Montag, 6. März 2023

Abitur-Aufsatz: über K u t s c h-Fahrten (Schneider vs. Goethe)

                                          - Meine Z i t a t(-en)-Schere -


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Schlafes Bruder to go (Schneider in 11,5 Minuten)

https://www.youtube.com/watch?v=LoJqduoibuU

Deutsch LK: Gruppe…

Aufgabe:

Analyse der Erzählpassage Elias’ Kutschfahrt mit Elsbeth (aus: R. Schneiders „Schlafes Bruder“ - Text 1 -)

Beigefügt als Hintergrund- und Vergleichstext :Werthers Kutschfahrt (aus: J. W: Goethes „Werthers Leiden“ – Text 2 -)

Aufgabenstellung:

1. Analysieren Sie den Romanauszug aus Schneiders „Schlafes Bruder“ (Text 1) semantisch, syntaktisch und intentional.

2. Erörtern Sie mögliche, selbst gewählte intertextuelle Bezüge zu Werthers Brief aus Goethes „Werthers Leiden“ ( - Text 2 -).


Arbeitstext 1

(R. Schneider: „Die Kutschfahrt“. Aus: „Schlafes Bruder“. S. 138;14 – 141;16):

Robert Schneider: [Die Kutschfahrt]

Elias saß schweigend auf dem Bock, verschlossen gegen Elsbeth und die Welt.

Er sei schon ein kurioser Mensch, wenn man ihn so anschaue, dachte Elsbeth während der Fahrt. Jetzt kenne sie ihn schon viele, viele Jahre, aber im Grunde wisse sie nichts von ihm. Ob er heimlich ein Mädchen habe? Nein, viel zu anständig sei er dafür. Er sei halt wie ein richtiger Studierter, und die Dinge des täg­lichen Lebens kümmerten ihn herzlich wenig. Das könne man vom Lukas nun nicht behaupten. Der stehe mit beiden Beinen fest im Leben. Obwohl es ihr schon lieb wäre, wenn er sich etwas mehr mit ihr, als mit seiner Viehzucht abgeben tat’. Aber das müsse halt so sein, sage die Mutter. Und es stimme schon: der Lukas sei gut zu den Tieren. Sie habe ihn noch nie eines schlagen oder beschimpfen gesehen.

Elias saß schweigend auf dem Bock.

Ja die Liebe, sang sie ungehört in sich hinein, die Liebe sei ein traurig Ding. Den Mund mache sie lachen, aber das Herz sei ein dunkler Wald. Und sie warf den Kopf steil in die Höhe, blinzelte in die grell-grünen Blätter der Zweige des Mischwaldes, wie sie ruhig über ihrem Haupt vorbeiflossen, kniff die Lider zusammen, als ihr plötzlich das gleißende Sonnenlicht aufs Gesicht sprengte. Sie hielt die Lider geschlossen und malte sich aus, wie es wäre, wenn jetzt Elias um ihre Hand anhielte. Vielleicht habe er sie gar nicht lieb? Eine schlechte Partie sei sie außerdem, denn zu erben gebe es zu Hause nichts. Gewiß, er würde ihr schöne Worte sagen. Er würde ganz aufrecht vor ihr dastehen, ihr in die Augen blicken, sehen, daß sie erröte. Aus Takt würde er schweigen und sie erst in einer unberechneten Minute fragen: Fräulein Elsbeth: Wollt ihr mein Weib werden? Gewiß würden seine Hände schöne Gesten zu den Worten machen. Was sie da für dummes Zeug denke! Und Elsbeth schlug die Augenlider auf.

Elias saß schweigend auf dem Bock.

Er sei halt viel zu schüchtern. Das sage auch die Frau Mutter. Und ein Mannsbild müsse tapfer und mutig durch das Jammertal des Lebens schreiten. Das sage der Herr Vater. Außerdem liege ein Fluch auf der Sippe seines Bruders. Alle Kinder seien von schwäch­licher Art und wankelmütigem Geist. Das möchte sich wohl vererben, meine der Herr Vater. Trotzdem, das glaube sie fest, wäre er ihr bestimmt ein treuer Mann. Wissen könne man das nie, aber glauben tue sie es. Wenn er bloß nicht diesen unheimlichen Makel an sei­nen Augen trüge. Und er müßte einfach entschlossener und stärker sein im Leben. Dann hätte sie ihm schon lange - wie es nun mal des Weibes Art sei - verhohlen angedeutet, daß sie ihn wolle. Gottlob sei der Lukas ganz anders. Was sie da mit ihm nach der Kirmes erlebt hatte, das habe sie derart durstig gemacht. Sie sei halt auch nur ein elendes Weib und habe auch nur die elenden Gefühle eines Weibes. Aber davon verstünde der da nichts. Nein, Elias Alder sei kein Mann. Das sehe sie - leider.

Elias saß schweigend auf dem Bock.

Es komme ihr so vor, als wolle er überhaupt ohne Weib leben. Aus ihm möchte bestimmt ein geistliches Oberhaupt, ein Prälat oder am Ende auch ein Bischof werden. Wenn es wirklich dahin käme, würde sie, und müßte sie zu Fuß nach Feldberg wandern, bei seiner Weihe anwesend sein. Dann würde sie vor ihn hin­knien, den Ring an seiner Hand küssen und still zu sich sagen: «Das ist Elias Alder. Er war mein Freund.»

Während sie mit solchen Gedanken die Zeit vertrieb, befiel sie plötzlich eine seltsame Atemnot. Dreimal schöpfte sie Luft mit offenem Mund, dann wurde ihr Gesicht leichenblaß und vornüber sackte sie in Ohnmacht. Elias, der jäh erwachte, vermochte sie gerade noch beim Haupthaar zu packen. Dabei schlug sie mit ihrem Kopf hart an die Kante des Kutschbocks. Elias ließ die Zügel frei, riß das Mädchen herauf, da­mit es nicht vor die Räder falle, schlug ihre Arme um den Hals und preßte mit aller Gewalt den leblosen Körper an sich. «Sie ist doch marode», wollte er ausrufen, aber er kam nicht mehr dazu.

Zum zweiten und letzten Mal in seinem Leben lag Elsbeths Herz auf seinem Herzen, und Elsbeths Herzschlagen ging in sein Herzschlagen, so vollkommen und eins, wie er es damals als Fünfjährige im Bachbett der Emmer durchlebt hatte. Da brüllte Johannes Elias Alder wiederum so entsetzlich auf, als müßte er bei hellem Verstand sterben. Und sein Wankelmut wurde Lügen gestraft, und die Hoffnung wurde übervoll in ihm, und er schrie in das tiefe Blau des Himmels, daß er ohne Elsbeth nicht mehr leben könne.

Oh, wie hatte er nur daran zweifeln können, daß ihm Elsbeth von Gott vorbestimmt sei!

Er barg den Kopf des Mädchens in seinen unendlich sanften Händen, und als es erwachte, zerstreute er ihr wirres Fragen mit einem einschläfernden „Es ist ja gut, Elsbeth. Alles ist gut“. Dann bettete er sie in den groben Grützensack, welchen er für die Ochsen mitgeführt hatte, machte kehrt und karrte heimwärts, im­mer auf der Hut, ja in kein Loch, auf keinen Stein oder Wurzelstrunk zu fahren. Während er so fuhr, überlegte er, ob es nicht gut wäre, den Schwur zu brechen und dem Mädchen, sobald es genesen, vorsichtig anzudeuten - gewiß über die Dauer einer großen Zeitspanne hinweg - , daß er es liebe und es zum Weib haben wolle. Das erwog er tatsächlich, denn sein Mut war stark geworden.

(Aus: R. Schneider. Schlafes Bruder. Leipzig. 1994. S. 138; Z. 14 – S. 141; Z. 16)


Worterklärungen:

Grützensack: Sack mit Körnerschrot für die Fütterung der Zugochsen

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Zusammenhang der Handlungen in diesem Kapitel „Die Lichter der Hoffnung“:

Als Elias krank vor Liebeskummer vier Tage im Bett liegt, spricht sich sein Vater mit ihm aus und wird dadurch nach Jahren wieder froh; kurz darauf erleidet er einen Schlaganfall und bleibt gelähmt. Elias’ Fahrt mit Elsbeth auf dem Ochsenkarren nach Götzberg. Später teilt Peter ihm mit, dass Elsbeth von Lukas Alder schwanger ist.

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Text 2

Werthers Kutschfahrt“

Hintergrundstext, der nicht analytisch interpretiert, sondern nur unter dem Aufgabenaspekt 2 einbezogen werden soll

Aus: J.W. von Goethe: „Die Leiden des jungen Werthers“ [1774; 1787 (2. Fassung)]

Werthers Brief vom 16. Juni 1771:

(…) Unsere jungen Leute hatten einen Ball auf dem Lande angestellt, zu dem ich mich denn auch willig finden ließ. Ich bot einem hiesigen guten, schönen, übrigens unbedeutenden Mädchen die Hand, und es wurde ausgemacht, daß ich eine Kutsche nehmen, mit meiner Tänzerin und ihrer Base nach dem Orte der Lustbarkeit hinausfahren und auf dem Wege Charlotten S. mitnehmen sollte. - "Sie werden ein schönes Frauenzimmer kennenlernen", sagte meine Gesellschafterin, da wir durch den weiten, ausgehauenen Wald nach dem Jagdhause fuhren. - "Nehmen Sie sich in acht", versetzte die Base, "daß Sie sich nicht verlieben!" - "Wieso?" sagte ich. - "Sie ist schon vergeben, "antwortete jene, "an einen sehr braven Mann, der weggereist ist, seine Sachen in Ordnung zu bringen, weil sein Vater gestorben ist, und sich um eine ansehnliche Versorgung zu bewerben". - Die Nachricht war mir ziemlich gleichgültig. (…)

Wir hatten uns kaum zurecht gesetzt, die Frauenzimmer sich bewillkommt, wechselsweise über den Anzug, vorzüglich über die Hüte ihre Anmerkungen gemacht und die Gesellschaft, die man erwartete, gehörig durchgezogen, als Lotte den Kutscher halten und ihre Brüder herabsteigen ließ, die noch einmal ihre Hand zu küssen begehrten, das denn der älteste mit aller Zärtlichkeit, die dem Alter von fünfzehn Jahren eigen sein kann, der andere mit viel Heftigkeit und Leichtsinn tat. Sie ließ die Kleinen noch einmal grüßen, und wir fuhren weiter.

Die Base fragte, ob sie mit dem Buche fertig wäre, das sie ihr neulich geschickt hätte. -"Nein", sagte Lotte, "es gefällt mir nicht, Sie können’s wiederhaben. Das vorige war auch nicht besser". - Ich erstaunte, als ich fragte, was es für Bücher wären, und sie mir antwortete: - Ich fand so viel Charakter in allem, was sie sagte, ich sah mit jedem Wort neue Reize, neue Strahlen des Geistes aus ihren Gesichtszügen hervorbrechen, die sich nach und nach vergnügt zu entfalten schienen, weil sie an mir fühlte, daß ich sie verstand.

"Wie ich jünger war", sagte sie, "liebte ich nichts so sehr als Romane. Weiß Gott, wie wohl mir’s war, wenn ich mich Sonntags in so ein Eckchen setzen und mit ganzem Herzen an dem Glück und Unstern einer Miß Jonny teilnehmen konnte. Ich leugne auch nicht, daß die Art noch einige Reize für mich hat. Doch da ich so selten an ein Buch komme, so muß es auch recht nach meinem Geschmack sein. Und der Autor ist mir der liebste, in dem ich meine Welt wiederfinde, bei dem es zugeht wie um mich, und dessen Geschichte mir doch so interessant und herzlich wird als mein eigen häuslich1) Leben, das freilich kein Paradies, aber doch im ganzen eine Quelle unsäglicher Glückseligkeit ist".

Ich bemühte mich, meine Bewegungen über diese Worte zu verbergen. Das ging freilich nicht weit: denn da ich sie mit solcher Wahrheit im Vorbeigehen vom Landpriester von Wakefield2), vom 3)- reden hörte, kam ich ganz außer mich, sagte ihr alles, was ich mußte, und bemerkte erst nach einiger Zeit, da Lotte das Gespräch an die anderen wendete4), daß diese die Zeit über mit offenen Augen, als säßen sie nicht da, dagesessen hatten. Die Base sah mich mehr als einmal mit einem spöttischen Näschen an, daran mir aber nichts gelegen war.

Das Gespräch fiel aufs Vergnügen am Tanze. - "Wenn diese Leidenschaft ein Fehler ist", sagte Lotte, "so gestehe ich Ihnen gern, ich weiß mir nichts übers Tanzen. Und wenn ich was im Kopfe habe und mir auf meinem verstimmten Klavier einen Contretanz5) vortrommle, so ist alles wieder gut".

Wie ich mich unter dem Gespäche in den schwarzen Augen weidete - wie die lebendigen Lippen und die frischen, muntern Wangen meine ganze Seele anzogen - wie ich, in den herrlichen Sinn ihrer Rede ganz versunken, oft gar die Worte nicht hörte, mit denen sie sich ausdrückte - davon hast du eine Vorstellung, weil du mich kennst. Kurz, ich stieg aus dem Wagen wie ein Träumender, als wir vor dem Lusthause stille hielten, und war so in Träumen rings in der dämmernden Welt verloren, daß ich auf die Musik kaum achtete, die uns von dem erleuchteten Saal herunter entgegenschallte.

(…)

(Aus: J. W. von Goethe: „Die Leiden des jungen Werthers“ [1774; 1787 (2. Fassung)]

Stuttgart 19779. Klett-Edition. S. 17; Z. 18-34 und S. 19; Z. 22 – 21; Z. 13)

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Worterläuterungen:

1) Flexionslose attributive Verwendung der Adjektive; in mitteldt. Umgangssprache noch heute möglich.

2) „The Vicar of Wakefield“ (1766 von O. Goldsmith veröffentlicht) ist eine idyllische Familiengeschichte.

3) Goethe konjugierte das Verb „wenden“ sowohl schwach als auch stark; hier: ohne Bedeutungsunterschied.

4) Hier fehlen die Namen einiger „vaterländischen Autoren“, von den Werther schreibt: „Wer teil an Lottens Beifall hat, wird es gewiß an seinem Herzen fühlen, wenn er diese Stelle lesen solle, und sonst braucht es ja niemand zu wissen.“ [Anmerkung Goethes im Druck]

5) Ein aus Frankreich damals neu eingeführter Gruppentanz, bei dem sich jeweils zwei Paare einander gegenüber tanzend bewegen.


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