Dienstag, 17. November 2020

Wie die Familie Campenhausen G o e t h e erlebte in Karlsbad (1823)

* "Das war Goethe" Bericht der Urgroßtante von Vegesacks Mutter, der Jenny von Campenhausen: Brief, aufgeschrieben von der „Großtante Ernestine“ - so benannt von Siegfried von Vegesack - in ihren Erinnerungen: Der 28. August 1823: Ein Donnerstag: In Karlsbad bekamen wir eine Wohnung ganz nahe beim Sprudel, die 'Blaue Kugel' genannt. Von einer Dame aufge­sucht, die früher Livländer gekannt hatte, wurden wir in die ganze Aristokratie von Weimar hineingezogen, lauter liebenswürdige Leute, mit denen man am Brunnen verkehrte. Un­ter den Badegästen, die wir kennenlernten, näherte sich uns ein Ehepaar aus Österreich oder Böhmen. Sie hießen Krametz von Lilienthal, machten einen Besuch im Hause und konnten nicht genug ihr Wohlgefallen an den Ostseeprovinzlern dar­tun. Ich gefiel ihnen ungemein, so sollten die jungen Damen bei ihnen gar nicht sein, kurzum, sie wollten für ihren ein­zigen Sohn nur eine solche Frau haben. Der Jung war aber noch ein Knabe, indes der Erbe ihrer Besitzungen. Die Dame kam nun wirklich mit ganz ernsten Vorschlägen und war fast gekränkt, daß meine Mutter es sehr scherzhaft aufnahm und meinte, damit hätte es noch Zeit. Ich war aber nicht we­nig stolz auf diesen ersten Heiratsantrag. Für mein Leben gern wäre ich alle Morgen am Brunnen mitgegangen, aber uns Mädchen wurde es nur zweimal in der Woche gestattet, wenn große Musik war. Mich amüsierte damals eben alles. Wieviel gab es auch zu sehen an den Leu­ten aus aller Herren Ländern! Ein Fürst Cantekusin aus der Moldau in den prachtvoll­sten orientalischen Costümen leuchtete schon von weitem in Citronengelb und Purpuratlas, immer von einem großen Ge­folge begleitet. Die bunteste Menge wogte besonders auf den Wandelbahnen des Neubrunnens. Auf der Promenade nach Hammer sah ich oft eine junge Frau, die vor ihrem Häuschen saß und Spitzen klöppelte. Ich schaute ihr gern etwas zu, wie die Klöppelchen nur so flogen unter ihren Händen, und hatte die größte Lust, diese nette Arbeit zu erlernen. Das ergriff die gute Mutter gleich und sprach mit der Frau. Sie ging gern darauf ein und versprach, das Nötige zu besorgen und als Lehrmeisterin alle Morgen zu uns zu kommen. Ein Klavier war schon früher gemietet worden, und nun kam diese unterhaltende Arbeit noch dazu. Bald sangen wir alle die Lie­derchen der Harfenistinnen, die uns immer so viel Spaß machten, und spielten die Tänze nach ‑ Musik war ja überall, wo man hinging. Wir hatten auch nicht geringe Lust, die wöchentlichen Réunions im Sächsischen Saal, zu denen wir immer eingela­den wurden, mitzumachen, zumal wenn man am Sonnabend, von der Promenade kommend, die auffordernde Musik hörte und die tanzenden Paare vor den Fenstern vorbeifliegen sah. Es hieß dann: 'Das steht euch noch alles bevor, wenn ihr confirmiert sein werdet!' Die liebevolle AM in der diese ein­zige Mutter alles sagte, und die Überzeugung, daß es immer nur das Rechte sein konnte, machten, daß man es nicht schwer fand, sich zu fügen. Die schöne Zeit in Karlsbad hatte ihr Ende erreicht. Doch einer seltsamen Begegnung will ich noch gedenken, die auf mich einen unauslöschlichen Eindruck gemacht hat. Am letz­ten Tag unseres Aufenthaltes hatte ich mit dem Vater einen kleinen Spaziergang gemacht, auf der Straße, die nach Elbogen führt. Auf dem Heimwege, schon in Karlsbad angelangt, sahen wir vor einem Hause auf der Wiese eine größere Men­schenmenge mit einer Musikkapelle. Noch bevor wir uns er­kundigen konnten, was das zu bedeuten habe, hörten wir Rufe aus der Menge. 'Da kommt er! Da kommt er!' und gleich darauf hinter uns das Heranrollen einer Equipage, die im schnellen Trabe auf uns zukam. Wir stellten uns an den Straßenrand, um der Equipage auszuweichen, die aber genau an jener Stelle hielt, wo wir standen. Ein Mann gesetzten Alters stieg als erster aus und half einer älteren und zwei jungen Damen galant aus dem Wa­gen, nur ein paar Schritte von uns entfernt, so daß wir ihn und seine Begleiterinnen aus nächster Nähe gut sehen konn­ten. Aber so lieblich die jungen Damen auch waren, mein Blick wurde vom alten Mann so gefesselt, daß ich nur ihn sah und alles andere darüber vergaß. Nie habe ich seitdem ein solches Antlitz gesehen, von einer solchen Würde und Hoheit und dennoch heiterer Anmut, daß es mir nicht menschlich, sondern fast göttlich erschien. Er wurde gleich von der Menge umringt, und die Musikkapelle spielte. Ich stand wie gebannt und wollte bleiben, doch der Vater zog mich an der Hand, und wir gingen heim. Als wir uns ein Stück entfernt hatten und die Musik hin­ter uns verklang, blieb der Vater in großer Erregung stehen, faßte mich fest am Arm und fragte mich.‑ 'Hast du ihn ge­sehen? Und weißt du, wer es war?' 'Nein, wie soll ich das wissen?' 'Das war Goethe. Nun haben wir ihn leibhaftig gesehen: den Größten, der heute lebt!' Der Vater hatte Tränen in den Augen, als er dies sagte. Er war so ergriffen, daß er mich stumm umarmte. Dann meinte er, indem wir weiter gingen: 'Dies war das schönste, was wir erleben durften. Vergiß es nie: du hast Goethe gesehen!' 'Und warum bist du denn gleich davongelaufen? Wir hätten ihn vielleicht noch besser sehen, vielleicht sogar spre­chen können wie die andern, die sich um ihn drängten. War­um zogst du mich fort?' Der Vater blieb stehen, sah mich groß an und sagte mit Nachdruck. 'Weil man sich dem Göttlichen nicht aufdrängen soll. Wir sind ihm begegnet, wir haben ihn gesehen ‑ das genügt! Und wir haben ihn näher und besser gesehen als alle anderen: hoch im Wagen; und dann, wie er ausstieg und den Damen beim Aussteigen half ‑ ein Jüngling, trotz seiner vierundsiebzig Jahre. Ein Gott, für den es kein Alter gibt. Wir haben ihn leibhaftig gesehen. An diesen Abend sollst du dich dein Leben lang erinnern!' Wie man uns erzählte, weilte Goethe damals zur Cour in Marienbad und war für einige Tage nach Karlsbad herüber­gekommen, wo er im Hause einer Frau von Levetzow lo­gierte. Es hieß ‑ doch das habe ich erst in späteren Jahren erfahren ‑, daß er deren Tochter Ulrike habe heiraten wol­len, aber dann kam es nicht dazu. Der Altersunterschied mag wohl zu groß gewesen sein. Es war sein Geburtstag, und des­halb hatte man ihm das Ständchen dargebracht ‑ der 28. August. Es war ein Donnerstag. Am Freitagmorgen haben wir Karlsbad verlassen. Obzwar ich damals herzlich wenig von Goethe wußte, hat mich diese Begegnung doch tief bewegt, weil ich den Vater noch nie so ergriffen gesehen hatte. Auch am nächsten Tag, in der Kutsche, konnte er sich gar nicht beruhigen und ver­sicherte immer wieder, daß dies einer der schönsten Tage seines Lebens gewesen sei.« * Überliefert durch Siegfried von Vegesack: Vorfahren und Nachkommen. Aufzeichnungen aus einer altlivländischen Brieflade. 1689 - 1887. Heilbronn 1960. S. 269ff.
Büste von Siegfried von Vegesack. In Regen ** Und das Historische und das Poetische an Goethes Leben im Sommer 1823 ...? 26. Juni bis 17. September: Reise nach Marienbad (3. Juli - 2o. Au­gust), Karlsbad (25. August - 5. September), Eger und Um­gebung (5. bis 11. September). Gesellschaftlicher Verkehr wie in den früheren Jahren im Kreise der Kurgäste, zeitweise in der Umgebung des Großherzogs Carl August. Zahlreiche neue Bekanntschaften, u. a. mit der Petersburger Pianistin Maria Szymanowska, deren Spiel Goethe hier wie auch bei ihrem Aufenthalt in Weimar 24. Oktober - November tief­bewegende Eindrücke verdankt. (16. - 18. August. Gedicht "An Madame Marie Szymanowska", später unter dem Titel Aussöhnung in die Trilogie der Leidenschaft aufgenommen. I, 385.) ‑ In Marienbad und Karlsbad Umgang mit Frau v. Levetzow und ihren Töchtern. Leidenschaftliche Neigung zu Ulrike von Levetzow. Entstehung von sechs an sich gerichteteten Gedichten (I, 378ff.) im August, sowie - noch auf der Rückeise, vom 5.-7.9. der Marienbader Elegie" (I, 381ff.). (Aus: Heinz Nicolai: Zeittafel zu Goethes Leben und Werk. 1964. Titab 617.S. 145f.)

Montag, 9. November 2020

Vom Lebenswerk Siegfried von V e g e s a c k

Siegfried von Vegesack Porträt - Folge vier Vegesack, ein ökologischer Vor-Geher und seine Bemühungen um sein Waldgrab S.v.V.s Brief und eine letzte Verfügung: * * An das Landratsamt Regen Nr. II/7 - 554. Burg Weissenstein, 18. Mai 1964. Gegen die Entschließung der Regierung von Niederbayern vom 22. April 1964 erhebe ich hiermit Einspruch. Die dargelegten Ablehnungsgründe widersprechen den Tatsachen: 1) Die geplante Begräbnisstätte soll keineswegs auf dem Pfahl, sondern neben dem Pfahl auf meinem Grund und Boden errichtet werden. 2) Für die vorschriftsmässige Tiefe ist keineswegs irgend eine Spren­gung erforderlich, da das Erdreich hier genügend tief ist und bereits bis zu 1.50 Meter ausgehoben wurde und ohne jede Schwierigkeit auch noch tiefer ausgehoben werden kann. 3) Durch Gutachten von Prof, Dr. Georg Priehäusser, der auf dem Gebiet des Naturschutzes als Geologe eine Autorität ist und im Auf­trage des Landratsamtes Regen die geplante Grabstätte eingehend besichtigt und geprüft hat, bestehen weder aus Gründen des Natur­schutzes, noch aus denen der Wasserversorgung irgend welche Be­denken gegen die Errichtung der Grabstätte. Alle diesbezüglichen Einwände der Regierung sind deshalb hinfällig. 4) Meine Begräbnisstätte würde in keiner Weise einen Eingriff in die freie, schöne und schutzwürdige Landschaft" bedeuten, da dieses Landschaftsbild durch einen bescheidenen Grabhügel nicht im Geringsten verändert werden würde. Weder ein Gedenkstein, noch irgend ein Denkmal, sondern nur ein einfaches Totenbrett an einer Kiefer, - wie es hier üblich ist, - wird die Begräbnisstätte bezeich­nen. Es ist geradezu grotesk, wenn die Regierung bei ihrer Entschließung sich auf den Naturschutz beruft: denn die Regierung von Nieder­bayern hat Jahre und Jahrzehnte untätig zugesehen, wie der Quarz des Pfahles als Straßen-Schotter ausgebeutet wurde! Wenn ich den Bund für Naturschutz in Bayern nicht alarmiert und mich für den Schutz des Pfahles eingesetzt und durch mein persönliches Eingreifen eine weitere Ausbeutung verhindert hätte, wäre auch der letzte Rest des Quarzfelsens oberhalb des Dorfes Weissenstein spurlos verschwunden. Auf meine Verdienste als Schriftsteller bilde ich mir nicht allzu viel ein: sie sind vergänglich. Doch mein bleibender Verdienst, dass ich den Quarzfelsen vor dem gänzlichen Untergang bewahrt habe, kann mir niemand abstreiten. Und so glaube ich doch ein gewisses Anrecht auf ein bescheidenes Grab am Fuße des Pfahls zu besitzen, dessen letzter Quarzfelsen oberhalb des Dorfes ohne mein Einschreiten längst vom Erdboden verschwunden wäre. Da bisher kein einziger Vertreter der Regierung von Niederbayern sich ein Bild von der tatsächlichen Lage der geplanten Grabstätte ge­macht hat, schlage ich vor, dass ein Sachverständiger der Regierung auf meine Kosten herkommt und sich unvoreingenommen durch persönlichen Augenschein davon überzeugt, dass der hier darge­stellte Tatbestand der vollen Wahrheit entspricht. Sollte die Regierung von Niederbayern trotzdem auf ihrer Entschließung bestehen und mir die Grabstätte verweigern, werde ich gegen diese Entschließung Berufung einlegen und den Rechtsweg beschreiten. Da ich mich bereits dem 80. Lebensjahr nähere, werde ich die endgültige Entscheidung der höchsten Instanz kaum noch selbst erleben. Deshalb bestimme ich schon heute als meinen letz­ten, unumstösslichen Willen: dass mein Leichnam eingeäschert, und meine Asche auf meinem Grund und Boden, an der bezeichneten Stelle am Pfahl beigesetzt wird. Als gläubiger Christ bin ich kein Freund der Feuerbestattung, - eine christliche Beisetzung in der Erde würde meinen Anschauungen als Christ besser entsprechen, 'von Erde bist du, und zur Erde sollst du werden!' - da aber hier in Weissenstein kein Dorffriedhof besteht, und ich auch auf dem überfüllten Friedhof von Regen nicht neben meinen Brüdern liegen könnte, bleibt mir als einziger Ausweg die Feuerbestattung. Ich habe auf dem Lande gelebt, und möchte deshalb auch auf dem Lande begraben sein, - und zwar in dieser Erde, die mir im Lauf ei­nes halben Jahrhunderts zur zweiten Heimat wurde. Die Urkunde meines letzten Willens werde ich im Notariat Regen hinterlegen. Eine Abschrift füge ich zur Kenntnisnahme bei. Gez. Siegfried von Vegesack Weissenstein, Pfingstmontag, den 18. Mai 1964. * Siegfried von Vegesack: MEIN LETZTER WILLE Für den Fall, dass die Regierung von Niederbayern auch nach mei­nem Tode mir ein Begräbnis auf meinem Grund und Boden am Pfahl verweigern sollte, bestimme ich hiermit als meinen letzten Willen, dass mein Leichnam eingeäschert und meine Asche auf der von mir bezeichneten Stelle am Pfahl beigesetzt wird. Ferner bestimme ich, dass weder ein Gedenkstein, noch ein Denk­mal, sondern nur ein einfaches Totenbrett, wie das hier im Wald der Brauch ist, die Stätte bezeichnen soll. Der Grabhügel soll so unaufällig wie möglich sein, und sich in keiner Weise von der von Heide­kraut bewachsenen Umgebung unterscheiden. Als gläubiger Christ bin ich zwar kein Freund der Feuerbestattung, - eine christliche Beisetzung in der Erde würde meinen Anschauungen besser entsprechen. Da aber hier in Weißenstein kein Dorfriedhof besteht, und ich auch auf dem überfüllten Friedhof von Regen nicht neben meinen Brüdern liegen könnte, bleibt mir als einziger Ausweg die Feuerbestattung. Weißenstein, am Pfingstmontag, den 18.Mai 1964. Von Vegesacks Grabstätte (Montage aus drei Fotos: Wegweiser, Betonsockel der Windturbine, Grabbrett der Grabstelle) - © Reyntjes Der Text der selbst gefertigten Grabbrettes lautet: Hier, wo ich einst gehütet meine Ziegen, Will ich vereint mit meinen Hunden liegen. Hier auf dem Pfahle saß ich oft und gern. O Wandrer schau dich um, und lobe Gott den Herrn. * So hat von Vegesack sein Waldgrab erhalten; es ist in fünf Fußminuten von der Burg und dem Museum aus zu erreichen. Es ist wohl für jeden Besucher an dieser Stätte ein eigentümliches Gefühl; und in jedem Jahr, wenn ich Weißenstein und Regen besuche, setze ich mich hier zwischen Heidekraut, Birken und Lärchen, zwischen dem silberschlierigen Quarzgesteins und dem immer spürbaren Herrn der Lüfte, den heraufstreichenden Winden, der Lebenserfahrung dieses Weltenbürgers von Vegesack sinnlich und intensiv aus. Dann lese ich immer wieder gerne die Geschichte vom Bau der Windturbine, deren Betonfundament man noch in unmittelbarer Nähe des Grabes erkennen kann. (Vgl. Folge fünf "Licht der Lüfte" des Vegesacks-Porträts.) (Quelle: Brief Nr. 209. Abgedruckt nach der Briefausgabe. Hrsg. von Marianne Hagengruber: Briefe 1914 - 1971. Grafenau 1988) * Virenfrei. www.avast.com

Vegesack Grabstätte in Regen/Weißenstein

I r g e n d w a n n, in den späten Achtzigern des vorigen Jahrhunderts, auf einer Autofahrt von Regensburg, über Passau nach Wien ... standen wir, weil wir nicht nach Regen reinfahren wollen, im Weißenstein oberhalb von Regen. Wir parkten auf dem schön gelegenden Parkplatz; eine kurze Rast gönnten wir uns; wir sahen uns um. Ganz in der Nähe stieß ich auf diesen Hinweis: Zur Grabstätte Siegfried v. Vegesack. Als wir die Höhe schon wieder verlassen hatten, war mir der Namen noch nicht entschwunden. Dann sagte ich zu meirn Frau: „Ich hab's: Siegfried von Vegesack. Den kenne ich doch. Ich hab mal in der Buchhandlung bestellt, für einen Kunden, der mir aufgefallen war. Ein alter Herr. Ich musste den Titel im Barsortimentslgaerkatalog nachschlagen: „Die Baltische Tragödie“. Der mir unbekannte Kunde, den wollte ich auch bedienen, als er am nächsten Tag das Buch abholen konnte; vielleicht konnte ich ihn noch was fragen zum Buch, mit dem unbekannten Titel. Irgendwie was von Vertrieben, so dachte ich damals ziemlich leichtsinnig. Aber ich den Kunden verpasst, weil ich am nächsten Tag in der Buchhandlung nach Goch bestellt wurde, weil ich dort Frau Anna Thissen helfen musste - .. Aber auf dem Rückweg von unseren Wiener Sommerferien konnte ich es einrichtene, dass wir wieder in Regen kamen. Dann hinauf nach Weißenstein. ... und dann dort unser erster Gang zur Grabstätte – beeindruckend die kleine Anlage und würdevoll. Und von Zuhause aus gewann mit den Lektüren und Notizen meine vierzigjährige Bekanntschaft mit Siefgried von Vegesack und den Balten, die sich so erstaunlicherweise der Geschichte und der Literatur verschreiben hatten; neben S.v.V. auch Sigmund von Radecki (der erstaunlicherwie in Gladbeck, eine Viertelstunde von hier. begraben liegt; und dessen Nachlassverwalterin ich noch kennen lernen durfte.. Aber mein Hauptaugenmerk liegt noch immer – neben dem Studium von Stefan Zweigs Schriften - auf Leben und Werk von Vegesack.

Mittwoch, 26. August 2020

Erlebnisse ... in Schule ... und der ExKursion (nach Berlin)

l< Wolfgang Borchert; Wikipedia-Bild>

Von den Tränen der Haut eines Schauspielers

 

Erinnerungen an den Unterricht auf der Gaesdonck und an eine Studienfahrt nach Berlin 1963 - 1965 Als wir, im Jahre 1963 eine Schülergruppe in Berlin waren; und es war ein schöner Herbst – in einer alten Villa in Wandsbeck, mit dem großzügigen Charme der Vergeblichkeit, oder soll ich sagen: des Verfalls oder des Scheins auf Feldbetten? 

Was wir von der Senatsstelle vermittelt bekamen, waren zweimal Abendkarten, ein Ausflug durch Westberlin im einem Bus - und eine Erkundung in einer Ecke der Reichstagsgebäudes, als politische Information - Ja, es war gerade der 13. August gewesen, mit den hektischen Erscheinungen der hilflosen Politik; auf der Fahrt konnten wir nichts durch das Brandenburger Tor in den Osten schauen; die großen Torbögen waren verhangen von schweren DDR-Fahnentüchern. Vom Besuch der Theatergruppe der Wüllmäuse erinnere ich mich nicht; alles war von denn hektischen Gerede der Berliner Schnauzen und den prustenden Gelärm der Besucher, nicht für Landpomeranzen wie uns. Aber am Mittwochabends konnten wir in die sagenhafte Katakombe besuchen, mit den Karten von Westberliner Senat: Was mich da erschütterte: Wir saßen in einem länglichen Raum in der ersten Reihe, rechts, mit den Augen zur Bühne - und e r l e b t e n   Borcherts Theaterstück Draußen vor der Tür (geschrieben 1946/47) – Ein Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will, das mich so stark überraschte, dass ich nicht mehr weiß, ob wie oder was wir des Autors und der Thematik – Heimkehr nach dem Krieg und die Veramtwortung des Friedens – gedachten - nee, es wurde nicht besprochen - ich weiss es ... - unser Pauker war hilflos, ein Latein- und Griechischlehrer; (professionell) geistig verwundet vom Krieg, den er an der Küste der Normandie (über-)lebt hatte; und in jeder Caesar-Stunde erzählte, wenn er von einem darauf trainierten Schüler daraufhin gekitzelt wurde ... 

Ja, Borchert: Ich habe zwar eine Taschentuchenausgabe, aus dem Januar 1962 (364 - 393. Tausend) des Rowohlt Taschenbuchverlags, die ich damals drei Jahre vor dem Abitur (Ostern 1965) gekauft haben muss. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass irgendjemand den Borchert oder vergleichbare Stücke und Kurzgeschichten (von Borchert, Brecht, Böll...) bis zum Abitur zur (deutschen) Sprache brachte, kein Lehrer, kein Präses, kein Präfekt. 

Auch kein Schüler, der mir beigestanden wäre. Alles von der Geschichte oder Literatur 1933 bis 1960 blieb unter Verschluss. Aus meinen Schulerinnerungen, die ich seit 1980 aufschrieb unter dem Titel Quetschungen

Und wie waren sie denn vorbereitet? Im letzten Aufsatz vor dem Abitur: Thema 1: Hugo von Hofmansthal: „Weltgeheimnis“ - Interpretation. - Thema 2: Versuchen Sie, die Erzählung „Der Kübelreiter“ von Franz Kafka zu deuten! Da knitzschnitzundknabbert er noch heute an der Frage: Aber, haben sie den Faust II überhaupt gelesen..? Oder sollte dort ein interpretatorisches Harakiri eingeübt werden? Er nahm sich in der Klausur den Kafka vor (auch ohne jede Vorkenntnis von seinen Parabeln- nichts da im Untericht!!). Er, der Ungeübte, spürte die Kalt-Warm-Metaphorik der Winterwelt und die Kälte-Beziehungen unter den Menschen, aja ein Ehepaar war's.. Aber, laut Deutschlehrer, hatte Kafka die Gut-Böse-Relation gewählt als das Fass-; Pardon der Schlitten, den er für seine Intention aufgemacht, äh, aufgemöbelt hatte. Gemäß dem letzten Fluch (ja, von wem denn?): "Du Böse! Um eine Schaufel von der schlechtesten [Kohle] habe ich gebeten, und du hast sie mir nicht gegeben.“ 

Aber diese Erinnerung: Ich auf der Fahrt (in der Klasse) nach Berlin (1963) Mit unserem Klassenlehrer, der mit uns seinen letzten Jahrgang betreute, noch kurz vorher zum Oberstudienrat - Dr. V. (der nie von seinem Doktorthemas uns was erzählte, aber auch schicklicherweise nie gefragt wurde) - ernannt worden war und später mit uns seinen Abschied von der Gaesdonck nahm: 

Ja, sie wohnten in einer Dahlemer Villa, in der der große Empfangssalon im Erdgeschoss für Schüler mit Feldbetten (auf denen es wollig&warm war) ausgestattet war. Unser Pauker war in einem soliden Zimmer untergebracht und schlief nachts selig (weil wir ihn in Ruhe ließen). 

Die pure DDR-Wirklichkeit nahmen wir vom ungefährdeten Westen her in Augenschein: Ein Blick von einer großen Bühnenempore vor der Mauer hinüber zum Brandenburger Tor: Äh, ja, es war in seinen Durchfahrten mit großen Fahnentüchern verhängt: schwarz-rot-golden mit Hammer und Sicherheits-Sichel, damit der Blick nach drüben nicht so gnadenlos mitleidig ausfallen konnte. Die Standardinformation, abgeholt bei den Westberliner Behörden, dann die Busrundfahrt, garniert mit Berliner Witzsprüchlein, von der schwangeren Aster. Abends in Berlin: Wie wir die Abende verbrachten? Zwei Erlebnisse sind ihm geblieben:

 In einem Kellertheater wurde Borcherts pazifistisches Heimkehrerdrama „Draußen vor der Tür" aufgeführt. Die Zuschauer saßen in einem langgestreckten Raum in mehreren Reihen einander gegenüber, etwa wohl vier m in Nahdistanz. Zwischen den Stuhl- und Bankreihen eine Spielfläche wie ein schmaler Gang, ein sparam unterschiedlich ausstaffierter Laufsteeg. Die Schauspieler in handgreiflicher Nähe. Ich sah den (laut Drehbuch) rülpsenden T o d als eine schwitzende, alte Person vor mir; ich sah seine Schweißtropfen auf der Stirn und die Wangen herunter laufen, im Nacken und am Hals runter: Ein Mann, der sicherlich auch anderswo gut den geachteten Patron einer Schauspieltruppe abgeben könnte. Ja, er hatte wohl Erinnrungen an den Krieg - >> Erst mehr als dreißig Jahre später, während des Golfkrieges sah er eine ähnlich erschütternde Inszenierung der Menschheitsgeschichte, in der unsereiner nicht weiß, warum andere als Feinde, getötet werden, wo Soldaten zu Mördern werden, weil sie nicht in der Lage waren, sich politisch und wirtschaftlich schon lange im Vorfeld eines Krieges sich zu wehren lernen und den Mordbefehlen zu widerstehen versuchen. >> Es gilt noch immer Friedrich des Großen böses Wort von den Soldaten, dass sie zu dämlich sind, fortzulaufen. Nachmittags, äh: in Berlin: Am Sonntag hatten wir frei, zu eigener Verfügung. (? Hatten wir frei: Der Stadt, also der City zu: An einer Ecke sahen wir zwei Stadtmietzen, vulgus: Prostituierte. Einer von uns Dreien, aus der (äh:) Großstadt Krefeld - nahm sie zur Kenntnis, erwog sogar seine männlichen Möglichkeiten. Aber er verzichtete, weil wir - die beiden Tussis - zu lahm waren: „zu inaktiv“. (Das Foto von der Sraaßenecke habe ich später vernichtet, kann aber diese Kurve nie vergessen. Von der plakatierten Kinowerbung angezogen, nahmen wir um 18 Uhr Platz zu Rolf Thieles Film "Moral 63“. Wir hatten von dem einen oder dem anderen, von nichts Ahnung und auch kein Bedürfnis einer geschmacklichen Weiterbildung. Was andere schrieben, blieb uns fremd: „Die frech gemeinte Satire über Doppelmoral kommt selber voyeuristisch daher." Fazit: Moral? 1963 waren alle scharf auf Nadja (Tiller)!“ So konnte ich die Substanz des Films nicht be-nennen; geübt wurde das nie: Etwas benennen, was auffällig ist; dann kritisieren mit themen-spezischen Sachverstand! (Äh...?) Und in die Zeit (in der Unterprrima) fiel mein von mir nicht geplanter Abschied von der Gaesdonck: Aus welchen Grund - sagte der Präses aus scheiterem Himmel einmal: "Ich könnte wieder von Goch aus zum Unterricht kommen"; obwohl er schon seit mehr als zwei Jahren daraus aus war, keine Externen mehr ausfzunehmen; äh: "wegen der Unruhe, die solche externen Schüler verursachen!" Vielleicht hatte es ihn beindruckt, dass ich einmal einen schüchternen Versuch in unser Klassegruppe unterahm, als ein Kollege ('Kamerad' wäre nie mein Ausdruck für einen Klassentypen), als er das E s s e n auf der Ga. anmeckern (ja, ganz völlig in der Audrucksweise) wollte – da sagte ich einen Satz, der über 60er Jahre hinaus gilt: „Bei uns zu Hause haben wir manchmal am Sonntag nicht so ein Essen, wie wie in der Woche haben.“ Schluß der Versammlung einer Aussprache - frei zum erbetenen Gespräch. (Wie der Quatschende d a s ausbaden m ü s s t e; seine Eltern mussten wohl wieder eine Sprende raus-hauen, von Hof zu Hof - vom Bauernhof zur Gaesdonck!- 1 9 6 3 - eine Klasse auf dem Gelände des Freien Universtiät, Westberlin. - 

Ein Mitschüler hat einen Text zu unser Berlin-Fahrt geschrieben (Edwin M. in: Gaesdoncker Blätter 1964, S. 53): Berliner Eindrucke, ein hübscher Text mit passender politischer GeSinnung, äh, Intention. Da steht das mit dem Grafen von Luxemburg oder mit "Annie Get Your Gun" als Termine der Volksbelustigung: Was andere besucht haben, weiss ich nicht mehr: aber dieser fidele Jux mit Operette und Musical habe nicht erlebt. Da muss es also differierende, weil sachliche EinDrücke geben haben. 

Wer in dem Borchert-Stück war und diese Sätze erlebt hatte (und wieder vergessen hat -) – würde mich interessieren. DER ALTE MANN (nicht jämmerlich, sondern erschüttert):Kinder, Kinder ! Meine Kinder! BEERDIGUNGSUNTERNEHMER: Warum weinst du denn, Alter ? DER ALTE MANN: Weil ich es nicht ändern kann, oh, weil ich es nicht ändern kann. BEERDIGUNGSUNTERNEHMER: Rums ! Tschuldigung ! Das ist allerdings schlecht. Aber deswegen braucht man doch nicht gleich loszulegen wie eine verlassene Braut. Rums ! Tschuldigung ! DER ALTE MANN: Oh, meine Kinder ! Es sind doch alles meine Kinder ! BEERDIgUNgSUNTERNEHMER: Oho, wer bist du denn ? DER ALTE MANN: Der Gott, an den keiner mehr glaubt. BEERDIGUNGSUNTERNEHMER: Und darum weinst du ? Rums ! Tschuldigung ! GOTT: Weil ich es nicht ändern kann. Sie erschießen sich. Sie hängen sich auf. Sie ersaufen sich. Sie ermorden sich, heute hundert, morgen hunderttausend. Und ich, ich kann es nicht ändern. BEERDIGUNGSUNTERNEHMER: Finster, finster, Alter. Sehr finster. Aber es glaubt eben keiner mehr an dich, das ist es. GOTT: Sehr finster. Ich bin der Gott, an den keiner mehr glaubt. Sehr finster. Und ich kann es nicht ändern, meine Kinder, ich kann es nicht ändern. Finster, finster. BEERDIGUNGSUNTERNEHMER: Rums ! Tschuldigung ! Wie die Fliegen ! Rums ! Verflucht ! GOTT: Warum rülpsen Sie denn fortwährend so ekelhaft ? Das ist ja entsetzlich ! BEERDIGUNgSUNTERNEHMER: Ja ja, greulich ! Ganz greulich. Berufskrankheit. Ich bin Beerdigungsunter-nehmer. GOTT: Der Tod ? Du hast es gut ! Du bist der neue Gott. An dich glauben sie. Dich lieben sie. Dich fürchten sie. Du bist unumstößlich. Dich kann keiner leugnen. Keiner lästern. Ja, du hast es gut. Du bist der neue Gott. An Dir kommt keiner vorbei. Du bist der neue Gott, Tod, aber Du bist fett geworden. Dich hab ich doch ganz anders in Erinnerung. Viel magerer, dürrer, knochiger. Du bist aber rund und fett und gut gelaunt. Der alte Tod sah immer so verhungert aus. TOD: Na ja, ich habe in diesem Jahrhundert ein bisschen Fett angesetzt. Das Geschäft ging gut. (…) *(Aus: W.B.: Draußen vor der Tür. Ein Stück, das kein Theater spielen will und kein Publikum sehen will. - Das Vorspiel. In: W.B.: Das Gesamtwrk. 1949/1989. S. 104f.) - 

Nein, das „R u m s“ des Schauspielers war nicht un-angnehem; es war echt, sagt man: authentisch? Ich glaube noch heute, dass ich es 1963 gehört habe: Das „R u m s“ - das Rülps-Chen - schließt so viele Sünden ein, die G o t t (wie wir es glauben und von der Kirche gelehrt kriegen: Sklaventum. Krieg. Herrentum. Antifeminismsus. Sexuelle Übergriffe. Ausschluss von Frauen, Laien und ... - es ist ein ewiges Leiden - ein Masturbieren - der Männer contra die Frauen und die Kinder, den Hilfsbedüftigen 

* * >> Von Wolfdietrich Schnurre (1920 -1989), dem Berliner Dichter, der mir ein zuverlässiger Gewährsmann (neben Borchert und Böll der dritte Poet meiner Tage im Internet) stand in der OI im Jahre 1964 als erste Klassenarbeit eine Interpretation an zu seinem Text Blau mit goldenen Streifen (Gaesdoncker Blätter S. 43). Die Kernszene des Textes, ich hatte sie schnell ausgemacht, lautet so: „(Es) roch gnau so, Herr Richter, wie damls als se meine Großmutter aufgebahrt hatten; so - so süßlich; wie oller Kuchen, der mit Mottenpulver bestreut worden is.“ 

Egal, wie der Spirit-Abzug von welchem Buch entnommen, er war verkürzt, wie ich es später von meiner Ausgabe kontrollierte, (1958. S. 57 - 64; was beim episodischen Ablauf des Gerichtsverhndlung nicht schlimm war für das Entsetzen; aber es ver-setzte mich mit dem Tod des Schüler durch diesen allegorischen Schock des Wiedererkennens. 

Das muss ich erklären: Unser Klassenkamerad Carl Jürgen Peters, der uns in der UII hat (in den Gaedoncker Blätter Juli 1962, S. 57) ein ehrendes Gedächtnis mit einen prägnanten Foto gefunden hat, das mich wohl für ewig illuminiert: Mit ihm ergibt sich für mich ein ehrendes Gedächtnis, dass wir, ohne dass die AnRegung von uns ausgegagen war, wir zu zweit eine Stunde mit ihm, also am offenen Sarg in der (späteren) Muttergotteskapelle der G. - ich mit einem Genossen, von 12 – 13 Uhr nachts gegenüber - betend vertraut waren. Der süße Geruch, der vom Toten, der an einer Lebervergiftung gestorben war, ausging, blieb mir so tief in meinem Psycho-nasalen Gedächtnis, (die mir dann 60 Jahre lang überschüssige, allergische Reaktionen, ob Atemwegserkankungen oder Kehlkopfentzündungen) bereiteten. Gerüche, die nie vergehen ...

Nee, nun, Schnurre: Ich mied den tollen (dem Syndrom Berlin in der Thematik und in der Sprache adäquanten) Text und nahm vorlieb mit Mörikes Lyrik „An einem Wintermorgen, vor Sonnenaugang.“ (ohne das ich wusste, wie man/SchülerChen eine solche Interpration schreiben könnte: Es war eine Klassen-Arbeit; wieder aus heiterem Hamm-, äh, Himmel. 

Dass ich Borchert als den großen Nachkriegsdichter treu blieb (auch in meinem eigenen Schreiben), gerade weil er in meiner Klasse und auf dem Kasten (ja, im Fach Deutsch) völlig unbeachtet blieb, führe ich auch zurück auf die Tränen auf der Haut eines Schauspielers, als er mir vor-spach expressis verbis, regelrecht exclusiv: Draußen vor der Tür

Mit diesem und allen seinen Texten hat er mein HerzChen berührt, dass es anders schlug, als in einer dürftigen Klasse und den priesterlichen oder quasi-geistigen Potentaten (Präsens&Direx&Präfekten&Llehers) des Kastens es angenehm war. Aber kein Schriftsteller, wie es Borchert forderte:

Wolfgang Borchert. Der Schriftsteller:

Der Schriftsteller muß dem Haus, an dem alle bauen, den Na­men geben. Auch den verschiedenen Räumen. Er muß das Kran­kenzimmer «Das traurige Zimmer» nennen, die Dachkammer «Das windige» und den Keller «Das düstere». Er darf den Keller nicht «Das schöne Zimmer» nennen.

Wenn man ihm keinen Bleistift gibt, muß er verzweifeln vor Qual. Er muß versuchen, mit dem Löffelstiel an die Wand zu rit­zen. Wie im Gefängnis: Dies ist ein häßliches Loch. Wenn er das nicht tut in seiner Not, ist er nicht echt. Man sollte ihn zu den Straßenkehrern schicken.

Wenn man seine Briefe in anderen Häusern liest, muß man wis­sen. Aha. Ja. So also sind sie in jenem Haus. Es ist egal, ob er groß oder klein schreibt. Aber er muß leserlich schreiben. Er darf in dem Haus die Dachkammer bewohnen. Dort hat man die toll­sten Aussichten. Toll, das ist schön und grausig. Es ist einsam da oben. Und es ist da am kältesten und am heißesten.

Wenn der Steinhauer Wilhelm Schröder den Schriftsteller in der Dachkammer besucht, kann ihm womöglich schwindelig werden.

Darauf darf der Schriftsteller keine Rücksicht nehmen. Herr Schröder muß sich an die Höhe gewöhnen. Sie wird ihm gut tun.

Nachts darf der Schriftsteller die Sterne begucken. Aber wehe ihm, wenn er nicht fühlt, daß sein Haus in Gefahr ist. Dann muß er posaunen, bis ihm die Lungen platzen!

(W. B. Das Gesamtwerk. S. 285; ein nachgelassener Text, zuerst gedruckt 1949)

Yeah und nochmals Borchert, wie er es be-scchreibt (als Autor): Nachts darf der Schriftsteller die Sterne begucken. Aber wehe ihm, wenn er nicht fühlt, dass sein H a u s in Gefahr ist. Dann "muß er posaunen, bis ihm die Lungen platzen!" (Wolfgang Borchert. Der Schriftsteller)

Soweit meine Erfahrungen in poeticis... - Ein Carpe diem habe ich noch nicht gefunden. 

* Wenn es denn Schüler gibt, die meine Erinnerungen von 1959 – 1965 über-lesen wollen, äh: wollten  oder könnten – bitte sehr, ich stehe zur Verfügung: anton@reyntjes.de  -2022)

Auf der Heide

 

Auf der Heide

Oder:

Wenn Kevelaer ruft

 

"Ja, der Opa, auf der Heide! De Schwatte! - Der Alte, der immer auf dem Fahrrade durchs Feld bei Derks die Abkürzung nimmt, um nach Kevelaer zu fahren!"

Wie heilig!“

"Ach, der Heilige Ömmes!"

Gestern ist der abgeholt worden!

Von der Kripo!

    Da bellten seine Hunde.

    Und die dicke Tante bettelte.

    War ja auch komisch, dass der jeden Sonntag zum Gnadenbild der Heiligen Mutter Gottes - der Trösterin der Betrübten - fuhr. So fromm war der gar nicht. Da haben sie sich schon immer gewundert. Unter der Woche tut es ihm hier weh (sie griff in die Leiste) und tut es ihm da weh (sie ächzte und zeigte auf das verlängerte Hinterteil). Da bin ich mal gespannt, was morgen in der Zeitung steht. Der Theo sagt ja gar nichts, nee, nee!"

Theo war Kriminalbeamter und hielt sich aus der Sache heraus. „Der muß ja nur über den Misthaufen und steht schon bei Opa Aschbach im Schlafzimmer."

Er hörte viel Gewisper, und sagenhaft wichtige Eilmeldungen erzählten sich die Großen.

Oppa Aschbachs Hinern“ -"Wichsen!" hörte er. Und der macht das mit Schuhwichse, das Schwein! Immer den jungen Weibern am Rock. So einer. Da betet er, und dann schleicht er sich in eine Prozession und versaut die jungen Mädchen." - "Wieviel kriegt der denn dafür?"

Später, als er einmal vom Tod des alten Junggesellen hörte, schaute er in einem Strafgesetzbuch, Taschenbuchausgabe nach; aber er fand keinen besonderen Begriff für diese Perversion; nichts paßte; und Exhibitionismus war es ja nicht; aber wenn er damit verband? Konnte man das: Scherchen, Rasiermesser und Dreckszeug wie Bohnerwachs oder Schuhcreme in der einen Hand - und dann -? Wahrscheinlich, so erfuhr er später, waren Oppa Aschbachs Schmutzfinkereien als Erregung öffentlichen Ärgernisses verurteilt worden.

Strafrechtlich gibt es dafür einen Namen.

Und Wikipedia sorgt dafür, dss der katholische Codex nihct vergessen wird:

Der Codex Iuris Canonici von 1983 enthält die Regelung, dass „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ ein Ausschlussgrund für die Gewährung eines kirchlichen Begräbnisses sein kann.[4] - Abruf 26.08.2020 -


Kulturhistorisches:

Eine Anekdote zum Haarzopfabschneiden:

https://de.wikisource.org/wiki/Der_Zopfabschneider_vor_Gericht


Oder von den Paraphilien:

https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Paraphilien

(besonders die Para-Philien:

Trichophilie, Haarfetisch

Haar[41], es kann sich erstrecken bis hin zum Haarabschneiden (Zopfabschneider).[55] Abruf am 26.08.2020-


Dienstag, 12. Mai 2020

Siegfried von Vegesack als mutiger GRÜNERer

Balten-Porträts
Siegfried von Vegesack

Porträt - Folge vier


Siegfried Von Vegesack, ein ökologischer Vor-Läufer und seine Bemühungen um sein Waldgrab in Weissenstein


S.v.V.s Brief und seine letzte Verfügung:


An das Landratsamt Regen
Nr. II/7 - 554.

Burg Weissenstein, 18. Mai 1964.


Gegen die Entschließung der Regierung von Niederbayern vom 22. April 1964 erhebe ich hiermit Einspruch.

Die dargelegten Ablehnungsgründe widersprechen den Tatsachen:

1) Die geplante Begräbnisstätte soll keineswegs auf dem Pfahl, sondern neben dem Pfahl auf meinem Grund und Boden errichtet werden.
2) Für die vorschriftsmässige Tiefe ist keineswegs irgend eine Spren­gung erforderlich, da das Erdreich hier genügend tief ist und bereits bis zu 1.50 Meter ausgehoben wurde und ohne jede Schwierigkeit auch noch tiefer ausgehoben werden kann.
3) Durch Gutachten von Prof, Dr. Georg Priehäusser, der auf dem Gebiet des Naturschutzes als Geologe eine Autorität ist und im Auf­trage des Landratsamtes Regen die geplante Grabstätte eingehend besichtigt und geprüft hat, bestehen weder aus Gründen des Natur­schutzes, noch aus denen der Wasserversorgung irgend welche Be­denken gegen die Errichtung der Grabstätte. Alle diesbezüglichen Einwände der Regierung sind deshalb hinfällig.
4) Meine Begräbnisstätte würde in keiner Weise einen Eingriff in die freie, schöne und schutzwürdige Landschaft" bedeuten, da dieses Landschaftsbild durch einen bescheidenen Grabhügel nicht im Geringsten verändert werden würde. Weder ein Gedenkstein, noch irgend ein Denkmal, sondern nur ein einfaches Totenbrett an einer Kiefer, - wie es hier üblich ist, - wird die Begräbnisstätte bezeich­nen.

Es ist geradezu grotesk, wenn die Regierung bei ihrer Entschließung sich auf den Naturschutz beruft: denn die Regierung von Nieder­bayern hat Jahre und Jahrzehnte untätig zugesehen, wie der Quarz des Pfahles als Straßen-Schotter ausgebeutet wurde! Wenn ich den Bund für Naturschutz in Bayern nicht alarmiert und mich für den Schutz des Pfahles eingesetzt und durch mein persönliches Eingreifen eine weitere Ausbeutung verhindert hätte, wäre auch der letzte Rest des Quarzfelsens oberhalb des Dorfes Weissenstein spurlos verschwunden.
Auf meine Verdienste als Schriftsteller bilde ich mir nicht allzu viel ein: sie sind vergänglich. Doch mein bleibender Verdienst, dass ich den Quarzfelsen vor dem gänzlichen Untergang bewahrt habe, kann mir niemand abstreiten. Und so glaube ich doch ein gewisses Anrecht auf ein bescheidenes Grab am Fuße des Pfahls zu besitzen, dessen letzter Quarzfelsen oberhalb des Dorfes ohne mein Einschreiten längst vom Erdboden verschwunden wäre.
Da bisher kein einziger Vertreter der Regierung von Niederbayern sich ein Bild von der tatsächlichen Lage der geplanten Grabstätte ge­macht hat, schlage ich vor, dass ein Sachverständiger der Regierung auf meine Kosten herkommt und sich unvoreingenommen durch persönlichen Augenschein davon überzeugt, dass der hier darge­stellte Tatbestand der vollen Wahrheit entspricht.
Sollte die Regierung von Niederbayern trotzdem auf ihrer Entschließung bestehen und mir die Grabstätte verweigern, werde ich gegen diese Entschließung Berufung einlegen und den Rechtsweg beschreiten. Da ich mich bereits dem 80. Lebensjahr nähere, werde ich die endgültige Entscheidung der höchsten Instanz kaum noch selbst erleben. Deshalb bestimme ich schon heute als meinen letz­ten, unumstösslichen Willen:
dass mein Leichnam eingeäschert, und meine Asche auf meinem Grund und Boden, an der bezeichneten Stelle am Pfahl beigesetzt wird.
Als gläubiger Christ bin ich kein Freund der Feuerbestattung, - eine christliche Beisetzung in der Erde würde meinen Anschauungen als Christ besser entsprechen, 'von Erde bist du, und zur Erde sollst du werden!' - da aber hier in Weissenstein kein Dorffriedhof besteht, und ich auch auf dem überfüllten Friedhof von Regen nicht neben meinen Brüdern liegen könnte, bleibt mir als einziger Ausweg die Feuerbestattung.
Ich habe auf dem Lande gelebt, und möchte deshalb auch auf dem Lande begraben sein, - und zwar in dieser Erde, die mir im Lauf ei­nes halben Jahrhunderts zur zweiten Heimat wurde.
Die Urkunde meines letzten Willens werde ich im Notariat Regen hinterlegen.
Eine Abschrift füge ich zur Kenntnisnahme bei.

Gez. Siegfried von Vegesack
Weissenstein, Pfingstmontag,
den 18. Mai 1964.

*
Siegfried von Vegesack:

MEIN LETZTER WILLE

Für den Fall, dass die Regierung von Niederbayern auch nach mei­nem Tode mir ein Begräbnis auf meinem Grund und Boden am Pfahl verweigern sollte, bestimme ich hiermit als meinen letzten Willen, dass mein Leichnam eingeäschert und meine Asche auf der von mir bezeichneten Stelle am Pfahl beigesetzt wird.
Ferner bestimme ich, dass weder ein Gedenkstein, noch ein Denk­mal, sondern nur ein einfaches Totenbrett, wie das hier im Wald der Brauch ist, die Stätte bezeichnen soll. Der Grabhügel soll so unaufällig wie möglich sein, und sich in keiner Weise von der von Heide­kraut bewachsenen Umgebung unterscheiden.
Als gläubiger Christ bin ich zwar kein Freund der Feuerbestattung, - eine christliche Beisetzung in der Erde würde meinen Anschauungen besser entsprechen. Da aber hier in Weißenstein kein Dorfriedhof besteht, und ich auch auf dem überfüllten Friedhof von Regen nicht neben meinen Brüdern liegen könnte, bleibt mir als einziger Ausweg die Feuerbestattung.

Weißenstein, am Pfingstmontag, den 18.Mai 1964.


Siegfreid von Vegesack, als Miniatur in einer Tabakflasche


Von Vegesacks Grabstätte
(Montage aus drei Fotos: Wegweiser, Betonsockel der Windturbine, Grabbrett der Grabstelle) - © Reyntjes


Der Text der selbst gefertigten Grabbrettes lautet:


Hier, wo ich einst gehütet meine Ziegen,
Will ich vereint mit meinen Hunden liegen.
Hier auf dem Pfahle saß ich oft und gern.
O Wandrer schau dich um, und lobe Gott den Herrn.

*

So hat von Vegesack sein Waldgrab erhalten; es ist in fünf Fußminuten von der Burg und dem Museum aus zu erreichen.
Es ist wohl für jeden Besucher an dieser Stätte ein eigentümliches Gefühl; und in jedem Jahr, wenn ich Weißenstein und Regen besuche, setze ich mich hier zwischen Heidekraut, Birken und Lärchen, zwischen dem silberschlierigen Quarzgesteins und dem immer spürbaren Herrn der Lüfte, den heraufstreichenden Winden, der Lebenserfahrung dieses Weltenbürgers von Vegesack sinnlich und intensiv aus. Dann lese ich immer wieder gerne die Geschichte vom Bau der Windturbine, deren Betonfundament man noch in unmittelbarer Nähe des Grabes erkennen kann. (Vgl. Folge fünf "Licht der Lüfte" des Vegesacks-Porträts.)

(Quelle: Brief Nr. 209. Abgedruckt nach der Briefausgabe. Hrsg. von Marianne Hagengruber: Briefe 1914 - 1971. Grafenau 1988)

*

Sonntag, 12. April 2020

Wenn ein Theologe sich über Euthanasie


                                                           Wappen von Papst Franiscus

Euthanasie?

Ein Theologe wütet gegen das Verfassungsgericht

Darf ich erinnern an das BVerfGericht mit seinem Urteil: 
 
BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020
- 2 BvR 2347/15 -, Rn. (1-343),
a) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. (…)
https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/02/rs20200226_2bvr234715.html

Guten Tag, Herr Lüke:

Ihr Artikel als Wort zum Sonntag, über Euthanasie:
Das BuVerfassGer hat den Beergiff Euthanasie sehr vorischtig geraucht, wenn er andere, z.B. den Bundestag in seinem Gesetz zur Euthanise erwähnt.
Er bekräftigt aussdrücklich das Recht des Individuums: c) Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.

Nach einer Woche kam ein Leserbrief in der RZ, abgedruckt v. 16.03.2020, der leise, zaghaft widerprach. Deshalb noch mein Brief:

Sie schreiben aus einer Warte, eines Theologen, der den Willen Gottes weiß ... oder ihn verkündet und hochheilig hält: So sind alle Suizidanten, die dem Sprachgericht des Herrn anvertraut werden (um es gelinde zu sagen, euphemistisch) ...  von der Euthanasie gepackt? Dem GeRicht unterworfen?

Yeah. Ein Psychoanalytiker konnte zu Ihrem Worten  Angstlust vermuten, und Ihre Es, Ich und Überich ... als sehr stark strukturiert analysieren, nicht an den Fällen der Lebenden, sondern nach Ihrem "Gemüt"; nicht den Gefequälten – sondern an Ihrem GeRicht als der absoluten Instanz.
Etwa 10.000 Suizidanten, vulgo: Selbstmord, begehen in der BRD jährlich den Freitod. Darunter die vielen Sterbewilligen, die ihr Schicksal selber bestimmen wollen.
Kathpäd diktiert: Euthanasie oder Aktive Sterbehilfe ist die schmerzlose Herbeiführung des Todes durch narkotische Mittel, um den hoffnungslos Kranken von den Schmerzen zu befreien oder, in weitem Sinne, um körperlich oder geistig "minderwertige" Personen schmerzlos zu beseitigen. Sie ist als unberechtigter Eingriff in ein Menschenleben niemals gestattet, auch wenn der Kranke selbst darum bittet.
Von der Euthanasie führte ein direkter Weg in die Endlösung.“ (Kwiet, Konrad: Rassenpolitik und Völkermord. In: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, Berlin: 1997. S. 146)
Von Euthanasie zu sprechen, müsste sich historisch oder seelsorgerlich verbieten, wenn man nicht einen höheren Daseinsaufttag erfüllen muss, ja: muss. Eine Litanei für Betschwester und Bischof und .. (Ja, deren Bedürfnisse achte ich freilich!) - Nur Sie erstreben wissenschaftliche Aussagen – irgendwie! Wenn sich ein Individuum, medizinisch und qualifiziert ausspricht für Sterbehilfe, hat kein Seelsorger das Recht dies als Euthanasie zu diffamieren: Fast 10.000 Suizide im Jahr in Deutschland können Sie ohnehin nicht mehr erreichen; das dürfte ein Minus an unereichbarer, seelsorgerlicher Arbeit bedeuten ... (Ja, ich hach auch Suizdanten in der Telefonseelsorge im Gasthaus gesprochen; wobei man nicht weiss, ob ich helfen konnte.)
Das ist ein guter, lyrischer Tipp:
Reiner Kunze:
Selbstmord
Die letzte aller Türen
Doch nie hat man
an alle schon geklopft.
(In: R. K.: Zimmerlautstärke. 1972. S. 21)

Die formal logischen Konsequenzen in der Konstruktion sind nicht besser als Sabbereien von Hitler, Goebbels oder Paulus: Sie verwechseln alles, was menschlich-komunikativ-geschichtlich ist, mit dem GeRede, das den Inhalts- und Beziehungsanspekt der Kommunikation verwelchselt.:
1.Kor 15, 14-26: Wenn Christus nicht auferstanden ist, dann ist all unsere Predigt und euer ganzer Glaube sinnlos. (…) Inhaltloses GeSchwätz, das sich in Corona-Zeiten absolut absurd gebärdet. Wir sind alle Menschlein, die der Teilnahme, der Liebe, der Empathie bedürfen. Auferstehung heißt, das wir andere nicht gefährden.- So gebärdet sich Ideologie! Aller Prunk&Protz, alles Verstecken&Verdecken, alle mobilen& immobilen Reichtümer ... helfen nimmer: Das fehlt die Liebe, die sich als Liebe zeigen muss! - Übrigens ein Mann, wie unser Papsst Francisus kann es verkörpern, er es uns überzeugen (nach meinem Bedürfnis).
Ich habe gerade Ihre Artikelsammlung Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom  verliehen: Haben Sie dabei je für Suizid gesprochen? Ich glaube, Sie haben das Thema Suizid - oder vulgo: Selbstmord – noch nie angesprochen. Da befürchten Sie einen Dammbruch: Aber, Sie sagen sich wohl: Gott soll es richten!
Ein anderer Beispiel, bitte, von einer naheliegenden Disziplin, den Geistes-wissenschaften: Thomas Mann an die Friederike Zweig (Zweigs erster Frau), nach dem Suizid von Lotte und Stefan Zweig (1942): Er sagte nach dem Suizid: Nie sei »mit tieferer Bescheidenheit, feinerer Scham und ungeheuchelterer Demut ein Weltruhm getragen worden … Sein Weltruhm war wohlverdient und es ist tragisch, daß die seelische Widerstandskraft dieses hochbegabten Menschen unter dem schweren Druck der Zeit zusammengebrochen ist ... Niemand weiß, in welchem Maß er seinen überall hinreichenden Einfluß, seine hohen Einkünfte, an denen ihm nichts lag, benutzt hat, zu fördern, zu retten, zu unterstützen. Sein literarischer Ruhm wird zur Sage werden wie der jenes anderen großen Pazifisten, des Rotterdamers*]. Aber Liebe wird dem Andenken dieses Sanften, Grundgütigen bleiben.«

Und wie kann man sich in unserer Gemeinschaft von einer Schuld  befreien, wenn er sich an unseren Rechten wie Liebe oder Freiheit oder die individuellen Werte versündigt hat? 

*] Anspielung auf Zweigs Werk über den Erasmus von Rotterdam.

Anton Stephan Reyntjes, Recklinghausen


                                                          Sigmund Freud, als Montage


Donnerstag, 2. April 2020

Von der Militär-s e e l s o r g e

Von deutscher  Militär-S e e l s o r g e

1. "'Unehelich' - ein Todesopfer: Fedor Baranowski" (Aus: Albrecht Goes: Unruhige Zeit; im Anhang!


2. Josef Perau als katholischer Militärseesorger: seine Beobachtungen am 15.3.1944; er hat ein Massenhaftes Verbrechen bemerkt, das er selbst später als "Verbrechen der deutschen Wehrmacht" benannt hat:
                                             Textilfetzen, der kein Rotes Kreuz mehr ergab




Rudobelka, den 15. 3. 1944 [in den Pripjetsümpfen; Sowjetunion; eigentl. Prypjatsümpfe]
(in Peraus Erinnerungen aufgezeichnet als "Priester im Heere Hitlers". 1961. hier S. 159-161)
Ich hatte geglaubt, ich hätte schon alle Schrecken dieses Krieges gesehen, aber in den letzten Tagen rollte ein Trauerspiel vor uns ab, wie es selbst Dostojewski nicht zu malen wagte. Es werden hier in einem großen stacheldrahtumzäunten Lager unter freiem Himmel die Zivilisten der ganzen Umgebung zusammengepfercht. Die arbeitsfähigen Männer und Frauen kommen nach Deutschland, die andern werden in einen vorspringenden Frontbogen getrieben, der in einer Nacht zurückgenommen wird - und alle sind beim Russen, der dann für sie sorgen muß. So sagt man mir wenigstens. Als Grund wird angegeben, die Dörfer seien Ansteckungsherde des Fleckfiebers und Partisanennester. Wenn man in die Gegend des Lagers kommt, bietet sich ein Bild des Schreckens. Das ganze Feld ist übersät mit dem Hab und Gut dieser Menschen, das sie nicht weiter mitschleppen konnten. Ich wurde ganz unvorbereitet mit dem Furchtbaren konfrontiert. Ich kam ahnungslos von der H.K.L. zurück. Es fiel ein feiner Nieselregen. die Dunkelheit brach ein. Ich spürte die Veränderung zuerst an einem seltsamen erregenden Geräusch, welches ich nicht näher bestimmen konnte, bis ich in der Ferne das Lager entdeckte. Ein ununterbrochenes leises Wehklagen vieler Stimmen stieg daraus zum Himmel auf. Und dann sah ich, wie man gerade vor mir die Leiche eines alten Mannes abschleppte wie ein Stück Vieh. Man hatte einen Strick um sein Bein gebunden. Eine Greisin lag tot am Wege mit frischer Schußwunde in der Stirn. Ein Posten der Feldgendarmerie belehrte mich weiter. Er wies auf ein paar Bündel im Dreck hin: Tote Kinder, über die er ein Kissen gelegt hatte. Frauen haben ihre Kinder, die sie nicht mehr tragen konnten, am Wege liegen lassen. Auch sie wurden erschossen, wie überhaupt alles »umgelegt" wird, was wegen Krankheit, Alter und Schwäche nicht mehr weiter kann. Ein San.Offizier, dem ich erregt davon berichten wollte, wies mich überlegen ab: »Herr Pfarrer, das überlassen Sie nur uns. Im habe selber aus Mitleid ein paar hilflose Kinder erschossen. Deutschland ist schnell wieder ein Kulturvolk, wenn es diesen Krieg gewonnen hat." So reden aber nur sehr wenige aus der ordentlichen Wehrmacht. Die Soldaten, die diese Dinge nicht aus ethischen Gründen ablehnen, tun es wenigstens aus dem Gedanken: Was wird uns geschehen, wenn wir in Gefangenschaft geraten? Was wird Deutschland geschehen, wenn es den Krieg verliert? Man sagt, die Aktion werde vom S.D.1] durchgeführt. Aber die Truppe ist wenigstens am Rande beteiligt. Der Gottesdienst in Portschje mußte ja ausfallen, weil die Truppe zur »Evakuierung" von Zivilisten eingesetzt war. Das klang harmlos, und die Männer werden selber nicht gewußt haben, wem sie die Leute auslieferten.
Ich saß lange wie gelähmt bei meinem Mitbruder. San.Uffz. Staab, der diese Greuel schon mehrere Tage mitansehen mußte. Aus einiger Entfernung sah ich heute einen General das Feld des Elends entlangreiten. Was mag in den hohen Militärs vorgehen angesichts dieser Dinge. Einen Augenblick kam mir der Gedanke, ich müsse vor ihn hintreten und im Namen Gottes Rechenschaft fordern. Aber der Geist reichte nicht zum Propheten. Ich habe lediglich in allen Gesprächen offen meinen Abscheu kundgetan und einige Kameraden abgehalten, sich am umherliegenden Gut dieser armen Menschen zu bereichern. Sie wollten schon gestickte Decken an ihre Frauen schicken.
Dieser Krieg ist eine furchtbare Katastrophe des autonomen Humanismus. Es geschieht, was Dostojewski in den "Dämonen" prophetisch voraussah: "Zurück zu Christus und Rettung des Humanen oder Versinken in Barbarei und Untermenschentum." Es ist nur die Frage, so ungefähr schreibt er, "ob der moderne Mensch noch an Christus glauben kann". An uns ist es nun also, dem modernen Menschen Christus so zu verkünden in unserm Leben und in der Gestalt der Kirche, daß der suchende Mensch den erkennt, den er sucht. Unsere Antwort auf diese Herausforderung der Hölle kann nur vermehrte Hingabe sein.

Anm.:
1]  S.D.:  Von Perau selber im Buch identifiziert als “Sicherheitsdiens (SS-Truppen)“                                                                                                           

Im Urlauberzug Richtung Heimat, den 13. 4. 1944:
Vom 15. bis 20. 3. war ich unterwegs beim I.R. 428. Es war sehr schlimmes Wetter, Schneesturm, aufgeweichte Wege. Wir fanden keine Fahrgelegenheit.
Am ersten Tag legten wir unter diesen Umständen 35 km zu Fuß zurück. Am Ziel hatte ich gleich Beerdigung. Am zweiten Tag vier Gottesdienste auf den Kompaniegefechtsständen eines Bataillons. Wieder mußten 25 km zu Fuß zurückgelegt werden. Der folgende Tag war frei. Sonntag zweimal hl. Messe in einer sehr kalten zugigen Scheune und abends noch eine in einem Bunker der Protzenstellung. Montag ging es 15 km zu Fuß und den Rest des Weges auf einem Pferdewagen zurück. Nachts hatten wir in den ersten Tagen, nur in den Übermantel gehüllt, auf einem Bretterfußboden geschlafen, da weder Stroh noch Decken vorhanden waren. Als ich in unserm Quartier ankam, spürte ich Fieber, welches bald auf 39 Grad stieg. Es hielt sich fast drei Wochen, zuletzt als erhöhte Temperatur.
Am Gründonnerstag trat eine gewisse Wendung zum Besseren ein. Ostersonntag konnte ich wieder zelebrieren und durfte Ostermontag den Urlauberzug besteigen. Die Division gab mir 4 Wochen zur Wiederherstellung der Gesundheit. Zu Beginn der Fahrt war ich noch sehr hinfällig. Jetzt bin ich schon kräftiger, da ich unterwegs viel liegen konnte. Wir fahren in den herrlichsten Frühling hinein. Hier in Pommern schon bekommen die Trauerweiden zarte grüne Schleier und der Flieder dicke Knospen. In den Gärten arbeiten zwischen blühenden Krokus die Menschen in milder Sonne. Wie wird es erst zu Hause sein!

* *

Die Novelle von Albrecht Goes ist wohl bekannt; auch als Druck in der RECLAM-Ausgabe (RUB # 8458) vorrätig in Buchhandlungen.

Die Erinnerungen vovn Josef Perau  sind völlig vom Buchmarkt verschwunden und theologisch unbeachtet geblieben:

 
Albrecht Goes, in der Novelle Unruhie Nacht:

„Unehelich“? Analog zu Ihren Beitrag in der RZ vom (letzten Juli)...

Ich erinnerte mich an einen anderen Fall von „unehelich“; ja, ich weiß - einen fiktiven Fall, der so viel Erfahrung hat, wie nur ein Armeepfarrer aufbieten kann: Von Albrecht Goes, aus der Novelle „Unruhige Nacht“:
„Hier der Tatbestand“, so leitet der Armeepfarrer als Ich-Erzähler das 7. Kapitel ein, der sich einem Totenkandidaten lt. Kriegsgerichtsurteil gegenüber sieht, mit dem er sich frühmorgens, vor Morgengrauen, zu befassen hat (in der Ukraine, Dezember 1942; erzählt 1950):
Fedor Baranowski, geboren 19 November 1920 in Küstrin, als uneheliches Kind einer Kontoristin.
Der Vater ein verheirateter, polnisch sprechender Schreiner deutscher Staatsangehörigkeit. Von ihm fehlt jede Notiz, es gibt weder eine Anerkennung der Vaterschaft noch Beurkundungen einer Unterhaltspflicht. Aber auch die Mutter, die sich bald nach der Geburt dieses Kindes mit einem Textilhändler namens Hoffmann verheiratet hat, hielt zu ihrem Kind nur eine ganz lose Verbindung aufrecht. Fedor kam in eine Gärtnerei, dann zu einem Altwarenhändler nach Danzig, dann wieder zurück nach Küstrin.Von regelmäßigem Schulbesuch scheint keine Rede gewesen zu sein, auch von Berufsausbildung war nichts zu erfahren. Bei Kriegsausbruch wird Baranowski Soldat. Zu denken, daß ihm in irgendeiner Kaserne zum erstenmal im Leben das zuteil wird, was für andere zur Kindheit gehört: ein geordneter Mittags- und Abendtisch. ein eigenes Bett, regelmäßige Nachtruhe. Die Kaserne als Heimat. Wie sehr das in diesem Falle galt, mit allen Konsequenzen, macht eine Bemerkung deutlich, die sich in einer übrigens ausgesprochen günstigen - Beurteilung findet: - 'erhielt nie Post und keine Weihnachtsgeschenke'. (Ein anscheinend besonders schneidiger Regimentskommandeur, der diesen Bericht seines Kompaniechefs vorzulegen hatte, sah sich veranlaßt, an dieser Stelle an den Rand zu schreiben: Berichte sind keine Gedichte.)
Nicht weniger nachdenklich aber stimmt die Notiz: 'geht nie zu Mädchen.' Sie steht im Zeugnis des Truppenführers aus der Heimat.
'B.'- heißt es dort - 'ein stiller, ordentlicher Soldat, der nirgends besonders hervortritt. Lebt mäßig, keine auffallenden Interessen, geht nie zu Mädchen.' Es folgen Berichte über den Fronteinsatz, über zweimalige Verwundung, Verleihung des Eisernen Kreuzes zweiter Klasse, Beförderung zum Gefreiten und zum Obergefreiten; nach der zweiten Verwundung, einem Schuß durch die Kniescheibe, kommt die Versetzung ins rückwärtige Heeresgebiet, der Einsatz in einer Bautruppe. Dort wird Baranowski mit Rücksicht auf seine Gesundheit in der Küche beschäftigt, und hier werden zum erstenmal die polnischen und russischen Sprachkenntnisse erwähnt. Woher diese Sprachkenntnisse stammen ist nicht ganz aufgehellt, vermutlich aus Baranowskis Danziger Kinderjahren. Jedenfalls sind sie der Grund dafür, daß Baranowski vom Zahlmeister seiner neuen Einheit dann und wann zu Einkäufen in die Umgebung geschickt wird. Die Truppe selbst, die einen, wie es scheint, besonders geheimen Bauauftrag durchzuführen hatte, war um .der Geheimhaltung willen sehr streng von der Zivilbevölkerung geschieden. Nirgends waren, wie sonst üblich, Ukrainer und Ukrainerinnen mit eingesetzt, es gab besondere Sperrkreise und Ausgehverbote. Baranowski aber, der Sprachkundige, geht in die Dörfer als Eier- und Gemüseeinkäufer.
Nun Ljuba. Wenig genug war in Erfahrung zu bringen über die Ukrainerin, die so tief mit ins Netz verstrickt ist. Man wird sich den Vorgang etwa folgendermaßen zu denken haben: Baranowski lernt in einem von diesen Dörfern die Ljuba kennen, eine wahrscheinlich ganz junge, ukrainische Witwe, deren Mann in den Julikämpfen gefallen war, Mutter eines Kindes, das zu dieser Zeit etwa zwei Jahre alt gewesen sein muß. Es gibt Grunde für die Vermutung, daß es zunächst mehr dieses Kind gewesen ist, das in Baranowskis Soldatendasein eine besondere Bedeutung gewann. Der Gruß eines Kindes, die Quelle in der Wüste: man versteht, daß er festhalten wollte, was ihm da das Leben bereitete. Nun hing es mit den Bauarbeiten der Truppe zusammen, daß der Standort mehr als einmal wechselte. Von diesen Verlegungen pflegte Baranowski die Ljuba zu unterrichten, vielleicht hatten auch Zusammenkünfte am dritten Ort stattgefunden, genug: es gab Briefe, und die Briefe wurden ihm zum Verhängnis. Bei einer Razzia der SS fielen eine Anzahl dieser kleinen Briefe dem Suchkommando in die Hand, und unseligerweise war ein Teil dieser Briefe auf die leere Rückseite von Verpflegungsformularen geschrieben. Jede Truppeneinheit führte solche Blocks mit sich, gut möglich, daß sie Baranowski weitgehend überantwortet waren, genug: das Kriegsgericht hatte leichtes Spiel, der Schreiber war bald festgestellt, und Ausflüchte gab es nicht. Die Mitteilungen waren an sich völlig harmlos, immerhin hatten sie die Standorte einer Wehrmachteinheit Zur Kenntnis der Ukrainer gebracht; das Partisanenwesen war auch in diesem Abschnitt eine ständige Bedrohung - kurz: die Anklage lautete auf 'Verrat militärischer Geheimnisse' der Strafantrag auf fünf Jahre Zuchthaus, die Strafe selbst fiel etwas milder aus; die Bemühungen einiger Dienststellen, dem Obergefreiten Baranowski zu helfen, waren offenkundig, im Grunde freilich war ihm, so wie die Gesetze formuliert waren, auf keine Weise zu helfen.
In Rowno hatte die Hauptverhandlung stattgefunden, in Dubno befand sich zu jener Zeit das größte Wehrmachtgefängnis. Dorthin sollte der Verurteilte gebracht werden, um von dort aus wahrscheinlich in eine Strafkompanie oder em sogenanntes Bewährungsbataillon zu kommen. Die Strafe selbst durfte nach Hitlers Anordnungen erst 'nach Kriegsende' verbüßt werden; aber wer in einer Strafkompanie das Kriegsende erleben wollte, der mußte schon einen sonderlichen Engel zur Seite haben ... Auf der Fahrt nach Dubno gelang es dem Häftling, aus dem fahrenden Zug zu springen. Er blieb, ein wahres Wunder, fast unverletzt und war dann, dank seiner Sprachkenntnisse und bald genug wohl auch mit Hilfe einiger Verkleidung im ukrainischen Zivilleben untergetaucht. Man fahndete nach ihm, aber er blieb verschwunden.
Drei Wochen später ereignete sich Folgendes: ein Waldstück, in dem Partisanengruppen sich aufhalten sollten, wurde durchgekämmt und mit zahlreichen anderen Männern, Frauen und Kindern, die da im Wald gelebt hatten, wurde auch Baranowski gestellt. Man trieb sie zusammen, und der Zufall wollte es, daß gerade in dem Dorf, in dem man sie zum Verhör sammelte, Baranowskis ehemalige Truppe im Augenblick stationiert war. Die Partisanen standen mit erhobenen Händen auf einem Platz, man suchte eben nach einem Dolmetscher, um mit dem Verhör zu beginnen, da ging ein Feldwebel von Baranowskis Einheit eilig vorüber, warf einen flüchtigen Blick auf die Zivilisten, stutzte, trat näher, erkannte seinen ehemaligen Küchenchef und rief in lauter Überraschung: »Mensch, Baranowski, was tun Sie denn hier?«
Dies war das Ende. Was mit den Zusammengetriebenen (unter denen sich übrigens Ljuba und ihr Kind nicht befanden) an diesem Tage geschah, ist nicht bekannt geworden; Baranowski selbst aber wurde auf der Stelle verhaftet und in Fesseln nach Proskurow gebracht. Hier fand dann 5. September die zweite Verhandlung statt. Sie schien sehr kurz gewesen zu sein. Die Frage, ob zu allem anderen hin auch noch auf Feindbegünstigung Anklage erhoben werden solle, wurde kaum geprüft, der Tatbestand der Fahnenflucht war so eindeutig, daß nicht einmal der Offizialverteidiger den Versuch unternehmen mochte, auf 'unerlaubte Entfernung von der Truppe' zu plädieren.

Ich schloß die Akten und dachte nach. So also schreibt sich die äußere Geschichte eines solchen Lebens. Wie aber sieht die innere Geschichte aus?
*
Soweit der Ich-Erzähler im Verlauf der Akten des Kriegsgericht:

* *
Ich habe seinerzeit den Text zu einem Bericht genutzt zum schriftlichen Thema (bevor ich die ganze Novelle gelesen hatte):

Setzen Sie sich mit diesem Thema auseinander: Wie aber sieht die innere Geschichte des Todenkanditaten Fedor Baranowski - aus?

Aus Petter Moens T a g e b u c h

Petter Moen (14.02.1901 - 8.09.1944): Sein differenziertes Credo

Aus Moens Gefängnistagebuch, 1944, in der Gestapohaft in Oslo geschrieben

Von der Menschenfeindlichkeit des Faschismus
Ein fortwährend lebendiges Tagebuch: Die Gefängnisaufzeichnungen des Norwegers Petter Moen


Die Umstände, die dieses Gefängnistagebuch gebaren, sind - auch ungefähr 60 Jahr nach seiner Entstehung - schockierend und beispielhaft für die Schulbuchverwendung:

Im Jahre 1944 wurde ein norwegischer Widerstandskämpfer, der Versicherung-smathematiker Petter Moen, der die widerständige, von den siegreichen Nazis „illegal“ genannte Presse zu organisieren suchte, verhaftet, verhört, gequält und gefangengesetzt.
Er unterlag - unter großen Gewissenskonflikten - der Folter der Gestapo, verriet Kameraden. Darüber legte er Rechenschaft ab, indem sich in seiner Einzelzelle eine Gelegenheit verschaffte, auf Toilettenpapierseiten ein fortlaufendes Tagebuch zu verfertigen, das er in einem Belüftungsschacht unter dem Fußboden verstecken konnte, ohne dass er selber je eine dieser in Papierrollen geschützten Seiten wieder einsehen konnte.
Von diesem geheimen Versteck berichtete er - auf einem Gefangenentransport auf der Überfahrt nach Deutschland - einem Mithäftling. Das Schiff ging unter, bis auf fünf Norweger, darunter der Mitwisser, ertranken alle; die Nachricht von diesem Gefängnistagebuch wurde nach der Befreiung Norwegens gesichert, das Tagebuch gerettet, die Umstände geklärt.

Neben dem Tagebuch der Anne Frank und vielen wichtigen Holocaust-Berichten, ist dieses „Über-Lebenswerk“ des Petter Moen eine Menschheitsquelle - von biblischem Range, ein Bericht von prophetischen Dimensionen, ein hochqualifiziertes „Buch Hiob“ in unseren Zeiten; ein Werk, in dem ein Mensch mit seinen Mitgefangenen, mit den deutschen Besatzern (Folterern und Gestapobeamten) - und mit Gott spricht, rechtet, ihn - in der sprachlich-mentalen Gewissheit der erlebbaren Hoffnung - anruft, seiner Mit- oder Gegen-Menschen Taten und Untaten anklagt - und einen - leider nur für Minuten und Stunden erreichbaren – Frieden erreicht, eine äußerst - von den deutschen NS-Gewalttätern immer wieder bedrängte - innere Freiheit des Geistes und Willens erlebt. Und Reflexionen auf politischem, psychologischem und theologischen Niveau des gesamten 20. Jahrhunderts niederschreibt.

In unseren Tagen, wo Neonazis ähnliche Untaten wie von 1933 bis 45 begehen - und in großem Maßstab wieder Mißhandlungen, Verfolgungen, Völkermord begehen würden, sind des Märtyrers und Philosophen Moens Einsichten - Fragen, Hoffnungen, Gewissheiten - über Menschenmögliches und politisch Aktuelles und Immerwiederkehrendes.

Mit einem Vorwort, in dem er die Umstände und die - für die Nachkriegszeit schockierenden, theologisch-freizügigen Reflexionen darstellt, hat der baltendeutsche Dichter Edzard Schaper den Text - nach dem norwegischen Original - für deutschsprachige Länder übersetzt und herausgegeben.

Zu Moens Biografie: Infolge der pietistisch-frömmelnd-ungerechten Erziehung der Eltern hat sich Petter Moen als Erwachsener nicht mehr mit Gott, schon gar nicht mehr mit Kirche (oder Kirchen) auseinandergesetzt. So bleibt in den gesamten Aufzeichnungen die konfessionelle Frage ausgeklammert.

Auszüge:

Textauszug vom 10.08.1944:

Donnerstag nachmittag

Ich muß in der Erinnerung besonders häufig zur Einzelzelle und der Zeit der Victoria Terrasse zurückkehren. Mit unbeschreiblicher Wehmut gedenke ich der Angst und der Trä­nen und der beinahe wilden Entschlossenheit, zu einer geistlichen Wiedergeburt zu gelangen. Von dieser Wiedergeburt - oder Bekehrung, wenn man so will - träumte ich, und nach ihr sehnte ich mich als nach einer großen Erneuerung meiner seelischen und leiblichen Kräfte zu Wachstum und Wohlergehen. »Jetzt oder nie! « sagte ich und schrieb ich und betete ich. »Der große Gewinn« glitt mir aus den Händen. Was dieser Spannung folgte, wirkt unheimlich banal und niederschmetternd. Ich sage zu mir selber: Du hast Fiasko gemacht. Was ich damit meine, ist wohl nichts anderes, als dass ich enttäuscht bin. Diese Enttäuschung betrifft am stärksten mich selbst und meine Eigenschaften und Fähigkeiten. Aus Schlacken wird kein Gold geschmolzen. Alles endet in diesem alten, verbrauchten, menschlichen »man muß sich durchschlagen, so gut man kann«. Pfui Teufel! Man gebe mir ein echtes Strindbergsches Inferno!

Ich habe hier im Gefängnis häufig in Rede und »Schrift« darauf hingewiesen, der ganze psychologische und historische Hintergrund zeige, dass Religion Menschenwerk und nichts anderes ist. Ihre »Wahrheiten« entbehren aller Kennzeichen der Objektivität: Kausalität, Meßbarkeit und Wiederholungsfreiheit.
Genau so verhält es sich mit der »Wahrheit« in dem eigentlichen religiösen Grundphänomen: Gottes Wirken im Menschen. Das vollzieht sich nicht nach einem Gesetz, dessen Wirkungen können nicht gemessen, und es kann nicht zum Gegenstand verifizierender Experimente gemacht werden.
Die Behauptung der Religion: es existiere ein »Gott« außerhalb des Menschen, und dieser Gott sei mächtig, ja allmäch­tig, in seinem Wirken im Menschen und in der Natur - diese Behauptung kann also mit keiner der uns bekannten Beweismethoden bewiesen werden. Der Intellekt hat hier eine un­geheuer starke Ausgangsposition. Er legt seine Grundregel vor: der Beweis obliegt dem, der die Behauptung aufstellt. Bis jetzt ist der Beweis ausgeblieben.
Den Gegenbeweis erbringt unsere ganze Natur- und Menschenkenntnis. Klarer als irgendeine Zeit vor uns sehen wir, dass der alte Jehovah nicht der Meister des großen Werkes ist, und ebensowenig irgendeiner seiner Nachfolger.
Die Geschichte Gottes zeigt uns vielmehr, dass er in vielen Formen vom Menschen erschaffen worden ist. Er hat viele Namen, aber nur eine Aufgabe: Träger des menschlichen Schuldbewußtseins, der Angst und der Wünsche zu sein.
Er gehört der magischen Welt an. Noch einmal: Gott ist ein Produkt der Wunschträume des Menschen. Das ist die ultima ratio in den Diskussionen um Gottes Existenz und Wesen.
Warum beschäftige ich mich hier so weitläufig mit dieser ab­genutzten Frage? Ich habe sehr gute Gründe dafür. Ich muß mit der Möglichkeit rechnen, dass mein Leben auf dem Spiel steht. Auf jeden Fall gehen mir viele bange Ahnungen durch den Sinn, wenn ich an die Unbarmherzigkeit des Gegners und die Raserei denke, welche die letzte Phase des Krieges prägt. Da muß auch ich »mein Haus bestellen«. Aber wenn auch das Exekutionskommando auf mich wartet - ich kann mir kein „Credo“ abzwingen. Ich versuchte das in der äußersten Not in der Einzelzelle.
Es war vergebens!


190. Tag Freitag, den 11. August

Nichts Böses wird mir widerfahren!
Dieses Wort hat Macht!!

Wenn über Religion diskutiert wird, kehrt beständig dieses »Argument« wieder: Es ist klar, dass derjenige, der an Gott glaubt, es gut hat. - Von den Einfältigen wird dieser Es-gut-haben-Zustand als Beweis für die Wahrheit der Religion genommen. Der »klügere Kopf« stellt die Sache häufig so dar. Wir können die Behauptungen von der Existenz Gottes weder beweisen, noch den Gegenbeweis führen. Für den Gläu­bigen existiert er. Wir können die Behauptung des Gläubi­gen, dass Gott ihn tröstet und ihm hilft, nicht bezweifeln.
(Aus: P.M.: Tagebuch. Übersetzt und herausgegeben von Edzard Schaper. (Deutsch zuerst 1950); Fi-TB Nr. 306; 1959., S. 104f.)

Was der einsame Held erreichte, war individuell eine psychische Leistung, eine Errungenschaft in barbarischen Zeiten.
Für die Leser der 50er Jahre war als Information und für Bildungszwecke eine Sensation, die sich aber in den allgemeinen politischen Bereich nicht fortsetzte.1959 publizierte der Fischer-Taschenbuchverlag eine Ausgabe (Fi-Tabu 306). Das Wissen dun die damaligen Bücher sind verschwunden.
In der Wikipedia-Auflistung zu Edzard Schapers Leben und Werk findet sich die Angabe zu der „Peter Moen“, ohne weitere Würdigung:

Peter Moen selber hatte, als Abschluss seines Gefängnisleben in der Manier eines auktorialen Erzählers notiert:
Petter Moen fuhr heute nach Deutschland. Um 3 Uhr kamen sie und holten ihn, es war traurig, jetzt dorthin geschickt zu werden. Heute ist der 6.9. O.B.R.“

Moen verstarb bei dem Untergang des Dampfers „Westfalen“, der in der Nacht vom 7. zum 8. September im Skagerrak auf eine Mine lief; ein Schiff, das 423 Norweger als Zwangsarbeiter in die Rüstungsindustrie des Deutsche Reiches in Hitlerscher Montur verbringen sollte.
1959 hieß es in der Taschenbuch-Werbung: „Die erschütternden Aufzeichnungen sind nicht nur ein Dokument der Vergangenheit, sondern auch ein Zeugnis der immerwährenden Frage des Menschen nach Gott.“ Von der politischen Dimension des Schicksals eines Individuum namens Petter Moen kein Wort!

Angekommen in Deutschland ist er nicht.

[Angabe für eine Publikation: Sechs Bilder - in der Taschenbuch-Ausgabe zwischen 96 und 97 – geben einen Eindruck der Zelle des Gefängnisses MØllergate in Oslo, des Autors Petter Moen, der räumlichen Situationen, der Papierrollen und einer Tagbuchseite.

Lesenswert: 
Gisela Schneemann hat das Tagebuch in einer neuen Übersetzung als pdf-Datei eingestellt:
Dort findet sich der erste Eintrag vom 10. Februar 1944:

DER 7. TAG MEINES GEFÄNGNISAUF ENTHALTS IN DER MØLLERGATE 19
(Donnerstag, 10. Februar)
Bin zweimal verhört worden. Wurde ausgepeitscht. Verriet Vic*. Bin schwach. Verdiene Verachtung. Habe furchtbare Angst vor Schmerzen. Aber keine Angst vor dem Sterben.
Ich denke heute abend an Bella. Weinen, weil ich Bella so viel Böses getan habe. Wenn ich am Leben bleibe, müssen Bella und ich ein Kind haben.
(Der Name „Vic“ war nicht mehr zu rekonstuieren.)

Aus: Petter Moens Tagebuch. Hrsg. v. Edzad Schaper. Frankfurt/M. 1959.
Hier das Fischer-Tagebuch im Bild:

Ergänzung.
Ich habe für eine religionskundliche Fachzeitschrift einen Artikel über Petter Moen publiziert:
Reyntjes, Anton Stephan: Petter Moens Aufzeichnungen aus der Haft.
- In: Religion heute, (2001) 48, S. 266-269 - Illustrationen - ISSN: 0722-9151 - deutsch