Samstag, 31. Dezember 2011

Heine: "Deutschland, das sind wir selber"































Ein ehrlicher Heine, schlicht skulptiert; mensch muss ihn erklettern den „Brocken“: Heinrich Heine-Gedenkstein auf dem Brocken in Sachsen-Anhalt





Zitatsuche - I -

... gesucht und gefunden! - Wer sich rasch informiern, bitte sehr, siehe unten.

  • Ansonsten eine kleine Ablenkung vom oder zum oder im Deutschtum, am silvestrigen Tag des Jahres ...


... von Friedrich R ü c k e r t:

Grammatische Deutschheit

Neulich deutschten auf deutsch vier deutsche Deutschlinge deutschend,
Sich überdeutschend am Deutsch, welcher der deutscheste sei.
Vier deutschnamig benannt: Deutsch, Deutscherig, Deutscherling, Deutschdich:
Selbst so hatten zu deutsch sie sich die Namen gedeutscht.

Jetzt wettdeutschten sie, deutschend in grammatikalischer Deutschheit,
Deutscheren Komparativ, deutschesten Superlativ.
"Ich bin deutscher als deutsch." "Ich deutscherer." "Deutschester bin ich."
"Ich bin der Deutschereste oder der Deutschestere."

Drauf durch Komparativ und Superlativ fortdeutschend,
Deutschten sie auf bis zum - Deutschesteresteresten,
Bis sie vor komparativistisch- und superlativistischer Deutschung
Den Positiv von deutsch hatten vergessen zuletzt.



Heine: "Deutschland, das sind wir selber?" -

Vorbote einer großen Rede?



  • Es wird auf jeden Fall schon viel geschwätzt in deutschen Medien:

Heine sei zitiert worden: Heine, der gesagt habe: „Deutschland, das sind wir selbst.“

So in Vorabmeldungen zu vernehmen (akustisch oder internetal):

"Deutschland, das sind wir selber", sagte die Kanzlerin in ihrer Neujahrsansprache, die an diesem Sonnabend im Fernsehen ausgestrahlt wird. Die Kanzlerin zitierte mit diesem Spruch Heinrich Heine. Merkel betonte, mit mehr gemeinsamer Anstrengung in Deutschland und in Europa werde es gelingen, die große Krise zu überwinden. Europa befinde sich in seiner "schwersten Bewährungsprobe seit Jahrzehnten", räumte die Bundeskanzlerin in ihrer am Freitag aufgezeichneten Ansprache ein. (Aus einer Vorstadt-Zeitung; wie in 146 anderen Google-Nachweisen)


*

  • Ja natürlich auch schon als Ganzschrift der Merkelsche Kontext; er ist schon zu lesen:

„Der Dichter Heinrich Heine hat es auf den Punkt gebracht, als er schrieb: "Deutschland - das sind wir selber." Für viele von Ihnen ist das Mitmachen ganz selbstverständlich und wichtig. Von dieser Tatkraft lebt unser Land. Sie macht es menschlich, und sie macht es erfolgreich. Dafür bin ich dankbar. Darauf baue ich. Auch in Zukunft.“





Wozu verhilft die Suche? Ob in Gegenwart oder Zukunft? Zu Allgemeinsprüchen. Zu unbewiesenen Zitatsammlungen. - Genügt der Klang, der Schall, das kurzfristige Licht im Nebel?

So lese ich selber in der „Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“ (publiziert im Dezember 1934) wunderbare Sätze mit dem erschreckend präzisen reflexiv-indefiniten Pronomen „selber“

Bitte, sehr; lesen Sie es selber:


„Ich glaube es ist nicht Talentlosigkeit, was die meisten deutschen Gelehrten davon abhält, über Religion und Philosophie sich populär auszusprechen. Ich glaube, es ist Scheu vor den Resultaten ihres eigenen Denkens, die sie nicht wagen dem Volke mitzuteilen. Ich, ich habe nicht diese Scheu, denn ich bin kein Gelehrter, ich selber[AR.] bin Volk. Ich bin kein Gelehrter, ich gehöre nicht zu den 700 Weisen Deutschlands. Ich stehe mit dem großen Haufen vor den Pforten ihrer Weisheit, und ist da irgend eine Wahrheit durchgeschlüpft, und ist diese Wahrheit bis zu mir gelangt, dann ist sie weit genug: – ich schreibe sie mit hübschen Buchstaben auf Papier und gebe sie dem Setzer; der setzt sie in Blei und gibt sie dem Drucker; dieser druckt sie und sie gehört dann der ganzen Welt.“

Aber ich finde nicht den selbst-verständlichen Ausspruch „Deutschland, das sind wir selber!“ Jedenfalls – nicht – den Nachweis.

  • So bin ich selbst der Deutschland-Sucher; gewiss in anderer Form, als Frau Merkel sich äußern wollte: Deutschland, das bist du! Nimm teil an dem Schwindel, der mit dem Geld der Europäer ge- und verhandelt wird.

Ich bin gespannt, welcher Deutsche oder Europäer den Satz findet; wer ihn finden will, es wird mir verschwiegen bleiben; wer mehr Glück beim Heine-Bosseln hat als ich, ich werde es wohl erfahren..


P. S. ad „selber/selbst“ in Heines Werk


Es finden sich in der wohl dreißig starke „Selber/Selbst“-Sätze, fast alle mit dem starken, klangvollen, zweisilbigen „Selber“-Spruch; ad exemplum:


„In der Tat, welche kolossale Konsequenz in der christlichen Kunst, namentlich in der Architektur! Diese gotischen Dome, wie stehen sie im Einklang mit dem Kultus, und wie offenbart sich in ihnen die Idee der Kirche selber! Alles strebt da empor, alles transsubstanziert sich: der Stein sproßt aus in Ästen und Laubwerk und wird Baum; die Frucht des Weinstocks und die Ähre wird Blut und Fleisch; der Mensch wird Gott; Gott wird reiner Geist!“

Oh, der Sucher:

"In meinem Hirne rumort es und knackt, ich glaube da wird ein Koffer gepackt, und mein Verstand reist ab - o wehe - noch früher als ich selber gehe." (H.H.: Babylonische Sorgen, 1854)

Du – das wirst noch einflechten müssen in deine deutsch-gesinnte Heine-Orgie:

„Die schlesischen Weber“ vom Juni 1844; berichtend vom Weberaufstand, der in den schlesischen Elends-Ortschaften Peterswaldau und Langenbielau begann
Linkund niedergeschossen wurde.



Titelblatt des heilig-ehrenhaften „Vorwärts!“ mit Heines „Weberlied“, 1844

„Die schlesischen Weber"

Im düstern Auge keine Thräne,
sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne;
Deutschland, wir weben dein Leichentuch.
Wir weben hinein den dreyfachen Fluch –
Wir weben, wir weben! (…)“


Und dies ist die Realiltät, keine zitierte Zukunft als Ablenkung:
Unser aller Selbst: HARTZ-IV-ler können es schon heute: Fluchen! Fluch dem Renten-Land, das schon nach ein paar Monate, oder nach 35 Jahren – den Elendsanspruch bereit hältst: Du darfst, nee: musst die Grundsicherung beantragen. Während Macher: Politfritzen und Präsidenten die Millionen für einen Zinssatz sich gewähren lassen, der nicht mal die Bearbeitungsgebühr der auszahlenden Bank einträgt.


Non taedium vitae:

Für Briefmarken-Freunde des H.H., philatelistisch opulent:




P.S. 2]
Wunderlich: Wer gut und recht googelt, findet auch den angepriesenen Heine, der von sich und uns sagte: „Deutschland, d a s s i n d w i r “.

Aber, was sagte er?

»Den ganzen Morgen hab ich häufige, bittere Tränen der Rührung und Kränkung geweint! Oh, ich habe es nie gewußt, daß ich mein Land so liebe! Wie einer, der durch Physik den Wert des Blutes etwa nicht kennt: wenn man's ihm abzieht, wird er doch hinstürzen.«
Heine, unterwegs für das gesitige Deutschland:

"Das ist es. Deutschland, das sind wir selber. Und darum wurde ich plötzlich so matt und krank beim Anblick jener Auswandrer, jener großen Blutströme, die aus den Wunden des Vaterlands rinnen und sich in den afrikanischen Sand verlieren. Das ist es; es war wie ein leiblicher Verlust, und ich fühlte in der Seele einen fast physischen Schmerz. Vergebens beschwichtigte ich mich mit vernünftigen Gründen: Afrika ist auch ein gutes Land, und die Schlangen dort züngeln nicht viel von christlicher Liebe, und die Affen dort sind nicht so widerwärtig wie die deutschen Affen – und zur Zerstreuung summte ich mir ein Lied vor. Zufällig aber war es das alte Lied von Schubart:

» . . . . . . . . . . .
Wir sollen über Land und Meer
Ins heiße Afrika.
. . . . . . . . . . .
An Deutschlands Grenzen füllen wir
Mit Erde noch die Hand;
Und küssen sie, das sei dein Dank
Für Schirmung, Pflege, Speis und Trank,
Du liebes Vaterland.«
[...]
[Aus Schubarts bitterem Kaplied von 1787]

Original Heine, nicht nachzubeten, zu zitieren ohne Schmerz, nein:
Ein Deutschland-Bild der Schmerzen und der verlorenen Utopien, der Heimatlosigkeit!

Wunderlich? Neee - selbst- oder selber-verständlich, wie eine Kanzlerin diesen Deutschlandland-Begriff, diese Deutschland-Unermesslichkeit, dieses verlorenen Deutschland meinen konnte ... mit ihrem Zitat-Missgriff! Mit ihrer Unbelesenheit! Ihrer eingeschränkten Ideengeschichte. Ein beklauter Heine!

Da tröste ich mich für heute.
Und lese weiter in der "Vorrede" zum ersten Band des "Salon", aus der das Zitat gefitscht, gefitzt, gefinkelt ... gefälscht worden ist, von Harry Heinrich Heine geschrieben zu "Paris, den 17. Oktober 1833":

Freitag, 30. Dezember 2011

Spektakuläre Sätze des Jahres 2011:

Wortforschungen - II -


Spektakuläre Sätze des Jahres 2011:


* „Lieber im Mercedes weinen, als auf dem Fahrrad glücklich sein.“


Von Hertha Müller überlieferter Satz aus Yiwus "Panoptikum des Lebens", das Frau Müller in ihrer Laudatio auf den chinesischen Dissidenten aufnahm:

„Geld um jeden Preis. Vor wenigen Tagen habe ich in der Zeitung gelesen, dass eine junge Neureiche auf das Fehlen aller Gefühle im Zusammenleben angesprochen, gesagt hat: 'Lieber im Mercedes weinen, als auf dem Fahrrad glücklich sein.' Dieser Satz klingt wie eine Moritat von der Raffgier, und er könnte das Motto des heutigen China sein. "Made in Germany Zwei"!

Nachzulesen in cicero.de:

http://www.cicero.de/salon/scholl-preis-nobelpreistraegerin-mueller-gratuliert-dissident-liao-yiwu/47611?seite=3


Dieser Satz wird erst durch den Kontext operativ revolutionär; in einem Reklametextchen wäre er ein speiübles Hauptsätzchen gewesen.


* * *

Harry Graf Kessler in seinen "Tagebücher 1918 – 1937":

Pontanevaux. Weihnachtsabend 1936. Donnerstag

Um vier hatte ich einen Weihnachtsbaumbaum und eine Bescherung für die Dorfkinder von Saint-Symphorien d'Ancelles eingerichtet. Zirka fünfzig Kinder von sechs bis zehn Jahren kamen unter Führung ihrer Lehrerin. Die meisten hatten noch nie einen Weihnachtsbaum gesehen und waren durch den Weihnachtsmann, als der vermummt Faveri erschien, sehr beeindruckt. Auch die Hunde, Katzen, Gänse hatten unter dem Baum ihre eigene Bescherung, was sehr lustig war. Es stellte sich heraus, daß die kleinen Mädchen die Puppen verachteten und kleine Küchengarnituren und Eßservice vorzogen. Alle waren erstaunlich artig und wohlerzogen; hübsche Gesichter hatte kaum ein halbes Dutzend kleine Mädchen und Jungen; die meisten sahen aus wie der graue Alltag. Das Volk dieser Gegend, Bourguignons und Lyonnais, ist merkwürdig unschön.

"... ist merkwürdig unschön." - Nicht: häßlich, nicht verunstaltetet, sondern "un-schön", ein sorgfätig gewähltes Adjektiv in der Verneinung mit dem dezidierten "un-".

Harry Graf Kessler (23.05.1868 - 30.11.1937) Kapitel 19.

http://gutenberg.spiegel.de/buch/4378/19


* * *

"Aber Kafka will sich ja endlich befreien von Prag, von den Eltern, von dem kleinen Zimmer zu Hause, von der strangulierenden Sohnschaft, und er vertraut dabei auf Doras rettende Kraft."

Dieter Hildebrandt in der ZEIT 35/2011, Feuilleton. Rezension der Romanbiografie von Michael Kumpfmüller, passend geschmiedet auf Franz Kafka "Die Herrlichkeit des Lebens".

http://www.kiwi-verlag.de/das-programm/einzeltitel/?isbn=978-3-462-04326-6

Sohnschaft: Ein Gotteswort; wenn man denn die Übersetzunge einer Übersetzung einer Übersetzung einer Übersetzung aus der Sprache des Arämischen als authentisch göttliches Wort ansehen, anbeten oder festschreiben will.Man darf nachlesen:

"Gotteswort" als Übersetzungsversuch zum latinisierten "hyiothesia" (gr. υἱοθεσία)


http://www.haltefest.ch/themen/bibelstudium/sohnschaft.html


* * *


"Weihnachten ohne eine Ansprache des Bundespräsidenten kann auch ganz schön sein.

Herzlichst, F. J. Wagner"

Der Gossen-Goethe in: "Lieber Bundesprääsident Wulff":

http://www.bild.de/news/standards/franz-josef-wagner/lieber-bundespraesident-wulff-21637566.bild.html












Mittwoch, 28. Dezember 2011

Das Jesuskind von O s t r o w i c e












Weihnachtsgeschichten allerorten - Folge IV -






Friedrich H o f f m a n n:


Das Jesuskind von Ostrowice



Ich bin ein Deutscher, der dir das erzählt, mußt du wissen. Trink noch einen. Und der es erschossen hat, vor unseren Augen hochgehoben und erschossen, das war ein Deutscher. Aber der geschrieen hat und es retten wollte und selber umkam, das war auch ein Deutscher, das mußt du mir glauben. Und das Kind war ein Judenkind. Na, trink schon. Es war in Polen. Wir waren eingesetzt als Säube­rungskommando. Nur zum Zusammentreiben. Das Erledigen machten andere. Es gab da Sammeldörfer mit Juden. Komm, trink doch. Das ist noch angenehmer als Zigeuner. Juden schreien nicht so. Die sterben ruhiger. Die glauben an was. Ist doch auch ein Vorteil ‑, sagte der Alte immer. Sie wurden in Lastwagen verladen, ge­trennt, Männer, Frauen, Kinder. Mitzunehmen brauchten sie ja nichts.

Wir hatten einen dabei, der war dagegen. Häschen nannten wir den. Er sagte nichts, aber er war dagegen. Man merkt ja sowieso, was einer denkt. Pech, daß er in unserer Einheit war. Und der Alte verstand keinen Spaß. ich war ja auch dabei und wußte nicht, was ich von dem Ganzen halten sollte. Bis zu dem Tag. Es muß Advent gewesen sein. Im Januar darauf kam ich dann weg. Damals hab ich nicht daran gedacht, daß Advent war.

Wir hatten ein Dorf verladen. Das ganze Dorf leer: alles auf den Lastwagen, die im großen Viereck standen. Viel Jammern war gar nicht zu hören. Ich seh das noch: die weißen Lehmmauem, die Strohdächer, die breiten, zerfahrenen Straßen. Schnee lag auch, aber nicht viel. Der Spieß machte mit zwei Mann die Runde durch die Hütten. Da krabbelt ihm aus dem Ofenstroh ein Kind entgegen. Vergessen oder versteckt, was weiß ich, so in oder zwei Jahre alt. Er bringt’s raus, und der Alte, der schon ungeduldig war zur Abfahrt. macht ihm ein Zeichen, daß er's hinters Haus bringen soll. Da stürzt Häschen vor und schreit: "Nein! Nein!" und reißt ihm das Kind aus der Hand. „Das ist doch das Jesus­kind!' schreit er. Das Jesuskind! Verrückt, wie? Und wir lachen noch. Aber nicht alle, das mußt du mir glauben.

Und er läuft davon, wie irre, ringsum war ja abgesperrt, und drückt das Kind an die Brust und knöpft es sich in den Mantel ein, alles im Laufen. Na, weißt schon, Frontkoller.

Und die von den Wagen und wir gucken zu. Es verliert ja manchmal einer die Nerven. Aber den hatt’ es gepackt. Schließlich stürzte er sich an die nächstbeste Hauswand. Er zitterte und hielt das Kind im Mantel fest und schrie immer, ohne hinzusehen: „Das ist doch das Jesuskind! Das ist doch das Jesuskind!" Ich sag dir, sie mußten ihn umlegen, er gab das Kind nicht her. Saß da wie eine Madonna. Ostrowice hieß das Dorf. Mit stieren Augen an der weißen Hauswand. Wie eine Madonna, sag ich dir. Mir hat's noch niemand geglaubt, dem ich's erzählt habe.

So klein war's, wie er's hochhob. Ich kann kein Weihnachts­bild mehr ansehen seit der Zeit.

Und die sagen, er ist auch für uns Deutsche gestorben. Der Richtige, mein ich, den sie an den ausgerenkten Armen aufgenagelt haben. Na, komm. "Das Jesuskind", hat er immer geschrien, "das Jesuskind."

Na, komm, trink noch einen.

*



Zum Autor:

Friedrich Hoffmanns Text „Das Jesuskind von Ostrowice“ ist öfter gedruckt.


Ich führe an:

"Die heilige Zeit. Christnachtgeschichten deutscher Dichter". Hrsg. v. Bernt von Heiseler. Stuttgart 1958: J. F. Steinkopf Verlag S. 292f. - Der Herausgeber B. v. H. mochte oder konnte nichts Persönliches über den Autor mitteilen. In seinem Vorwort führte er aus: "Und die Beiträge von Hoffmann, (Karl) Roland, (Heinrich) Zillich und (Harald von) Koenigswald geben noch am allerheillosesten Kriegsgeschehen die freilich nicht beweisbare Heilskraft zu spüren, Licht, das auch unbegriffen in der Finsternis scheint."

Mir ist die Vorstellung lieb, daß es sich bei F.H. um einen Wehrmachtsangehörigen handelte, der seine Geschichte sowohl dokumentarisch als auch literarisch bekundete.


*


Ostrowice (deutsch Wusterwitz, Kreis Dramburg) ist ein Dorf mit Sitz einer gleichnamigen Landgemeinde im Powiat Drawski (Kreis Dramburg) in der polnischen Woiwodschaft Westpommern. Vgl. den Ortsnamen in der Wikipedia.


*

Gerade in unseren Zeiten, wo antisemitische und ausländerfeindliche Ausschreitungen und Anschläge immer wieder vorkommen, werden aktuelle, antihumane, nationalistische Aspekte sichtbar, die neben dem Aufsehen (als einem notwendigen Hinsehen) auch Widerspruch, ja, gruppenmäßig organisierten Widerstand erfahren. Hierzu lohnt sich eine Beschäftigung mit modellhaften Texten aus unterschiedlichen Bereichen, dem biografischen, dem fiktionalen, der Philosophie, der Theologie, auch aus der militärischen Erfahrung.


Eine genaue, geschickt erzählte und human mitteilungsfähige Kurzgeschichte !

Neuerdings ist die realpolitische und gleichermaßen poetische Geschichte aufgenommen in das "Neue Vorlesebuch Religion. Bd. 1". Hrsg. v. Dietrich Steinwede. Kaufmann - Verlag. 1996.

Ernst Wiechert: D i e M a g d





- Weihnachtsgeschichten allerorten : Folge III -



Fernab, irgendwo, wahrscheinlich in Masuren (im heutigen Polen), spielt dieses fast unglaubliche Weihnachtsgeschichte, als dort noch viele Deutsche wohnten und der alles Geschehen und alle Grenzen verändernde Krieg, der zweite Weltkrieg, noch nicht ausgebrochen war:



E r n s t W i e c h e r t : D i e M a g d



(Die Kurzgeschichte ist 1935 entstanden; zuerst 1936 in der Erzählsammlung "Das Heilige Jahr" erschienen.)


*

Eine alte, altertümliche, seltsame ADVENTs-Geschichte, die gleichsam neben uns stattfindet. Die nicht irgendwo in der Phantasie, in der biblischen Welt der vielen gutgemeinten Geschichten steht – sondern sie wahr macht mit diesen Bedingungen, die jeder Erwachsene kennt oder doch nachvollziehen kann, geschichtlich, politisch – eine dienstfleißige junge Frau: Schwangerschaft mit einem Erzeuger, der kein liebender Mann ist; arbeitslos geworden, ohne Hilfe; unterwegs mit der Idee, sich umzubringen...

Die eigenartige Bitte um Hilfe ist vergebens; und die junge Frau wird fortgeschickt vom Pastor...

Ja, die Erzählung bricht ab, vor der zu vermutende Katastrophe. So gibt es kein Erzählende, keine „heilen Schluss“. Ein „happy end“ schon gar nicht. Unsd so bleibt die Handlung in meinem Gedächtnis: Diese junge Frau, die auch damals in den 30er Jahren nach den „Gesetz“, wie es im Text auch erwähnt wird aus altem, hartem Mund, eine Jungfrau war. Wie alle Jungfrauen, die je eine Liebe, eine Familie, einen Lebenssinn suchten. Ein schwangeres Mädchen, das man (Bauer und Bäurin und Bauerssohn) wegschicken konnte.

Ein Ende, das nicht endet: Damit die Geschichte Christen im Gedächtnis bleibt. Die an die Weihnachtsgeschichte glauben, an das beschworene „göttliche Kind“.

*

Advent - als Erwartung vor der Haustür und im Probensaal der Krippenspiels eines Geistlichen; und überall, wo Weihanchten geprobt wird...

Auch - zum vierten Adventssonntag und die Festtage später: als Ergänzung, als Anregung und als Nachfrage - warum Ernst W i e c h e r t als Dichter so verschollen ist...

**

Weitere Angaben:

Aus: E. W.: Sämtliche Werke. Bd. 6. München 1967. S. 485-491. - Das Copyright liegt bei der Familie der Stieftochter Ernst Wiecherts in den USA bzw. dem Verlag Langen Müller in München.)




Schalom Ben-Chorin: In der M a a b a r a




Gedenktafel am Geburtshaus Schalom Ben Chorins in München, Zweibrückenstr. 8 (Blanka Wilchfort, 2011)


- Weihnachtsgeschichten allerorten Folge II -


Eine der seltsamsten Christnacht-, also G e b u r t s-Fest-Geschichten
stammt von

Schalom Ben-Chorin:

In der M a a b a r a


So einen Sturm habt ihr noch nicht erlebt! Er fauchte und zischte, rüttelte an den dünnen Bretterwänden der Holzbaracken, ließ die Blechdächer schaurig durch die Nacht rasseln und heulte wie eine Schar verdammter Seelen. Die wenigen Zelte, die es irgendwo an dem in Morast sich auflösenden Rande der Maabara - ganz gegen alle Programme gab, waren einfach davongeflogen. Und die »Badonim«, die Leinwandhäuser, blähten sich wie die Segel steuerloser Schiffe. Der elektrische Strom hatte ausgesetzt, das Kabel war von den furchtbaren Regengüssen undicht geworden. Nacht, tiefe undurchdringliche Nacht lag über der Maabara.
Plötzlich setzte der Regen aus. Der Mond brach durch das treibende Gewölk, und ein milder Stern wurde sichtbar, der über der Maabara zu stehen schien, wie ein Bote der Tröstung. Wetterleuchten ließ die unbefahrbare Straße hinüber nach Bethlehem aufscheinen. Dann war es wieder dunkel und still. Aus einer der elendsten Baracken drang ein leises Stöhnen.
Der alte Mosche setzte sich auf und lauschte. War es soweit, drüben beim Nachbarn Joseph, dem arbeitslosen Zimmermann, der aus einer anderen Maabara in Galiläa gekommen war aber auch hier keine Arbeit finden konnte? Der alte Mosche hatte sich oft über diesen stillen Joseph gewundert. So grau und unscheinbar stand er immer in der Ecke und blickte fast scheu auf seine junge Frau, die stets ein wenig lächelte und die Not des Tages, die drückende Armut kaum zu beachten schien. Es lag so etwas wie ein Geheimnis um diese Mirjam, von der niemand in der Maabara wußte, wie sie zu diesem einfältigen Manne kam, der mehr wie ihr Vater wirkte. Aber jedermann hatte seine eigenen Sorgen, und so kümmerte man sich nicht um den arbeitslosen Zimmermann und seine stille Frau. Sie gingen einen nichts an. Sehe jeder, wo er bleibe - sehe jeder, wie er's treibe.
Dennoch mußte Mosche jetzt auf das lauter werdende Stöhnen aus der Baracke der Joseph lauschen. Hatte Mirjam schon ihre schwere Stunde? Und kein Doktor war da. Telefon gab es nicht. Der Sturm hatte die Leitungsdrähte heruntergerissen. Wie sollte man da Hilfe herbeirufen? Ach was, dachte Mosche, ich habe nichts gehört. Wenn der Nachbar Hilfe braucht, wird er schon an meine Tür pochen.
Die Geburt war überraschend schnell vor sich gegangen. Mitten im ärgsten Sturm und Regen hatten die Wehen eingesetzt. Joseph hoffte, daß der Himmel doch noch ein Einsehen haben und das Unwetter nachlassen werde, so daß er Hilfe herbeirufen konnte.
Wie gelähmt hockte der stille Mann in der Ecke und blickte auf die Frau, die sich in ihren Nöten wand. Er wußte nicht, wie er helfen sollte, kauerte frierend und verängstigt in der eisigen Nacht, die nur von einer elenden Ölfunzel matt erleuchtet wurde.
Hätte nicht die grobknochige alte Kurdin von nebenan plötzlich im Eingang der Hütte gestanden, wäre Mirjam allein geblieben. Die Frau hatte sich einen groben Sack umgeworfen, um sich vor dem peitschenden Regen zu schützen. »Jihje tov, jihje tov« (wird schon gut werden), murmelte sie und stellte Wasser auf dem Primus-Kocher auf. Sie hockte neben Mirjam nieder und trällerte heiser etwas vor sich hin.
Plötzlich bäumte sich die junge Frau - wie von einer Welle hochgerissen auf und sank dann aschfahl zurück. Ihr Wimmern erstarb, aber eine andere, ganz leise Stimme weinte in der Nacht.
Die alte Kurdin packte zu. Da war es, das Kindlein. Ein Knabe, rosig und lieblich. Ein Wunder in dieser Nacht ohne Erbarmen. »Jeled, Jeled!« fauchte die Kurdin begeistert und breitete die blau gemusterten Finger gegen den bösen Blick über dem Neugeborenen. »Ein Sohn, ein Sohn ist uns geboren!« Sie begann das Kind zu waschen und bereitete der erschöpften Mutter einen Tee.
Joseph half, wo er konnte, aber die Alte stieß ihn zur Seite. »Männer haben hier nichts zu suchen«, maulte sie gaumig. Sie achtete nicht auf Joseph und nicht auf die zwei vierbeinigen Gäste, die in die Hütte kamen: der Esel des Nachbarn, der sich losgerissen hatte und Schutz vor Nässe suchte, und Josephs eigene Ziege, die näselnd meckerte, als wollte sie das Neugeborene begrüßen. Aus einem alten verbeulten Blechkoffer holte Joseph das strahlend weiße Leinenzeug, das Mirjam für diese Stunde verwahrt hatte. Und nun lag das Kindlein, ordentlich gewickelt, neben der lächelnden Mutter auf dem dürftigen Bett. Die Alte hatte ihr Werk vollbracht. »Masal tow, Glück zu«, sagte sie so laut, daß es sogar der schwerhörige Mosche nebenan hören konnte. Da raffte er sich auf, holte die Flasche mit dem Prompfenschnaps unterm Bett hervor und schlurfte hinüber zu Joseph, zaghaft an die Tür pochend. »Nur herein, liebe Nachbarn«, sagte Joseph und strahlte den alten Mosche an. Und kaum war dieser eingetreten, da fand sich auch Jiche, der dunkle Jemenite, ein, und Chaim, der Mann aus Bulgarien, der einst bessere Tage gesehen hatte. Und sie hatten alle etwas mitgebracht. Eine Kleinigkeit, eine Nichtigkeit - mehr hatten sie nicht. Und sie legten es wie eine Huldigung nieder vor dem kleinen Menschensohn, der da mitten in dieser Nacht der Verlorenheit selig lächelte. Mosche holte seine Flasche hervor und füllte die Gläser, die Joseph ihm reichte, und begann leise die alte chassidische Weise zu singen: »Rebbe du, wus wer'n mir trinken, wenn Maschiach wird kummen?«

*

Zur E r k l ä r u n g :

Maabara war die Bezeichnung für die Übergangslager der Neueinwanderer in Israel in den Jahren nach der Staatsgründung 1948 1960. Die größte Maabara in Jerusalem lag unmittelbar an der Straße nach Bethlehem, das damals zu Jordanien gehörte. Die Neueinwanderer mußten oft viele Jahre in diesen elenden Behausungen zubringen, bis menschenwürdigere Wohnungen für sie erstellt werden konnten. Aus der Situation der fünfziger Jahre ist diese kleine Skizze entstanden.
(Aus: Und überall weihnachtet es sehr. Geschichten und Erinnerungen. Herausgegeben von Manfred Baumotte. Hannover 2001: Lutherisches Verlagshaus. S. 123-127. - Der Herausgeber Baumotte führt als Quelle dieser sonst nirgendwo gedruckten Erinnerungs-Geschichte eine persönliche Zueignung durch den Autor an.)

*

Schalom Ben-Chorin (1913-1999) ist einer der bekanntesten jüdischen Religionsphilosophen und Schriftsteller deutscher Sprache im 20. Jahrhundert. Er gilt als Gründer des Reformjudentums in Israel.
Mit mehr als 30 Büchern und Hunderten von Artikeln und Essays hat er das deutsch-israelische und das christlich-jüdische Gespräch geprägt.
Sein Leben war ein Zeugnis für Begegnung und Verständigung.
Das letzte Interview mit Tobias Raschke und viele Informationen über

URL: http://www.ben-chorin.de/

Oder: http://www.hagalil.com/ben-chorin/

Nachruf von Inka Bohl: Sein Name war "Frieden": Zum Tode von Schalom Ben-Chorin

http://www.judentum.net/kultur/ben-chorin-1.htm

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Porträt:

http://plattpartu.de/gott/gott_biller/benchorin.jpg

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A r b e i t saufträge (die ich als Lehrer zu der Geschichte einmal verteilte....):

* Erzähle die Geschichte dieser ?Christnacht? in Israel nach.

* Erläutere die Charakterisierungen der Personen.

* Und vergleiche den Text mit der klassischen Bibel+überlieferung
(Lk 2,1-14)

und mit den Kurzgeschichten von

Wolfgang B o r c h e r t: "Die drei dunklen Könige"?

und von

Josef R e d i n g: "An der Stalltür".


Des a r m e n M a n n e s Weihnachtsbaum

http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ginster_02.JPG

Weihnachtsgeschichten allerorten - I -


Eine Parabel vom Ginsterbusch - von Theodor Fontane:

Theodor Fontane: Des armen Mannes Weihnachtsbaum

London, 24. Dezember

Ich sah heute in den Straßen Londons einen prächtigen Ginsterbusch, nicht als kriegerisches Wahrzeichen wie vordem, sondern als friedlichen Weihnachtsbaum, als schlichteren Ersatz für die schlichte Tanne. Es war in Tottenham-Court-Road, und es begann schon zu dunkeln.


Groß und klein eilte nach Haus, um zu rechter Stunde an rechter Stelle zu sein; alles war Leben, Bewegung, Freude. Unter denen, die ihrer Wohnung zuschritten, war auch ein Arbeiter, ein Mann in der Mitte der Dreißiger, blaß, rußig, ermüdet. Neben ihm ging sein ältestes Kind, ein Knabe von sechs bis sieben Jahren; er schleppte sich mühsam weiter. Das jüngste Kind war auf der linken Schulter des Vaters eingeschlafen, während er auf der rechten einen mächtigen Ginsterbusch als Weihnachtsbaum nach Hause trug. Der Ginsterbusch blühte. Man sieht viel Elend in den Straßen Londons, aber selten eines, in dessen Öde sich zartere Züge mischen, und so blieb ich stehen und sah dem müd und matten Zuge nach. Es war ersichtlich, die Mutter war tot, und dem Vater war die Aufgabe zugefallen, den beiden Kindern ihr Christfest zu bereiten. So war er denn hinausgegangen nach Hampstead-Heath, um auf der weiten winterlichen Heide den Weihnachtsbaum zu finden, den er zu arm war, an der nächsten Straßenecke zu kaufen. Die Kinder hatten ihn begleiten müssen, weil niemand im Hause war, der sich ihrer angenommen hätte. Jetzt kamen sie von ihrem Gange zurück, der Älteste müde, der jüngste eingeschlafen. Was mochte sie daheim empfangen? Welcher Weihnachtsfreude gingen sie entgegen? Ich malte mir das Zimmer des armen Mannes aus: Der Ginsterbusch stand auf dem Tisch, und ein ärmliches Feuer brannte im Kamin; nichts Festliches sonst umher als das Herz seiner Bewohner. Im Widerschein des Feuers aber sah ich die gelben Ginsterblumen wie Weihnachtslichter leuchten, und ihr Blühen war wie die Verheißung eines Frühlings nach Erdenleid und Winterzeit.

*
Der Text stammt aus Fontanes Englandaufenthalt von 1855 - 1859. Erstdruck in: Neue Preußische Zeitung. 31.12.1857.

(Aus: Theodor Fontane: Weihnachten mit Fontane. Aufbau-Verlag. Berlin 2000. S. 90f.)

*

Ein L i c h t zur Erleuchtung - nein, nicht der Heiden - zur Aufhellung, zur Erfreuung der Menschen in der kleinsten, ärmsten Kammer.

Fontane hat diese Impression auf dem Hintergrund seines christlichen und naturnahen Lichterglaubens von seinen Reisen nach England mitgebracht; er hat diese Symbolik uns hinterlassen; wir brauchen sie nur in unserem Kopf und in unserem Gespräch oder im Arrangement zu aktualisieren.
Jedes Menschen Herz darf Weihnachten gerührt sein, weil wir uns besondere Freude schenken, ob in Geschenken, ob im Gedenken; und auch, weil nach der Wintersonnenwende die Gewissheit des Frühlings ansteht.

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http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ginster_02.JPG

- Blühende Gisinter ist für die Weihnachts-, also Dezemberzeit nichts Außergewöhnliches an der Südküste Englands, wo der warme Golfstrom auch gelegentlich zu Winterszeiten die Blüte des Ginsters bewirkt.-

Für den abdruck der Parabelerzählung in der Zeitschrift "Religion h e u t e" erarbeitete E r k l ä r u n g e n und F r a g e n und anregungen:

Ich gestehe: Fontane ist mir über: Ginster als kriegerisches Emblem, als naturhaftes, abwehrendes Zeichen, als kämpferisch-widerständiges Signet, als unfriedliches Weiß oder Gelb?

Ich kenne Ginster als wallartig Blühendes, das am Bahndamm hinter dem Bauernhof wuchs, büschel-, reihenweise, kilometerweit am Bahndamm entlang stand und wartete, bis es mein Brüder für den Vater, der daraus Besen band, zurechtschnitten. Zack, ein Hieb mit der Sichel! Und noch viele Hiebe! Und er Ginstervorrat wurde mit Seilen umschnürt und nach Hause geschleppt, in Trockene gestellt, als Besenreiser mussten sie irgendwann ihren Dienst versehen.

Ich suchte und fand im „Lexikon der Symbole“ von Udo Becker (Freiburg u.a.: 2000: Herder Verlag. S. 103):

G i n s t e r: ein strauchartiger Schmetterlingsblüter mit gelben oder weißen Blüten. Der stacheltragende G. ist ein Sinnbild für die Sünde des Menschen, deretwegen dieser seinen Acker voller Dornen oder Disteln bestellen muß; außerdem ist er Symbol für das stellvertretende Leiden Christ (verschiedentlich unter den Marterwerkzeugen dargestellt), damit zugleich aber auch ein Erlösungs-Symbol (wie die Distel). ? Ob zudem in der englischen Kriegs- oder Religionsgeschichte der Ginsterbusch als "kriegerisches Wahrzeichen" eine Funktion hatte, konnte ich nicht ermitteln.


*

Arbeitsaufträge (... für wer mag):

Welche Beobachtungen macht Fontane in London, zur Weihnachtszeit?
Welche allgemeinere Bedeutung schreibt er dem Baumsymbol und den Lichtern für die Armen zu?

Zu: Theodor Fontane (1819 - 1898)
Bedeutendster deutscher Dichter des Realismus
URL: http://www.weltchronik.de/bio/cethegus/f/fontane.jpg

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Eine URL, vom schönsten Fontane-Denkmal, in Neuruppin:

http://www.fontaneseite.de/Theodor_Fontane.gif

Dienstag, 27. Dezember 2011

Ein Fall von Autismus: der M a n n als I g e l




Märchen-Studien I

Ein Fall von Autismus:


"Hans der Igel"

oder

Der Mann als unerlöster Störenfried


In europäischen Märchen ist - neben den Zaubermärchen - der Erzähltypus des entwicklungspsychologischen Einzelfalles sehr häufig; wir finden etliche Beispiele für die starke Beziehungs- und Kommunikationsstörungen und für kindliche Bewältigungsstrategien bei massiven Wahrnehmungs- und Reifestörungen:

Die vielfältigen Symptome sind wie aus einem Handbuch für Entwicklungspsychologie oder einem Index der Kinderpsychiatrie entnommen:

Besonders krasse Krankheitsbilder, gehäuft bei Jungen oder jungen Männern, wurden früher dem Typ des Wechselbalges oder allgemein undifferenziert des Idiotes, auch des Narren, zugeordnet; später, zuletzt mit Beginn des 20. Jahrhundert wurden Forschungen und Diagnosen erarbeitet, z.B. die unterschiedliche Krankheitsbilder wie Autismus, geistige Behinderungen, spezifiziert nach Ursachen.

In der mitteleuropäischen Märchenwelt gibt es viele interessante Motive, die entwicklungspsychologische Momente des Reifens aufzeigen, meist der männlichen Verhaltensstörung oder Liebesunfähigkeit. Eines der sonderbarsten ist das Motiv des Igel-Mannes, sowohl im deutschen als auch in litauischen Märchen. Nach der Darstellung der Texte erfolgt die Analyse.

Deutsch-litauischer Märchen-Vergleich in soziologischer und entwicklungspsychologischer Sicht: Der sog. Dunkel- oder Igel-Mann

(Nach der Typen-Klassifikation von Aarne und Thompson Typ 441; vgl. KHM 108)

Diese Textanalysen sind ein Ausschnitt aus der Arbeitmappe

Frühkindlicher Autismus" von A.S. Reyntjes; erhältlich über den Verband der Pädagogiklehrer; vgl. www.vdp.org/mm26.htm - 5k -

1.: Zwei Märchen und ihre geheime/offenkundige Botschaft (AT 441): des sogenannten Igel-Mannes als Beispiel der Entwicklung eines behinderten Menschen in unterschiedlichen Sprachen und Landschaften


Gliederung:

1.1. Grimms Kinder- und Hausmärchen Nr. 108: "Hans mein Igel"

1.2. Litauisches Märchen "Der Igel, der Schwiegersohn des Königs" (Ausgabe: Märchen aus Litauen. Hrsg. v. Jochen D. Range. Frankfurt/M.: Fitabu 11798. S. 62 - 69). Litauischer Titel: "Ezys karaliaus zentas". Aus: Lietuviu tautosaka. Bd. 3. Vilnius 1965. (Märchen Nr. 127. S. 325ff.)

1.3.: Zur vergleichenden Märchenforschung

1.4. Ingrid Riedel: Des Igels Menschwerdung (Arbeitstext)

1.5. Entwicklungspsychologische Leitideen der Entwicklung des Kindes im deutschen Märchen; abschließende Erfassung der Reifungsmomente aufgrund der heilenden Momente, die sich auswirken

**

1.1.

Das Grimmsche Märchen "Hans mein Igel" (KHM 108)

Es war einmal ein Bauer, der hatte Geld und Gut genug, aber wie reich er war, so fehlte doch etwas an seinem Glück: er hatte mit seiner Frau keine Kinder. öfters, wenn er mit den andern Bauern in die Stadt ging, spotteten sie und fragten, warum er keine Kinder hätte. Da ward er endlich zornig, und als er nach Haus kam, sprach er: »Ich will ein Kind haben, und sollt's ein Igel sein.« Da kriegte seine Frau ein Kind, das war oben ein Igel und unten ein junge, und als sie das Kind sah, erschrak sie und sprach: »Siehst du, du hast uns verwünscht.« Da sprach der Mann: »Was kann das alles helfen, getauft muß der junge werden, aber wir können keinen Gevatter dazu nehmen.« Die Frau sprach: »Wir können ihn auch nicht anders taufen als Hans mein Igel. «Als er getauft war, sagte der Pfarrer: "Der kann wegen seiner Stacheln in kein ordentlich Bett kommen.« Da ward hinter dem Ofen ein wenig Stroh zurechtgemacht und Hans mein Igel daraufgelegt. Er konnte auch an der Mutter nicht trinken, denn er hätte sie mit seinen Sta­cheln gestochen. So lag er da hinter dem Ofen acht Jahre, und sein Vater war ihn müde und dachte, wenn er nur stürbe; aber er starb nicht, sondern blieb da liegen. Nun trug es sich zu, daß in der Stadt ein Markt war, und der Bauer wollte hingehen, da fragte er seine Frau, was er ihr sollte mitbringen. »Ein wenig Fleisch und ein paar Wecke, was zum Haushalt gehört«, sprach sie. Darauf fragte er die Magd, die wollte ein paar Toffeln und Zwickelstrümpfe. Endlich sagte er auch: "Hans mein Igel, was willst du denn haben?" "Väterchen«, sprach er, "bring mir doch einen Dudelsack mit." Wie nun der Bauer wieder nach Haus kam, gab er der Frau, was er ihr gekauft hatte, Fleisch und Wecke, dann gab er der Magd die Toffeln und die Zwickelstrümpfe, endlich ging er hinter den Ofen Lind gab dem Hans mein Igel den Dudelsack. Und wie Hans mein Igel den Dudelsack hatte, sprach er: "Väterchen, geht doch vor die Schmiede und laßt mir meinen Göckelhahn beschlagen, dann will ich fortreiten und will nimmermehr wiederkommen.« Da war der Vater froh, daß er ihn loswerden sollte, und ließ ihm den Hahn beschlagen, und als er fertig war, setzte sich Hans mein Igel darauf, ritt fort, nahm auch Schweine und Esel mit, die wollt er draußen im Walde hüten. Im Wald aber mußte der Hahn mit ihm auf einen hohen Baum fliegen, da saß er und hütete die Esel und Schweine, und saß lange Jahre, bis die Herde ganz groß war, und wußte sein Vater nichts von ihm. Wenn er aber auf dem Baum saß, blies er seinen Dudelsack und machte Musik, die war sehr schön. Einmal kam ein König vorbeigefahren, der hatte sich verirrt und hörte die Musik; da verwunderte er sich darüber und schickte seinen Bedienten hin, er sollte sich einmal umgucken, wo die Musik herkäme. Er guckte sich um, sah aber nichts als ein kleines Tier auf dem Baum oben sitzen, das war wie ein Göckelhahn, auf dem ein Igel saß, und der machte die Musik. Da sprach der König zum Bedienten, er sollte fragen, warum er da säße und ob er nicht wüßte, wo der Weg in sein Königreich ginge. Da stieg Hans mein Igel vom Baum und sprach, er wollte den Weg zeigen, wenn der König ihm wollte verschreiben und versprechen, was ihm zuerst begegnete am königlichen Hofe, sobald er nach Haus käme. Da dachte der König: "Das kann ich leicht tun, Hans mein Igel versteht's doch nicht und ich kann schreiben, was ich will. Da nahm der König Feder und Dinte und schrieb etwas auf, und als es geschehen war, zeigte ihm Hans mein Igel den Weg, und er kam glücklich nach Haus. Seine Tochter aber, wie sie ihn von weitem sah, war so voll Freuden, daß sie ihm entgegenlief und ihn küßte. Da gedachte er an Hans mein Igel und erzählte ihr, wie es ihm gegangen wäre und daß er einem wunderlichen Tier hätte verschreiben sollen, was ihm daheim zuerst begegnen würde, und das Tier hätte auf einem Hahn wie auf einem Pferde gesessen und schöne Musik gemacht; er hätte aber geschrieben, es sollt's nicht haben, denn Hans mein Igel könnt es doch nicht lesen. Darüber war die Prinzessin froh und sagte, das wäre gut, denn sie wäre doch nim­mermehr hingegangen.

Hans mein Igel aber hütete die Esel und Schweine, war immer lustig, saß auf dem Baum und blies auf seinem Dudelsack. Nun geschah es, daß ein anderer König gefahren kam mit seinen Bedienten und Laufern, und hatte sich verirrt und wußte nicht, wieder nach Haus züi kommen, weil der Wald so groß war. Da hörte er gleichfalls die schöne Musik von weitem und sprach zu seinem Laufer, was das wohl wäre, er sollte einmal zusehen. Da ging der Laufer hin unter den Baum und sah den Göckelhahn sitzen und Hans mein Igel obendrauf. Der Laufer fragte ihn, was er da oben vorhätte. Ich hüte meine Esel uni Schweine; aber was ist Euer Begehren?« Der Laufer sagte, sie hätten sich verirrt und könnten nicht wieder ins Königreich, ob er ihnen den Weg nicht zeigen wollte. Da stieg Hans mein Igel mit dem Hahn vom Baum herunter und sagte zu dem alten König, er wolle ihm den Weg zeigen, wenn er ihm zu eigen geben wollte, was ihm zu Haus vor seinem königlichen Schlosse das erste begegnen würde. Der König sagte ja und unterschrieb dem Hans mein Igel, er sollte es haben. Als das geschehen war, ritt er auf dem Göckelhahn voraus und zeigte ihm den Weg, und gelangte der König glücklich wieder in sein Reich. Wie er auf den Hof kam, war große Freude darüber. Nun hatte er eitle einzige Tochter, die war sehr schön, die lief ihm entge­gen, fiel ihm um den Hals und küßte ihn und freute Sich, daß ihr alter Vater wiederkam. Sie fragte ihn auch, wo er so lange in der Welt gewesen wäre, da erzählte er ihr, er hätte sich verirrt. und wäre beinahe gar nicht wiederge­kommen, aber als er durch einen großen Wald gefahren wäre, hätte einer, halb wie ein Igel, halb wie ein Mensch, rittlings auf einem Hahn in einem hohen Baum gesessen und schöne Musik gemacht, der hätte ihm fortgeholfen und den Weg gezeigt, er aber hätte ihm dafür verspro­chen, was ihm am königlichen Hofe zuerst begegnete, und das wäre sie, und das täte ihm nun so leid. Da versprach sie ihm aber, sie wollte gerne mit ihm gehen, wann er käme, ihrem alten Vater zuliebe.

Hans mein Igel aber hütete seine Schweine, und die Schweine bekamen wieder Schweine, und wurden ihrer so viel, daß der ganze Wald voll war. Da wollte Hans mein Igel nicht länger im Wilde leben und ließ seinem Vater sagen, sie sollten alle Ställe im Dorf räumen, denn er käme mit einer so großen Herde, daß jeder schlachten könnte, der nur schlachten wollte. Da war sein Vater betrübt, als er das hörte, denn er dachte, Hans mein Igel wäre schon lange gestorben. Hans mein Igel aber setzte sich auf seinen Göckelhahn, trieb die Schweine vor sich her ins Dorf und ließ schlachten; hu! da war ein Gemet­zel und ein Hacken, daß man's zwei Stunden weit hören konnte. Danach sagte Hans mein Igel: "Väterchen, laßt mir meinen Göckelhahn noch einmal vor der Schmiede beschlagen, dann reit ich fort und komme mein Lebtag nicht wieder." Da ließ der Vater den Göckelhahn beschlagen und war froh, daß Hans mein Igel nicht wiederkommen wollte.

Hans mein Igel ritt fort in das erste Königreich, da hatte der König befohlen, wenn einer käme auf einem Hahn geritten und hätte einen Dudelsack bei sich, dann sollten alle auf ihn schießen, hauen und stechen, damit er nicht ins Schloß käme. Als nun Hans mein Igel dahergeritten kam, drangen sie mit den Bajonetten auf ihn ein, aber er gab dem Hahn die Sporn, flog auf, über das Tor hin vor

des Königs Fenster, ließ sich da nieder und rief ihm zu, er sollt ihm geben, was er versprochen hätte, sonst wollt er ihm und seiner Tochter das Leben nehmen. Da gab der König seiner Tochter gute Worte, sie möchte zu ihm hinausgehen, damit sie ihm und sich das Leben rettete. Da zog sie sich weiß an, und ihr Vater gab ihr einen Wagen mit sechs Pferden und herrlichenl Bedien­ten, Geld und Gut. Sie setzte sich ein und Hans mein Igel mit seinem Hahn und Dudelsack neben sie, dann nah­men sie Abschied und zogen fort, und der König dachte, er kriege sie nicht wieder zu sehen. Es ging aber anders, als dachte, denn als sie ein Stück Wegs von der Stadt waren, da zog ihr Hans mein Igel die schönen Kleider aus und stach sie mit seiner Igelhaut, bis sie ganz blutig war, sagte: »Das ist der Lohn für eure Falschheit, geh hin, ich will dich nicht«, und jagte sie damit nach Haus, und war sie beschimpft ihr Lebtag.

Hans mein Igel aber ritt weiter auf seinem Göckelhahn und mit seinem Dudelsack nach dem zweiten Königreich, wo er dem König auch den Weg gezeigt hatte. Der aber hatte bestellt, wenn einer käme wie Hans mein Igel, sollten sie das Gewehr präsentieren, ihn frei hereinfüh­ren, Vivat rufen und ihn ins königliche Schloß bringen. Wie ihn nun die Königstochtcr sah, war sie erschrocken, weil er doch gar zu wunderlich aussah, sie dichte aber, es wäre nicht anders, sie hätte es ihrem Vater versprochen. Da ward Hans mein Igel von ihr bewillkomnet und ward mit ihr vermählt, und er mußte an die königliche Tafel gehen, und sie setzte sich zu seiner Seite, und sie aßen und tranken. Wie's nun Abend ward, daß sie wollten schlafen gehen, da fürchtete sie sich sehr vor seinen Stacheln; er aber sprach, sie sollte sich nicht fürchten, es geschähe ihr kein Leid, und sagte zu dem alten König, er sollte vier Mann bestellen, die sollten wachen vor der Kammertüre und ein großes Feueranmachen, und wann er in die Kammer einginge und sich ins Bett legen wollte, würde er aus seiner Igelshaut heraus­kriechen und sie vor dein Bett liegen lassen; dann sollten die Männer hurtig lierbeispringen und sie ins Feuer werfen, auch dabeibleiben, bis sie vom Feuer verzehrt wäre. Wie die Glocke nun elfe schlug, da ging er in die Kammer, streifte die Igelshaut ab und ließ sie vor dem Bette liegen; da kamen die Männer und holten sie geschwind und warfen sie ins Feuer; und als sie das Feuer verzehrt hatte, da war er erlöst und lag da im Bett ganz als ein Mensch gestaltet, aber er war kohlschwarz wie gebrannt. Der König schickte zu seinem Arzt, der wusch ihn mit guten Salben und balsamierte ihn, da ward er weiß und war ein schöner junger Herr. Wie das die Königstochter sah, war sie froh, und am andern Morgen stiegen sie mit Freuden auf, aßen und tranken, und ward die Vermählung erst recht gefeiert, und Hans mein Igel bekam das Königreich von dem alten König.

Wie etliche Jahre herum waren, fuhr er mit seiner Gemahlin zu seinem Vater und sagte, er wäre sein Sohn; der Vater aber sprach, er hätte keinen, er hätte nur einen gehabt, der wäre aber wie ein Igel mit Stacheln geboren worden und wäre in die Welt gegangen. Da gab er sich zu erkennen, und der alte Vater freute sich und ging mit ihm in sein Königreich.

Mein Märchen ist aus, und geht vor Gustchen sein Haus.

1.2.

In Litauen überlieferter Märchentext:

Der Igel, der Schwiegersohn des Königs

Einst lebten arme Eltern, die hatten lange keine Kinder. Schließlich bekamen sie einen jungen. Sie gaben ihn den Taufpaten, die ihn zur Kirche bringen sollten. Unterwegs begann das Kind zu schreien, und die Paten riefen ärger­lich: »Pssst, wirst du wohl aufhören zu schreien, du Igel!« Als sie wieder nach Hause kamen, war das Kind zuni Igel geworden. Was sollte man da tun? Seine Eltern zogen ihn groß, weiter nichts.

Als er schon etwas älter war, begann das Igelchen die Schweine zu hüten. Er war aber ein heller Kopf, verstand alles mögliche. Also verabschiedete er sich von seinen Eltern und trieb die Schweine vor sich her in den größten Wald. Dort hütete er sie vielleicht drei Jahre lang und zog in dieser Zeit eine Menge Schweine auf!

Einmal hatte sich der König, der in diesem Wald auf der Jagd war, verirrt und ritt den ganzen Tag dort umher. Am Abend stieß er auf die Schweineherde des Igels, und als er den Igel sah, fragte er: »Du weißt doch Bescheid, zeig mir den Weg. «

»Gib mir deine Tochter zur Frau, dann zeige ich ihn dir.«

Der König wurde böse: »Meine Tochter will der! Weidet seine Schweine in meinem Wald! Ich werde dir was, meine Tochter geben!« und er ritt fort. Der Igel lachte sich eins. Er blieb in dem Wald und hütete seine Schweine.

Am nächsten Tag irrte der König immer noch umher. Er stieß wieder auf den Igel mit seinen Schweinen und bat ihn, ihm den Weg zu zeigen. Der Igel sagte: »Du gibst mir deine zweite Tochter zur Frau und ich zeige ihn dir.«

Der König ritt erzürnt davon. Er irrte auf seinem Pferd einen dritten Tag herum und war bereits ganz schwach, weil er nichts zu essen hatte. Wieder stieß er auf den Igel mit den Schweinen, und er bat ihn, ihm den Weg zu zeigen. Der Igel sagte: »Du wirst mir deine dritte Tochter zur Frau geben, dann zeige ich dir den Weg.«

Der König wollte nicht recht, aber was blieb ihm übrig? lin Wald konnte er verhungern. Also versprach er sie ihm, wenn auch nur zum Schein.

Der Igel sagte: »Dann komme ich also morgen zu dir ge­ritten.« Der König sagt: »Das kannst du machen.« Der Igel begleitete den König bis an den Weg hinaus, und der ritt heim.

Nun rief der Igel die Schweine zusammen, und die liefen zum Hof seines Vaters. Der Vater erschrak - wo kamen die vielen Schweine her? Doch da kam auch der Igel.

Seine Eltern freuten sich: »Wir haben gedacht«, sagten sie, »du lebst schon nicht mehr, dabei hast du offenbar die Schweine gehütet.« Seine Eltern verkauften die Schweine und waren nun einigermaßen wohlhabend.

Nachdem er eine Nacht geschlafen hatte, erbat sich der Igel von seiner Mutter den roten Hahn und ritt zum König. Fr kam zum Schloß geritten und der Hahn krähte los. Die Schloßhunde begannen zu bellen, die Nachtwäch­ter kamen, nahmen den Igel und den Hahn und brachten sie zum König: »Was sind das hier für Tierchen?«

Der König sagte: »Das sind keine Tierchen, da ist mein Schwiegersohn geritten gekommen. Ich habe nicht versprochen, dir meine Tochter zu geben, aber da du nun schon einmal hier bist - wenn sie dich heiraten will, soll sie es meinetwegen tun.«

Der König brachte den Igel zu seiner ältesten Tochter, doch die ‑ wo wird die ihn heiraten! Sie macht sich nur über ihren Vater lustig: "Ja, wenn ein Esel einen Igel fin­det, dann wird das ein Mann für mich sein! «

Der König sagt: »Komm morgen wieder, vielleicht heiratet dich die mittlere." Der Igel ritt fort, ritt zu seinen Eltern, übernachtete dort, und am Morgen erbat er sich von seiner Mutter den blauen Hahn. Als er ihn bekommen hatte, stieg er auf und ritt davon. Er kam in den Schloßhof. Das Hähnchen krähte, die Hunde bellten, der Nachtwächter kam und trug sie hinein. Er sagte: »Was ich da für ein Tierchen gefunden habe.«

Der König sagt: »Das ist kein Tierchen, sondern mein Schwiegersohn«, und brachte ihn zu seiner zweiten Toch­ter. Als der Igel die Königstochter sah, leckte er sich gleich das Maul: wie schön die war! Doch sie sagte zu ihrem Vater: »Diesen Schwiegersohn kannst du ins Gebüsch tragen, aber nicht zu mir bringen.«

»Macht nichts«, sagte der König, »komm morgen noch einmal wieder.«

Der Igel ritt nach Haus, und der König freute sich, daß seine Töchter ihn nicht wollten.

Am Morgen erbat sich der Igel von seiner Mutter das gelbe Hähnchen, nahm einen wunderschönen Ring, den er ge­funden hatte, als er im Wald d 1 e Schweine hütete, stieg auf und ritt los. Er kam zum Schloß, da stand die jüngste Tochter des Königs gerade vor dem Tor. Als der Igel den Ring glitzern ließ, da erstrahlte das ganze Schloß, sogar die Königstochter mußte loslachen. Der Hahn krähte, und der Nachtwächter kam gelaufen und brachte den Igel zum König. Er sagte: »Schau, was ich hier für ein Tierchen habe.«

Der König sagte: »Das ist kein Tierchen, das ist mein Schwiegersohn«, und er brachte ihn zu seiner dritten Tochter. Er sagt: »Nimmst du den Igel zum Mann? Ich habe dich ihm versprochen.« Als sie diese Worte hörte, war die Königstochter zunächst traurig, doch nach einiger Zeit sagte sie: »Wenn du es ihm versprochen hast, was bleibt da übrig? Dann nehme ich ihn, oder?«

Sofort reichte der Igel der Königstochter seinen Ring, und sie freute sich sehr. Und von ihr bekam er auch einen Ring. Ihm lief schon das Wasser im Mund zusammen. Fröhlich flatterte er mit seinem Hähnchen nach Haus.

Der König lud nun die Verwandtschaft und viele Gäste zur Hochzeit ein. Alle waren fröhlich, nur die Königs­tochter war traurig, daß sie solch einen Mann heiraten muß. Am nächsten Morgen hörte sie den Hahn krähen, sie schaut ‑ der Igel ist da. Die Musikanten laufen hinaus, sie spielen einen schönen Marsch, und der Igel sitzt auf seinem Hahn und wartet, daß es zur Trauung in die Kirche geht. Pferde werden vor eine Kutsche gespannt, die Königstochter steigt ein, und der Igel nimmt mit seinem Hahn ebenfalls darin Platz. Die Königstochter weint bitterlich, daß sie solch einen Mann bekommt. Und ihre Schwestern lachen, sie sagen: »Warum hast du ihn genommen?«

Sie fuhren irgendwohin zur Trauung. Schon ist es Zeit in die Kirche reinzugehen. Der Igel verschwand mit dem Hahn für einen Augenblick, zog sich sein Igelhemd aus. und nun stand dort ein unbeschreiblich schöner junger Mann. Das Hemd gab er dein Hähnchen und sagte: »Versteck es gut, damit du es mir, wenn ich es brauche, wieder bringen kannst.«

Das Hähnchen flog zu den Eltern des Igels zurück, der Igel aber ging zur Hochzeit. Man wartet schon auf ihn. Alle schauen, wo der Igel nur bleibt, da kommt plötzlich ein schöner schöner Jüngling. Als den die Königstochter ,sah, dachte sie: "Für solch einen als Mann würde ich die ganze Welt absuchen."

Und wie ihn alle anschauten, da kam der Igel und trat neben die Königstochter. Die Königstochter wurde fast ohnmächtig vor Freude! Nach der Trauung fuhr die Königstochter nach Hause, umarmte und küßte ihren Gatten. Die Schwestern wurden aber vor Herzeleid zu Kuckucksvögeln und riefen in Erinnerung an ihre glück­lichen Mädchenjahre ihr Leid in die Welt hinaus, sie spuckten ob ihrer Dummheit aus und trauern bis zum heutigen Tag.

Das ganze Hochzeitsfest über lärmten und vergnügten sich alle, besonders aber die Königstochter. Nach dem Fest ging der Igel hinaus und rief das Hähnchen, und das brachte ihm das Igelhemd. Das zog er nun wieder an. Die Königstochter war wieder traurig. In der Nacht kriecht der Igel unter das Bett, legt dort sein Hemd ab und schläft bei der Königstochter, doch tagsüber wird er wieder zum Igel.

Nachdem sie eine Zeitlang so gelebt hatten, weckte die Mutter der Königstochter früh am Morgen, als der Igel noch schlief, ihre Tochter und sagte: »Such sein Igelhemdchen, wirf es ins Feuer, soll es verbrennen, und er wird es nie wieder anziehen.«

Der Rat der Mutter gefiel der Königstochter, sie kroch unter das Bett und fand die Igelhaut. Sie warf sie ins Feuer und verbrannte sie. Am Morgen erhob sich der Igel, kroch unter das Bett, und als er sein Gewand dort nicht fand, kam er hervor und sprach: »All mein Leid wäre in Kürze vorübergewesen«, sagte er, »und ich wäre dann immer so gewesen. Was habt Ihr mir da angetan ‑ Ihr habt mein Lei­denshemd verbrannt! Von nun an werdet Ihr mich nicht mehr sehen. Und wenn du mich sehen willst, darin laß dir eiserne Schuhe schmieden ‑ drei Zoll dick, und einen Stab - drei Ellen lang, und back dir drei Körbe Brot, und dann zieh in die Welt hinaus. Wenn die Schuhe kaputt, der Stock abgenutzt und das Brot gegessen ist, dann wirst du mich finden.« Kaum hatte er das gesagt, da kam ein Wirbelwind und der Igel war verschwunden.

Der Königstochter tat es schrecklich leid, obwohl ihre Mutter sie auf alle erdenkliche Art zu trösten versuchte: »Du kannst doch wieder so einen schönen Mann bekommen!« Aber - das nützte alles nichts. Und die Königstochter beschloß, ihn suchen zu gehen. Sie befahl dem Schmied, die Schuhe zu schmieden, ließ den Stock machen, buk sich drei Körbe Brot und zog in die Welt hinaus.

Sie ging eine Welle - ein Jahr, vielleicht auch länger, und die Schuhe waren um einen Zoll dünner, der Stock um eine Elle kürzer, und von dem Brot war ein Korb gegessen. Sie kam an ein Häuschen, dort bat sie um ein Nachtlager. Es lebte dort niemand außer einer alten Frau. Nachdem die Königstochter erzählt hatte, wohin sie ginge, fragte sie die Alte, ob sie nichts von ihrem Mann wüßte. Die Alte sagt: »Ich weiß es. Deinen Mann hat eine Hexe ge­raubt. Aber bis zu ihm ist es noch weit. Noch zwei Jahre zu gehen.«

Als sie am Morgen aufbrach, schenkte ihr die Alte einen schönen goldenen Fingerhut, so schön, daß man ihn nicht genug bewundern konnte. Und wieder zog die Königs­tochter durch die Welt, schon waren die Schuhe um das zweite Zoll dünner, der Stock um eine weitere Elle kürzer, und vom Brot war der zweite Korb gegessen. Und wieder kam sie an ein Häuschen, bat sie um ein Nachtlager. In dem Häuschen lebte nur eine alte Frau und die nahm sie auf. Die Königstochter erzählte ihr, wohin sie gehe, und sie fragte die Alte, ob sie nicht etwas von ihrem Mann wüßte. Die Alte sagt: 4ch weiß es. Eine Hexe hat ihn ge­raubt. In einem Jahr kannst du bei ihm sein.«

Als die Königstochter am anderen Morgen aufbrach, schenkte ihr die Alte einen Seidenapfel, aber einen so schönen, daß man sich vor Freude nicht zu lassen wußte. Und die Königstochter zog wieder los. Sie ging ein ganzes Jahr, die Schuhe waren völlig zerrissen und der Stock war kaputt, das ganze Brot war gegessen. Und sie kam wieder an ein Häuschen. Sie bat um ein Nachtlager. Nur eine alte Frau war dort und die nahm sie auf. Sie erzählte, wohin sie ginge, und fragte die Alte nach ihrem. Mann, ob sie nicht etwas wüßte. Die Alte sagte: » Ach! Sicher weiß ich etwas ‑er ist hier, im Schloß der Hexe.« Und die Alte schenkte ihr ein goldenes Hähnchen, so schön, daß man es nicht genug bewundern konnte. Sie sagte: "Wenn du in das Schloß gehst, wirst du deinen Mann nicht sehen, denn die Hexe wird ihn verstecken. Laß dein Hähnchen frei, und wenn es zu krähen beginnt, wird die Hexe großen Gefallen an ihm haben. Sie wird es dir abkaufen wollen. Gib ihr den Hahn aber nur, wenn sie dir erlaubt, eine Nacht bei deinem Mann zu schlafen. Alles andere mußt du dann schon selber wissen, meine Tochter.«

Nachdem die Königstochter der alten Frau für ihren Rat gedankt hatte, ging sie am Morgen zu dem Schloß und ließ das Hähnchen fliegen. Das hat so schön gekräht! Die Hexe kam heraus und wollte es kaufen. Aber die Königstochter will es ihr nur verkaufen, wenn sie sie bei ihrem Mann schlafen läßt. Die Hexe erlaubt es schließlich, doch sie schickt ihren Mann in einen festen Schlaf. Als die Königs­tochter ihren Geliebten sah, umarmte sie ihn und küßte ihn ab, bat und bettelte, aber er machte kein Auge auf. Schließlich merkte sie, daß er fest schläft. Sie zog und zerrte an ihm, umsonst.

Am Morgen ließ die Hexe die weinende Königstochter aus der Kammer des Mannes heraus. Als der Igel erwachte, fragte er die Hexe: »War jemand in der Nacht bei mir, daß ich wie gerädert bin?«

»Nein! Niemand.«

Die alte Frau belehrte die Königstochter. Am nächsten Tag ging sie also wieder im Schloßhof umher, hatte den Fin­gerhut auf den Finger gesteckt und nähte. Als die Hexe diesen schönen Fingerhut sah, wollte sie ihn haben. Die Königstochter sagt: »Wenn du mich eine Nacht mit dei­nem Mann schlafen läßt, will ich ihn dir geben.« Die Hexe erlaubte es zwar, aber sie schickte ihren Mann in einen so festen Schlaf, daß die Königstochter ihn nicht wach bekam: sie kniff und zwickte ihn, und was sie sonst noch anstellte, alles war umsonst.

Am Morgen ging sie wieder weinend zu der alten Frau. Die Alte belehrte sie, und sie ging zum Schloß und spielte dort mit ihrem seidenen Apfel. Die Hexe sah das und wollte ihr den Apfel abkaufen. Aber die Königstochter verkaufte ihn nicht, sie sagt: "Wenn du mich eine Nacht bei deinem Mann schlafen läßt, will ich ihn dir geben." Die Hexe erlaubte es zwar, aber sie schickte ihren Mann in einen tiefen Schlaf. Der Igel, der schon zwei Nächte zu leiden gehabt hat, merkte, wie jemand in der Nacht zu ihm kam. Er stellte sich schlafend, in Wirklichkeit schlief er aber nicht. Als die Königstochter zu ihm kam, begann sie ihn gleich heftig zu kneifen. Er umfing sie und sagt: »Warum kneifst du mich?« Die Königstochter küßte ihren Geliebten und beide weinten vor Freude.

Am Morgen ging die Königstochter wieder raus, der Igel nahm aber ein Schwert und schlug die Hexe nieder. So­fort wurde das ganze Schloß zu einem See, und auf ihm schwamm ein schmuckes Schiffchen. Die Königstochter und der Igel gelangten mit Hilfe des Hähnchens glücklich auf das Schiff und kamen so ans Ufer. Dann befahl das Hähnchen der Königstochter und dein Igel, sich auf es draufzusetzen, und in Windeseile flogen sie in das Land der Königstochter zurück. Der Apfel und der Fingerhut fanden sich auch bei der Königstochter! Wie freuten sich da alle! Und der König gab ein großes Fest und übergab dem Igel sein ganzes Königreich.

Auch ich war dort, auf diesem Fest. Darum habe ich alles gesehen und erzählt, was dort geschehen ist.

(Aus: Märchen aus Litauen. Hrsg. v. Jochen D. Range. Frankfurt/M.: Fitabu 11798. S. 62 - 69)

1.3.

Walter Scherf:

HANS MEIN IGEL

1. Das Märchen von dem Jungen, der durch eine Verwünschung seines Vaters halb als Igel und halb als Mensch zur Welt kommt, aber durch die vorbehaltlose Liebe einer Königstochter seine Dunkelgestalt abstreifen kann, wurde Jacob und Wilhelm Grimm am 29.Juni 1813 von Dorothea VIEHMANN, geh. PIERSON (1755 bis 1815), für den zweiten Band der Erstausgabe mitgeteilt und 1815 in den Kinder- und Hausmärchen als Nr. 22 veröffentlicht. Seit der Zweitauflage von 1819 führt es die Nr. 108. Die eindrucksvollsten bildlichen Darstellungen verdanken wir Otto UBBELOHDE (im 2. Band der von ihm illustrierten vollständigen KHM-Ausgabe S. 253, dazu noch zwei weitere Bilder S. 255 und 258: Der Hahnreiter vor den paradierenden Soldaten) und Maurice SENDAK (im 1. Band seiner deutschen KHM-Auswahl S. 25).

2. Ein reicher Bauer wird verspottet, weil er keine Kinder hat. Er ver­schwört sich: Und sollte es ein Igel sein! Und wirklich bringt seine Frau ein Kind zur Welt, halb ein junge, halb ein Igel. Es wächst auf dem Stroh hinter dem Ofen auf, und es findet sich weder ein Gevatter, noch kann die Mutter es nähren. Dem Vater wäre es am liebsten, wenn der Junge stürbe. Da geschieht etwas Merkwürdiges, das an den Eingang des Märchens von der Schönen und dem Tier erinnert (AT 425 C) und womit auch Das singende springende Löweneckerchen (AT 425 A, KHM 88) beginnt: Der Vater geht auf den Markt und fragt, was er mitbringen solle. Die Mutter braucht dies und das für den Haushalt, die Magd Pantoffeln und Zwickelstrümpfe da meldet sich unerwarteterweise auch der Igel und bittet um einen Dudelsack. Er erhält ihn, bittet den Vater, einen Hahn beschlagen zu lassen, nimmt Schweine und Esel und reitet auf Nimmerwiedersehen fort. Die Herde wird groß, der Vater weiß nichts mehr von ihm, aber Hans 'nein Igel sitzt auf seinem Hahn in einem Baum und spielt wunderschöne Weisen auf dem Dudelsack. Als sich eines Tages ein König in seinen Wald verirrt, zeigt er ihm unter der Bedingung den Weg, daß er ihm gibt, was ihm daheim zuerst begegnet. Das geschieht bald darauf ebenso mit einem zweiten König (und wird gewöhnlich von drei Königen so erzählt). Der Zuhörer weiß schon vorher, daß ihnen zuerst die Töchter begegnen wer­den. Der erste König steht jedoch nicht zu seinem Wort (in den Dreier­fassungen die beiden ersten Könige). Er befiehlt, daß beim Erscheinen von Hans mein Igel auf ihn geschossen, gehauen und gestochen wird. Ganz abgesehen davon, daß seine Tochter keineswegs dazu bereit wäre, das Versprechen des Vaters einzulösen. Der andere König jedoch, dessen Tochter dem Vater zuliebe das gegebene Wort halten will, befiehlt, Hans mein Igel willkommen zu heißen und ins Schloß zu führen.

Doch zuerst muß Hans mein Igel seine große Schweineherde unter Dach und Fach bringen ‑jedenfalls will es der Erzähler Josef HALTRICH SO (vgl. Abschnitt 3). Der Igel treibt die Herde heim, und sein Vater, der gehofft hat, den Igelsohn ganz abschreiben zu können, scheint sich nicht einmal über den Schweinesegen zu freuen. Er läßt den Hahn noch einmal beschlagen und sieht es offenbar recht gern, daß sein Sohn nun wirklich nicht mehr erscheinen will.

Hans mein Igel wird vom ersten König als Feind empfangen. Er fliegt auf des Königs Fenster und droht Vater und Tochter den Tod an. Darauf geben die beiden nach, und Hans fährt mit der Hochmütigen im Wagen fort. Aber unterwegs zieht er ihr die Kleider aus, zersticht sie, bis sie blutig ist, und jagt sie samt ihrem Heiratsgut heim. Die Königstochter des ande­ren Reiches erschrickt zwar über sein Aussehen, doch heißt sie ihn will­kommen und setzt ihn neben sich an die Hochzeitstafel. Als sie zur Schlaf­kammer gehen, bestellt Hans mein Igel vier Männer, die in der Nacht seine ausgezogene Igelhaut verbrennen (ähnlich wird das Federkleid des Taubenpadischahs in dem türkischen Märchen von Semsi Bani verbrannt, AT 432). Hans mein Igel liegt erlöst von seiner Igelgestalt im Bett, aber kohlschwarz wie verbrannt, er muß gesalbt werden - aber dann ist er weiß und schön. Das Ereignis wird gefeiert, und er erbt das Reich. Und schließlich besucht er mit seiner Frau nicht nur den Vater, sondern nimmt ihn sogar mit heim zu sich in sein Königreich.

3. Ob zu dieser Erzählung ursprünglich ein zweiter Teil gehört, das übertreten eines Gebotes und der bis an die Grenzen des Menschenmöglichen gehende Einsatz der Liebsten des Mannes in Igelgestalt, ist eine offene Frage. Bei Josef HALTRICH (DVSS 44 Das Brstenkind) gibt es einen solchen zweiten Teil . Nachts legt der Königssohn das Borstenkleid ab und trägt seiner Frau auf, Schweigen ZL, bewahren. Sie läßt sich jedoch von ihrer Mutter, die so viel Aufhebens macht um ihr armes, mit einem borstigen Eber verheiratetes Kind, überreden zu erzählen, wie es wirklich um ihren Mann bestellt ist. Am Ende ist sie sogar überzeugt davon,

tut, wenn sie heimlich in der Nacht das Borstenkleid verbrennt. Aber damit zerstört sie die junge, verletzliche Bindung und muß eine Preise bis an das Ende der Welt antreten. Das ist allerdings der voll ausgebaute zweite Teil einer Amor- und Psyche-Erzählung (AT 425 B ‑ Östlich von der Sonne und westlich vom Mond). Obendrein verlangt dieser Teil einen Perspektivenwechsel. Eingang und Fortentwicklung des Märchens vom Igelsohn gründen auf Verwünschung und Austreibung eines Sohnes durch seinen Vater und oft eine überbetonte Mutterbindung. Und so erzählen sie von dem Zu-sich-selbst-Finden eines jungen Mannes. Der zweite Teil des Haltrich‑Märchens vom Borstenkind aber be­richtet von der Suchwanderung der sich nun endgültig von Vater und Mutter trennenden jungen Frau. Damit wechselt der zweite Teil über zu einem Mär­chentyp mit einem Mädchen als Hauptgestalt. Der Perspektivenwechsel aber er­wirkt einen Identifikationswechsel. Ob eine solch zweiteilige, durch eine Tabu­verletzung bedingte dramatische Struktur einmal die ursprüngliche Zielform des Erzählens gewesen sein könnte (in BASILEs Erzählung Die Schlange wird die Such­wanderung durch ein Kernmotiv des Märchens vom Geliebten in der Vogelgestalt eingeführt, AT 432), oder ob das Igelsohnmärchen ursprünglich nur einteilig auf­gebaut war und mit dem Aus-der-Welt-Schaffen der Stachelhaut und damit einer Dunkelgestalt, in die man sich flüchten kann, sein natürliches Ende gefunden hat, läßt sich nicht entscheiden und muß auch nicht entschieden werden. In der älte­sten bekannten Fassung ‑ Der verzauberte Brahmanensohn, die im ersten Buch des altindischen Paficatantra steht (es wird auf die Zeit um das Jahr 3oo n. Chr. datiert), einer Fassung freilich, die als Verhaltensbelehrung gestaltet und nicht als Zauber‑

märchen gemeint ist, verbrennt der Vater, nachdem er die Verwandlung seines Tiersohnes beobachtet hat, die Schlangenhaut. Die nächstbekannte Literaturfas­sung ist in den Ergötzlichen Nächten (im ersten Band von 155o) des venezianischen Renaissance‑Erzählers Gianfrancesco STRAPAROLA nachzulesen ‑ König Schwein.

Hier bricht die junge Frau allerdings das Schweigegebot und verrät der Schwie­germutter, daß sie nicht mit einem wilden Borstentier, sondern mit einem schö­nen jungen Mann schläft, lädt die Eltern sogar ein, ihre Kammer zu betreten, und der Vater läßt das Borstenfell seines Sohnes in Stücke reißen, ohne daß die Tabu­verletzung neues Unheil brächte. Il re porco hat die Überlieferung merklich beein­flußt. Auf STRAPAROLA gründet auch der Baronin d'Aulnoys Erzählung vom Frischling (Le Prince Marcassin). Und da der Baronin d'Aulnoys Märchen sowohl in französischer Sprache als auch in deutschen Übersetzungen hierzulande weit verbreitet waren, sind die entsprechenden Einflüsse verständlicherweise in späte­ren Fassungen nachzuweisen ‑ z. B. in Johann Wilhelm Wolfs erster Märchen­sammlung von 1845 (DMS 3: Das wilde Schwein). Daß es bei Josef Haltrich eben­falls um ein Schwein geht und daß anderseits Hans mein Igel, die Grimmsche Titelgestalt, Hirt und Herr über eine große Herde Schweine ist, kann selbstver­ständlich auch bedeuten, daß mündliche Überlieferung und literarische Fassungen aus den gleichen Quellen schöpfen.

Die Motivverbindung Hirt in der Igelgestalt und fruchtbare Schweineherde im Wald ist ausgiebig zu belegen: so in der slowenischen oder der litauischen Überlieferung. Else Byhan hat Sin je;~, das Märchen vom Sohn Igel nach der Veröffentlichung in der Zeitschrift Slovenski glasnik von 18 5 9 übersetzt. Da hütet ein von der Mutter in die Igelgestalt verzauberter Sohn die Schweine im Wald, zeigt einem Mann, der sich immer wieder in diesem sonderbaren Wald verirrt, dreimal den Weg hinaus ‑ gegen das Versprechen, ihm eine seiner drei Töchter zur Frau zu geben. Der Ausgang zeigt dann die naheliegende Übereinstimmung mit dem Märchen vom Bärenhäuter auf (AT 361). Die aus dem Land der Auktaiten stammende, 1895 aufgezeichnete Fassung ‑ Von einem Igel und den Herrentöchtern macht es nicht viel anders. Erstens bekommen kinderlose Eltern erst auf ihr in das Stampffaß gesprochene Wort Und sollte es ein Igel sein! ein Kind (eine wunderbare Empfängnis, die besonders in eigentlichen Kindermärchen häufig auftaucht). Und zweitens müssen sich der Reihe nach drei Reiter (Herren, Gutsherren wohl) gegen das Versprechen freikaufen, dem wehrhaften Igel-Herrn über die wütenden Schweine ihre Töchter zur Frau zu geben. Doch während sich der slowenische Igel auf dem Kirchgang zur Hochzeit in einen hübschen jungen Mann verwan­delt, muß dem litauischen Igelsohn, auf den Rat der Mutter, in der Hochzeits­nacht die Stachelhaut zerkocht werden. Der Igelsohn als wehrhafter, ja Schrecken verbreitender Hahnreiter ist also in unserem Erzähltyp zu Hause. Die aus der heu­tigen schottischen Erzählüberlieferung fahrender Leute stammende Fassung Dun­can Williamsons, die einen jungen Mann, halb Mensch, halb Schwein, als König über seine Tierherden im weglosen Wald schildert (in den sich sein zukünftiger Schwiegervater verirrt), sollte beim Vergleich ihrer aktuellen Unmittelbarkeit hal­ber nicht außer acht gelassen werden (The hedgehurst, Williamson Fto Tchi).

Die Hinweise, daß hierzulande zahlreiche volkstümliche Darstellungen vom Hahnreiten bekannt sind und Spottlieder von einem reisigen Igel, der gegen einen Leineweber zu Felde zieht, ließe auf Entlehnungen der Erzähler schließen. Aber die Hinweise, die Albrecht Dieterich 1897 zur Geschichte des antiken Theaters, zu griechischen Vasenmalereien, pompejanischen Terrakotten, Maskentanz‑ und Possenreißerdarstellungen und insbesondere zur Volksfigur des Pulcinella im griechischen, oskischen und lateinischen Unteritalien gegeben hat, lassen noch ganz andere, mythologische Hintergründe ahnen, die bis in die große Zeit der Commedia dell'arte reichen, die ihre Spuren ja auch in anderen europäischen Ländern hinterlassen hat. Wir können lediglich festhalten: Die Vorstellungen des Hahnreiters und des gewappneten Igels waren bekannt und den Märchenzuhörern vertraut.

(Aus: Walter Scherf: Das Märchen-Lexikon. Bd. 1. München 1995. S. 564 -568; dort weitere Literatur im Artikel)

1.4.

Interpretation:

Arbeitstext:

Des Igels Menschwerdung

»Wie's nun Abend ward, daß sie wollten schlafen gehen, da fürchtete sie sich sehr vor seinen Stacheln: er aber sprach, sie sollte sich nicht fürchten, es geschähe ihr kein Leid, und sagte zu dem alten König, er sollte vier Mann bestellen, die sollten wachen vor der Kammertüre und ein großes Feuer anmachen, und wann er in die Kammer einginge und sich ins Bett legen wollte, würde er aus seiner Igelshaut heraus kriechen und sie vor dem Bett liegen lassen: dann sollten die Männer hurtig herbeispringen und sie ins Feuer werfen, auch dabei bleiben, bis sie vom Feuer verzehrt wäre.«

Gewiß steht Hans nun schon auf neuem Boden, "den das Zutrauen des Königs und der Prinzessin ihm erschlossen haben, aber es ist dennoch ein nie erprobtes und ungeheures Wagnis, daß er den Ent­schluß faßt, in der nächsten Nacht, ehe er der Prinzes­sin begegnet, die Tierhaut abzulegen. Dieser Ent­schluß kommt genauso aus der Mitte seiner selbst wie jener erste, aus dem Elternhaus auszuziehen. Bei allem, was er an kleinen Wohltaten und Zuwendun­gen von seiten des Königs und der Prinzessin bis dahin erfahren hat: Damit ist es noch lange nicht getan. Doch fragt sich, ob das Ablegen der Tierhaut je hätte vollzogen werden können ohne die positive Wandlung des Vaterbildes unseres Hans, die durch die Begegnung mit dem zweiten König möglich geworden war. Durch diesen König, der die positive Seite des Vaterbildes in ihm restauriert hatte, wurde die weitere Entwicklung möglich.

Sehr viel Kraft und Entschlossenheit allerdings ist nötig, um die Igelhaut nun wirklich verbrennen züi können. Es bedarf eines großen Feuers und dazu der vier Männer. die den Vorgang ausführen und bewa­chen. Der Igel galt in Mesopotamien und Zentral­asien, gelegentlich auch in Afrika, wegen des son­nenhaften Bildes seiner aufgestellten Stacheln übri­gens auch als sonnenhaftes Tier, das mit dem Fetter und damit mit der Zivilisation in Verbindung stand. Hier geht es letztlich auch um die Umwandlung unseres rauhen Igel-Hans in einen »zivilisierten«, einen kultivierten Menschen, der die Tierseite end­lich in ein volles Menschsein integriert. An dieser Stelle betont das Märchen ausdrücklich: Niemand anders als Hans selber vermag die Haut, abzulegen. Keiner kann es für ihn tun, und es tut es auch keiner für ihn. Doch kennt er selbst die Gefahr, die Haut wieder zurückholen zu wollen, nachdem er selbst sie abgelegt hat. In einer Variante zu unserem Märchentyp, dem Grimmschen Märchen »Das Eselein«, wird diese Gefahr akut. Hans aber bestellt vier Männer, um sich selbst vor diesem Rückfall zu bewahren. Ausschlaggebend für seinen Mut, die Haut wirklich abzulegen, ist die Beziehung zu der Königstochter: Als sie ihre Angst ausdrückt, vermag er ihr zu sagen, sie brauche sich nicht zu fürchten. Ihr zuliebe vermag er, was eigentlich über seine Kraft geht. Er legt ab, was ihn hinderte, je einem Menschen ganz nahe zu kommen, die Igelhaut. die aber doch zugleich sein einziger Schutz war; er wagt es, sich verwundbar zu machen, schutzlos zu sein, damit Beziehung möglich werden kann ‑ nach der vertrackten Geschichte von Ablehnungen, die sein Leben darstellt. Der Mut unseres Hans, die Igelhaut abzuwerfen - und verwunde er sich selbst dabei ‑, erweist sich zugleich als die Lösung für die Knoten seiner Lebensgeschichte. Gewiß wird ihm diese Tat nur möglich durch die Wärme, ja die Hitze des Feuers, die der Wärme seiner Emotion und seiner Leidenschaft für die Prinzessin entspricht. Schon zu Anfang erfahren wir, daß er zum Überleben Wärme, wenigstens am Ofen, brauchte. Jetzt brennt er selbst, das Feuer ist ein Bild für seine starken Gefühle für diese Frau, die es mit ihm wagt. Doch wenn wir genau lesen, nehmen wir wahr, daß er die Haut ablegt. noch ehe das Feuer angefacht ist. Das mag bedeuten, daß die Geste, die Haut abzuwerfen, als spontane Antwort auf den Mut der Frau zu verstehen ist, die es ins Unbekannte hinein mit ihm riskiert. Er weiß ja besser als sie, daß sie wirklich in Gefahr ist. wenn sie sich auf seine Sta­cheln, auf das Verletztwerden einläßt. Seine Ant­wort, noch ehe sie einander nahe gekommen sind, ist der radikale Schritt der Selbstveränderung, um sie damit vor ihm zu schützen. Hans opfert als erster, er bringt die »Vorleistung«, um einen wichtigen Begriff der Friedensbewegung zu verwenden. Er tut den ersten Schritt auf sie zu. Indem er das tut, brennt das Feuer erst richtig auf, erhebt sich die Leidenschaft in ihm, die sein Schutzverhalten auflöst und ablöst. Doch weiß er genau um die Gefahr, wir bedachten es schon, diese Haut womöglich nachträglich doch wie­der zurückhaben zu wollen. So zwingt er sich selbst, indem er Zeugen und Mithelfer anstellt, bei seinem Entschluß zu bleiben.

(Aus: Ingrid Riedel: Des Igels Menschwerdung. [Textauszug aus]: Hans mein Igel. Wie ein abgelehntes Kind sein Glück findet. Zürich: Kreuz Verlag 1984. S. 100 - 103.)

Aufgabenstellung:

Erarbeiten Sie die Entwicklung des Hans zum Menschen, wie sie die Autorin erklärt!

2. Ordnen Sie dem Vorgang die entsprechenden phasenspezifischen Verhaltensmodalitäten nach der sozialpsychologischen PSA Eriksons zu! 3. Beschreiben Sie die Auslösesituation und die Endphase der Entwicklung des Hans im Sinne der Deutung Riedels!

*

1.4.

Abschließende Interpretation (in Stichworten)

Zur entwicklungspsychologischen Symptomatik des Märchen-Falls

vom igelhäutigen, entwicklungsgestörten Kind:

Eine Typologie der Krankheitssymptome, der im Märchen überlieferten physischen oder psychischen Krankheitsbilder gibt es nicht; lediglich in der Reifungs- und Ablösungs-Psychologie, in der Analyse der Verdrängungs- und in der Identifikationsproblematik kenne ich eine Anwendung des modernen, realitätsgerecht­medizinischen Blicks auf althergebrachte Vorbilder und Symptome als Übertragung medizinischer und psychologisch/psychiatrischer Begriffe.

Folgende Teilleistungsschwächen und Defizite aufgrund sozial desintegrierender, medizinisch anormaler und/oder psychisch auffälliger Fakten oder häufig nachweisbare oder wahrscheinliche Risiken lassen sich ermitteln für die unterscheidbaren Altersstufen des igelhäutigen Kindes in Abhängigkeit von den umgebenden Faktoren:

Auffälligkeiten/Störungen:

* Hohes Alter der Eltern, besonders der Mutter, als Risikofaktor für die Gesundheit des Kindes in der modernen Medizin erkannt,

* Ablehnung des Kindes durch den Vater (deprivierende Etikettierung

* auffällige Hautprobleme, als atavistische, starke Behaarung oder Verschuppung des Körpers oder großer Flächen (denkbar: Neurodermitis, Hautanomalie)

* Schwierigkeiten beim Stillen, meist Störung der Mutter-Kind-Dyade in der oralen Phase (Spuckkind; Blähungen als Störungen des kindlichen Nahrungsaufnahme und Verdauungsvorgänge oder des Schlafrhythmusses

* Fehlende Elternakzeptanz: Abwehr, Unwillen, Fluch und Verwünschung als langandauernde Stigmatisierung, die eine Entwicklungsstörung beim Kind verursacht

* Entwicklungsstillstand über einige (hier: sieben) Jahre hinweg als Retardation

* Änderung des babyhaften "Einrollens" mit acht Jahren (zu deuten als verspäteter Eintritt in die Entwicklungsstufe des sich bewegenden Kleinkindes, gestörte Einverleibungsprozesse)

* Verhaltensstörungen, soziale Unruhe, altersuntypische Anforderungen an die Eltern als gewährende, liebende Urfiguren

* Manien, Zwänge, Stereotypien in Handlungen statt kreativen Spiels

* Regression in die innere Welt, die Traumwelt; auffällig infantile, psychische Befriedungsmechanismen

* Fixierung, Wahrnehmungsspezialisierung auf klanglich starke Reize, Schwierigkeit der selbstkontrollierten Einübungsformen, der Habitualisierungen

* Begabung für musikalische Phänomene (seltene, als genial eingestufte Fähigkeiten bei äußerer Anregung, bei Förderung vorhandener Kapazität)

* Erprobung, Leistung und Belohnung selbständiger Arbeit außerhalb des Elternhauses als soziales Akzept

* Nachgeholte Reifungsschritte bis zur Adoleszenz

* Erwachsenwerdung in der Suche (= Selbstfindung) und Liebe zur gewährenden, akzeptierenden Frau als Überwindung der eigenen Behinderung (der abstoßenden, gefährdenden "Igelhaut" als Symptom der Introvertiertheit und Aussenseiterrolle) in der Liebesbindung, speziell in der intimen, sexuellen Begegnung als abschließende Bestätigung der Identität und Möglichkeit der Liebesbindung an die gefundene Frau

Eine Zusammenfassung, implizit ein Vergleich mit den früheren Symptomen, (häufig fehlenden) Behandlungsmöglichkeiten und dem erhofften oder imaginierten Glück der Heilung und Erlösung durch Liebe ergibt sich aus den Märchen und läßt sich bis heute als eine besonders qualifizierte, menschenfreundliche Strategie im Umgang mit geistigen oder körperlichen Krankheitsbildern festhalten: eine positive Einstellung dem Nicht-vollendet-Entwickelten gegenüber, die - entgegen einer abschließenden, festlegenden Abqualifizierung des Anormalen - Entwicklungschancen ermöglicht, die auch Wunder, überraschende Wandlungen zeitigt.

Von diesem Märchenhaften können wir uns immer wieder überraschen lassen - als einem Potential des Humanen, einer Liebe und einem - vielleicht wunderbaren - Happy-end.

Exkurs zum Wechselbalg:

Wechselbalg (m.; Wechseling, Wechselbutte, Kielkropf, Kaulkopp).

Als Wechselbalg wird ein der Mutter durch ein dämonisches We­sen untergeschobener bzw. vertauschter Säugling bezeichnet, der sich durch seine Häßlichkeit, Unförmigkeit, Unersättlichkeit und Zurückbleiben in der Entwicklung auszeichnet. Es sind meist die Elementischen, Unterirdische, Wassergeister, Waldfrauen, die sich auf diese Weise eines Menschenkindes bemächtigen, indem sie es gegen das eigene austauschen. Bei Luther heißt es: Wechselbälge und Kielkröpfe legt der Satan an der rechten Kinder Statt, damit die Leute geplaget werden. Etliche Mägde reißet er oftmals ins Wasser, schwängert sie und behält sie bei ihm, bis sie des Kindes genesen, und legt darnach dieselben Kinder in die Wiegen, nimmt die rechten Kinder draus und führet sie weg. Aber solche Wechsel­bälge sollen, wie man sagt, uber 18 oder 19 Jahre nicht leben." (Tischreden 20.4.1539) Obwohl Luther hier, seiner Tendenz zur Diabolisierung gemäß, den Teufel als Urheber verantwortlich macht, wird deutlich, daß er einen Wassermann meint, der nach der Volksüberlieferung die Kinder austauscht. Wechselbälge sind meist unproportioniert und häßlich und gedeihen trotz ihrer Freß­sucht nicht; sie lernen nicht laufen oder sprechen und schreien ständig. Oft ist dies aber nur Verstellung. Die elbischen Wesen vertauschen die Kinder, um über den menschlichen Säugling An­teil an seiner Seele zu erlangen. Der Glaube an den Wechselbalg ist von Skandinavien bis Nordfrankreich und bis Westrußland, d. h. im germanischen und keltischen Bereich verbreitet.

Die größte Gefahr für die Mutter und den Säugling besteht in den ersten sechs Wochen nach der Entbindung. Wie die Wöchne­rin bis zu ihrer Aussegnung, so ist auch das Neugeborene in dieser Zeit besonders gefährdet. Mit Amuletten und anderen Schutzmaß­nahmen sucht man zu verhindern, daß es von elbischen Wesen, Wassermännern, Zauberern oder Zwergen geraubt und gegen des­sen mißtrestaltiges Kind ausgetauscht wird. Man hat den Glauben an den Wechselbalg aus seiner Mißgestalt, der anormalen Körper­bildung durch Rachitis, Kretinismus und Hydrocephalle usw. zu erklären versucht. Nach dem Volksglauben kann man sich des Wechselbalgs entledigen, indem man ihn quält oder zum Lachen reizt bzw. ihn dazu bringt, seiner Verwunderung Ausdruck zu ge­ben.

Luther berichtet von einem Wechselbalg, den der Vater wieder seinem Element überantwortet: „In Sachsen, bei Halberstadt, hat ein Mann auch einen Kielkropf gehabt, der seine Mutter und sonst fünf Mumen [Ammen] gar ausgesogen und uber das viel gefressen hatte und seiner seltsam begunnt. Diesem Manne haben die Leute den Rath gegeben, er sollte ihn zur Wallfahrt gen Hockelstadt zur Jungfrau Maria geloben und daselbst wiegen lassen. Diesem folget der Bauer und trägt ihn dahin in einem Korbe. Wie er ihn aber uber ein Wasser trägt und auf dem Stege oder der Brücke gehet, so ist ein Teufel unten im Wasser, der rufet ihm zu, und spricht: Kie­lekropf, Kielekropf! Da antwortet das Kind, so im Korbe saß und zuvor nie kein Wort geredt hatte: Ho ho!' Deß war der Bauer un­gewohnet und sehr erschrocken. Darauf fraget der Teufel im Was­ser ferner: Wo willt du hin?' Der Kielekropf sagt: Ich will gen Hockelstadt zu unser heben Frau und mick laten wiegen, dat ick möge gediegen [gedeihen].' Wie solchs der Bauer höret, daß das Wechselkind reden kann, welchs er zuvor nie von ihm vermerkt, wird er zornig und wirft das Kind alsbalde ins Wasser, mit dem Korbe, darinne ers trug. Da waren die zweene Teufel zusammen gefahren, hatten geschrien: Ho ho ha!' mit einander gespielet und sich uberworfen, waren darnach zu gleich verschwunden." Diese Sage wird in verschiedenen Versionen erzählt.

Eine andere Möglichkeit, den Wechselbalg zu erkennen und sich

seiner zu entledigen besteht darin, ihn zum Sprechen zu bringen, indem man ihm etwas zeigt bzw. etwas tut, z. B. Bier in Eierscha­len brauen, worüber er sich wundert. Zugleich gibt er dann sein hohes Alter zu erkennen. Dieser Alterspruch' lautet etwa: Ich bin so alt/ wie der Westerwald [Böhmerwald]/ doch ich sehe zum erstenmal/ daß man Bier braut in der Eierschal."

Wenn der Wechselbalg gesprochen hat, kann man ihn entfernen oder die Dämonen holen ihn selbst zurück und tauschen ihn gegen das richtige Kind aus.

Wie lebendig die Vorstellungen vom Wechselbalg im 17. Jh. wa­ren, zeigt ein Prozeß auf Gotland aus dem Jahre 1690, den j. Arens und B. Klintberg mitteilen: „In dem Prozeß angeklagt war ein EI­ternpaar, das am Weihnachtsabend einen zehnjährigen Sohn auf den Dunghaufen gelegt hatte, woraufhin das Kind erfroren war. Die Eltern glaubten, das Kind sei ein Wechselbalg. Es sollte ver­tauscht worden sein, als es ein halbes Jahr alt war und die Mutter es mit hinaus aufs Feld genommen hatte. Das Kind war seitdem kränklich gewesen und hatte Tag und Nacht geschrieen, und nur sein Kopf war gewachsen. Man meinte, die unterirdischen Elfen (underbyggarna) hätten das Kind vertauscht. Als es starb, glätteten sich seine verzerrten Gesichtszüge und Glieder, und da glaubten die Eltern, sie hätten ihr eigenes Kind zurückbekommen."

Auf ihre Handlungsweise waren die Eltern durch einen Boots­mann verfallen, der in einem Bauernhof im Kirchspiel drei Erzäh­lungen von Wechselbälgern gehört hatte. (Rig, 1979, S. 89‑97)

(Aus: Leander Petzoldt: Kleines Lexikon der Dämonen und Elementargeister. München 1990. S. 175ff.; dort nähere Literatur)