Sonntag, 19. März 2023

Mein M ö r i k e -Kollegbuch


"Mein Mörike" - ein Kollegbuch, das sich in meinem Studium führte vier Semester lang (1972-75): - alles zu Mörikes Feuerreiter. Erstfassung v. 1824:






Doch heute ein anderes BeiSpiel von [meinem Lieblings-] Dichter  M ö r i k e:

 

Eduard  Mörike:

Zitronenfalter im April

Grausame Frühlingssonne,
Du weckst mich vor der Zeit,
Dem nur in Maienwonne
Die zarte Kost gedeiht!
Ist nicht ein liebes Mädchen hier,
Das auf der Rosenlippe mir
Ein Tröpfchen Honig beut,
So muß ich jämmerlich vergehn
Und wird der Mai mich nimmer sehn
In meinem gelben Kleid.

**Textgrundlage: Mörike, Eduard: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Hans-Henrik Krummacher, Herbert Meyer u. Bernhard Zeller. Stuttgart 1967ff. (HKA). Bd. 1,1: Gedichte. (Nach der Ausgabe von 1867). Erster Teil: Text. Hg. v. Hans-Henrik Krummacher. 2003. S. 321.

Entstanden ist das Gedicht am 9. April 1846.

Erst sechs Jahre später hat Mörike es erstmals veröffentlicht, und er nahm es dann in die 1868 erschienene vierte Auflage seiner Gedichte auf.


Am 27. Juni 1863 berichtet er aus Stuttgart in einem Brief an den Urfreund Wilhelm Hartlaub:

Am Johannistag von dem du sagst, saßen wir richtig im Garten. Die Kinder klaubten sich die ersten reifen Himbeeren mit unendlichem Suchen heraus. – Die Kleine [also ist jüngere Tochter Marie gemeint] sang mir aus dem Stegreif (gar nicht unmelodisch) ‚Grausame Frühlingssonne, du weckst’ pp.“

Mörike bezieht sich hier auf den 24. Juni, den katholischen Namenstag des heiligen Johannes, der aber volkstümlich verbreitet war mit seinen Nussbaum-Gebräuchen.

Hartlaub hatte in seinem Brief von diesem Tag an den Johannitag 1844 erinnert, als die Freunde zusammen in Hall Haydns Oratorium „Die Schöpfung“ gehört hatten.

*

Das eigentümlich kleine Gedicht wird allegorisch aufgeweitet:

Er ist nicht nur der Falter, der hier spricht von seiner nicht erreichbaren Nahrungsquelle; in der tieferen Schicht spricht das lyrische Ich (hier auch der Mann Mörike) von seiner fehlenden Liebesverwirklichung (im Jahre 1846; vor der Eheschließung) – und der Dichter von der fehlenden Anerkennung.

Ein Kommentar zum Gedicht findet sich hier von Reiner Wild:

http://www.moerike-gesellschaft.de/2007.pdf

Citronenfalter im April ist ein unmittelbar eingängiges Gedicht; der präsentierte

Vorgang ist leicht nachvollziehbar. Die Wahl gängiger Liedstrophen, die Mörike zu einer

längeren Einzelstrophe kombiniert, stützt diese Eingängigkeit. Bei näherem Hinsehen

erweist sich diese Einfachheit freilich als Produkt hoher Kunstfertigkeit.

So lässt Mörike den Zitronenfalter selbst sprechen; die Klage gewinnt damit an Nachdruck. Und diese Klage folgt der Stilfigur der Umkehrung. Die Sonne, sonst und gerade im Zusammenhang mit Frühling ein Hoffnungszeichen schlechthin, wird zur ‚grausamen’ Todesbringerin; gleich am Eingang des Gedichts ist diese Paradoxie formuliert. Ebenso wird der Schmetterling selbst, auch er wie die Sonne sonst ein Frühlingszeichen, zum Todeszeichen. Bedeutungsvoll aber ist vor allem die Erotisierung der Klage des Falters (wobei Mörike auf Motive anakreontischer Lyrik zurückgreift). Nicht allein die Nahrung, das „Tröpfchen Honig“, muss der Schmetterling entbehren, sondern auch und vor allem die Liebe, die „Rosenlippe“, die ihm die Nahrung gibt; ihr Mangel führt zu seinem Tod.

So wird das Naturgedicht zur „Liebesdichtung“, wie Dietrich Fischer-Dieskau Citronenfalter im April genannt hat. Das Frühlingsbild gewinnt damit eine bemerkenswerte Abgründigkeit, die dadurch noch vertieft wird, dass der Klage ein leiser Hauch von Hoffnung beigegeben ist. Denn der zweite Teil der Strophe lässt sich immerhin auch als Frage lesen: 

„Ist nicht ein liebes Mädchen hier“? 

So könnte die Liebe den Falter bewahren ... vor dem vorzeitigen Tod.



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