Donnerstag, 13. Februar 2014

Siegfried von Vegesack: Der Zopfabschneider

Nota bene:

Eine Besonderheit: eine Kostbarkeit: über ein Männliches, das sich auf "kleine Mädchen" eingestellt hat, seine Gier nach ihnen und ihrem Haar stillen will, bis er seine  ES (= seine kranakhafte Omnipotenz), sich selber "ertränkt" im Glanz, in der Fülle, in der Farbigkeit des weiblichen Haares...

Ein Sexualstraftäter: vorgeführt, gefragt, observiert: ein Verbrecher, der sich selber stranguliert in seinem Wahn. - Die Veröffentlichung dieses literarischen Fundes soll hier im Zuge der "sozialistischen Balladen", die Siegfried von Vegesack zwischen 1920 und 1933 schuf, erfolgen. Seiner Zeit waren sie als satirische "Fürstengsgesänge" bekannt und wurden heftig abgelehnt, die es dem Verfasser z.B. als Resonanz seiner poetischen Existenzversuche einbrachten, dass er sozial diffamiert und der Kaste der livländischen Adels-Gesellschaft ausgeschlossen wurde.

Vom Vorsitzenden des Livländischen Stammadelsverbands erhielt SvV. folgenden Brief (Datum 11. Februar 1926):
„(…) Sie haben das Recht freier Veröffentlichung Ihrer Dichtung. Wir, Ihre Standesgenossen vom livländischen Adel, haben aber auch das Recht aus der Veröffentlichung solcher Erzeugnisse Ihres dichterischen Talents, die nicht mit den traditionellen Begriffen von Ehre und Pietätsgefühl unseres Standes vereinbar sind, die Konsequenzen zu ziehen. (…)“ (M. Hagenbucher: SvV. 1914 – 1971: Briefe. 1988.S. 104)
Zur Biografie SvV.s.

Zur psychologischen, monologischen Ausdrucksstuktur vieler Texte von SvV. gehört eine ur- oder unerhörte, manchmal beängstigende Intimität mit psychisch verkrüppelten, sexologisch-pathologischen Männer-Typen, die sich unmittelbar, häufig hypnotisch auszudrücken versuchen. Die psychologisch-kritische Intention, die SvV eindeutitg zu erkennen gibt als eine poetische Botschaft ex negativo, mag vielen Schnell- oder Dogmen- oder Garnicht-Denkern anfänglich "verhüllt" oder missverständlich erscheinen; sie ist aber eine wahrhaft humanistische, die elenden und/oder kriminellen Figuren in einer Ich-Perspektive abbildet.

Die "vorgeführten", existenziellen Elendsbilder lassen sich auch heute noch als sexual-pathologisch geprägte Krankheitsbilder erschließeen. Die völlige Auflösung im Formalen rationaler, auch lyrischer Empathie in eine Fform des Ersatzkoitus' mit orgiastischer Potenz belegt die pathologische Evidenz des Symptoms "Zopfabschneiden". Krafft-Ebing und Hirschfeld belegen viele Fälle von Zopfabschneidungen als männlich-pathologische Erscheinungen und kriminelle Straftatbestände. *]

Nota bene. Non vulgo: 

Wie treten heute solche Überschneidungen von Liebesfähigkeit und Fetischismus als dissoziale Symptome aus? Sie sind der allgemeinen kulturellen Ertrag bzw. Aufopferung der optischen Suchfunktion in quasi kunstästhetischen Fälle/Fällungen/Beispielen.

Reste solcher Habhaftmachung des körperlichen Fetisches treten in pornografischer, pädophiler "Kultivierung" auf.

*] Zu Anfang des 20. J.s „....) waren etliche klassische Perversionen wie der Flagellantismus oder das Zopfabschneiden kulturell bereits untergegangen.“ Vgl.: https://www.aerzteblatt.de/pdf/PP/2/1/s37.pdf -

*
 

Ein singuläres, literarisches Beispiel als Nachweis für die pathologische, de-legitimierte, 'geschäfts#-mäßige - eine damalige Vielzahl von Zopfschneidern
 
Siegfried von Vegesack:
Der Zopfabschneider

Ihr sammelt Briefmarken, Käfer und Schmetterlinge,
Lauter törichte Dinge,
An denen nichts ist.
Was wißt
Ihr von meinen heimlichen Seligkeiten,
Wen die kleinen Mädchen vor mir her schreiten,
Und ich ihnen folge, wie der Jäger dem edlen Wild,
Bis meine Raubgier gestillt?
Ich tu ihnen ja nichts zu Leide:
Sie fühlen es nicht,
Wenn ich dicht
Unterm Hals das Zöpfchen vom Köpfchen schneide.


Ihr habt eure Mädchen und eure Weiber,
Laute rohe Leiber,
An denen nicht ist.
Was wißt
Ihr von meinen heimlichen Seligkeiten,
Wenn die Zöpfe knisternd durch meine Finger gleiten
Weich und schwer?
Und wie ein Meer
Sich die duftenden Haaren um mich breiten?

Oh, ich hab Zöpfe, die wie aus Golde sind,
Licht und blond,
Wie Korn; das von Sommersonne durchsonnt
Leuchtend durch meine Finger rinnt.
Andre sind blauschwarz wie die Nacht.
Und einen hab ich heimgebracht,
Den berühr ich nur ganz selten, Jahr für Jahr,
Ganz leise in knabenscheuer
Sehnsucht: es brennt wie Feuer
Das rote, rote, lodernde Haar.

Manche sind wie gefährliche Schlangen,
Die weich und kühl
Im zärtlichen Spiel
Sich schmiegen an meine blassen Wangen.
Und andre, die so keusch und voller Unschuld sind,
Daß ich sie nur bebend, wie eine Kind,
Berühren kann mit scheuem Verlangen.
Welche Fülle! Und welche Glätte!
Wie himmlisch gewellt!
Oh, wen ich doch alle Zöpfe dieser Welt
In meinen behutsamen Händen hätte!

Ach, wann finde ich ihn, den schönsten von allen,
Schwer wie Gold,
Wie eine Kupferschlange zusammengerollt,
Wie aus Sonnenstrahlen ein schimmernder Ballen?
Ihn will ich mit meinen Lippen berühren,
Liebkosend um meinen Nacken führen,
Daß ich in seinen Düften versinke,
Bis er fest 

Um den Hals sich mir presst, -
Und ich lächelnd in seiner süßen Schlinge ertrinke.
*
(1922 verfasst; zuerst veröffentlicht in: „Lieder der Gosse“. Hrsg. v. Willy Stiewe und Hans Philipp Weitz. Berlin Guido Hackebeil 1922.42ff. - Später nicht mehr gedruckt.)

Von Vegesack steht in der Erfassung dieser Magie, die eine Psychopathologie ausmacht, nicht allein in der Literaturgeschichte des Deutschen. 

Vergleichbar intime Texte sind: 

Christoph Martin Wieland: Das Gärtlein still vom Busch umhegt...
 

Johann Wolfgang von Goethe: Das Tagebuch

Eduard Mörike: Erstes Liebeslsied eines Mädchens

Max Dauthendey. Deine Brüste ...


Diese Texte sind natürlich sehr verschieden in Vers und Intention, so wie Erotik und/oder Sexus über-individuell fasslich und beschreibar sind - und in der Entstehung und in der Rezeption heiklen gesellschaftlichen Normen unterliegen.

Wer sie  v e r b i e t e n , unterschlagen möchte, begeht ein sozio-kulturelles crimen, nicht der Verfasser..