Montag, 13. Februar 2012

Der G l a u b e a n d a s G u t e i m M e n s c h e n













- In memoriam: Wim Hosenfeld - Lehrer, Reichswehr-Offizier -




Vom Glück des Glaubens an das Gute im Menschen



In Kriegszeiten:


Der polnische Pianist und der deutsche Offizier:

Wladyslaw Szpilman als verfolgter Jude und „Pianist“

Und

Wilm Hosenfeld – ein deutscher Held in Uniform

Oder

Vom Glück des Glaubens an das Gute im Menschen; auch zu Weihnachten, besonders im Krieg



Erarbeitet von


Anton Stephan Reyntjes


[Eine Fassung meines Beitrags erschien als „Literarisches Stichwort Gott“.

Folge XXXII, in der Zeitschrift „Religion heute“. Heft.60. Dezember 2004. S. 220-225.]


- Texte, Belege, Materialien und Arbeitsfragen -



Wer von der moralischen Legitimation von Widerstandskämpfern oder Gegnern der Nazis in der ganzen Welt von 1933 bis 45 in Deutschland, wer von dem Gottes- und Menschenbild solcher Frauen und Männer berichten möchte, ihrem Selbstverständnis und ihrem Zeugnis - kann sicher auf Anne Frank und ihren Vater Otto Frank hinweisen, auf die jungen Mitgliedern der Münchener Aktion „Weiße Rose“, auf den Warschauer Kinderarzt Janusz Korczak, auf den Dresdner Romanisten Victor Klemperer, auf den Industriellen Oskar Schindler und auf viele Aufzeichnungen und besonders „Letzte Briefe“ der Organisatoren und Kämpfer der Aktionen, die zum 20. Juli 1944 führten oder zu andern Widerstandshandlungen.


Im Jahre 2004 ist eine Ausnahme in der deutschen Geschichte von Krieg und Mord, Holocaust und Sondereinsatzbefehlen zu vermelden: hier Angebot vor Weihnachten, ein Hinweis auf Wladyslaw Szpilmans Lebensbericht, auf Wilm Hosenfelds Lebenswerk und Polanskis Film „Der Pianist“.


So möchte ich den Roman „Der Pianist“ von Wladyslaw Szpilman (deutsch 1998) und dessen Verfilmung durch Polanski vorstellen; und auf Wilm Hosenfeld, einen Teilnehmer des Weltkriegs I und II, aufmerksam machen, einen Katholiken, einen Volksschullehrer; insbesondere in ihm als Soldat einen Helden und Einzelgänger in Warschau während der Besatzung der Deutschen von 1939 bis 1944 dokumentieren: Szpilman und Hosenfeld sind sich in Warschau im Krieg der Nazi-Deutschen gegen Polen begegnet.

Der Pole, der überlebte, porträtierte seinen Retter. Wilhelm Hosenfeld könnte heute bei uns Namensgeber (Patron) von Schulen, Gemeindehäusern, einer Kirche oder Kaserne sein…


Die Texte sollen die einmaligen und lange unbekannten Vorgänge in Warschau vor und nach dem Aufstand der polnischen Armee vom 1. August 1944 bekannt machen.

Zur Person:

Wilm (Wilhelm) Hosenfeld

- 02.05.1895 - 13.08.1952 -

Lehrer, Soldat, Katholik, unfreiwilliger Held und heimlicher Widerstandskämpfer


Text 1:


Der Pianist Wladyslaw Szpilman lernte auf seiner Flucht im zerstörten Warschau einen deutschen Offizier kennen, der freundlich war zu Polen und Juden; er erzählte von seinem abenteuerlichen Leben im zerstörten Warschau 1944:

„Erst als (die Soldaten) mir aus den Augen waren, kehrte ich auf meinen (Dach-)Boden zurück, oder besser gesagt, in das letzte Zwischengeschoß, und begann die Gegend zu observieren. Es waren keine zehn Mi­nuten vergangen, als der Zivilist mit der Armbinde in Begleitung zweier Gendarmen zurückkam. Er zeigte ihnen die Villa, in die er mich hatte hineingehen sehen. Sie durchsuchten sie und dann noch ein paar in der Nachbarschaft. Mein Haus betraten sie überhaupt nicht. Vielleicht befürchteten sie, auf eine größere Aufständischengruppe zu stoßen, die sich noch in Warschau aufhielt. Dank der Feigheit der Deutschen, die sich nur dann gern mutig zeigten, wenn sie sich dem Gegner zahlenmäßig hoch überlegen fühlten, kam während des Krieges eine Menge Menschen mit dem Leben davon.

Nach zwei Tagen begab ich mich auf Nahrungsmittelsuche. Dies­mal wollte ich mir einen Vorrat anlegen, um mein Versteck nicht allzuoft verlassen zu müssen. Ich mußte ja bei Tage hinaus, da ich das Haus noch nicht so gut kannte, um nachts herumzustöbern. Ich geriet in eine Küche und von dort in eine Speisekammer. Et­liche Blechbüchsen gab es dort und irgendwelche Säckchen und Tüten, deren Inhalt sorgfältig geprüft werden mußte. Ich band Schnüre auf, hob Deckel. Ich war von der Suche dermaßen in Anspruch genommen, daß ich die Stimme erst hörte, als sie direkt hinter mir sagte:

„Was suchen Sie hier?“

An den Küchenschrank gelehnt, stand ein hochgewachsener, eleganter deutscher Offizier, die Arme vor der Brust verschränkt.

»Was suchen Sie hier?« wiederholte er. »Wissen Sie nicht, daß in diesem Augenblick der Stab des Festungskommando Warschau in dieses Haus einzieht?«

Ich sank auf den Stuhl neben der Speisekammertür. Mit nacht­wandlerischer Sicherheit fühlte ich plötzlich, daß mir die Kräfte fehlen würden, um dieser neuen Falle zu entrinnen. Ich saß und ächzte und starrte dumpf auf den Offizier. Erst nach einer Weile stammelte ich mühsam: »Machen Sie mit mir, was Sie wollen. Ich rühr' mich nicht mehr vom Fleck.«

»Ich habe nicht die Absicht, Ihnen etwas zu tun!« Der Offizier zuckte die Achseln. »Was sind Sie von Beruf?«

»Pianist.«

Er musterte mich aufmerksamer, mit sichtbarem Mißtrauen. Dann fiel sein Blick auf die Tür, die von der Küche in die Wohn­räume führte. Ihm schien etwas eingefallen zu sein.

»Würden Sie mir bitte folgen?«

Wir traten ins erste Zimmer, das sicher das Speisezimmer gewe­sen war, und dann ins nächste, wo an der Wand ein Klavier stand. Der Offizier deutete mit der Hand auf das Instrument: »Spielen Sie etwas!«

Dachte er nicht daran, daß das Klavierspiel sofort die in der Nähe befindlichen SS-Männer herbeirufen würde? Ich sah ihn fragend an und rührte mich nicht von der Stelle. Offenbar hatte er meine Befürchtungen erraten, da er beruhigend hinzufügte:

»Spielen Sie ruhig! Wenn jemand kommt, verstecken Sie sich in der Speisekammer, und ich sage, daß ich gespielt habe, um das In­strument auszuprobieren.«

Als ich die Finger auf die Klaviatur legte, zitterten sie. Diesmal hatte ich also zur Abwechslung mein Leben mit Kavierspiel zu erkaufen. Ich hatte zweieinhalb Jahre nicht geübt, meine Finger waren steif, mit einer dicken Schmutzschicht bedeckt, die Fingernägel unge­schnitten seit dem Brand des Hauses, in dem ich mich versteckt hielt. Dazu stand das Klavier in einem Zimmer ohne Fensterschei­ben, so daß der Mechanismus vor Feuchtigkeit aufgequollen war und auf den Tastendruck widerspenstig reagierte.

Ich spielte Chopins Nocturne cis-Moll. Der gläserne, klirrende Ton, den die verstimmten Saiten hervorbrachten, hallte in der leeren Wohnung und im Treppenhaus wider, flog auf die andere Straßenseite durch die Ruinen der Villa und kehrte als gedämpf­tes, wehmütiges Echo zurück. Als ich geendet hatte, schien die Stille noch dumpfer und gespenstischer. In einer Straße miaute eine Katze, ein Schuß war unten vor dem Haus zu hören ‑ rauhes deutsches Getöse.

Der Offizier sah mich schweigend an. Nach einer Weile seufzte er und knurrte:

»Dennoch sollten Sie nicht hierbleiben. Ich bringe Sie aus der Stadt heraus in ein Dorf. Dort sind Sie sicherer.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich kann nicht weg von hier!« erwiderte ich mit Nachdruck.

Erst jetzt schien er zu begreifen, was der eigentliche Grund dafür war, daß ich mich in den Trümmern versteckte. Er zuckte nervös zusammen.

»Sie sind Jude?« fragte er.

Er nahm die Arme herunter, die er bis dahin vor der Brust ver­schränkt gehalten hatte, und ließ sich im Sessel neben dem Kla­vier nieder, als bedürfte diese Entdeckung einer längeren Überle­gung.

»Nun ja!« murmelte er. »In diesem Fall können Sie in der Tat nicht weg von hier.«

Noch einmal schien er für längere Zeit in Gedanken versunken, dann wandte er sich mit einer neuen Frage an mich:

„Wo ist Ihr Versteck?“

„Auf dem Boden.“

„Zeigen Sie, wie’s dort aussieht.“ (…)

*

[Diese Passage stellt den Übergang dar zwischen Kapitel 17 („Leben gegen Sprit“) und 18 („Nocturne cis-Moll“); hier entsprechend der für den Roman effektvollen filmischen Schnitttechnik übernommenen. Darstellung] [1]


*


Wilm (recte Wilhelm) Hosenfeld hieß dieser deutsche Hauptmann; er musste heimlich zu Werke gehen und gab bei seinen Rettungsversuchen nie seinen Namen an. Er hat den verfolgten Pianisten, den zufällig aufgestöberten Überlebenden in einem Haus versteckt und versorgte ihn, so mangelhaft er es auch nur konnte, mit den nötigsten Lebensmitteln und seinem wärmenden Armeemantel.


Welche moralische Kompetenz mag ihn geleitet haben, ohne Kontakt und Information und Unterstützung durch Politikern, Philosophen, Widerstandskreisen oder Attentätern? Existenziell als Christ, als Lehrer, als Mensch, der die deutsche Klassik liebte und den Humanismus als Verpflichtung lebte. In aller Heimlichkeit, mit viel Vorsicht und phantasievollem Spürsinn half er vielen Polen und Juden.

In seiner Humanität – in seinem Charakter, in seiner Psyche – war er auch während seiner lebensgefährlichen Aktionen gesichert durch das Bewusstsein um seine Familie in Deutschland, insbesondere durch die Liebe seiner Ehefrau, der Fürsorge um seine Kinder; aber nirgendwo und nie gestützt durch seine „Kameraden“ in der Wehrmacht, auch durch keinen Geistlichen irgendeiner Konfession.

(Ein Arbeitsauftrag findet sich in Verbindung mit dem Text 2.)

*

Text 2:

In der folgenden Nacht schrieb Hosenfeld seiner Frau diesen Brief:

Warschau, 17. November 1944

Liebe Annemie -

Die Post kommt jetzt wieder spärlicher. Von Tag zu Tag warte ich auf Deine Nachricht. Aber von meinem lieben Jungen Detlev [dem gemeinsamen Sohn] bekam ich gestern einen kurzen Brief. Er meinte, sie würden schon am 13.11. entlassen und dann bald zur Wehr­macht eingezogen. Da hat ja die RAD [Reichsarbeitsdienst-]­ Zeit nicht lange gedauert […]. Was wollen sie bloß mit den klei­nen Jungen im Krieg? Sie werden wahrscheinlich eine längere Ausbildungszeit bekommen. So geht der Junge nun auch den schweren Weg. Aber ich habe immer gute Hoffnung, daß doch alles gutgeht. [...] Wir haben jetzt kein Licht; mit den Kerzen muß ich sehr sparsam sein ‑ dann ... sitze ich noch im Halbdunkel des Zimmers in den Ledersessel und bete den Rosenkranz. Nicht immer habe ich dazu Sammlung. Wie ge­ring sind eigentlich die wahren großen Bedürfnisse des Le­bens. Essen, Trinken, Schlafen, ein Dach über dem Kopf, eine warme Stube. Das sind so die äußeren Voraussetzungen. Und dann beginnt das richtige Leben, das Hinsinnen, Erinnern, die Gemeinschaft mit Gott und den lieben Menschen, die nicht mehr sind und bei ihm leben.

In dieser Nacht bin ich gegen zwei Uhr aufgewacht und konnte nicht mehr einschlafen. Da kamen sie vorbeigezogen.

Wie viele sind es schon, die mir nahestanden und nicht mehr leben. Sind es die dunkeln, langen Nächte oder ist es meine Einsamkeit, die sie rief? Es ist etwas ungemein Tröstliches, sich mit ihnen zu unterhalten. Ich fühle mich so ganz lebendig eingeschlossen in diese Gemeinschaft. Alles Kleine und Vergängliche fällt ab. Und dahinein, in diesen Kreis eingeschlossen, sehe ich meine Lieben daheim, Dich und die Kinder. Ich sehe die schlafenden Kleinen, die müden Jungen, das große Mädchen und Dich mit großen, wachen Augen in die Nacht sinnend und zu mir herkommend.

So bin ich ganz Dein Wilm.[1]


*


Nicht in diesem wie auch in keinem anderen Brief wird erwähnt, dass er an diesem Tage einen Musiker in einem Haus entdeckt hat, den er mit notwendigen Utensilien und einigen Lebensmitteln ausstattete, dass er gerettet werde - den Pianisten, der in seiner eigenen Biographie mit dem Untertitel „Mein wunderbares Überleben“ die Rettung als Wunder beschrieb.

Arbeitsauftrag:

* Vergleiche beide Texte 1 und 2; beschreibe die Handlungen übergreifend aus dem Roman Szpilmans und dem Brief Hosenfelds an seine Frau. Wo ist Übereinstimmung, wo sind Unterschiede aufzuzeigen?

* Deute psychologisch Hosenfelds Mitteilungen über seine Nacht, sein Erwachen und sein trostreiches Träumen als unbewussten, stärkenden Reflex auf die am Tag erfolgte, risikoreiche Begegnung.

*

Weitere Auskunft erhalten wir in Texten, Briefen und Aufzeichnungen, über Hosenfelds selbstgestellte, insgeheim ausgeführte Aufgaben:



Text 3:


Hosenfelds Brief an die Ehefrau; geschrieben in Warschau am 23. September 1940:

Liebste -

[...] Sonntag war ich im Wehrmachtsgottesdienst und habe auch kommuniziert. Hier ist ein sehr intelligenter Geistlicher, in seiner Art ein richtiger Soldat. Sehr viele junge Flieger waren da. Manche mit ganz feinen Gesichtern, aber wenn man bedenkt, so viel tausend Soldaten hier, und etwa nur 4-500 gehen zum Gottesdienst. Ich habe so richtig die Ge­meinschaft des Glaubens erlebt. Was ist dagegen die Phrase der »Kameradschaft«! Es gibt keine Religion ohne Konfession, das ist mir heute klar. Ich las die Lebensbeschreibung der heiligen Hildegardis (von Bingen). Was ist das für eine Frau gewesen! Ich lese auch ein anderes Buch: Arndt, »Lebenserinnerungen«. Die Zeit der napoleonischen Kriege. Auch das sind Menschen, Charaktere, Männer, eine Kraft, eine edle Gesinnung, die konnten auch Führer sein! [...]

Was Du von den Kindern der Reihe nach schreibst, ist sehr erfreulich. Fast ärgert's mich ein wenig, daß es ohne mich so gut geht. Ach, ich bin das Leben so überdrüssig hier. Man schleppt sich von einem Tag zum ändern natürlich weiter, aber wie negativ ist es. Gestern legte der Kommandant von Warschau im Beisein vieler Offiziere am Gedenkstein des Generalobersten von Fritsch einen Kranz nieder. Ich war auch mit. Der Stein steht an der Stelle, wo er gefallen ist vor einem Jahr. - Der Krieg geht weiter. Wer weiß, wie lange noch. - Ja, wann kannst Du mal wieder an die Schultüre klopfen, wenn Dein lieber Mann darin Schule hält. Je weiter ich von der Friedenstätigkeit abrücke, desto mehr sehne ich mich danach. Was habe ich doch eine Arbeit geleistet daheim, in der Schule, an den Kindern der Bauern. Jetzt wird das de­nen wohl auch mal aufgehen, den Dösköppen. Jetzt hätte ich von diesem Krieg genug abgekriegt, es reicht mir. Ich möchte dies Jahr nicht vermissen, es gehört zu mir, es ist ein Teil mei­nes und Deines Schicksals. Wir werden nie wieder vergessen, was wir an uns haben. Das Entferntsein vom Geliebten stei­gert die Liebe, die Nähe läßt sie erkalten und gleichgültig werden. Mein kleines, liebes, verliebtes Frauchen, meinst Du, Du sehnst Dich allein. Du willst mir einen verliebten Brief schreiben und bringst nichts aufs Papier. Ich weiß warum, die Worte wirken auf dem Papier so unschön und sagen das gar nicht, was man empfindet. Da läßt man’s lieber sein. Ich bin fast stets für mich. Mit den Offizieren habe ich gar keine Gemeinschaft. Sie sind mir zu tot. Ich stehe mich aber mit allen gut. Ich sitze auf meinem Zimmer und schreibe und lese, wenn die Zeit noch reicht. Heute waren wir in den umliegenden Dörfern von Warschau] und haben in einer Villen­kolonie festgestellt, wieviel Soldaten da hineingelegt werden können. Es kommen immer mehr aus Frankreich] hierher. Die Häuser stehen meist leer. Meist sind reiche Juden die Besitzer. [...][2]

(Anmerkung: Wilm Hosenfeld, S. 394f. - Die Anmerkungen zu diesem Ausschnitt aus dem Buchkapitel „Zweiter Weltkrieg. 1940“ fehlen hier; durch das Präsens „sind die reichen Juden“(des Verbs sein) drückt Hosenfeld aus, dass er die militärische Besatzungspolitik und den Antisemitismus der deutschen Wehrmacht nicht akzeptiert. Für ihn gilt noch die polnische Rechtsordnung, da die Deutschen Besatzer sind.

Arbeitsauftrag:

Beschreibe das Verhältnis Hosenfelds zu den Personen seines familiären und soldatischen Umfeldes und zu den genannten geistigen Figuren, um seine Situation, die Umstände und die Bedingungen im zerstörten Warschau zu charakterisieren.



Text 4:


Hauptmann Hosenfeld schreibt an die ihm unbekannte Familie Zieringer (Brief vom 25. Oktober 1944)


Liebe Familie Zieringer -


Vor etwa 10 Tagen besuchte ich, wie jeden Morgen, den kleinen Heldenfriedhof in dem Park des Gutes, in dem unser Stab Quartier bezogen hat. (In der vergangenen Nacht waren gefallene Kameraden aus den Kämpfen nördlich Warschau ge­bracht worden.) Wenn ich in die Nähe des Friedhofs komme, dann verlangsamt sich mein Schritt angesichts der frischen Gräber, aber besonders deshalb, weil während der Nacht die am Vortage gefallenen Soldaten gebracht werden und im Schutz der Bäume gelagert werden. Mein Auge sucht schon von der Ferne, und zögernden Schrittes gehe ich näher. Da liegt einer, die Arme hinten verschränkt, mit dem Haupt an den Baum gelehnt. Er scheint mir sehr groß. Die Zeltbahn, mit der er zugedeckt ist, reicht nicht aus. Ich stehe vor dem Toten und kann nicht weitergehen. Wenn das mein Sohn wäre? Ich knie neben ihm nieder und schlage das Tuch zurück und schaue auf ein junges, schönes Angesicht, die Augen sind ein wenig geöffnet, ebenso die Lippen. Eine Wunde ist nicht zu sehen. Die Haare hängen ihm wirr in die Stirne. Ich nehme seine kalte Hand, dann lege ich ihm die Haare zurück und streichle ihm die Wange und schaue ihn lange an und denke daran, daß ich der letzte Mensch bin, der diesen Jungen zum letzten Male sieht. Ich bin ihm Vater und Mutter, Bruder und Schwester. All das Leid, das Ihr um Euern lieben Sohn und Bruder nun tragen müßt, das kommt über mich. Und so streichle ich immer wieder sein totes Gesicht und denke, daß ich Abschied für Sie nehmen will.

Sehen Sie, liebe unbekannte Familie Zieringer, deswegen schreibe ich an Sie. Ich kenne Ihren Sohn nicht. Ich bin ihm nur dies eine Mal begegnet. Ich bin der letzte Mensch gewe­sen, der Ihr Liebstes mit Augen der Liebe angesehen hat und darf wohl glauben, daß er mir diesen letzten Gruß an Sie auf­gegeben hat. Sehen Sie, darum schreibe ich Ihnen. Ich kann sie nicht trösten, das kann Gott allein.

Ich habe ein Gebet für ihn gesprochen und habe darum gebetet, daß Gott Sie in Ihrem Schmerz trösten möge. Ich ließ mir vom Gräberoffizier den Namen des Gefallenen sagen und erfuhr somit auch Ihre Adresse.

Jeden Tag gehe ich an der Grabstätte Ihres Sohnes und der vielen andern, die hier bestattet liegen, vorbei und grüße sie und bete ein Vaterunser.

In inniger Teilnahme an Ihrem Schmerz grüße ich Sie,


W. Hosenfeld


Anmerkung:

W. H.: „Ich versuche jeden zu retten“. Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern. Hrsg. v. Thomas Vogel. München 2004. DVA. S. 872. - W. H: S. 863f, hier ohne Anmerkungen wiedergeben. Ein Antwortschreiben der Familie Zieringer vom 11.11.1944, das deren Dank ausdrückt, ist belegt.

Arbeitsauftrag:

Versetze dich in die Situation des Soldaten und die Umstände und die Bedingungen im zerstörten Warschau:

· Was interessiert den Hauptmann in der Situation?

· Wie kommt er dazu, der unbekannten Familie zu schreiben und sein Beileid auszudrücken?

· Welche Überzeugungen prägen diesen Brief?

Bewerte diese Handlungen und charakterisiere den Menschen Hosenfeld in seiner soldatischen Rolle.



Text 5:


Hosenfelds Brief an seine Familie:

An Ehefrau und Kinder (Brieffragment) Anfang November 1944


(...) Auf meinem Schreibtisch steht eine wunderbare, goldene Monstranz. Ich e meinen Augen nicht, als ich heute morgen in eine benachbarte Kirche kam und diese Kostbarkeit zwischen allen möglichen Sachen auf dem Altar stehen sah.

Der Altar war verwüstet, Bilder, Leuchter, Bücher, Blumenva­sen, Meßgewänder, Kerzen, alles übereinander, das Tabernakel aufgerissen, sogar die Altarsteine weggerückt und dazwischen die Monstranz. Ich dachte erst, daß sie wohl aus einer minderwertigen Legierung hergestellt sei, anders konnte ich m nicht erklären, daß sie noch dastand. Es sind doch drei Monat her, daß der Aufstand losging und Tausende von Menschen hielten sich in der Kirche auf. Noch eine kleinere fand ich, die auch sehr kostbar ist. Ich habe noch nie eine solche Monstranz in der Nähe gesehen und kann mich jetzt nicht Sattsehen das an. Ich versuche, sie mit meiner armseligen Feder nachzubilden. Dabei entdecke ich erst die ganze Schönheit der Teile. Das Ganze ist wie eine gotische Kirche, mit einem Mittelturm und vielen kleinen Türmchen verziert mit Säulen und Türmchen und echten Edelsteinen. Ich überlege, wie ich sie und wem ich sie übergeben kann. Vielleicht kriege ich einen Wagen und bringe sie mit den vielen Gewändern, die in der Sakristei herumliegen, dem Erzbischof. Er muß in einem Vorort von Warschau leben. Die Monstranz ist fast 1 Meter hoch und so schwer, daß ich sie mit einer Hand nicht lange heben kann. Jetzt muß ich Schluß machen. Ich will noch einmal einige Posten abgehen und die Quartiere meiner Land nachsehen, dann gehe ich geschwind ins Bett. (...)



(Arbeitsauftrag s. nach Text 6)


Text 6:


Ergänzende Angaben zu diesem Fund macht Hosenfeld im Brief vom 7.11.1944 an seine Frau:

(…) Die Monstranz und die übrigen Meßgeräte sind heute abgeholt worden von einem Beauftragten des Erzbischofs. Gut, daß ich alles so schön aufgehoben hatte. Ich habe in meinem Schlafzimmer noch ein großes Bild hängen. Christus am Kreuz. Ich glaube, es ist ein altes Bild. In dem Haus wohnte früher die Polizei, die hatten es natürlich weggesteckt. Wenn es geht, schneide ich es aus dem Rahmen und nehme s mit. Ich stehe oft davor und lassen den Gekreuzigten zu mir sprechen. Jesus hat ausgelitten; ein unendliche Friede ist in seinem Antlitz; die Gewissheit seines Sieges über die Welt und ihr Gemeinheit, ein Hauch der zukünftigen Auferstehung liegt über dem Haupt. Rechts und links stehen Maria und Johannes. Maria schmerzerfüllt, doch aufrecht, Johannes in Trauer versunken, mit geneigtem Haupt. Er hat den Sinn des Kreuzestodes seines Herrn noch nicht begriffen. Es geht mit wie ihm. Und doch drängt sich mir mit starkem Gefühl der Sinn der Wort auf: Durch Dein heiliges Kreuz hast Du die Welt erlöst.“ (S. 867f.)

(Erläuterungen: Es handelte sich bei diesem Altargerät um eine Turmmonstranz in gotischem Stil; Hosenfeld fertigte ein Bild an, das erhalten blieb. Bei dem kirchlichen Würdenträger handelte es sich um den polnischen Bischof Szlagowski, den W. H. informieren konnte).


Arbeitsaufträge (zu Brief 5 und 6):

Kennzeichne die Situation, die der Offizier Hosenfeld vorfindet.

* Welche Vermutungen stellt er an?

* Welche Initiativen entfaltet er?

* Wie kennzeichnet er seinen Kreuzesglauben?

Welche humanen und christlichen Auffassungen ergeben sich für den Soldaten und Menschen Hosenfeld aus seinen Worten und Werken?


Text 7:


Wilm Hosenfelds Brief an seine Ehefrau und die Kinder; aus Warschau, vom 10. Dezember 1944; als Weihnachtsbrief, da absehbar war, dass er keinen Urlaub erhalten würde und die militärische Lage sich täglich zur Niederlage wenden könnte.

Meine Lieben daheim –

heute ist der zweite Adventssonntag. Oben in Eurer Stube hängt der Lichterkranz, an dem Ihr zwei Kerzen angebrannt habt. Du, liebe Annemie, denkst, indem Ihr die frommen Lieder singt. Die eine ist für Wilm, die andre ist dem kommenden Christkind; so nah stellst Du Deinen Mann neben das göttliche Kind, damit es ihn wieder heimführe. Ich sehe Euch in dem halbdunklen Raum eins nach dem andern; Eure Augen sind groß und rein. Sie suchen die Wunder der Weihnacht und blicken ins Zwielicht der Kerzen und in das halbdunkle Rund, ob nicht doch sich die Sinne täuschen, ob nicht doch der liebe Vater in der Nähe sei. Es ist jetzt, da ich das schreibe, die fünfte Stunde am Abend. Ich weiß, daß Ihr jetzt versammelt seid und Eure Sonntagsfeierstunde haltet, und ich bin bei Euch, so wie ich bei Euch sein will, wenn Ihr am Heiligen Abend Euer einsames Christfest feiert. Der beiden Jungen und meine Sehnsucht ist dann zwischen Euch. Ach, Eure Herzen sind so schwer, und die liebe, gewohnte Welt um Euch so leer und kalt. Aber Ihr habt doch einen Lichterbaum, wenn es auch nur wenige Kerzen daran sind. Die Lichter brennen hell wie in andern Jahren, als sie die ungetrübten Freuden glücklicher Kinder beschienen, und der dunkle Baum duftet wie früher, und die bunten Glaskugeln glänzen wie jedesmal. Und wenn Euch die Tränen in den Augen schim­mern, sie schimmern vervielfacht den Schein des Lichtes. Sie wollen Euch sagen, seid nicht traurig, seid nicht kleingläubig und verzagt. Es geschehen große Dinge in der Welt. Grauen­haftes Leid zieht über die Welt. Die Wogen des Hasses, der Lüge, der Gemeinheit wälzen sich über die Erde. In ihrem Gefolge ist das Sterben der Millionen unschuldiger Gequälter. Viele sind es, die das Leben verfluchen, die Gott hassen und sich aufbäumen gegen die Sinnlosigkeit des Elends, in das sie gestoßen wurden. Für sie gibt es keinen Ausweg, überall steht Grauen, Angst, überall lauert die Not; um sie herum steht die dunkle Nacht der Verzweiflung. Ja, es geschehen große Dinge jetzt; Gott läßt die Menschen in dem Dunkel des Verblendetseins herumirren. Sie wollten ja nichts von ihm wissen. Auch jetzt noch rufen sie ihn nicht, er ist gar nicht da für sie. Soll er sich um sie kümmern? Wir kleinen Menschen könnten so klein von ihm denken, weil wir selbst nichtige Kreaturen sind. Aber er ist gut und gewaltig, erhaben, allgütig und barmher­zig. Und wir wollen zu denen gehören, die ihm unser eigenes Leid, unsere eigenen Kümmernisse als kleine, bescheidene Opfer hinreichen, daß er uns gnädig sei und daß er die Welt erlöse von der entsetzlichen Geisel des Krieges. Sieh, da leuchtet der Stern über dem Stall von Bethlehem und weist uns den Weg wie damals in der Geburtsnacht den Hirten, und unser Singen und Loben vereinigt sich mit dem Gesang der Engel. Wir gehören ja zu den Geweihten, die an die Erlösung glauben. Und mit den frommen Königen kommen wir ge­gangen und bringen auch unsre Opfer dar. Die langen Tage unserer Trennung, die schweren Nächte unserer Sehnsüchte, die angstgequälten Stunden der Sorge, unsere Verlassenheit und die Zerrissenheit unserer Herzen. In Demut neigen wir unser Haupt und bitten, daß er unsern Gaben geneigt sei. Mit uns gehen all die Notbeladenen; aus jeder Türe des Dorfes kommen sie, aus jedem Haus der Städte schließen sie sich an. Es ist ein langer, feierlicher Zug, der da heranwallt zu der Krippe des Gotteskindes, die Toten sind in ihrem Geleite, die vielen Toten dieses Krieges. Voran schreiten die Mütter, die jenen das Leben gegeben, ihnen folgen die Väter, die Bräute, Brüder und Schwestern, und ihnen die Kinder. Alle tragen sie in ihren erhobenen Händen ein Opfer und legen es zu Füßen des Gottessohnes. Und siehe, ein Lächeln geht über das Gesichtlein des Kindes. Was kann es anders sein als Verheißung unseres Bittens. So sehe ich Dich, meine liebe Frau, diese Weihnacht begehen; so sehe ich Euch, meine Kinder, und so will auch ich mit Euch gehen. Und es wird uns dann so sein, als wenn wir früher zusammen aus der Christmette kamen und wir gingen Hand in Hand durch die Dunkelheit nach unserm Haus. In unsern Herzen noch das Singen und Jubeln des Liedes: „Auf, Christen, singt festliche Lieder“, und vor uns die Erwartung der warmen Weihnachtsstube voll der schö­nen Gaben, die das Christkind gebracht hatte. So werde ich auch dieses Jahr mit Euch feiern und mit Euch vereint sein. Und mein Herz wird überströmen vor Dankbarkeit, daß es all diese schönen, glücklichen Weihnachtsfeste erleben durfte, indem er mir diese liebe Frau zuführte und uns diese guten Kinder schenkte. Und froh will ich sagen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden, die eines guten Willens sind; denn ich weiß, Ihr singt und betet es mit mir, Ihr, meine treuesten und liebsten Menschen, in der Hoffnung, dass Euch Gott gnädig zusammenführe mit

Euerm fernen, lieben Vater.


(W. Hosenfeld, S 179ff.)



Arbeitsauftrag:

Analysiere die Erklärungen und kennzeichne den Weihnachtsglauben des Christen Hosenfeld.

*

Abschließender Arbeitsauftrag:

des Artikels "Vom Glück des Glaubens an das Gute im Menschen"; in "Religion heute. Heft 60/2005. Friedrich Verlag. S. 225.)

Fertige für einen Weihnachtsgottesdienst und/oder für die website deiner Schule einen Gedenktext, der das Vorbild Wilm Hosenfels einbezieht.

Nutze für die abschließende Diskussion die Informationen aller Texte.

Erkunde, auch im Vergleich mit anderen historischen Zeugen und Zeugnissen zum Holocaust, diese Frage:

In Nazi-Deutschland waren zur Zeit der größten Machtentfaltung 5,6 Mill. Männer Soldat in Uniform und unter Waffen; es gab zigtausende Männer und Frauen in Ordens- und Ehrenkleidern; es gab die gezielt geförderte Elite in Wissenschaft und Politik und Kultur. Für alle Führungskräfte war die schulische Grundbedingung das deutsche Abitur mit der als unumgänglich angeordneten Lektüre der Texte des humanistischen Bildungsgutes (z.B. Goethes „Faust“).

Warum waren Widerstandsleistungen wie die von Wilm Hosenfeld im „Deutschen Reich“ Hitlers und der fanatisierten Nazi-Deutschen absolut singulär?

Weiterführende Angaben:

[Die Verwendung der hier angegebenen URL.s und der Links unterliegt einzig der Verantwortung des Benutzers.]

*

Nutze für die Analyse und Bewertung der Lebensleistung Hosenfelds noch folgende Texte aus dem Internet; dort sind fortlaufend neue Angebote als Hilfen zu diesem Thema verfügbar:


www.derpianist-derfilm.de


www.dva-buch.de/sixcms/detail.php?id


Manfred Karnetzki: Predigt am 18 Juli 2004 zum 20. Juli 1944; über Römer 6,3-11; URL.: http://www.oekumene24.de/aktuelles/20juli1944.html

Hanns-Georg Rodek: Freigeist. Der deutsche Offizier Wilm Hosenfeld rettete 1944 einen jüdischen Pianisten. Die wahre Geschichte zum Film; URL:

http://morgenpost.berlin1.de/archiv2002/021027/biz/story558113.html

Torsten Hampel: Retten, wer zu retten ist;

URL.: http://archiv.tagesspiegel.de/archiv/09.07.2004/1235140.asp

*

Eine Monstranz, eine gotische Kirche vorstellend; hier als Beispiel aus der Kirche „Heilig Kreuz“ in Donauwörth.

http://www.heiligkreuz-donauwörth.de/archiv/bilder_vor_1999/teil3/9_monstranz.jpg


**


Literatur:


Wilm Hosenfeld: „Ich versuche jeden zu retten“. Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern. München 2004. DVA.

„Retter in Uniform“. Handlungsspielräume im Vernichtungskrieg der Wehrmacht. Hrsg. von Wolfram Wette. Frankfurt/M. 2002. Fitabu 15221.

W. Wette: Rezension zu: Wilm Hosenfeld: »Ich versuche jeden zu retten« (DIE ZEIT 29/2004)

Der Film Roman Polanskis: Der Pianist. DVD-Kassette. Atlas pictures [82876 50039 9]

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[1] Wladyslaw Szpilman: Der Pianist. Mein wunderbares Überleben Mit einem Essay von Wolf Biermann. (Zuerst deutsch 1998). München 2002. Ullstein-TB 36351. S. 170 -174.

[2] W. H.: „Ich versuche jeden zu retten“. Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern. Hrsg. v. Thomas Vogel. München 2004. DVA. S. 872.

[3] W. H: S. 863f,.hier ohne Anmerkungen wiedergeben. Ein Antwortschreiben der Familie Zieringer vom 11.11.1944, das deren Dank ausdrückt, ist belegt.




Sonntag, 12. Februar 2012

In Parabeln: G o t t e s b i l d e r



1









- Gotthold Ephrain Lessing. Poeta primus der deutschen Aufklärung -


Unsere vorläufigen Gottesbilder
- Parabeln von den Gottes-Bildern der Menschen -
(Veröffentlicht als Literarisches Stichwort Gott. Folge XXXV;
in der Zeitschrift „Religion heute“; im Erhard Friedrich Verlag Seelze. - Heft 64. Dezember 2005. S. 258-265}
Vorspruch:
Gotthold Ephraim Lessing: „Suche nach der Wahrheit“
Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung des Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet.
Der Besitz macht ruhig, träge, stolz.
Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: „Wähle!“
Ich fiel ihm mit Demut in seine Linke und sagte: "Vater, gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!" (1778)

Gotthold Ephraim Lessing (1729 - 1781), der bedeutdendste deutsche, literarische Vorbildner geistesgeschichtlicher Aufklärung, formuliertd seine Intention als eine glückliche Versöhnung für ein allen Menschen dieser Erde eingeborenes Gottesgefühl, als Gebot der sprachlich-kritischen Vernunft und der historischen Ethik der Humanität und Toleranz.
Ich halte die kleine, vorangestellte Parabel nicht nur für geistreich, sondern auch humorvoll, gerade auch in seiner impliziten Kritik der dogmatischen Wahrheitsvertreter, seiner Zeit - und unserer.
In dieser kleinen Sammlung sind keine biblischen Gleichnisse vorgestellt; sondern komplexere, literarische Parabeln, die in ihrem grundlegenden, symbolischen Gehalt nicht eindimensional, nicht eindeutig interpretierbar sind; sie gehen über hergebrachte, rein religiöse Strukturen hinaus, sie thematisieren Erkenntnis und Wahrheit, nicht konfessionell gebunden.
Es gibt – nach der kulturellen Überlieferung - keinen all-einzigen Gott, es gibt nicht den einen Gott; es gab und gibt nur menschliche, häufig furchtbare Gottesbilder: historische und aktuelle, rote und weiße oder schwarze Bilder, allerliebst geschönte und verdunkelte, gewalttätige und friedvolle, klerikal-zwanghafte und liberale, zölibatär-selektive und liebend-gewährende Archetypen; vom zornig tötenden Gott bis zum „Abba“ („lieber Vater“, „Väterchen“).
Die Erfahrungen von 4000 Jahren Patriarchat in unserer abendländischen, seit 2000 Jahren christlichen Kultur, verglichen mit der außerchristlichen, weitaus friedlicheren, nichtexpansionistischen Religionen in Nordamerika (Indianerreligionen) oder in Asien (Buddhismus, Hinduismus), zeichnen eine nichtindustrielle, meist naturnahe Alternative, ein disparates Gegenbild für unsere gegenwärtige Übergangsphase mit vielen konkurrierenden Gottesbildern (vom „weiblichen“ oder „schwarzen“ Gott z.B.); sie beweisen bei verstehend-unvoreingenommener, historisch-kritischer, literarischer und sprachpsychologischer Betrachtung, dass es nicht nur nicht den, ja sogar nicht nur den einen Gott, sondern "lediglich" Gottesbilder gibt, über die wir verlässlich und wahrhaftig sprechen können - individuelle, multiple, polyglotte, archetypische imagines - eingebrannt in die psychischen Instanzen (Es, Ich, Überich) des gesellschaftlichen Individuums als eines sprachbewußten, selbst verantwortlichen Mitglieds der Menschheit und Angehöriger der jeweiligen als göttlich imaginierten oder gottfernen Kultur.
Aus dem „Gott“ (genus hyper-maskulinum; singularis majestatis) vermag mensch, also man und frau, mit eigener Phantasie und gehöriger Berechtigung einen weiblichen (weißen oder schwarzen oder homophilen oder sonstwie funktionalen) auf jeden Einzelfall hin gelobten und gerechten und wirkungsmächtigen Gott versprachlichen.
Was allein unveränderlich scheint, ist das Fundament solchen viel-, gar alles ver- und vor-sprechenden, macht- und lustvollen Imaginierens: des „Gottenden“, des Göttlichen (das Neutrum als kein Weibliches und kein Männliches) als des kleinsten gemeinsamen transzendentalen Nenners der Rasse des homo sapiens sapiens.
Die schönsten, inhaltlich und sprachlich überzeugendsten Parabeln der Literatur aus Ost und West, Nord und Süd künden von dieser religiösen als einer geistigen und psychischen Sehnsucht, dieser kognitiven Gewissheit als eines sozial und psychisch gerechten Auftrages. Personifizierungen und Attribuierungen nach geschlechts-, rassen- und institutions-spezifischen oder personalen Bedürfnissen sind von der nächsten Generation immer wieder in Frage gestellt worden; häufig mit den geistlosen-gewalttätigen Mitteln der sich im Göttlichen legitimierenden Vor- und Machtgänger, der Kriegs-, Kreuzzugs-, Inquisitions-, Kolonialismus- oder menschenrechtsfeindlichen globalen Wirtschaftsstrategen.
Wir als Beter und Leser erkennen die parabolische Grundstruktur vieler poetischer Texte; wir interpretieren sie in ihrer literarischen Form, ihrem Aufbau, den Figuren, ihren Funktionen im Ablauf der Handlungen, den zentralen Möglichkeiten der tradierten, menschheitsalten Symbole, die wir existenziell, historisch, ökologisch und religiös deuten können, ohne sie für eine absolut richtige Machtfrage zu determinieren.
Lessing, Heine, Kafka, Borchert, van Veen – ihre literarischen Lebensaussagen und Beschreibungen – sind Ausdruck von Schriftstellern in ihrem gesellschaftlichen Engagement für ein gewandeltes Selbstverständnis in geschichtlichem Auftrag und als Geschichte(n) von Gottbildern.
In der jungen deutschen Literatur nach 1945 war die Verantwortung eines Künstlers entscheidendes Kriterium für einen sprachlichen und moralischen Neuanfang der neuen deutschen Kultur; die Sch. können diese Intention einschätzen. Die Sch. können Beziehungen zu anderen poetologischen Parabeln erkennen und im Unterschied zu anderen Dichtern (Lessing, Brecht, Kafka) verschiedene Dichtungsauffassungen benennen und Erörterungen in der Spannbreite von l’art pour l’art bis zu kritisch engagierter Literatur. Borchert akzentuiert im Text sehr stark die kritisch bewussten und gesellschaftlich vernehmbaren Leistungen des Dichters, insbesondere die Verpflichtung in der präzis realistischen Benennung der Umstände eines Hauses (als Bild für Heim, Heimat und Gesellschaft) und in den dialogischen, vorbildlichen Aufgaben der Person als Ausübung seiner beschreibend-erklärenden und warnenden Funktion gegenüber seinen Mitmenschen, die nicht über seine Perspektive und Kunstmöglichkeit (präzise Nomen, dynamische Verben). Der Dichter ist ein der psychologisch-philosophischen Aufklärung verpflichteter, poetologisch reflektierender Realist in einer politischen Grenzsituation des Neuanfangs nach 45, im Rückgriff auf die bisher unerfüllten Ideen der humanistischen Aufklärung.
Das „caelum“, als himmlischer Palast, als „Wohn-“ und Herrschaftsort der Göttlichkeit ist als alte, allgemein-mittelmeerländische Verhimmelung abgelöst, literarisch vergessen; bis in die Moderne hinein wird auch der fürstlich-patriarchale Palast, das „palatium“, destruiert – aufgehoben zur Behausung des Poeten (s. Borchert). Die Kirche als Residenz, als „residentia“ (mlat. Wohnsitz) und bischöfliches Palais, wird literarisch nicht mehr realisiert.
Die Geistlichen aller Kirchen und die durch sie Privilegierten haben das Sonderrecht, in großer Harmonie, ohne Hetze, gemäß ihren inneren und liturgisch-historischen Bedingungen, zu leben und ihre klerikale Gefühlswelt als Glaubenpraxis zu realisieren. Gewöhnliche Gläubige haben diese Chancen nie gehabt; sie werden auch nicht darauf warten können, dass sie unter friedlichen, dem eigenen, inneren Zeitgefühl entsprechend leben, lieben und arbeiten zu können. Sie müssen ihre Christenrechte als Menschenrechte einklagen. Wer hier nicht eine der wesentlichsten Zeit-Erscheinungen der verlorenen Kirchennähe, der angeblichen „Gottlosigkeit“ des Modernen-Zeiten-Menschen - unter dem Diktat des angeblich unabänderlich globalistischen Ausbeutung - erkennt, hat noch nicht begonnen nachzudenken - über Zeit und Ewigkeit, über Gott und Menschlichkeit im einander zugeordneten, jesuanischen Auftrag.
*
Text 1:
Gotthold Ephraim Lessing:
Eine Parabel
quae facilem ori paret bolum.
(Etymologista vetus)[1]
Nebst einer kleinen Bitte, und einem eventualen Absagungsschreiben an den Herrn Pastor Goeze, in Hamburg
„Ehrwürdiger Mann!
Ich würde ehrwürdiger Freund sagen, wenn ich der Mensch wäre, der durch öffentliche Berufung auf seine Freund­schaften ein günstiges Vorurteil für sich zu erschleichen gedächte. Ich bin aber vielmehr der, der durchaus auf keinen seiner Nächsten dadurch ein nachteiliges Licht möchte fallen lassen, dass er der Welt erzählet, er stehe, oder habe mit ihm in einer von den genauem Verbindungen gestanden, welche die Welt Freundschaft zu nennen gewohnt ist. - Denn berechtiget wäre ich es allerdings, einen Mann Freund zu nennen, der mir mit Verbindlichkeit zuvor gekommen ist; den ich auf einer Seite habe kennen lernen, von welcher ihn viele nicht kennen wollen; dem ich noch Verbindlichkeit habe, wenn es auch nur die wäre, dass seine Wächterstimme noch meines Namens schonen wollen. Doch, wie gesagt, ich suche, bloß durch meine Freunde, eben so wenig zu gewinnen, als ich möchte, dass sie durch mich verlieren sollten.
Also nur, Ehrwürdiger Mann! Ich ersuche Sie, die Güte zu haben, nachstehende Kleinigkeit in einige Überlegung zu ziehen. Besonders aber dringe ich darauf, sich über die beigefügte Bitte nicht bloß als Polemiker, sondern als rechtschaffner Mann und Christ, auf das baldigste zu er­klären.“
Die Parabel
Ein weiser, tätiger König eines großen, großen Reiches hatte in seiner Hauptstadt einen Palast von ganz unermeßlichem Umfange, von ganz besonderer Architektur.
Unermeßlich war der Umfang, weil er in selbem alle um sich versammelt hatte, die er als Gehilfen oder Werkzeuge seiner Regierung brauchte.
Sonderbar war die Architektur; denn sie stritt so ziemlich mit allen angenommenen Regeln; aber sie gefiel doch und entsprach doch.
Sie gefiel vornehmlich durch die Bewunderung, welche Ein­falt und Größe erregen, wenn sie Reichtum und Schmuck mehr zu verachten als zu entbehren scheinen.
Sie entsprach durch Dauer und Bequemlichkeit. Der ganze Palast stand nach vielen, vielen Jahren noch in eben der Reinlichkeit und Vollständigkeit da, mit welcher die Bau­meister die letzte Hand angelegt hatten; von außen ein wenig unverständlich, von innen überall Licht und Zusammenhang.
Was Kenner von Architektur sein wollte, ward besonders durch die Außenseiten beleidiget, welche mit wenig hin und her zerstreuten, großen und kleinen, runden und viereckten Fenstern unterbrochen waren, dafür aber desto mehr Türen und Tore von mancherlei Form und Größe hatten.
Man begriff nicht, wie durch so wenige Fenster in so viele Gemächer genugsames Licht kommen könne. Denn daß die vornehmsten derselben ihr Licht von oben empfingen, wollte den wenigsten zu Sinne.
Man begriff nicht, wozu so viele und vielerlei Eingänge nötig wären, da ein großes Portal auf jeder Seite ja wohl schicklicher wäre und eben die Dienste tun würde. Denn daß durch die mehrern kleinen Eingänge ein jeder, der in den Palast gerufen würde, auf dem kürzesten und unfehlbarsten Wege gerade dahin gelangen solle, wo man seiner bedürfe, wollte den wenigsten zu Sinne.
Und so entstand unter den vermeinten Kennern mancherlei Streit, den gemeiniglich diejenigen am hitzigsten führten, die von dem Innern des Palastes viel zu sehen die wenigste Gelegenheit gehabt hatten.
Auch war da etwas, wovon man bei dem ersten Anblicke geglaubt hätte, daß es den Streit notwendig sehr leicht und kurz machen müsse, was ihn aber gerade am meisten ver­wickelte, was ihm gerade zur hartnäckigsten Fortsetzung die reichste Nahrung verschaffte. Man glaubte nämlich verschiedne alte Grundrisse zu haben, die sich von den ersten Baumeistern des Palastes herschreiben sollten, und diese Grundrisse fanden sich mit Worten und Zeichen bemerkt, deren Sprache und Charakteristik so gut als verloren war.
Ein jeder erklärte sich daher diese Worte und Zeichen nach eignem Gefallen. Ein jeder setzte sich daher aus diesen alten Grundrissen einen beliebigen neuen zusammen, für welchen neuen nicht selten dieser und jener sich so hinreißen ließ, daß er nicht allein selbst darauf schwor, sondern auch andere darauf zu schwören bald beredte, bald zwang.
Nur wenige sagten: „Was gehen uns eure Grundrisse an? Dieser oder ein andrer, sie sind uns alle gleich. Genug, daß wir jeden Augenblick erfahren, daß die gütigste Weisheit den ganzen Palast erfüllet, und daß sich aus ihm nichts als Schönheit und Ordnung und Wohlstand auf das ganze Land verbreitet.“
Sie kamen oft schlecht an, diese wenigen! Denn wenn sie lachenden Muts manchmal einen von den besondern Grund­rissen ein wenig näher beleuchteten, so wurden sie von denen, welche auf diesen Grundriß geschworen hatten, für Mordbrenner des Palastes selbst ausgeschrien.
Aber sie kehrten sich daran nicht und wurden gerade dadurch am geschicktesten, denjenigen zugesellet zu wer­den, die innerhalb des Palastes arbeiteten und weder Zeit noch Lust hatten, sich in Streitigkeiten zu mengen, die für sie keine waren.
Einstmals, als der Streit über die Grundrisse nicht sowohl beigelegt als eingeschlummert war, - einstmals um Mitternacht erscholl plötzlich die Stimme der Wächter: „Feuer! Feuer in dem Palaste!“
Und was geschah? Da fuhr jeder von seinem Lager auf, und jeder, als wäre das Feuer nicht in dem Palaste, sondern in seinem eignen Hause, lief nach dem Kostbarsten, was er zu haben glaubte - nach seinem Grundrisse. »Laßt uns den nur retten!« dachte jeder; »der Palast kann dort nicht eigentlicher verbrennen, als er hier stehet!«
Und so lief ein jeder mit seinem Grundrisse auf die Straße, wo, anstatt dem Palaste zu Hilfe zu eilen, einer dem andern es vorher in seinem Grundrisse zeigen wollte, wo der Palast vermutlich brenne. »Sieh, Nachbar! hier brennt er! Hier ist dem Feuer am besten beizukommen.« - »Oder hier vielmehr, Nachbar, hier! « - »Wo denkt ihr beide hin? Er brennt hier!« - »Was hätt’es für Not, wenn er da brennte? Aber er brennt gewiß hier!« - »Lösch' ihn hier, wer da will. Ich lösch' ihn hier nicht.« - »Und ich hier nicht!« - »Und ich hier nicht!«
Über diese geschäftigen Zänker hätte er denn auch wirklich abbrennen können, der Palast, wenn er gebrannt hätte. - Aber die erschrocknen Wächter hatten ein Nordlicht für eine Feuersbrunst gehalten.
(Aus. E.G. L.: Werke. Bd. 8. Werke 1774-1778. Frankfurt/M. S. 117-120)
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Gotthold Ephraim Lessing (1729 - 1781)
Informationen:
Wie für das Drama ‚Nathan’ fasst Lessing in diese Form der Parabel, was in der philosophisch-reflektierenden Schreibform entweder zu provokativ für seine Zeitgenossen und –diktatoren geraten müsste oder gar nicht argumentativ erklärbar wäre.
Im Gleichnis vom scheinbar unvernünftig gebauten Palast wertet Lessing den historischen Aspekt der Religion nicht gegen den ihrer gegenwärtigen Wirksamkeit.
Die Berichte über die Anfänge des Christentums sind nicht falsch oder lügenhaft; aber aus sich selbst heraus sind die historischen Argumente der Urtexte für die Wahrheit des sich entwickelnden Christentums nicht beweiskräftig, nicht unbefragt-dogmatisch perpetuierbar.
Gerade dadurch, dass Lessing die historischen Zeugnisse in einem gewissen Umfang in ihr Recht setzt, sie nicht zugun­sten des rein rationalistischen Ansatzes beiseite schiebt, versucht er, notwendige Vernunfteinsicht und gegenwärtig-gültige Erfahrung, Ratio und Empirie, zusammenzubringen. Zwar bleibt die Vernunft der Geschichte vorgeordnet, sie zwingt dazu, die Wahrheit des Christentums von innen her zu argumentieren (das meint der erste Teil der Parabel). Die Berufung auf die gegenwärtige Erfahrung von der Wirkung der Religion im zweiten Parabelteil bringt andererseits die geschichtliche Perspektive in neuer Weise ein: nämlich als Legitimation der christlichen Geschichte durch und für die Gegenwart. Innere Vernunftswahrheit und praktischer Gegenwartsaspekt können eine Verbindung eingehen. Der erste Parabelteil zeigt, dass eine rein rationalistische Betrachtung, die auf Vernunftsregeln abhebt, nichts Lebendiges erbringt; sie soll ersetzt werden durch die Einsicht in die Eigenart der religiösen, d. h. geoffenbarten, geschichtlichen Wahrheit. Im Bild der Parabel heisst das: Die innere Betrachtung trifft auf ein Licht von oben, das die eigenartig-beängstigende Struktur des Palasts erst verstehen lässt. Vernunft und Offenbarung sind zwei Seiten des gleichen Glaubens, des aufgeklärten, von der Sonne der Wahrheit abendlich erhellten Christentums.
(Die letzten Texte Lessings zu diesem Wahrheits- und Toleranz-Thema sind „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ von 1777/80 und das Drama „Nathan der Weise“ von 1779; Dichtungen, deren Relevanz erst noch umgesetzt werden müssen im „Abendland“, das sich erkennbar und chancenhaft „entchristianisiert“ und öffnet auf Lessingsche Humanität und Menschenrechtsvorstellungen hin.)
Aufgabenstellung:
* Beschreibe die Personen und die Vorgänge der Handlung in dem Palast.
* Bewerte die Funktionen und Leistungen der Wärter als Umgang im Dienst vor Gott und der Wahrheitssuche in diesem beispielhaften Bewährungsfalle.

Text 2:
Heinrich Heine:[Als Ausschnitt, s. u., ohne Titel dem Leser überantwortet.]
So verwerflich aber jede Diskussion über das Dasein Gottes ist, desto preislicher ist das Nachdenken über die Natur Gottes. Dieses Nachdenken ist ein wahrhafter Gottesdienst, unser Gemüt wird dadurch abgezogen vom Vergänglichen und Endlichen, und gelangt zum Bewußtsein der Urgüte und der ewigen Harmonie. Dieses Bewußtsein durchschau­ert den Gefühlsmenschen im Gebet oder bei der Betrachtung kirchlicher Symbole; der Denker findet diese heilige Stimmung in der Ausübung jener erhabenen Geisteskraft, welche wir Vernunft nennen, und deren höchste Aufgabe es ist die Natur Gottes zu erforschen. Ganz besonders religiöse Menschen beschäftigen sich mit dieser Aufgabe von Kind auf, geheimnisvoll sind sie davon schon bedrängt, durch die erste Regung der Vernunft. Der Verfasser dieser Blätter[2] ist sich einer solchen frühen, ursprünglichen Religiosität aufs Freudigste bewußt, und sie hat ihn nie verlassen. Gott war immer der Anfang und das Ende aller meiner Gedanken. Wenn ich jetzt frage: was ist Gott? was ist seine Natur? so frug ich schon als kleines Kind: wie ist Gott? wie sieht er aus? Und damals konnte ich ganze Tage in den Himmel hin­aufsehen, und war des Abends sehr betrübt, daß ich niemals das allerheiligste Angesicht Gottes, sondern immer nur graue, blöde Wolkenfratzen erblickt hatte. Ganz konfus machten mich die Mitteilungen aus der Astronomie, womit man damals, in der Aufklärungsperiode, sogar die kleinsten Kinder nicht verschonte, und ich konnte mich nicht genug wundern, daß alle diese tausendmillionen Sterne ebenso gro­ße, schöne Erdkugeln seien wie die unsrige, und über all dieses leuchtende Weltengewimmel ein einziger Gott waltete.
Einst im Traume, erinnere ich mich, sah ich Gott, ganz oben in der weitesten Ferne. Er schaute vergnüglich zu einem kleinen Himmelsfenster hinaus, ein frommes Greisengesicht mit einem kleinen Judenbärtchen, und er streute eine Menge Saatkörner herab, die, während sie vom Himmel niederfie­len, im unendlichen Raume gleichsam aufgingen, eine unge­heure Ausdehnung gewannen, bis sie lauter strahlende, blü­hende, bevölkerte Welten wurden, jede so groß wie unsere eigne Erdkugel. Ich habe dieses Gesicht nie vergessen kön­nen, noch oft im Traume sah ich den heiteren Alten aus sei­nem kleinen Himmelfenster die Weltensaat herabschütten; ich sah ihn einst sogar mit den Lippen schnalzen, wie unsere Magd, wenn sie den Hühnern ihr Gerstenfutter zuwarf. Ich konnte nur sehen wie die fallenden Saatkörner sich immer zu großen leuchtenden Weltkugeln ausdehnten: aber die etwanigen großen Hühner, die vielleicht irgendwo mit auf­gesperrten Schnäbeln lauerten, um mit den hingestreuten Weltkugeln gefüttert zu werden, konnte ich nicht sehen.
Du lächelst, lieber Leser, über die großen Hühner. Diese kindische Ansicht ist aber nicht allzusehr entfernt von der Ansicht der reifsten Deisten. Um von dem außerweltlichen Gott einen Begriff zu geben, haben sich der Orient und der Okzident in kindischen Hyperbeln erschöpft. Mit der Unendlichkeit des Raumes und der Zeit hat sich aber die Phantasie der Deisten[3] vergeblich abgequält. Hier zeigt sich ganz ihre Ohnmacht, die Haltlosigkeit ihrer Weltansicht, ihrer Idee von der Natur Gottes. Es betrübt uns daher wenig, wenn diese Idee zugrunde gerichtet wird. Dieses Leid aber hat ihnen Kant wirklich angetan, indem er ihre Beweisführungen von der Existenz Gottes zerstörte.
(Aus: H. H.: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Stuttgart 1997: RUB 2254. S. 102f.)

Heinrich Heine (1797 -1856)
Erläuterungen:
H.H.s Schrift ist die erste kritische Philosophiegeschichte in deutschen Landen gewesen; auf dem Boden der Kantschen Philosophie als der Unmöglichkeit, naturwissenschaftliche oder philosophische Gottesbeweise herzuleiten.
Aufgabenstellung:
* Erfasse, benenne und diskutiere Heines Gottes-Darstellung.
* Nenne Beispiele für die „kindischen Hyperbeln“, die Heine kritisch heranzieht.
* Wie redet H.H. über Gottes „Dasein“ und die den Menschen erkenntnismäßig zugängliche Natur?
* Setze dich mit H.H.s Totalkritik auseinander: Welche Möglichkeiten verbleiben, ja, sind geboten den von Gott und ihrem Glauben an ihn sprechenden oder zu Gott betenden Menschen?
**
Text 3:
Franz Kafka: Eine kaiserliche Botschaft
Der Kaiser - so heißt es - hat Dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten, gerade Dir hat der Kaiser von seinem Sterbebett aus eine Botschaft gesendet. Den Boten hat er beim Bett niederknien lassen und ihm die Botschaft ins Ohr geflüstert; so sehr war ihm an ihr gelegen, daß er sie sich noch ins Ohr wiedersagen ließ. Durch Kopfnicken hat er die Richtigkeit des Gesagten bestätigt. Und vor der ganzen Zuschauerschaft seines Todes - alle hindernden Wände werden niedergebrochen und auf den weit und hoch sich schwingenden Freitreppen stehen im Ring die Großen des Reichs - vor allen diesen hat er den Boten abgefertigt. Der Bote hat sich gleich auf den Weg gemacht; ein kräftiger, ein unermüdlicher Mann; einmal diesen, einmal den anderen Arm vorstreckend, schafft er sich Bahn durch die Menge; findet er Widerstand, zeigt er auf die Brust, wo das Zeichen der Sonne ist; er kommt auch leicht vorwärts, wie kein anderer. Aber die Menge ist so groß; ihre Wohnstätten nehmen kein Ende. Öffnete sich freies Feld, wie würde er fliegen und bald wohl hörtest Du das herrliche Schlagen seiner Fäuste an Deiner Tür. Aber statt dessen, wie nutzlos müht er sich ab; immer noch zwängt er sich durch die Gemächer des innersten Palastes; niemals wird er sie überwinden; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Treppen hinab müßte er sich kämpfen; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Höfe wären zu durchmessen; und nach den Höfen der zweite umschließende Palast; und wieder, Treppen und Höfe; und wieder ein Palast; und so weiter durch Jahrtausende; und stürzte er endlich aus dem äußersten Tor - aber niemals, niemals kann es geschehen - liegt erst die Residenzstadt vor ihm, die Mitte der Welt, hochgeschüttet voll ihres Bodensatzes. Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten. - Du aber sitzt an Deinem Fenster und erträumst sie Dir, wenn der Abend kommt.
(E.: 1917; gedruckt 1919; aus: F.K.: Sämtliche Erzählungen. Hrsg. v. Paul Raabe. Frankfurt/M. 1969. S. 138f.)
- Als neuere Interpretation empfehle ich Ulrich Greiners Versuch:

Franz Kafka (1883 - 1924)
Informationen:
Diese Parabel ist so häufig als Lesebuch- und/oder Prüfungsaufgabe gestellt, d.h. auch missbraucht worden, dass ich sie nur zögernd hierher setze. Ich schlage vor, sie als Kontrafaktur zu Lessings „Palast-Parabel“ zu interpretieren.
F.K. ist sowohl im jüdischen Sinne, den er als Autor persönlich final repräsentiert, als auch für den christlich-jesuanischen Sinn von Religionsvermittlung eine provokativ-kommunikativer Erzähler; er ersetzt den Herrscher durch den sterbenden Kaiser; die Wächter durch die eine zentrale Ich-Figur des Boten. Welche Konsequenzen zieht er damit religiös und existenziell? Können wir ihn als eine humanistische, „nachkonfessionelle“ Autorität zitieren und diskutieren?
Kafka wird literarhistorisch als erster und wichtigster Dichter der sog. „verrätselten“ oder „absurden Parabel“ eingeordnet, d.h. er verfasste existenziell-anthropologische Gleichnisse, denen die tradierten strukturellen Elemente provozierend fehlten: der „Sitz im Leben“, die geordnet verlaufende, wieder erkennbare, bildliche Handlung und die als Intention ausformulierte Deutung. Durch erkennbare historische Motive (aus dem Kontext klassisch-christlicher und jüdischer Themen) und ihre Variation oder Negation sind die meisten Kafka-Texte nicht „kafkaesk“-irrational, sondern beispielhafte parabolische Kontrafakturen mit provozierenden Intentionen.
*
Aufgabenvorschlag:
* Stelle die Beziehungen zwischen den Texten und Personen und Orten her und deute die Intention, die Kafka im Rückgriff auf Ort, Geschehen und Figuren der Lessingschen „Parabel“ aufnimmt.
* Welche religiöse oder poetische Erkenntnis „gewährt“ uns Kafka als jüdischer Denker, der die christliche Fortsetzung des alttestamentl. Glaubens mit einbezog in diese Parabel?
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Text 4:
Bertolt Brecht: Die Frage, ob es einen Gott gibt
Einer fragte Herrn K., ob es einen Gott gäbe. Herr K. sagte. „Ich rate dir, nachzudenken, ob dein Verhalten je nach der Antwort auf diese Frage sich ändern würde. Würde es sich nicht ändern, dann können wir die Frage fallenlassen. Würde es sich ändern, dann kann ich dir wenigstens noch so weit behilflich sein, daß ich dir sage, du hast dich schon entschieden: Du brauchst einen Gott.“

Bertolt Brecht (1898 – 1956).
Neben Thomas Mann und Franz Kafka der wichtigste deutschsprachige Dichter im 20. Jh.: Lyriker, Dramatiker und Theoretiker.
Informationen:
Eine der bekanntesten Keuner-Geschichten ist dieses kleine, umfassende Frage-Antwort-Spiel. (In einer neuen Ausgabe sind unbekannt gebliebene Keuner-Texte ediert: Entnommen aus der neuen Ausgabe der „Keuner-Parabeln“, die um einige neu aufgefundene Parabeln ergänzt, von Erdmut Wizisla herausgegeben, erschien: B. B.: Geschichten von Herrn Keuner. Zürcher Fassung. Frankfurt/M. 2004. S. 19.)
Aufgabenstellung:
* Gib eine Inhaltsangabe; und setze dich reflexiv und persönlich kritisch mit der Provokation auseinander:
* Diskussion: Ist „Gottesglaube“ eine nützliche Ausrede, ein privates „Brauchtum“, ein menschliches Bedürfnis (wie Essen, Trinken, Kommunikation, Liebe….)?
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Text 5:
Wolfgang Borchert: Gottes Auge
Gottes Auge lag rund und rotgerändert mitten in einem weißen Suppenteller. Der Suppenteller stand auf unserem Küchentisch. Blutfleckige Eingeweide und das milchbleiche Skelett eines größe­ren Fisches ließen den Küchentisch aussehen wie ein Schlachtfeld. Das Auge in dem weißen Teller gehörte einem Kabeljau. Der lag in großen weißfleischigen Stücken in unserem Topf und ließ sich kochen. Das Auge war ganz allein. Es war Gottes Auge.
Du mußt nicht immer mit der Gabel das Auge auf dem Teller hin- und herrutschen lassen, sagte meine Mutter.
Ich ließ das glatte runde Auge durch die Kurven des Suppentellers sausen und fragte: Warum denn nicht? Er merkt es doch nicht mehr. Er kocht doch.
Man spielt nicht mit einem Auge. Das Auge hat der liebe Gott genau so gemacht wie deins, sagte meine Mutter.
Während ich die sausende Rundfahrt des Kabeljauauges plötzlich abbrach, fragte ich: Das soll vom lieben Gott sein?
Natürlich, antwortete meine Mutter, das Auge gehört dem lieben Gott.
Nicht dem Kabeljau, bohrte ich weiter.
Dem auch. Aber in der Hauptsache dem lieben Gott.
Als ich von dem Teller aufsah, merkte ich, daß meine Mutter weinte. An diesem Tag, wo es bei uns Kabeljau gab, war mein Großvater gestorben. Meine Mutter weinte und ging hinaus. Da zog ich den Teller mit dem einsamen Auge mittendrin, mit dem rotgeränderten Auge, das Gott gehören sollte, ganz dicht an mich heran. Ganz dicht brachte ich meinen Mund über den Teller.
Du bist das Auge vom lieben Gott? flüsterte ich, dann kannst du wohl auch sagen, warum Großvater heute mit einmal tot ist. Sag das, du!
Das Auge sagte es nicht.
Das weißt du nicht mal, wisperte ich triumphierend, und du willst das Auge vom lieben Gott sein, und weißt nicht mal, warum Großvater tot ist. Kommt er denn auch nicht wieder, Groß­vater, fragte ich dicht über dem Teller, weißt du denn, ob er noch mal wiederkommt, du, sag das doch. Du mußt das doch wissen. Kommt er nun nie wieder?
Das Auge sagte es nicht.
Ganz dicht hielt ich meinen Mund an das Auge und fragte noch einmal eindringlich und ernst: Du, sehen wir Großvater denn nicht wieder, du? Sag das doch. Sehen wir ihn noch mal wieder? Wir können ihn doch noch mal irgendwo treffen, nicht? Du, sag doch, treffen wir ihn wieder? Du, sag das, du bist doch vom lieben Gott, sag das!
Das Auge sagte es nicht.
Da stieß ich den Teller wütend von mir weg. Das Auge glitschte hoch über den Rand auf den Fußboden. Da blieb es liegen. Gespannt sah ich hin. Das Auge lag auf der Erde. Und es war Gottes Auge. Gottes Auge lag auf der Erde. Aber es sagte nichts. Ich sah noch einmal hin. Nein, Nichts. ich stand auf. ich stand langsam auf, um Gott Zeit zu lassen. Ganz langsam ging ich zur Küchentür. Ich faßte nach dem Türgriff. ich drückte ihn langsam herunter. Mit dem Rücken zu dem Auge hin wartete ich noch einen langen langen Augenblick an der Küchentür. Es kam keine Antwort. Gott sagte nichts. Da ging ich, ohne mich nach dem Auge umzusehen, laut aus der Tür.
(Aus: W. B.: Das Gesamtwerk. Reinbek: Rowohlt 1989. S. 306ff.)
*
Text 6:
Wolfgang Borchert: Schriftsteller
Der Schriftsteller muß dem Haus, an dem alle bauen, den Namen geben. Auch den verschiedenen Räumen. Er muß das Krankenzimmer «Das traurige Zimmer» nennen, die Dachkammer «Das windige» und den Keller «Das düstere». Er darf den Keller nicht «Das schöne Zimmer» nennen.
Wenn man ihm keinen Bleistift gibt, muß er verzweifeln vor Qual. Er muß versuchen, mit dem Löffelstiel an die Wand zu ritzen. Wie im Gefängnis: Dies ist ein häßliches Loch. Wenn er das nicht tut in seiner Not, ist er nicht echt. Man sollte ihn zu den Straßenkehrern schicken.
Wenn man seine Briefe in anderen Häusern liest, muß man wissen. Aha. Ja. So also sind sie in jenem Haus. Es ist egal, ob er groß oder klein schreibt. Aber er muß leserlich schreiben. Er darf in dem Haus die Dachkammer bewohnen. Dort hat man die toll­sten Aussichten. Toll, das ist schön und grausig. Es ist einsam da oben. Und es ist da am kältesten und am heißesten.
Wenn der Steinhauer Wilhelm Schröder den Schriftsteller in der Dachkammer besucht, kann ihm womöglich schwindelig werden.
Darauf darf der Schriftsteller keine Rücksicht nehmen. Herr Schröder muß sich an die Höhe gewöhnen. Sie wird ihm gut tun.
Nachts darf der Schriftsteller die Sterne begucken. Aber wehe ihm, wenn er nicht fühlt, daß sein Haus in Gefahr ist. Dann muß er posaunen, bis ihm die Lungen platzen!
(Aus: W. B.: Das Gesamtwerk. Reinbek: Rowohlt 1989. S. 285)
….
Wolfgang Borchert (1921-1947) war der wichtigste innovative, junge Dichter im Nachkriegsdeutschland.
(Neben den bekannten Werksausgaben ist hinzuweisen auf: W. B.: Allein mit meinem Schatten und dem Mond. Briefe, Gedichte und Dokumente. 1996. rororo 13983.)
Informationen:
Die Analyse einer Parabel zu beherrschen nach unterschiedlichen methodischen Zugängen, bedeutet, den Autor und sein literarisches Selbstverständnis als wichtiges Zeugnis und als Repräsentanten (neben Schnurre, Böll, Bender) der jungen, unbelasteten Literatur nach 1945 in Berichten, Briefen und Kurzgeschichten zu akzeptieren, nach dem deutschen Desaster mit Krieg, Holocaust und Inhumanität. - Weiterhin sind Bezüge möglich zu Borcherts poetologischem und gesellschaftskritischem Programm “Das ist unser Manifest“ (In: “Gesamtwerk“. S. 308ff.)
*
Aufgabenstellung:
* Erfasse die Personen, ihre Aussagen und ihre Konsequenzen mit dem alten bildnerischen, hier aktualisierten Symbol des „Auges Gottes“ umzugehen.
* Wodurch unterscheidet sich der neue Prototyp des Hausherrn (des Hausverwalters…)? Erkläre den „Schriftsteller“, den W. B. als konsequenten Neugestalter des „menschlichen Hauses“: als Dichter und Verantwortlichen für Heim, Heimat und Gesellschaft auftreten lässt, als Benenner und Verkünder, als Propheten und Politiker.
**
Text 7:
Herman van Veen: von Gott I
Als Gott nach langem Zögern wieder mal
nach Hause ging, war es schön; sagenhaftes Wetter!
Und das erste, was Gott tat, war: die Fenster
sperrangelweit zu öffnen, um sein Häuschen
gut zu lüften.
Und Gott dachte: Vor dem Essen wird ich
mir noch kurz die Beine vertreten
Und er lief den Hügel hinab zu jenem Dorf
von dem er genau wusste, dass es da lag.
Und das erste, was Gott auffiel, war
dass da mitten im Dorf während seiner
Abwesenheit etwas geschehn war,
was er nicht erkannte.
Mitten auf dem Platz stand eine Masse
mit einer Kuppel und einem Pfeil
der pedantisch nach oben wies.
Und Gott rannte mit Riesenschritten
den Hügel hinab, stürmte die monumentale Treppe
hinauf und befand sich in einem
unheimlichen, nasskalten, halbdunklen
muffigen Raum.
Und dieser Raum hing voll mit allerlei
merkwürdigen Bildern: viele Mütter mit
Kindern mit Reifen überm Kopf und ein fast
sadistisches Standbild von einem Mann
an einem Lattengerüst.
Und der Raum wurde erleuchtet von einer
Anzahl fettiger, gelblichweißer,
triefender Substanzen, aus denen Licht leckte.
Er sah auch eine höchst unwahrscheinliche
Menge kleiner Kerle herumlaufen mit
dunkelbraunen und schwarzen Kleidern
und dicken Büchern unter müden Achseln
die selbst aus einiger Entfernung
leicht moderig rochen.
„Komm mal her! Was ist das hier?“
"Was das ist? Das ist eine Kirche
mein Freund,
das ist das Haus Gottes, Freund.“
„Aha… wenn das hier das Haus Gottes
ist, Junge, warum blühen hier dann
keine Blumen, warum strömt dann hier
kein Wasser und warum scheint dann
hier die Sonne nicht, Bürschchen?!“
"… Das weiß ich nicht."
„Kommen hier viele Menschen her, Knabe?“
„Es geht in letzter Zeit ein bisschen zurück.“
„Und woher kommt das deiner Meinung
nach, oder hast du keine?“
„Der Teufel…’s ist der Teufel
der Teufel ist in die Menschen
gefahren. Die Menschen denken
heutzutage, dass sie selbst Gott sind
und sitzen lieber auf ihrem Hintern
in der Sonne."
Und Gott lief fröhlich pfeifend aus
der Kirche auf den Platz, da sah er
auf einer Bank einen kleinen Kerl
in der Sonne sitzen und Gott schob
sich neben das Männlein, schlug
die Beine übereinander und sagte:
„… Kollege!“
*
(H. van Veen: Worauf warten wir? Lieder, Notizen und Geschichten. 1981: rororo 4933. S.70f.; Herman van Veen: "Eine Geschichte von Gott" (1974). Polydor 835385-2 LC 00309, 3'01. - Im Internet auch als Prosatext, als URL.:


Hermann van Veen

Geboren am 14. März 1944; in Utrecht, Holland. Er studierte Musik, Geige und Gesang. 1967 präsentierte er in Utrecht sein erstes Soloprogramm. 1969 trat er das erste Mal in der Bundesrepublik auf. Dann folgten mehrere Europa-Tourneen. Er machte einen Kinofilm, inszenierte verschiedene Theaterproduktionen, komponierte Ballettmusik und schrieb viele Bücher mit Songs, Texten und Geschichte, die vor allem Thomas Wotkewitsch ins Deutsche übersetzte.
*
«Van Veen? - Er ist ein Unterhalter, wie ihn als so komplexe Figur sonst nur ein Lexikon zu montieren wagt: Er ist Sänger und Geiger, er hat etwas von einem Schauspieler und einem sprunggewandten Tänzer, er ist Pantomime, Parodist, Imitattor, Geschichtenerzähler, kurzum: ein Spaßmacher und ein Erzieher, ein Clown, wie die Zeit ihn braucht und ihn sich ja auch hervorgebracht hat: Weiser, Moralist und Rotznase» (Aus „DIE ZEIT.“).
*
Text-Ergänzung:
Hermann van Veen:
Auf dem Sofa
Geschichte von Gott II
O ja
ich erzählte von Gott
wie er nach langem Zögern
wieder mal nach Hause ging.
Gestern habe ich das Haus gesehen
genauso wie ich es erfunden hab
mit roten Dachpfannen
Butzenscheiben
und grünen Fensterläden
unmittelbar hinter den sechzehn Pappeln am Deich.
Mein Herz stand still
und ich ertrank beinah
in Gänsehaut.
Schrecklich nervös
ging ich zur Tür
auf dem Namenschild stand: g punkt ott
das war die Chance
meines Lebens.
Gott vor dem Himmel zu sprechen
ich hatte tausend Fragen
und nahm mir vor, mit etwas ganz Einfachem zu beginnen
nicht sofort mein Pulver zu verschießen
mit
einer Frage
warum sind in deinem Namen
und dem des Vaterlandes soviel Kriege
geführt und soviel Menschen geopfert worden
das könnte ihn vielleicht abschrecken.
Ich überlegte eine ganz ganz höfliche Frage
mit der ich beginnen würde:
Grüß Gott
haben sie auch was mit dem Lotto zu tun?
Ich stellte mir vor, daß er dann lachen
und sagen würde:
Nein, Hermannus Jantinus
dein Schicksal liegt in deiner Hand
oder so was Ähnliches
in jedem Fall etwas sehr Tiefsinniges.
Ich blieb nervös
holte tief Luft
und klopfte an die Tür.
ein kleines
liebes
altes Frauchen öffnete.
«Guten Tag
ist Gott zu Hause?»
«Du sprichst mit ihm, junger Mann!»
*
(Aus: H. van Veen: Worauf warten wir? Lieder, Notizen und Geschichten. 1981: rororo 4933. S.77f.)
Hermann van Veen, privat und als Künstler auf seiner website:
*
Aufgabenstellung:
* Setze dich mit van Veens Darstellung von Gott, Mensch und Teufel - mit seinen Aufforderungen, Begründungen und Zumutungen zur Gottes-Frage - auseinander.
* Worin liegt das Mitmenschliche; worin das Provozierende; worin das Beispielhafte?
* Welches sind die Kriterien, mit denen „Gott“ sich den Menschen zeigt und sein „Haus Gottes“ überprüft?
*
Als abschließend-vorläufiges, weiterreichendes Motto füge ich eine außer-europäische Parabel an, von dem US-amerikanischen, indigenen Autor
Noble Red Man:
Das Große Geheimnis des Wakan-Tanka
Man kann Wakan-Tanka nennen, wie man möchte. In der Sprache der Weißen nenne ich Ihn Gott oder Großer Geist.
Er ist das Große Mysterium, das Große Geheimnis. Das ist es, was Wakan-Tanka wirklich bedeutet: das Große Geheimnis.
Man kann Ihn nicht definieren. Er ist eigentlich kein »Er« und keine »Sie«. Wir müssen diese Worte verwenden, weil wir nicht einfach »Es« sagen können. Gott ist nie ein »Es«.
Also nennt Wakan-Tanka, wie ihr wollt.
Aber vergesst nie, ihn anzusprechen.
Er möchte mit euch reden.
*
Der Autor Noble Red Man (1902-1989) war Lehrer und Sprecher der Lakota-Indianer/USA. Der Text ist entnommen „Hüter der Weisheit“. Die spirituelle Welt des Lakota-Häuptlings Noble Red Man. Übersetzt von Bettina Lemke. München 20001: dtv 36244. S. 22f.
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Abschließende Hinweise:
In einem empfehlenswerten, kleinen, schmucken Bändchen finden sich zur religiös- gottzentrierten Sinnfrage viele alltägliche oder Lehrer-Schüler-Gleichnis-Texte aus unserer Zeit:
Behrendt, Joachim-Ernst: Geschichten wie Edelsteine. Parabeln, Legenden, Erfahrungen aus alter und neuer Zeit. München 1996. Kösel Verlag.
*
P.S.: Vorgesehen für dieses Auswahl-Angebot war auch als Text Martin Bubers wichtigste Parabel “Die fünfzigste Pforte“, in der ein Schüler Rabbi Baruchs der „Wesenheit Gottes“ nachforscht. (Sie ist u. a. enthalten in dem Reclam-Band „Deutsche Parabeln, herausgegeben von Josef Billen. Stuttgart 1982. RUB 7761).
Aber Martin Buber, der bekannteste jüdische Theologe und Dichter des 20. Jh.s, ist mit dieser einen Parabel natürlich nicht zu charakterisieren; man müsste sich mit seinem Werk nach Vorgabe und Hilfe der Theologen und Philosophen umfassender beschäftigen. Deshalb ist sein beispielhaft existenzieller Text zum Motiv des „Zugangs eines Gottsuchers zum Haus Gottes und zum Gesetz“ für einen nächsten Artikel in dieser Zeitschriften-Serie vorgesehen - im Vergleich und im Zusammenhang mit anderen motivähnlichen Parabeln vom „Gesetz-Zugang“ vorgesehen - mit den Texten Kafkas „Vor dem Gesetz“ und Joseph Roths „Tür-Gleichnis“ aus dem Roman „Hiob“.
„Wovon träumt Gott?“, diese recht intelligente Frage lässt sich versuchsweise so beantworten: „… von intelligenten Menschen“?
Ich glaube aber, dass diese Frage eine Verletzung des ursprünglichsten Gebotes des Anstandes gegen Gott oder Gottesvorstellungen darstellt:
„Du sollst dir kein Gottesbildnis machen, das irgendetwas darstellt am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde.“ (Nach Dtn 5,8)
Dass auch Mose sich hilfsweise menschlicher Vergleiche bediente, um seine Gottes-Idee in anthropomorpher Vermittlung zu formulieren, sei ihm geschuldet; und uns in anthropologischer Verpflichtung vermittelt.
So lange wir als Menschheitsaufgabe keine irgendwie gleichartige Gottesvorstellungen formulieren können, sei es uns verboten, ihn als Mensch - außer als Abbild von Mann und Frau – funktionalisieren.
Für lange, lange Übergangszeiten seien uns die Be- und Erkenntnisse der Menschenrechtserklärung(en) eine globale Verpflichtung, ohne Sonderrechte für irgendein Individuum, Gruppe oder kollektive Institution.


Fragen wir uns:

* „Wovon Gott träumen mag“?,  in menschlichen Vorstellungen formuliert.
* Dass wir uns nicht an ihm und gegen uns oder andere versündigen.
* ... außer in transitorisch-parabolischer Redeweise.




[1] Wörtliche Übersetzung: die einen leichten Bissen dem Mund bieten soll. Ein alter Sprachforscher.[Gemeint ist das alte, humorvolle Wortspiel für den Begriff‚Parabel’.]
[2] Der Text war zuerst französisch 1834 erschienen; in „Revue des deux mondes, unter dem Titel “De l’Allemagne depuis Luther“.
[3] Deisten: Im Gegensatz zu den Theisten versteht H.H. hier die Deisten in ihrer Grundhaltung zu Gott nicht als dem Weltlenker; das Weltgeschehen folgt den inhärenten Gesetzen und bedarf keiner übernatürlichen Ordnungen. Deismus ist als natürliche Religion dem Vernunftglauben der Aufklärung verpflichtet.