdieter Hüsch: Das Wort zum Sonntag

Es spricht Propst Aloysisus Knobelzieher. [Hüsch mit vollem, verbalen Gestus in der Rolle eines ungeniert Weihrauch atmenden und Geist aussprechenden Propstes:] Ich muß auf ein Zeichen des Regisseurs warten, damit wir synchron auf den Bildschirm gehen.

Wenn ich mir jetzt, meine lieben Zuschauer, eine Brille aufsetze und Sie mir freundlichst erlauben, in Ihre Stube hinein zu Ihnen zu sprechen, ja gleichsam in Ihren eigenen Bereich hineinzuschauen, so hat das ja mit der Brille gerade heute eine ganz besondere Bewandtnis.

Vor einigen Tagen sah ich, wie ein netter, junger Mann, nach Anbruch der Dunkelheit, sich eine alles noch mehr verdunkelnde Sonnenbrille aufsetzte, ein andermal hörte ich, wie jemand zu seinem Nachbarn sagte, eine rosarote Brille und alles sieht gleich ganz anders aus.

Nun - da habe ich mich gefragt: Was sieht denn gleich ganz anders aus? Und wie oft hören wir doch heute, ich habe nicht mehr den richtigen Überblick, wir sehen da nicht mehr klar, ich schaue da nicht mehr hindurch.

Sollten da vielleicht zu viele Sonenbrillen und zu viele rosarote Brillen mit ihm Spiel gewesen sein? Wer immer nur Buttercremetorte ißt, weiß eines Tages gar nicht mehr, wie Buttercremetorte schmeckt. Und wer sich eine Sonnenbrille aufsetzt oder eine rosarote Brille, der muß nicht meinen, daß Gott unseren wahren Alltag nicht sieht. Er ist unser Optiker. Er braucht keinen Kneifer und keinen Aussichtsturm. Er ist weitsichtig und kurzsichtig zugleich. Er sieht uns und durch uns hindurch, durch und durch, für und für. Lassen Sie mich schließen mit einem Wort, das uns die Augen öffnen helfen will. Mit einem Wort des böhmischen Wanderpredigers Heinrich Ignaz Mützenbecher, der da sagt: "Möge der du sein werdest [in den Beifall hin wiederholend:] möge der du sein werdest, dann siehst du, was du sein dürftest. Guten Abend.


[Porträtfoto] Hanns Dieter Hüsch (geb. 1925)

Erläuterungen zum Text Nr. :

Hüsch ist einer der bekanntesten deutschen Kabarettisten; seine kritisch-politische Phase liegt allerdings hinter ihm. Heute charakterisiert er seine öffentlichen Vorträge eher mit dem inflationären Spruch "versöhnen statt spalten". Aus seinen neueren Programmen ist der Text "Religiöse Nachricht" typisch; in: H.D.H.: Das Schwere leicht gesagt. Freiburg 1994: Herder-Spektrum Bd. 4274. S. 28f. - Der abgedruckte Text stammt aus dem Hüsch-Programm: Nachtvorstellung im deutschen Schauspielhaus. LP. Intercord 1975.




Text 2:



Otto Walkes (Setzen Sie sich ein eigenes Otto-Konterfei hinzu): Liebe Brüder und Schwestern!


Liebe Brüder und Schwestern!

Es herrscht zu viel Aberglauben auf dieser Welt, allzuviel auch heute noch! Da gibt es Menschen, die stecken ihre Füße in kleine Wollsäcke, weil sie glauben, somit die Götter des Frostes milde stimmen zu können. Andere wiederum kleben kleine, bunte Läppchen auf ihre Briefumschläge, um so das Heer der Götterboten zu einem schnelleren Brieftransport zu bewegen. Ja, der Aberglaube führt einige unserer Mitmenschen sogar so weit, daß sie sich Kerben und Zickzackmuster in ihre Autoreifen schnitzen lassen, um somit die Götter des Aquaplaning zu überlisten. Andere wiederum stülpen sich kleine Gummitütchen über ihren Schniedelwutz, um somit die Götter des Familienplaning gnädig zu stimmen. Das alles ist dunkelster, dunkelster Aberglaube!

Ich selbst habe immer eine geweihte Christophorus-Plakette an meiner Orgel, und ich bin seitdem noch nie mit einer anderen Orgel zusammengestoßen. Ich könnte euch noch tausend Gründe nennen, wenn ich nur welche wüßte. Sollte uns das nicht zu denken geben? Ich glaube, nein!

[Porträtfoto des Autors] Otto Waalkes (geb. )

Erläuterungen zum Text: Der Slapstick-Künstler erzielt viele Effekte aus Klamauk und Zerstörung einer gut gemeinten oder auch kritischen Intention. Er ist in seiner langen Karriere immer wieder Signal für Unterhaltung als Konsum, just for fun, gewesen. Eindeutige Intentionen und Stellungnahmen im gesellschaftlichen Kontext mag er wohl, um niemanden zu verprellen, scheuen. So endet denn auch seine gedanklich gewollt chaotische Parodie in einer Nonsense-Pointe.


Text 3:

Oliver Kalkofe:

Das Wort zum Wort zum Sonntag


Liebe Leser. Als ich heute morgen aufstand und in mein Badezimmer fuhr, da fragte ich mich: "Wo um alles in der Welt bin ich nur - und wer waren diese drei schlafenden Blondinen?" Da plötzlich sah ich vor mir ein kleines unschuldiges Häschen über die Straßen hoppeln und mußte lächeln, denn als ich es überfuhr, dachte ich bei mir: "Hasen sind irgendwie auch Menschen - wenn man über sie drüberfährt, gehen sie tot."

Sie haben es natürlich erkannt: dies kleine Gleichnis war mein bescheidener Versuch einer Hommage an Das Wort zum Sonntag! Fernseheh, wie man es sich wünscht: Unterhaltung mit Verstand, Belehrung mit Esprit, Verstaubtheit mit Schmackes. Als Kind ließ ich mich noch ein wenig vom Titel in die Irre führen und wartete jedesmal gespannt darauf, was denn wohl diesmal das Wort zum Wochenabschluß sein würde: Barmherzigkeit? Brustwarze? Religionsverdrossenheit? oder gar Reiserücktrittsversicherung? Nein, schnell sah ich ein: Das Wort zum Sonntag ist mehr als nur ein Wort. Geschichten, die zwar kaum zum Zuhören, dafür aber zum Nachdenken anregen, vorgetragen von charismatischen Kirchen-Kleindarstellern, ästhetisch in die Filmsprahce transponiert mit oftmals bis zu einer Kameraeinstellung, aber vor allem: kein Fernsehballett!

Und seien wir mal ehrlich: wie oft hätten wir uns wohl in den letzten 40 Jahren beim Spätfilm der ARD in die Hosen gemacht, hätte uns die klerikale Stand-Up-Comedy nicht vorher die Gelegenheit zum entspannten Strullen oder gar zu schnellen Stuhlpflege gegeben.

Doch frag ich mich: wo bleibt die Wort zum Sonntag-Late Night Show? Inquisition, Kreuzzüge, Hexenverbrennung - das zeigt, daß die Kirche ja schon Ahnung hat vom Entertainment. Warum läßt sie sich gerade im Fernsehen so einfach abspeisen? Okay, sie haben uns Fliege in den Nachmittag geschmugelt, das war unfair aber pfiffig, jedoch weit unter ihren Möglichkeiten. Wenn es schon Hamster-TV gibt, warum nicht auch Zölibat oder Liebe?, die versteckte Kamera im Beichtstuhl, Ministranten-Stadl oder Abendmahlissimo? Denn eins sollte man bei all der schönen Langeweile und behaglichen Betulichkeit nie vergessen: der liebe Gott sieht alles - wir aber können abschalten!

(Aus: O.K: Kalkofes letzte Worte. Frankfurt/M. 1997.S. 46f.)

[Porträt-Foto des Autors ] Oliver Kalkofe (geb. 1965)


Erläuterungen zum Text:

Oliver Kalkofe schriebt (neben den Auftritten in seinen "Mattscheibe"-Inszenierungen für den Sender premiere) wöchentlich Kolumnen in dem tv-magazin. Er verbindet intellektuell anspruchsvolle, konsumkritische Intentionen mit sprachlichem Klamauk und überbordendem Witz. Er versucht, Anspruchslosigkeit, Dummheit und Ignoranz auf den Fernsehschirmen der Nation mit aggressiver, überzeichnender Kritik zu treffen.



Text 4:

[S. beiliegendes Blatt S. ]

[Porträtfoto des Autors] Werner Thissen(*1938 )


Erläuterungen zum Text:


Text des Wortes zum Sonntag am 12.9.1998. Bei den TV-Wortmeldungen zum Sonntag des Münsteraner Domkapitulars Werner Thissen kommen keine beschädigten Alltagsmenschen vor, kein Behinderter, kein Arbeitsloser, kein Stadtstreicher, pardon: Berber, kein verhaschtes, verwahrlostes, wärme- und liebebedürftiges Wohlstands- oder Armutskind. Er predigt gerne von den Feinsinnigkeiten der bildenden Kunst. Ein Beispiel übergebe ich hiermit Ihrem Verstehen-Wollen.

Hinweis: Das besprochene Bild - Salvador Dalis "Brennende Giraffe" aus dem Jahre 1936/37 - ist abgebildet in: Gott und die Welt. 9/10. Erarbeitet von Theodor Eggers. Düsseldorf 1993: Patmos Verlag. S. 15)


Text 5:

Karl-Heinrich Brinkmann, Detmold

Text des Wortes zum Sonntag vom 18.07.98


Erläuterungen zum Text:


Das konventionelle Schema der TV-Predigt geht von einer erlebten oder imaginierten Äußerlichkeit aus, um schreckhaft-bedrohliche Sentenzen von schwerwiegendem Ernst als insistierend notwendige Nachfolge oder Neuübernahme von Geboten für Gottes Wege bei den Menschen rüberzubringen. Die Symbolik des Leuchtturm mit seiner Signalgebung für die Sinnfindung des Lebens wirkt pathetisch, konservativ und überzeichnet für eine mögliche Fünf-Minuten-Wirkung: "groß und stark und hell". Für einen gewöhnlichen Samstagsabend-Einblick in die Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen wirkt ein absoluter, moralversessener Hinweis auf das fünfte und sechste Gebot katechetisch überstrapaziert. Gehören Mord und Ehebruch zum sommerlichen Inventar des Bewußsteins eines interessentieren, vielleicht sogar kindlich-jugendlichen TV-Zuschauers (siehe deren Erwähnung in der Einleitung)?



Text 6:

Gabriele Herbst, Magdeburg

Ohne Titel: Wort zum Sonntag (am 3.10.98 in der ARD gesendet)


Was für ein Gefühl, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, heute, am Tag der Einheit, hier im ehemaligen Niemandsland zwischen Hötensleben und Schöningen zu stehen und ungestört ein Brot zu essen.

Kein Grenzhund faßt zu, kein Scharfschütze hat mich im Visier, keiner schreit: "Stehen bleiben, oder ich schieße!"

Ich kann hier stehen und schauen und essen. Und weil das so ist, schmeckt mein Brot nach Freiheit. Ich denke, das kennen Sie: Brot kann nach Vielerlei schmecken: nach Kindheit oder fernem Land. Es schmeckt besonders gut nach einer überstandenen Operation. Und es schmeckt süß, wenn man liebt. Manchmal hat man das Gefühl, dass eine Schnitte noch niemals so gut geschmeckt hat wie genau in diesem Moment. Und so geht es mir jetzt, hier an der ehemaligen Grenze. Ich mußte hierher fahren, weil ich zu Hause in Magdeburg häufig vergesse, wie sehr ich mir und den Menschen in Ostdeutschland vor nur neun Jahren gewünscht habe, endlich frei zu sein. Ich mußte heute hierher fahren, damit das Geschenk der Freiheit wieder einmal aufleuchtet, nicht so schrecklich alltäglich wird, mich dankbar macht und stark.

Morgen feiern wir Christen Erntedankfest. Wir danken dafür, dass die Bitte aus dem Vaterunser 'Unser tägiches Brot gib uns heute!' nicht ins Leere ging, daß genug da war für Inländer und Ausländer, um wirklich satt zu werden. Und ich persönlich möchte mich heute und morgen gerne an das Geschenk der Freiheit erinnern, nach dem so viele Menschen gehungert haben, wofür sie in die Gefängnisse gingen und die Ostsee durchschwammen.

Ich möcht Tschechen, Ungarn, den mutigen ostdeutschen Demonstranten und Menschen aus der alten Bundesrepublik danken, dass sie diese Grenze zur Ruine werden ließen. "Danken, sagen Sie? Da mach' ich nicht mit! Mir hat die Freiheit Arbeitslosigkeit gebracht. Mich hat sie jede Menge Geld gekostet. Und mir brachte sie neue Unfreiheiten. Wofür sollte ich dankbar sein?"

Vielleicht finden Sie selbst eine Antwort auf diese Fragen, indem Sie sich wieder einmal aufmachen, an einen Ort wie diesen zu fahren, und überlegen, was hier geschah, was Ihnen Freiheit bedeutet, die nach Rosa Luxemburg immer auch die Freiheit der Andersdenkenden sein muß. Und wenn Sie dann im Niemandsland Ihr Brot auspacken, dann werden Sie darüber staunen, dass es hier wirklich einen besonderen Wohlgeschmack hat. Das gibt keine Arbeitsstelle zurück und auch den alten Wohlstand nicht wieder, aber es gibt Lebenskraft zur Dankbarkeit, zum Kampf und zur Erinnerung.


[Porträtbild der Autorin] Gabriele Herbst

(Daten unbekannt)

Erläuterung zum Text:


Frau Herbst ist eine häufig, individuell und originell sich äußernde, telegene Pastorin aus Magdeburg. Den gedruckten Text muß man sich von der Inszenierung her vorstellen als freien Vortrag der Autorin, die sich im ehemaligen Todesstreifen der DDR-Befestigungen auf grünem Gras zwischen spanischen Reitern und Mauerresten bewegte, in fünf ruhigen Einstellungen. Sie hielt ein Brotstück als zentrale symbolische Geste in den Händen, das sie sich abschließend schmecken ließ.



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