Freitag, 28. Juli 2023

Ein Professor, Dr. (gar) namens Etc.

  K i r c h e n f u n k - Beobachtung(en)  #  06

 

 

Hej, jaja: Guten Tag nach Bochum oder Essen (oder in Ihr "Institut":

Was Sie so unvermittelt anrufen: ein  Zitat von Hannah Aresnd (ohen den Kontext zu benenn, sls sie imExil (während der Nazi-Zeist in die USa flihenmusstee: Oh, weh, wie Sie Tatsachen verdrehen/weglassen/flüchtig-zusammenbinden:

"Eine der bekanntesten geflüchteten Frauen der letzten Jahrhunderte war Hannah Arendt, und sie schrieb in ihrem eindrücklichen Essay: „…die Gesellschaft hat mit der Diskriminierung das soziale Mordinstrument entdeckt, mit dem man Menschen ohne Blutvergießen umbringen kann“. - Äh, wie ist denn eindrückliche Essay benamst?

Kirchenfunk - ,, Es wurde nicht geraucht und kein Wein getrunken, und der Tag begann mit einer Morgenandacht. [Die Zeit. 14.06.1985, Nr. 25]

>> Prof. Dr. Lorenz Narku L a i n gLorenz]


Lorenz] „Heiße Magister, heiße Doktor gar…“

Bei meinen langfristigen Studien zum Kirchenfunk … - möchte ich heute protestieren:

Ein Professor,, Dr. (gar) belehrt uns:

https://www.kirche-im-wdr.de/startseite?tx_krrprogram_pi1%5Bformatstation%5D=5&tx_krrprogram_pi1%5Bprogramuid%5D=96583&cHash=321ec7e0e496ff7e3fccbb7fc3fc829f

Bitte, nachlesen; es geht um Mörderisches:

<< Es geht um ein „Mordinstrument“ – um oder/ohne „Blutvergießen“.

Lorenz Narku Laing - Wenn er soziologisch-sozialwissenschaftlich denken könnte:

... müsste erdas beachten:

Beispiel: Einordnung: Die ärztlichen „Exzesse“ im Nationalsozialismus sehen wir nicht als „Betriebsunfall“, sondern als konsequente Weiterführung wissenschaftlicher Traditionen. Sie betonen die ideengeschichtliche Herkunft eugenischer und rassenhygienischer Konzepte in der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts.

Die Gesellschaft hat mit der Diskriminierung das soziale Mordinstrument entdeckt, mit dem man Menschen ohne Blutvergießen umbringen kann (...).“ [In: Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, S. 20] – Ja, der Text ist schon früher enrstanden: - Und so: „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1955 auf Deutsch erschienen) ist das umfangreichste Buch der politischen Theoretikerin Hannah Arendt und gilt als ihr politisches Hauptwerk. Arendt untersucht darin die historische Entstehung und die gemeinsamen politischen Merkmale des Nationalsozialismus und des Stalinismus. Der Titel ist eines der frühesten Standardwerke der Totalitarismusforschung.“ – https://de.wikipedia.org/wiki/Elemente_und_Urspr%C3%BCnge_totaler_Herrschaft – Abruf heuer 29.07.2023
*
Oder auch . Was soll Ihr Sohn Oskar in einer Morgenandacht, gott-segne ihn; war es ein med. & geoffenbartes Wunder...? – und die Diversitätsforschung – und Ihre gestellten Zusammenhänge bewirken? Sie machen nur hemmunglose Akquise für Ihr Institut der „gesegneten Vielfalt“!
www.vielfaltsprojekte.de
Nota bene: Damit Sie sich orientieren können: An meinem Namen können Sie erkenen, dass ich Niederländer bin; im Geburtsjahr 1944  {weihnachltich}, mit einer holländischen Familie in das „Deutsche Reich“ eingewandert:
Und ich musste alles lernen, eines von acht Kinder: ich musste die deutschen Sprache; ich musste mich selbst einleben – sozialisieren – in familiale Nachbarschaft. Schule, Gymnasium, Studium – und dann Lehramt und Autorenschaft.
Aber ich kann Ihre Begriffe nicht normalisieren, ob theologisch oder geschichtlich. Sie betreiben Ihre eigene „Wissenschaft“, ohne die einfachsten Vorraussetzungen zu wissenschaftlichen Zitieren zu beachten: Entstehungszeit, Kontext. Bedingungsanalyse. Frage der Übertragbarkeit (im Geschichtlichen). Ökonische Zweckgebundeheit. Und Freiheit als Beliebigkeit.
Ja. Vielfalt, ja, Vieles; aber nich t außerhalb der Würde, die der § 1 GG verspricht: für alle -

 

Grüß G # tt -


 

Donnerstag, 27. Juli 2023

Ein Wundermotto (vergebens in meiner Schulzeit: 1959 - 1965)

 > Später - als Foto, ohne die Wirklichkeit vor 1965; gebaut wurde immer; [optisch] auf-ge-nommen je a la mode; äh, das muss lat. ausgesprochen sein: in modo Jesus Hominum Salvator (IHS) >


                                                   >> eine  S c h  u l -Anstalt <>

 

 Ein Wundermotto (des Lesens, des Lebens): 

  • aus meiner Zeit; geschrieben schon 1933/35; aber für mich unerreichbar:)

Die kleine Frühlingsnacht des Lebens verfließe dir ruhig und hell. Der überirdische Verhüllte schenke dir darin einige Sternbilder über dir, die Nachtviolen unter dir, einige Nachtgedanken in dir. Und nicht mehr Gewölk, als zu einem schönen Abendrot vonnöten ist, und nicht mehr Regen als etwa ein Regenbogen im Mondschein braucht!

Wenn ihm einer diesen Text anvertraut hätte - aber er lernte nur uninspirierte Arschpauker (mundus ani germanici et padägaogici et perpauci) kennen, die den Deutschunterricht betrieben wie am Strick das Glöckchen Schulbucheintopf (Aus: Jean Pauls Das Leben und Sterben des Quintus Fixlein. Vorrede. Zitiert nach Siegfried von Vegesacks Roman "Die baltische Tragödie")


Die Gaesdoncker Blätter >weit bin din die 90er Jahre>:

Eine Fundgrube, für Hymnen, für Predigten und Rechtfertigungen, für geschöpfte volle Kellen aus den Tiefen des Frasses, vornehmlich aus den bibblischen Ur-Gründen.. Rechtfertigt euch nicht über euren Scheitel hinaus, und den eurer Kindeskinder - Spruch aus den Logien des Kastendenkens. ... wie Kurt Tucholsky es in seinem Essay "Die Anstalt" beschrieb (aus dem Jahre 1931): Ja, es war noch vor dem politischen Desaster, was diese Anstalten begründete und bewirkte: den Faschismus. K. T. nannte diese Beispiele "Strafanstalten, Fürsorgeanstalten, Arbeitshäuser, Waisesnhäuser, Altersheime und so fortt": 

Er vergass. Schulanstalten.


                                               Wer als Kindchen/Erwachender wurde darin getauft? >

"Extremum occupet scabies" - Umstellung eines Halbverses von Horaz (Ars poetica).

Fritz Reck-Malleczewen: D i e F a b r i k

 


Deutsch-baltische Erinnerungen an Autoren und Texte II:


Fritz Reck-Malleczewen (*11. August 1884 auf dem Gut Malleczewen (Kreis Lyck) in Ostpreußen; † 16./17. Februar 1945 im KZ Dachau)



R.-M., ein Irrläufer der Geschichte? Ein zu Unrecht Vergessener? Ein Sonderling eigenster Prägung (wenn denn überhaupt ein Superlativ ausreicht...)?


Hier möchte ich den Erzählband „Phrygische Mützen“ vorstellen, für den die Rechte 1922 beim Drei Masken Verlag. München liegen (heute sicherlich bei R.-M.s Erben, die ich nicht kenne).


Ich biete hier die Exposition einer Kurznovelle, die sich in einer Stadt an der Düna erzählerisch ausbreitet, wo eine Kautschukfabrik von streikenden Proletariern besetzt wird, in den Wirren der Revolution der Jahre um 1905 im baltisch-russischen Raum…

>> Auch hier: https://www.projekt-gutenberg.org/reck/muetzen/chap004.html


https://www.projekt-gutenberg.org/reck/muetzen/chap004.html(Kurznovelle)


Im Osten verdämmerte über Sand, Sumpf und gelben Birkenwäldern die weite Ebene, verlor sich dort weit, weit hinter den gewaltigen, den menschenleeren Forsten in das große gärende Rußland der aufbrüllenden Großstädte, der zaristischen Manifeste, der meuternden Garderegimenter und der fabelhaften Straßenkämpfe.

Hier an der westlichen Peripherie des Reiches, an der baltischen Küste, fraß die große Industriestadt sich mit den barbarischen Ausläufern ihrer Proletariersiedlungen hinaus ins Vorgelände, versammelte täglich in riesigen Meetings fünfzigtausend gegen den Zaren, gegen die Oberschicht, gegen das Kapital aufheulende lettische Arbeiter, mordete im Dunkeln, in den mittelalterlichen Schlupfwinkeln, schickte Strafexpeditionen hinaus zu den Adelssitzen, brannte, schändete und wütete gegen die aristokratische stille Kultur des Landes: "Wärest Du nur ein Sklavenhalter, wie die Fabrikherren der Stadt, wir sprengten nur Deine Schatzkammer und ließen Dich doch sonst ungeschoren! Wehe Dir aber, wenn Du ein Ritter, wenn Du ein wirklicher Herr bist mit einem anderen Hirn, als das unsere ist; so werden wir Dich auf heißen Ziegeln tanzen lehren und Dich zwingen, Deines geschlachteten Weibes Blut in saufen!"  

In der weiten ebene im Osten der Stadt, wo die Düna seit Jahrhunderten ungeheure Kiesbänke ab­lagert, lag, eigentlich eine ganze Stadt für sich riesige Kautschoukfabrik: Bestien rotverblendeter Verwaltungsgebäude aus kanariengelben Ziegeln, Irrgänge verräucherter Höfe, atembeklemmende Lichtschächte, ein Gewirr von Benzintanks, Kesselhäusern .... fünf lang­gestreckte radienförmig ausstrahlende Hallen mit schiefen Pultdächern. . . . das Ganze umgeben den trostlosen Eisenzäunen .... eine Ausgeburt des Maschinenwahnsinns, eine häßliche Spinne, die sich gierig hineinfraß in das weite Bauernland. In dieser Fabrik nun hatte man vor vierzehn Tagen die Direktoren ermordet, die zweitausend Arbeiter hatten sich, die drohende Strafexpedition witternd, mit Weibern und Kindern in einem Teil der Anlagen verbarrikadiert, hausten dort wie in einer Festung und sahen im Besitze ihrer Waffen den Dingen mit wildem Trotz entgegen.

Gegen das Novemberende schickte die Regierung, die die große Stadt allmählich einschloß, die ersten Truppen: es war Spätnachmittag und das Licht schon in völligem Schwinden, als die dritte Schwadron der kaiserlichen Chevaliergarde in die zur Fabrik gehörige Siedelung Schreyenbusch einritt. Zuerst ritt der Vorsänger mit dem Schellenbaum 1) und dahinter trottete der Schwadronsziegenbock Iwan Pawlowitsch, und dann fielen

hinter diesen eleganten und stark parfümierten Offizieren die Soldaten ein mit einem jener sechzehnstimmigen höchst kunstvollen Lieder des russischen Heeres, die wie gothische Hymnen klingen, bei deren Text sich aber doch jeder Hamburger Leichtmatrose schamrot bei Seite schleichen würde … Reck-Male


Der Ort selbst... mehrere kilometerlange Prospekte direkt auf den Sand gebauter Holzhäuser... lag absolut verlassen da, die häßliche Silhouette der Fabrik bohrte sich spukhaft in das nasse Grau. Haufen von Müll, von verrosteten Sprungfedern, Konservenbüchsen und defekten Emailgefäßen bedeckten die Straße... Exkremente der Maschinen ... das Symbol des Proletariats. In der ungeheuren Stille klang der Gesang der Soldaten seltsam, er wurde gleichsam aufgesogen von dem grauen Chaos ... die Gestalten der gewaltigen Cuirassiere, eingehüllt in die nassen Mäntel, glitten wie Gespenster durch den Nebel. Ein zwergenhaftes menschliches Wesen, nur mit zu groß geratenem Kopf, ein zurückgelassener Kretin offenbar, lief auf den Bretterstegen neben den Panzerreitern her, machte mit seinen kreischenden Vogelschreien die Pferde scheu und war plötzlich vom Nebel verschwunden, als einer der Unteroffiziere ihn vom Sattel aus am Kragen fassen wollte.

Der Schwadronschef Graf Sergej Julitsch Oronzow, der Liao Yang und Mugden hinter sich hatte, war in einiger Verlegenheit: Verstärkungen hatte er erst nach einigen Tagen zu erwarten, für den Augenblick stand ihm hier, zwischen der unbezwungenen Stadt und dieser Zitadelle des Pöbels nur dies eine Schwadron zur Verfügung, und stündlich konnten diese in de Fabrik versteckten zweitausend desperaten Menschen seine schwache Truppe überfallen. Auf dem großen Platz, wo ein altes, auf rund Holzsäulen gestütztes Herrenhaus von verschollenen Tagen patrizischer Behäbigkeit träumte, ließ es absitzen. Ehe die Schwadron auseinanderging, gab er seine Befehle für die Nacht: die Leute hatten sich mit umgehängtem Pallasch und schußbereitem Karabiner niederzulegen, jedes Haus hatte einen Doppelposten zu stellen, die Wachen bei den Pferden waren zu verdoppeln. Er selbst beschloß, da die Fabrik auffälliger Weise auch nicht die geringste Spur von Leben zeigte, die Dunkelheit zu benützen, um mit der Abteilung des Unteroffiziers Nikiforoff II wenigstens das vordere Verwaltungsgebäude auszukundschaften.

Die Cuirassiere, vierzehn Mann nebst den drei Schwadronsoffizieren, gaben sich alles Mühe, leise zu sein auf den steinern Treppen, durchschlichen die unverschlossenen Räume des obersten Stock, tasteten sich mit schußbereiten Waffen an den langen Bureautischen vorwärts, unterdrückten abgründige und für europäische Begriffe unausdenkliche Flüche, wenn einer der ungefügen Pallasche auf dem Boden klirrte. Die Fliesen waren mit einem undefinierbaren Chaos aus zerrissener Briefe, von Trümmern zerstörter Schreibmaschinen und unsäglich verschmutzten Lumpen bedeckt, in der Privatkabine, wo sich das Drama mit den Direktoren abgespielt haben mochte, zeigte sich, als Oronzow für Sekunden das Taschenlicht aufblitzen ließ, Kugelspuren in dem pompejanischen Rot der Wände, unter den Trümmern einer Theemaschine war eine blutbesudelte Sammlung obszöner Photographieen zu entdecken. Da die Fensterscheiben zerbrochen waren, hatte die eingedrungene Feuchtigkeit alles zu einem kadaverhaften Brei gemacht, der Wind, der draußen zu gehen begann, pfiff mit seltsamen Stimmen in diesen verlassenen, auf hunderte von geschäftigen Menschen berechneten Räumen, daß die Leicht sich bekreuzigten. Von der sagenhaften Besatzung der Fabrik war nicht zu merken.

Oronzow, in dem die Abenteuerlust des alten Reiters erwachte, öffnete die eisenbeschlagene Tür in der Hinterwand des letzten Raumes. Ein unendliche langer Ganz, die Überleitung wohl zu den Fabrikräumen, klaffte ihm entgegen; schmale Tische dehnten sich an der unabsehbaren Fensterreihe, im aufblitzenden Lichtschein las Oronzow die Etikette einer der herumliegenden Pappschachteln und erkannte, daß hier ein paar hundert anämischer Weiber "Gummigötzen für den Export nach Zentralafrika" gepackt hatten; ah, wie sie doch keine Seele hatten, diese fremdblütigen Wurstmacher 2) ... wie sie doch keine Seele hatten!

Sich weiterschleichend erreichte er am Ende des Ganges eine zweite Eisentür, aus der eine kurze Treppe direkt in eine der Maschinenhallen führte. Hinunterspähend von der Galerie in den mächtigen Raum, sah der Offizier die phantastischen Schatten dieser eisernen Leviathane gegen den Abendhimmel sich abheben, sah die unentwirrbaren Linien unzähliger Riementransmissionen, sah hinab in dieses Labyrinth von Schlupfwinkeln, aus denen jederzeit kleine graue Nachtalben mit blutgierigen Lettengesichtern sich auf seine ehrlichen russischen Bauern stürzen konnten. Wo in aller Welt steckte diese Besatzung? Nun ja, Gott mochte wissen, wieviel solcher Hallen es hier gab, was alles sich in den Kesselhäusern, in den Kohlräumen, in den Kellern und Tunneln verbergen mochte! Er lauschte angespannt in den Saal hinab. In den Transmissionen heute der Wind, verfing sich in den eisernen Schlünden der Maschinen. Im Begriff, endlich die Tür zu schließen, zuckt Oronzow zusammen: der Wind hatte etwas Seltsamen... Lachen... Worte... nein nur den Schatten, die Geister menschlicher Stimmen herübergeweht.

Er wandte sich an den hinter ihm stehenden Unteroffizier: Hörst Du nichts?"

Der Andere lauschte mit gerunzelter Stirn: "Nein, Ew. Hochwohlgeborn!" Aber er bekreuzigte sich.

Der Rittmeister schloß leise die Tür und ließ die Lampe aufleuchten. "Was hast Du da?" Er zeigte auf ein undefinierbares Etwas, das aus dem Rock des Unteroffiziers hervorlugte, erkannte dann bei näherem Zusehn das altkluge Gesicht eines Igels, der im Lichtschein blitzschnell sich zu einer stacheligen Kugel zusammenrollte.

Der Unteroffizier lachte über sein ganzes pockenarbiges Gesicht: "Petruschka, mit Verlaub, Ew. Erlaucht... es ist Petruschka. Wir haben ihn im fernen Osten gefangen und führen ihn mit uns, weil sich an seinen Stacheln mit Verlaub zu sagen die Krankheiten der Pferde verfangen."

Oronzow wandte sich nickend ab, ging den Weg zurück, den sie gekommen

waren, in den letzten der Bureausäle. "Nun, Du wirst also hier wachen mit den Leuten diese Nacht."

Der Andere lachte wiederum in seiner fröhlichen Zuversicht, wies über den Rücken hinweg nach den Maschinenräumen zurück, wo der unsichtbare Feind stehn mochte: "Es soll ihnen nicht gelingen!"

Oronzow faßte nach dem Kettchen, das Nikiforoff bei der Bewegung aus dem Koller geglitten war. "Du trägst die Iberische 3 bei Dir?"

"Jawohl, Ew. Erlaucht, die Iberische und auch das Mütterchen von Moskau. Aber die Iberische ist besser."

"Nun gut. Gib also gut acht auf die Eisentür. Christus sei mit Dir." Und er wies auf jenes Gatter, hinter dem vor einigen Wochen noch ein paar hundert anämische Weiber Gummigötzen für den Export nach Südafrika in etikettierte Pappschachteln gepackt hatten. Dann überließ er den Unteroffizier Nikiforoff II nebst seinen Leuten seinem Schicksal.


***


Der Cuirassier4 Ilja Fomitsch Gontscharow, der auf dem Alarmplatz vor der Fabrik von zwei bis vier Uhr Nachts die "verfluchte Wache" hatte, dachte an die Schlacht bei Mugden, die er mitgemacht hatte und dachte wieder einmal daran, wie sie irgendwo in einer der öden Schluchten einer der schlecht berittenen japanischen Offizierspatrouillen niedergemacht hatten und erwog wieder einmal die Frage, ob es wirklich gerecht vor Gott gewesen sei, auf diese Japaner zu schießen. Gut, es war von den Vorgesetzten befohlen worden, auf die Japaner zu schießen, aber sieh mal, Iljutschetschka, führten denn die Japaner nicht auch nur die Befehle ihrer eigenen Vorgesetzten aus, wenn sie ihrerseits auf die Russen schossen? Und mußte man sie denn da nicht nach Gottes Willen verschonen?

In diesem Sinnieren, wie man in solchen Fällen Gottes Willen am besten erfüllen könnte, wurde der Posten durch drei... vier aus dem Fabrikgebäude kommenden Schüssen aufgestört, denen dann nach einer kurzen Pause ein einzelner langgezogener Schrei folgte... ach ja, ein ganz schrecklicher Schrei folgte, und genau so hatte es geklungen, wenn längst der mandschurischen Bahndämme die Tungusen5) ihre Schafe geschlachtet hatten: diese Teufel, die den Tieren die Eingeweide aus dem Leibe rissen, ohne sie vorher getötet zu haben...

Im Gedenken an dieses oft gesehene Bild schoß der Cuirassier seien Karabiner in die Luft, der Posten vor dem Quartier des Rittmeisters, alle übrigen auf den Gassen antworteten ... drüben jenseits des Platzes schmetterte der aufgeschreckte Stabstrompeter das Signal "Katji letji streloi"6) in die Nacht ... dieser Teufel, der zuviel Schnaps getrunken hatte und sich auf dem hohen Ton mit "streloi" überschlug.

Im Augenblick war die Schwadron, die Pallaschgurte umwerfend, auf den Beinen mit verschlafenen Gesichtern und schief sitzenden Feldmützen, und nur der Leutnant Dochturow war noch nicht ganz mit seinen Tragbändern fertig, als er auf die schon in Reih und Glied stehende Truppe zugelaufen kam: "Nun, Du ... Freundchen, was ist los?"

Der Flügelmann wies in die Fabrik und die ihm zunächst stehenden Cuirassiere antworteten, beinahe im Chore: "Der Teufel, Ew. Hochwohlgeborn, ist los. Aber wir werden ihn mit Gottes Hilfe wieder an die Kette legen."

Vor dem Verwaltungsgebäude ließ Oronzow, der beinahe als Erster auf dem Alarmplatze gewesen war, ausschwärmen. Er selbst betrat mit einem ganzen Zug die Räume, in denen er gestern den Unteroffizier Nikiforoff II zurückgelassen hatte. Irgendwo hinter ihm zündete ein Voreiliger Licht an. "He, Du Teufel, willst Du wohl das Licht..." Ein Schuß pfiff gleichwohl an seinem Gesicht vorüber, zehn, zwölf weitere fuhren, als das Licht erloschen war, mit scharfem Peitschenknall in die Decke, fernes Gelächter kam aus dem Dunkeln, flüchtige Schritte trappelten über den Strich, ganz weit dort in dem Gang, wo die Fabrikmädchen die Götzenbilder verpackt hatten. Dann war es stille.

In dem Raum, in dem der Unteroffiziersposten gelegen hatte, roch es widerlich stark nach frischem Blut. In dem grauen Licht der Dämmerung - es wollte zum ersten Male seit Wochen ein heller Tag werden - erwies es ich, daß von den am Vortage hier zurückgelassenen Leuten auch nicht ein Einziger am Leben war. Die beiden Posten vor Gewehr waren erschossen, sie lagen an der eisenbeschlagenen Tür und waren übereinander gestürzt, die Anderen hatte man mit Messern ermordet, ehe sie wach geworden waren... ja, sie hatten elendige Knebel im Munde, und diese lettischen Teufel hatten ihnen die Kehlen durchschnitten. Der Unteroffizier stand zwar als einziger aufrecht, aber er stand auf dem Kopfe....ja, diese gottlosen Räuber hatten ihn an die Holzwand genagelt... durch die Hände und mitten durch das Stiefelleder gingen große neue Nägel, und er hatte sich wie die Anderen verblutet durch die Winde im Hals. Neben ihm, mit einem finnischen Messer an die gleich Wand gespießt, verzappelte der Igel Petruschka, der von den Pferdeställen die bösen Geister hatte fernhalten sollen, und nun rollte er sich nicht mehr zu einer Stachelkugel zusammen, und in seinen Augen standen, als Oronzow ihn beleuchtete, wahr und wahrhaftig zwei dicke Tränen. Das Abscheulichste - man hatte den Toten die Kleide vom Leibe gezogen, sie streckten den Soldaten die Blöße entgegen, und in das dicke des Gesäßes hatte man mit Messern das Regimentsmonogramm eingeschnitten... ach, Jesus ja, ach großes Erbarmen...

Oronzow, der in seinem Leben Mancherlei gesehn hatte, betrachtete alles mit sachlicher Ruhe. "Nun sieh mal", dachte er, "das haben sie ganz ordentlich besorgt, diese Teufel, das haben sie wirklich ordentlich besorgt. Aber wir werden es Ihnen..." Er wußte, wie man sie bestrafen werde, ja, mit einer guten großrussischen Strafe, diese fremdblütigen Teufel. Die Cuirassiere um ihn traten mit den schweren Reiterstiefeln verlegen auf der Stelle. Der Leutnant Dochturow, sehr stark nach Eau d' Espagne duftend, war totenblaß geworden und zitterte und führte ein spitzenbesetztes Taschentuch vor die Nase. "Wenn Sie das nicht ansehn können, Alejef Fjodorowisch", fuhr Oronzow ihn an, „so hätten Sie Advokat werden sollen!"

Er schrie den Offizier an, ohne Rücksicht auf die Anwesenheit der Soldaten zu nehmen. Dann ließ er die Toten vor das Gebäude tragen.


***

Am nächsten Tage war wirklich der Frost da, man konnte übe die Ebene weit nach Osten bis zu dem Gebirgszug sehn, dorthin, wo die Düna durch den Granit bricht. Über die glashart gefrorenen Wege kam die Verstärkung... zwei weitere Schwadronen mit schweigender Musik... der Kommandeur hatte mitten im Marsch, als ihn die Nachricht von den Ereignissen der Nacht erreicht hatte, abbrechen lassen. Die Cuirassiere, wohlhabende, freiwillig dienende Bauernsöhne aus den weizenreichen Wolgagouvernements, blickten finster vor sich her, in ihrer Regimentsehre getroffen. Dann kam der Stab und die Burschen des Kommandeurs, berittene Infanteristen, ziemlich verunglückt auf den hochbeinigen Handpferden ihres Herrn sitzend. "Hund auf dem Zaun"7... seht Freunde die Hunde auf dem Zaun!" schrien die Cuirassiere Oronzows, die auf der Dorfstraße vor ihren Quartieren stehende das Lederzeug künzelten8). Aber die Infanteristen waren zu einer Antwort nicht zu bewegen und ritten stolz vorüber. Dann rasselten auf ihren Karren die Maschinengewehre mit schlitzäugigen und pockennarbigen Kaukasiern auf den Sitzen heran. Die Oronzowschen kritisierten die kleinen Pferde: "Nun sieh doch nur, sie haben Mäuse vor den Lafetten statt der Pferde."

"Ja... ja", schrie es im Chorus, "sie haben ihre Pferde in Mausefallen gefangen, diese Teufel. Man lachte und dachte augenblicklich nicht an die zerfetzten Kameraden aus der Fabrik. "He!" schrie es von den Lafetten fröhlich zurück: "He, ihr Klempnerburschen 9), wir hören, daß der Teufel über Euch gekommen ist in dieser Nacht?"

"Ja, aber wir werden ihn wieder in die Hölle schicken mit Gottes und mit Eurer Hilfe!" antworteten die Cuirassiere und polierten die Kinnketten in den bloßen Händen. -

Der Kommandeur hatte eine Unterredung mit dem Rittmeister Oronzow, die dieser mit hochrotem Kopfe verließ. Wie, man sollte systematisch belagern? Man sollte es in den Kauf nehmen, noch mehr gute Leute dabei zu verlieren, weil die in Petersburg befohlen hatten, keine Werte zu zerstören? Man konnte das Nest in Einem ausheben... aber die in Petersburg würden schon sehn, wohin sie selbst kommen müßten, wenn sie die Revolution mit Cremechocolade bekämpfen wollten! Er wiederholte wütend "Cremeschocolade" und ließ mißlaunig den Pallasch auf dem frostharten Boden klirren und begab sich dann an die Stelle, wo man den gestern Gemordeten das Grab gegraben hatte.

Das war in den Sandbergen, dort, wo vor Jahrtausenden der durchbrechende Strom den Humus der Ebene unter gewaltigen Kiesbänken begraben hatte... ein unheiliger Ort, eine alte Richtstätte der großen Stadt in ihren hansischen Zeiten, durch Spukgeschichten übel beleumundet. Da war nun also ein sehr tiefes, mit Tannenzweigen ausgestecktes Grab, und zuerst umschritt es der Regimentspope in weitem Geviert und segnete die Toten, den Himmel darüber und in Christi Namen die Erde und das Wasser, die ihren Leib auflösen würden; und da waren sie nun selbst diese armen Puppen mit ihren Glasaugen und den Leinentüchern, die ihnen die Todeswunden verhüllten... Ja, da waren sie und die langen, schweigsamen Züge ihrer Kameraden, die mit schwerfälligem Reiterschritt an ihnen vorüberzogen. Da waren Rauchfässerdunst und Chorknaben, und dann im jungen Kiefernholz die weite Schar knieender, barhäuptiger Soldaten mit ihren aristokratischen Offizieren, und wiederum in der Mitte dort der Priester mit dem unendlich langen, weißen Bart und die altslawonischen Gesänge und die Worte des Totenzeremoniells ... Gospodji pomiluj... Herr erbarme Dich... Ja irgendwo mochte der große Gott, der das Geheimnis und die Ursache aller menschliche Roheit und alles Leides der Kreatur kennt, sitzen und sich über den geschlachteten Unteroffizier Nikiforoff II erbarmen und über die vierzehn Cuirassiere vom Regiment Chevaliergarde und den Igel Petruschka mit den Tränen in seinem Auge ... ja, ja, auch über das Igeltier und Gottesgeschöpf Petruschka. Hier aber geschah es, daß am Schluß der Totengebete, als der priesterliche Mund schon verstummen sollte, aus eben diesem Munde sein Wort kam, blitzschnell wie ein Peitschenhieb zuckendes Wort, das nichts von Erbarmen wußte, sondern nur von Rache ... ah, von einer befreienden, großrussischen Rache an den fremden Mördern. Da geschah es weiter, daß sich plötzlich ein einzelner Soldat von der Leibschwadron, ein baumlanger, blonder Mensch aus dem tambowschen Gouvernement aufstand und vor dem vorgehaltenen Kreuze des Popen kniete und mit weithin schallender Stimme auf den Crucifixus schwor: wie er nicht ruhen werden, bis er den Tod der Kameraden an den Mördern gerächt habe, an den Mördern und ihren Weibern und ihren Kindern, und sie ausgerottet habe bis zum Allerletzten. Und wie er, so kamen sie alle, einer nach dem andern ... kamen Cuirassiere und kubansche Kosaken und kaukasische Schützen ... kamen diese Gardeoffiziere mit Rußlands großen Namen... kamen sie und schwuren auf das Zeichen der Liebe blutige Rache, schwuren es in Scharen, schwuren es einstimmig in ganzen Chören, daß die tiefen Männerstimmen weit hinschallten in den hellen Tag. Und so lag das ganze klirrende Reiterregiment auf den Knieen und schwur und betete zu dem großen russische, dem langbärtigen Gott, der ist nicht wie andere Götter. Sondern er sitzt unter herbstgelbem, mächtigem Ahorn auf einem Thron von poliertem Birkenholz, und um ihn ist weites, fruchtbares Land und das gewaltige russische Volke, vor dem dereinst die Völker des Westens allesammt vergehn werden. Amen.


***


Sieh, diese waren nun die winterhellen Tage vor Weihnachten mit grimmig klirrendem Frost und eisigen Winden und dunklen Nächten und pechschwarzem Himmel und übergroße, bösen Sternen. Chevaliergarde und kubansche Kosaken hatten denen in der Fabrik das Wasser, das Licht und jedwede Zufuhr abgesperrt und hielten den gewaltigen Komplex mit seinen zweitausend und noch mehr Insassen, nebst Proletarierweibern und hungernden Kindern umspannt mit ihren Ketten, daß keine Maus hätte hindurchschlüpfen können. Ja, zunächst war es wohl sie, daß die Besatzung im Bewußtsein ihrer größeren Menschenzahl die Belagerer verspottete, daß sie ausgestopfte Puppen in russischen Uniformen an den Fenstern erscheinen ließ und die wirkungslos im Mauerwerk verprasselnden Salven der Soldaten mit höhnendem Lachen beantwortete, auch vom Uhrturm die rote Fahne im eisigen Ost flattern und durch die Nacht die wilden lettischen Haßgesänge hören ließ, daß es schaurig zu den Posten herüberklang. Aber dann war die schreckliche Kälte gekommen ... und kein Wasser ... und Hunger ... Hunger ... Hunger von zweitausend verzweifelten Menschen. Es war ihnen zu nichts nütze, daß ihre Kugeln ab und zu einen von den Belagerern erwischten, wenn die draußen sich aus ihren Erdlöchern wagten, es nützte zu nichts, daß diese rasenden Arbeiter eine oder die andere Wache nächtlings überfielen und ihre das Schicksal des Unteroffiziers Nikiforoff II bereiteten. Die Erbitterung wuchs, die Kette hielt, der Hunger quälte mit wütender Marter, man hörte draußen im Dunkel die frierenden Kinder heulen und wachte gut und unerbittlich.

Am zwölften Tag dieser Belagerung geschah es, daß vor dem Cuirassier Jlja Fomitsch Gontscharow, der mit dem Maschinenschützen Gregoraschwili auf der nach der Stadt zugelegenen Seite stand und zur Stunde wieder daran dachte, daß die bei Mugden niedergeknallten Japaner nur die Befehle ihrer vorgesetzten ausgeführt hätten ... ja, da geschah es also, daß hier, wo die verlassenen Kleingärten der Proletarier an das Fabrikgebäude stießen, auf dreihundert Meter Entfernung eine graue Weibergestalt erschien, sich scheu nach allen Seiten umsah und dann die mitgebrachte Hacke in den vereisten Boden sausen ließ: versteht sich, um die letzten noch in der Erde steckenden erfrorenen Kartoffeln zu bergen. Gleich darauf geschah es, daß ein zweites, drittes und ein viertes Weib erschien, daß andere mit zerlumpten Kindern folgten und allesammt gierig an sich rissen, was da zu finden war.

"Heda! Freundchen! Es ist in diesem Falle nicht erlaubt, zu schießen!" Und der Cuirassier Gontscharow riß dem schlitzäugigen Kaukasier neben sich die Hand noch gerade im letzten Augenblick vom Abzug fort.

Der Andere sah ihn erstaunt von der Seite an: "Und warum nicht, wenn es Dir zu antworten beliebt?"

"Nun, Du magst ruhig auf diese Teufel, ich meine auf die Männer schießen, aber es ist vor Gott ganz und gar nicht erlaubt, auf die Kinderchen zu schießen."

Da der Streit der beiden des Weiteren heftiger und mit lauten Stimmen geführt wurde, so kam es, daß ohngeachtet aller Gefahr die benachbarten Posten auf die Beiden zukrochen und die Auseinandersetzung mit anhörten. Und da inzwischen die Weiber ungestört weitergruben und die Besatzung der Fabrik ihrerseits zu feuern sich wohlweislich hütete, so bildete sich an Ort und Stelle ein richtiger Debattierclub, ob man angesichts der Kinderchen feuern dürfe oder nicht. Man sprach sich also gegen das Schießen auf die Kinder aus oder bekannte sich dazu, und schließlich erschienen an den Fabrikfenstern sogar die Verteidiger, die einen Streit witterten und etwas von den Worten erhaschen suchten. Bis die Frage dann von einem schmächtigen Unteroffizier der kubanschen Kosaken entschieden wurde: "Du, gibst doch wohl zu, mein Lieber, daß die Väter dieser Kinder, nämlich diese lettischen Teufel, keine Seele haben?"

Der Cuirassier Ilja Fomitsch Gontscharow nickte.

"Nun, und von den Weibern, da sie sich an der Schlachtung der Euren beteiligt haben, gibst Du es auch zu? Gut: also wenn die Väter keine Seele haben und die Mütter haben sich auch nicht, wie sollten die Kinderchen dann eine haben?"

"Nun, nein, es ist wahr, daß sie keine Seele haben. Diese Fremden haben ganz und gar keine Seele." Damit lief die Versammlung wieder auseinander. Der Cuirassier Gontscharow hob den Karabiner und zielte sorgfältig auf das zuerst erschienene Weib, das den auch prompt mit Blitz und Knall umkugelte. Sofort fing die ganze Postenlinie auf die Weiber zu feuern an, die mit kreischendem Schrien unter Zurücklassung ihrer Kartoffelkörbe auf das Tor zuliefen, in der Todesangst ihre eigenen Kinder niedertraten, zum größten Teil aber auf dem gefrorenen Boden liegen blieben. Zugleich fing die erbitterte Besatzung zu schießen an, und es begann ein Gefecht, das die ganze Nacht hindurch währte und bei dem die Truppen erhebliche Verluste hatten. Man sah in der Frühdämmerung bei eingeschrumpften, weiß bereiften Leiber der Toten auf der steinharten Erde liegen.

In diesen frühen Morgenstunden war es merkwürdig still. Dann aber hörten die frierend in ihren Löchern hockenden, die erbitterten Soldaten von der Fabrik her erregtes Schreien, eine wütende Auseinandersetzung zwischen irgendwelchen Parteien in dieser verzweifelten Besatzung, klägliches Geheul der hungernden Kinder und das Keifen rasender Weiber, die mit kreischender Fistel in den Streit sich einmischten. Dann ward es wieder stille.

Um neun Uhr morgens nach der ersten Ablösung öffnete sich auf der Nordseite das große Fabrikportal, und heraus drängte mit roten Fahnen und mit Schreien, die nichts mehr Menschliches hatten, diese rasende Besatzung: Männer und Weiber durcheinander, halbwüchsige Burschen mit exkrementalen Gesichtern ... nicht Letten allein ... die ganze vielfarbige Palette des russischen Proletariats ... Polen, ausgemergelte Sachsen, französische Metallarbeiter, rasende chinesische Kesselheizer... alle mit glühenden Augen, alle mit dem wütenden Haß der Unterirdischen gegen das singende Leben ... Weiber mit finnischen Dolchen zwischen den Zähnen ... einzelne Schüsse knallten ... irgend ein Bursche begann mit gebrochener und sich überschlagender Stimme die Arbeitermarseillaise zu kreischen, mit diesen rostigen lettischen Lauten ... Weiber fielen singend ein ... die ganz verzweifelte Schar sang und stürzte singend vorwärts.

Die überraschten Soldaten, kaum dreihundert Meter von diesem Haufen entfernt, stutzten, rissen dann die Gewehre, die in den Schnee eingegrabenen Kugelspritzen hoch.. "Sie haben keine Seele ... ah, seht Ihr, wie sie keine Seele haben?"

Der Schrei stob die ganze feuerspeiende Linie entlang, der Tod fuhr unsichtbar aus den heiß werdenden Läufen, er fraß an dieser dicht sich zusammendrängenden Kolonne dort drüben, er preßte diese Schreie folternder Grabenangst aus den Kehlen, unterwühlte den Haufen der Überlebenden, schmolz ihn vollends ein, daß schließlich die rote Fahne in einem Leichenknäuel stecken blieb.

Dann sah man Verwundete die Arme hoch werden und hörte sie, wie sie schrien: "Gebt und Gnade!"

Da sprengten kubansche Kosaken heran über das Feld und stachen sie mit Lanzen tot.

Es ist zu bemerken, daß von allen diesen Belagerten auch nicht Einer mit dem Leben davonkam.


***


Am nächsten Tage, als auch die große Stadt zur Ruhe gebracht worden war, zog das Regiment Chevaliergarde mit schmetternder Musik vom Osten her ein. Ma Abend trafen sich die Offizierskorps sämmtlicher anwesender Regimenter in dem bekannten Haus der Witwe Tritten in der Grünstraße, welches Etablissement genau so wie die Filialen in San Franzisko, Antwerpen, in Singapoore und in Buenos Aires auch nur eine Zweigstelle des großen Hamburger Haupthauses war. Der große Salon, in dem man Thee trinken und sogar soupieren konnte, ohne sich um den eigentlichen Zweck des Hauses zu kümmern, war überfüllt. Man sah, durchaus getrennt von der russischen Gesellschaft, die schlanke livländische Aristokratie... Väter und Sohne, die sich gegenseitig nicht zu kennen vorgaben ... dann die Polytechniker, jüdische Rechtsanwälte und selbst Gymnasiasten. Man saß gerade beim Abendessen oder auch vor kleinen Brandy-Karaffen, ein Klavierspieler mit einer Porzellannase schlug ein Pianino ...im Hintergrunde tanzte man mit den Mädchen, zu denen alle Nationen der Welt ihr Kontingent hatten beisteuern müssen: Lettinnen mit kaffeebraunen, spröden Haaren, Französinnen, die auf dem jährlichen Wege von der Riviera nach Petersburg hier Station machten, ältliche breithüftige Sächsinnen, die für die westlichen Märkte schon untauglich geworden waren und endlich ruthenische, galizische, polnische Jüdinnen in prachtvollem Blütenalter. Es roch nach Schminke und Weiberfleisch... der Manager der Witwe Tritten saß unter den Glasstufen der großen, nach oben, zu den Separatkabinen führenden Treppe und machte für jedes Mädchen, das mit einem Kavalier sich nach oben begab, einen Strich ins Notizbuch.

Vorn, wo die Offiziere der Okkupationsregimenter saßen, führte ein alter General im Format eines russischem Bauernofens den Offizieren seines Stabes das erste von ihnen gesehene Benzinfeuerzeug vor, sah jeden beglückt und triumphierend wie ein Zauberkünstler nach einem gelungenen Kunststück an, wenn die kleine Flamme aufzuckte. Noch weiter vorn erzählten sich fünf Dragonerleutnants unanständige Geschichten von der Tänzerin Pawlowa, zwei Hauptleute von der provinzialen Linieninfanterie debattierten erregt über die Frage, ob ein kaiserlicher Ukas wohl zweckmäßig sein würde, der den Popen das Abschneiden der langen Haare auferlegte.

Distinguierte Gardefeldartilleristen unterhielten sich leise über die politische Lage in Moskau ... irgendwo sah man die Spitzel der politischen Polizei ... in der Mitte, wo mit dem Fahnenjunker Fürsten Bolkonski10, dem Leutnant Dochturow und dem Regimentsarzt Michailow der Rittmeister Graf Oronzow saß, wurde das Meutern des Preobraschensk-Regimentes und der Eisenbahnerstrike11 ziemlich erregt erörtert. Der Regimentsarzt, aus der freisinnigen Bourgeoisie stammend, ereiferte sich über die Brutalität, mit der die Regierung die Revolution niederschlug, der Fähnrich opponierte ihm, um seine Loyalität zu bekunden, überlaut, der Arzt überbot ihn, die Debatte wurde fast schreiend geführt, es war nicht zu verhindern, daß, während der nasenlose Klavierspieler die Melodien aus Eugen Onegin herunterpaukte, sich ein Kreis uniformierter Zuhörer um den Tisch bildete. Oronzow saß schweigend dabei und trank ungeheure Mengen Alkohol. Der Leutnant Dochturow, mit einem kristallenen Parfümfläschchen spielend, pflichtete dem Fähnrich bei: eine Regierung, die sich halten wolle, müsse von Anfang an scharf zugreifen... die französische von 1789 sei nur über die eigene Sentimentalität gefallen...

Der Regimentsarzt, ein wohlbeleibter Mensch mit bartlosem Gesicht und randlosem Kneifer, schlug sich auf die fetten Schenkel: "Aber, mein Lieber, man tötet bei uns nicht nur die Menschlichkeit ... bitte, man tötet zugleich die Intelligenz der Arbeiter, man tötet den Fortschritt Rußlands, man blamiert sich vor Europa!"

Ein Hauptmann vom Jsmailowschen Regiment fuhr, stark angetrunken wie er war, dazwischen: "Nun sieh ihn einmal, er wird selbst wohl Aktien besitzen, daß er sich so ereifert."

Eine Pause entstand, in der nur von der Saalmitte her die höllische Zote eines ebenfalls stark angetrunkenen polnischen Gutsbesitzers laut wurde. Der Regimentsarzt bekam einen roten Kopf, seine fette Stimme überschlug sich: "Nun, was sagen Sie da? Das soll eine Schande sein? Wie? Se. Kaiserliche Hoheit besitzt auch Aktien!"

Auf dieses Wort wollte man nicht erwidern. Man schwieg verlegen und spielte mit den goldenen Armbändern, die man nach europäischer Mode am Handgelenk trug. Die politischen Geheimagenten, die irgendwo Thee tranken, rückten näher, nur die Linieninfantristen stritten unentwegt weiter über die frage der Popenbärte. Schließlich sucht der alte General zu vermitteln, indem er betonte, daß, wenn Se. Kaiserliche Hoheit wirklich Aktien besäße, er sie eben zum Heile des gemeinsamen Vaterlandes Rußlandes besäße. Die Gardeartilleristen, reiche moskauer Kaufmannssöhne, Parvenues unter den hier versammelten großen Namen Rußlands, hielten sich aus Gründen der gemeinsamen Intelligenz zum Stabarzt. Schließlich sah man auf Oronzow, der schweigend zugehört hatte. "Nun, Sergej Julitsch ... Ew. Erlaucht... seht, er hat gestern in Schreyenbusch12 zweitausend Arbeiter erschossen und will sich zu keiner Meinung bekennen!"

Oronzow erhob sich schwerfällig und stand plump und massig wie ein abgehackter Riese da: "Wenn ich mich zu einer Meinung bekennen soll, so ist es die, daß man Euch Intelligenten, Euch, die Fabrikbesitzer, ebenso erschießen sollte, wie die Arbeiter!"

Es entstand ein allgemeines Halloh. Die Gesellschaft, zum einen Teil der hauptstädtischen Hochfinanz entstammend, drängte sich erregt heran. Oronzow sah sie eiskalt an: "Wenn Se. Kaiserliche Hoheit Aktien besitzt, so kann ich das nicht hindern. Aber Sie da ,... wenn Sie Aktien besitzen und bekennen sich zu Aufklärung und Fortschritt und nennen sich zur gleichen Zeit russische Männer, dann sage ich Ihnen, daß Sie lügen."

Man hatte vor dem riesigen Menschen, der plötzlich einen roten Kopf bekommen hatte und die letzten Worte in einem unmotiviert erscheinenden Zorn herausschrie, zuviel Distanz, um ihn in aller Form zu stellen. Man begnügte sich also, mit überlegenem Lächeln sich auf die polierten Nägel zuzuschauen und mokante Zwischenrufe zu machen. Oronzow, einmal aus seinem Schweigen aufgescheucht, redete inzwischen in einem an ihm unbekannten Pathos weiter.

"Wie ich Euch doch allesamt erschießen lassen wollte, wenn ich es nur könnte.... Ihr Petersburger mit Euerm Geld und Euerm Fortschritt und Eurer Pariser Weisheit! Den Arbeiter ... nun gut, man tötet ihn, wenn er sich zusammenrottet. Aber weshalb läßt man eigentlich Euch am Leben, die Ihr doch nichts anderes seid, als die geheimen Bruder dieser Revolutionäre?"

Das war denn offenbar doch zuviel. Die ganze Gesellschaft fuhr auf, wie ein gestörter Bienenschwarm. Die Artilleristen, als Sprösslinge des reichen hauptstädtischen Kadettentums sich am meisten getroffen fühlend, drängten heran: "Nun, wenn er sich zu dieser Meinung bekennt, so wird er sie wohl beweisen müssen ... ja, er wird wohl sagen müssen, warum wir die geheimen Brüder der Revolutionäre sind!"

Ein Warschauer Fabrikmagnat, an das Übergewicht seiner Millionen gewöhnt, die wulstigen Lippen blau geschwellt, preschte heran: "Ja, den Beweis, bitte! Den Beweis, warum wir, die Industriellen, die Brüder dieser Revolutionäre sein sollen?"

Oronzow steig mit dem Alkohol eine ungewöhnliche Beredsamkeit ins Hirn: "Was Sie anbetrifft, Herr Starschewski oder Starschinski oder wie Sie sonst heißen mögen, so rede ich zu Ihnen nicht. Bitte ja, da Sie ein Pole sind und kein russischer Mann, so könnte ich über Rußland ebensogut mit einem Amerikaner, mit meinen Handpferden oder gar mit einem dieser Franzosen sprechen, mit denen wir ja wohl verbündet sind und die schon das allerletzte Volk sind. Aber Ihr da", er wandte sich wieder zu den Artilleristen, "was Euch anbetrifft, Ihr Jüngelchen mit den Armbändern... Ihr wollt wissen, warum Ihr die geheimen Brüder dieser Revolutionäre seid? Nun also, was die Arbeiter anbetrifft, so sind wir ja wohl einer Meinung, nicht wahr? Was soll man tun mit diesen Menschen ohne Hoffnung, die täglich in Reih und Glied antreten wollen, um von ihrem Staat eine Portion Wohlergehn zu empfangen?

Nun, sie haben sich ein anderes, sie haben ein Maschinengehirn, und man muß sich ihnen entweder unterwerfen und auch zum Empfang einer Ration Wohlergehn antreten, oder man muß sie eben totschießen. Und etwas anderes gibt es nicht.

Aber Ihr! Weshalb verwandelt Ihr die Menschen überhaupt in solche Maschinisten? Nun, gab es vielleicht solch graue Menschen ohne Seele, ehe Ihr mit euern Maschinen gekommen seid? Sind diese Maschinisten, diese Proletarier nicht in der gleichen stunde geboren, wie Ihr, die Fabrikherren? Und was sage ich, 'geboren'? Aus dem Schoße einer Maschine gekrochen und von einem Blechkolben geprägt, genau so wie Ihr selbst und Eure Ingenieure ... alle mit dem gleichen Maschinistengehirn? Nun ja, da es zwischen uns, die wir von Weibern geboren, und Euch, die Ihr aus der Maschinen hervorgekrochen seid, keine Versöhnung gibt, so muß man Euch ebenfalls totschießen?"

Die Gesellschaft, zu einem riesigen Halbkreis angewachsen, stand stur und starr um den Orozowschen Tisch herum. Ein Artilleriehauptmann, Sohn eines kürzlich erst von Se. Kaiserlichen Hoheit ausgezeichneten Petroleumkönigs, begehrte als Einziger auf: Und warum, wenn ich bitten darf, wagen es Ew. Erlaucht, uns die wahrhaften Gefühle für Rußland abzusprechen?"

Oronzow sah an ihm vorbei in irgend eine unsichtbare Ferne: "Wo Ihr nun Eure Fabriken baut, waren einmal wahrhaft russische Menschen und pflügten den Boden und glaubten an Gott. Wo einmal Rußland war, da habt Ihr Eure Maschinen hingestellt und habt die russische Erde gefressen und habt lauter solch graue Maschinenmenschen herstellen lassen, die den Boden nicht mehr bebauen können und verhungern, wenn die Maschinen nicht mehr da sind und sich weder zu Gott noch zu Rußland bekennen.... ganz wie Ihr!"

Der Artillerist schlug hart mit der Faust auf den Tisch: "Wir bekennen uns zum menschlichen Geist und zur Wirtschaft der Welt!"

"Zum Teufel bekennt Ihr Euch und zu den Fremden! Ja, einen Zaren hatte Rußland, dessen Nachfolger seid Ihr ... sind Sie, Fjodor Fomitsch und Sie da, mein Herr, und Ihr alle mit Eurer europäischen Weisheit! Peter rief die fremden, diese Holländer und diese von Gott gestraften Franzosen und diese genauen Deutschen ins Land, und man nennt ihn den 'Großen' deswegen. Ja, er rief die Fremden gegen unseren, gegen der russischen Leute Willen! Was hat er hinterlassen? Nun? Einen Haufen von Scherben... ein Land, das nicht Westen sein kann und Rußland nicht sein will! Aber ich, wenn ich schießen lasse, so schieße ich auf den Westen, auf den Fortschritt und die Wirtschaft der Welt, auf Euch und auf alle, die keine Seele haben!"

Er schrie die letzten Worte mit seiner vollen Bärenstimme. Der Manager, einen Skandal befürchtend, war unter der Treppe hervorgekommen und vernachlässigte es, die sich nach oben in die Separatzimmer begebenden Paare zu kontrollieren. Auch die Gäste der hinteren Räume hatten sich um den Oronzowschen Tisch gedrängt, und in den einsam gewordenen Räumen waren nur die beiden Linieninfanteristen geblieben und waren in ihrem Streit um die Länge der Popenhaare so weit gekommen, daß sie sich in die eigenen Haare zu geraten drohten. Ein Geniehauptmann war auf den Tisch gesprungen: "Was Oronzow anbetrifft", schrie er und war des Beifalls sicher, "was Oronzow anbetrifft, so wird er an der Spitze der Chevaliergarde gegen die Feinde Rußlandes ziehn ... aber nicht mit Gewehren, da die Gewehre von Maschinen gemacht sind, sondern mit Pfeil und Bogen und mit Knüppeln!"

Oronzow ließ sich durch das wiehernde Lachen durchaus nicht beeinflussen. "Was Rußland anbetrifft ... ich sage Euch, es wird seinen Kampf mit sich selbst erleben... zwischen denen, die an die Maschinen und denen die an Gott glauben. Und in diesem Kampf werdet als Erste Ihr fallen, Ihr sammt Euern Pariser Ideen und Eurer Aufklärung, sammt Euerm Reichtum und Euern Fabriken. Und da die Arbeiter den Boden nicht mehr bestellen können, so werden sie sich selbst auffressen. Und übrig bleiben wird der russische Mann, aus der Erde gekommen und wieder zurückkehrend in die Werde, so wie Gott es befohlen hat.

Was aber die Feinde Rußlands anbetrifft ... alle diese da im Westen: laßt sie es nur so weitertreiben! Mögen sie nur weiterhin verlernen, die Erde zu bestellen und Ihren Reis aus Indien und Ihren Weizen aus Australien und weiß Gott woher zu nehmen... ja, mögen Sie nur ihrer immer mehr werden: am Ende werden sie nicht wissen, wo sie ihr Brot hernehmen werden und werden sich gegenseitig totschlagen. Und dann werden wir, die russischen Menschen, über sie kommen und sie lehren, an andere Götter zu glauben, als an ihre Aktien und ihre Maschinen. Ja, so wird es sein!"

Man schwieg, ein wenig betreten. Ein Leutnant vom Regiment 'Kexholm', auch so Petersburger, lispelte spöttisch: "Und was Sie anbetrifft, Sergej Julitsch, so bekennen Sie sich, wenn ich Sie darauf aufmerksam machen darf, zu Gott, indem Sie hier zwischen den Huren sitzen und sich betrinken?"

"Indem ich mich betrinke und weiß, wie ich ein Vieh bin, bekenne ich mich zu Gott. Indem Ihr Gott absetzt und die Aufklärung und die Wirtschaft und den Fortschritt und die Chemie und die Psychologie und die Hygiene und weiß der Teufel was noch an seine Stelle setzt, werdet Ihr sterben. Denn man kann ohne Götter nicht leben. Ja, es lebe Gott! Wer sich zu ihm bekennt und zu der allrussischen Erde, der wird leben!"

Und nun dachte auch er an jenen silberbärtigen Bauerngott, der saß unter dem herbstgelben, dem mächtigen Ahorn auf einem birkenen Thron und weit in der Ferne ringsum pflügten bärtige Bauern die dampfende russische Erde. Irgend einer aus dieser seltsamen Gesellschaft wollte etwas erwidern. Aber da kam wieder der Manager herangelaufen, und auch die von der Witwe Tritten bestellte ältliche Verwalterin des Hauses hielt ihre Perücke fest und hinkte heran. "Ew. Hochwohlgeborn ... meine Herren" und beide stotterten ihr papageihaftes Russisch, "sehn Sie dorthin ... man wird schießen, und wir können es nicht verhindern."

Die Gruppe fuhr auf. Im Mittelpunkte des durch die Debatte der kaiserlichen Garde vereinsamten hinteren Saales hatten die Linienhauptleute beschlossen, ihrem Streit um die Popenhaare durch ein Duell ein Ende zu machen ... jetzt, sofort, hier. Sie hatten sich zu diesem Zweck, die Rücken gegeneinander gewendet, und die Pistolen in der Hand, aufgestellt, indem sie sich vornüberbeugten und zwischen den eigenen Beinen hindurch auf ihre vorgestreckten Gesäße war an dessen geeignetster Stelle als Ziel ein rotes Sherry-Brandy-Etikett befestigt, und wer den Anderen zuerst in jenes Etikett treffen würde, der sollte Sieger sein und mit seiner Meinung über die Länge der Popenhaare recht behalten.

Da beide Herren sehr stark betrunken waren und man die geplante Auseinandersetzung sehr ernsthaft auffassen mußte, so fuhr man unverzüglich dazwischen und nahm ihnen die Pistolen fort. Der alte General stellte den Frieden wieder her, indem er versprach, er werde ein Gutachten vom Erzbischof einholen ... ja, gewiß er verbürge sich dafür. Die Gegner fielen sich plötzlich mit jäh hervorbrechender Herzlichkeit in die Arme, die ganze schwüle Atmosphäre der unterschiedlichen Auseinandersetzungen schien in dieser Orgie von Küssen und Versicherungen gegenseitiger Wertschätzung sich auszutoben. Von allen Seiten ergoß sich plötzlich ein Schwall von Alkohol, von roten, grünen und selbst violetten Schnäpsen über die ganze Versammlung. Der alte General trat mit dem Fahnenjunker zu einem wilden Tanz an, ein Dragonerrittmeister beschädigte versehentlich den Klavierspieler, indem er ihm, als der Mann ihm nicht schnell genug spielte, die Porzellannase aus dem Gesicht hieb, daß wie bei einem Totenschädel ein leeres Loch greulich klaffte und der Offizier ihm eine nagelneue, eine aus massivem Gold versprach. Aus den Separatkabinen fluteten nun auch die weiblichen Insassen des Hauses in diese ungeheure Orgie hinein, Oronzow lag, ein gewaltiger Koloß, am Boden, während winzige Polinnen auf ihm wie auf einem gefällten Baumstamm saßen und ihn mit einer Pfauenfeder zu einem ungeheueren, zu einem cyklopischen13 Lachen brachten. Dann wieder lag der alte General ihm in den Armen: "Sergej Julitsch, wie Sie vorhin gesprochen haben... wie Sie doch als wahrhaft russischer Mann gesprochen haben!" Und der ganze Saal schwamm in einem Ocean von slawischer Herzlichkeit und Bruderküssen und Weiberlachen.

Wie diese Orgie für Oronzow endete wußte er selbst nicht. Eine Patrouille fand ihn in später Nacht am Thronfolgerboulevard 14) schlafend auf einer Bank, und da er absolut vergessen hatte, wer er war und auch, wie er hieß, so fand er sich am nächsten Morgen auf einer nicht sehr sauberen Polizeiwache, deren Pristaw 15) erstaunt und erfreut war, ihn wieder bei Bewußtsein zu finden.

"Es gibt, müssen Ew. Erlaucht wissen, sehr gewissenlose Leute, die schlechten Schnaps verkaufen ... wirklich sehr gewissenlose Leute."

Oronzow, der nun wieder ganz frische geworden war, erinnerte sich, daß er seine Truppe, die nun weit draußen an der "roten Düna" lag, auf neun Uhr bestellt hatte. Er warf sich also fröhlich pfeifend in eine Droschke und fuhr hinaus in den klaren Morgen. Unterwegs allerdings verfinsterte sich sein Gesicht wieder, als er des gestrigen Gespräches mit den Artilleristen erinnerte. Ah, diese Intelligenten, diese Aufgeklärten, wie sie Rußland verdarben! Dann, als er vor die zu Fuß angetretene Truppe kam, geschah es, daß er, ehe er noch ein Wort gesprochen hatte, von hinten einen starken Stoß erhielt, der ihn der Länge nach lang in den Sand streckte. Aufstehend bemerkte er den Schwadronsziegenbock, der, ihn erkennend, herangeschossen war und ihn im frischen Galopp mit den Hörnern in den Sand geworfen hatte.

Die Leute lachten und Oronzow lachte auch. "Nun sieh mal", sagte er, das schnobernd an ihm hochsteigende Tier klopfend, "sieh Du Gottesknecht, ich werde Dich einsperren, lassen, daß Du nicht Sonne noch Mond siehst! Nicht Sonne noch Mond, sage ich Dir!"

Dann beschloß er, den Fahnenjunker Fürst Bolkonski wirklich einzusperren, weil er, offenbar seinen Katzenjammer von gestern ausschlafend, nicht zum Dienst erschienen war.

Als er dann nach dem Appell die übliche Frag an die Truppe nach außergewöhnlichen Vorfällen tat, trat ein Unteroffizier, ein großer blonder Mensch auf ihn zu. "Ew. Erlaucht, man hat bei uns in der Düna eine Leiche gefunden."

Oronzow, über den nun doch die Müdigkeit gekommen war, gähnte zerstreut. "Ein Leiche? Nun, also einen Mann oder eine Frau?"

"Weiß nicht, Ew. Erlaucht, kann es nicht sagen."

"Nun, Du hast sie doch aber gesehn."

"Ich habe sie gesehn."

"He, Du, Freundchen, willst Du Witze machen? Weißt Du zwischen einem Mann und einer Frau den Unterschied nicht?"

Da antwortete der Andere mit jener ehrlichen, überlauten Stimme, die den russischen Soldaten auszeichnet: "Raki, asche sijatelstow, s'jeli rasnizu!"

Das ist verdeutscht: "Die Krebse, Ew. Erlaucht, haben den Unterschied aufgefressen!"

Und angesichts dieses zuversichtlichen und fröhlichen Gesichtes und dieser knappen und verständigen und übrigens ohne jeden Zynismus gegebenen Auskunft beschloß Oronzow, nie mehr an dem russischen Manne zu zweifeln, der einmal, trotz Allem, die Welt beherrschen würde.


(Aus: Phrygische Mützen. [Novellen]. München 1922: Drei Masken Verlag. S. 135 - 167)

Auch: https://www.projekt-gutenberg.org/reck/muetzen/chap004.html


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Anmerkungen:


Liao Yang und Mugden - Schlachtorte in Fernost; aus dem russisch-japanische Krieg (vorläufiger Stand meines Wissens).


Riga: Kenntlich an vielen Angaben zur Düna; ebenso an Straßenbezeichnungen wie „Thronfolgerboulevard“.#

Großes und kleines Wappen von Riga:

http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Coat_of_Arms_of_Riga.svg



Charakterisierungen:


Der Sündenbock: (AT) Lev 16,5-10 und 20-22:


An einem Fest, dem sogenannten Versöhnungstag, wurde ein Ziegenbock in die Wüste gejagt, um dort zu sterben, nachdem ihm der Hohepriester mit einem Sündenbekenntnis die Hand aufgelegt und so die Sünden des Volks auf ihn übertragen hat.

Daraus ergibt sich in abendländischen Kultur, als Loslösung aus dem religiösen Funktion, der als Unrecht kritisierte Vorgang, dass ein ganz oder teilweise Unbeteiligter, dem die Schuld an Mißglücken zugeschrieben wird, der dafür bestraft wird. Unsere heutige Verwendung selbst ist nicht biblisch, sie geht aber auf den alten Vorgang der Entsöhnung zurück..

Die Verurteilung durch Oronzow ist ironisch gemeint - die Ausdrucksweise seiner Strafe ist aber alt-ehrwürdig. Einen realen Bestrafungsvorgang nimmt er gegenüber dem Untergebenen vor; ein typisches widersprüchliches Verhalten eines Imperators... Wie überhaupt sich die Figurenperspektive des Rittermeister in seinem Gerede und in seinem Verhalten konträr zur Autorenintention des von Reck gesehen werden müssen: Das als "Russisch" mit Gewehren, mit Saufen, mit Geschwätz Reklamierte ist aus dieser kritischen Distanz zu sehen, so sehr der Erzähler auch eine gefühlig-interessante Handlung aus der Perspektive der "Russen" (einem, s. Text, grotesken Gemisch und in unterschiedlichen Interessen agierenden "Gemeinsamen") aufzubauen weiß. Die vielen tausend Opfer werden nur aus der Perspektive der Herrschend-Gewalttätigen wahrnehmbar... Ihnen muß das Geschichts- und Literaturinteresse des Lesers gelten!



Zur Intention: Adel, Militär, Kirchlichkeit, Proletariat


*

Die Weltrevolutions- Ideale und Weltbeherrschungsziele der russischen Akteure, ob hell, ideal beleuchtet oder grell, grotesk illustriert durchleuchten das Geschehen in unterschiedlichen Blitzlichtern.

Für den Autor R.-M. bedeuten diese empathischen Ideen- und Personencharakterisierungen, aus unterschiedlichen, wechselnden Erzählerperspektiven geboten, eine noch unentschiedene Ideengeschichte des 20. Jh.

Erzählerisch gesehen, liegen hier auktoriale Aspekte eines teils kurios, teils genial gebotenen montageartigen Komposition – wie filmisch in schnellen Bildschnitten kommod. Das Thema „Revolution“ wird hier zu revolutionärem, hinreißendem Gestus des unmittelbaren Ausdrucks von Bestialität und der sekundären Mitteilung über Fakten.

Die zentrale Szene des religiös überladenen Rache-Schwörens der Soldaten auf den „Crucifixus“, den Corpus Christi, wird zu einem Höhepunkt des dichterisch erzählerischen Gebots der Nächstenliebe und der ex negativo geforderten Konsequenzen aus solch barbarischem Militarismus und der Befehlsstruktur zum Töten, ohne Ehre, ohne Gewissen. In Partien ähnelte die kleine, gewichtige Novelle einer Satire der zu Soldaten, die zu Mördern werden wollen und den kollektiven Mord an Frauen, Kindern und Aufständischen auch (erfolgreich) exerzieren.

Die Fabrik“, eine exemplarische, literarisch exquisit gestaltete Novelle, ist in keiner der als exemplarisch firmierenden Anthologie, sei es von Reich-Ranicki, sei es von Rolf Och-, pardon: Hochhuth, zu finden. Nie hat sich ein literarischer Verlag – außer Kurt Wolf, Leipzig – für den Autoren R.-M. interessiert, ihn gefördert.

Zur Entstehung des Textes und Stoffsammlung der Thematik vermag ich nur folgende Hypothese äußern. Biografisch ist nachgewiesen, dass R.-M. „noch während des Studiums heiratete (…)1908 Anna Louise Büttner, Musikstudentin und Tochter eines kaiserlich russischen Staatsrats“.

Vgl.: http://de.wikipedia.org/wiki/Fritz_Reck-Malleczewen


*


Unmaßgebliche, private Nachsätze:

E-Brief eines Freundes, nach der Lektüre der Novelle:


Tach oder Naaahmmd, Anton

Danke für die 'Fabrik'.
Vieles von der Thematik ist mir schon mal begegnet.
Nur der Ziegenbock in seiner für die Denke
des Schwadrons-Chefs euphorisierenden Rolle
hat mich so noch nicht umgerannt.
Mir fällt aber eine andere Schwadron und ein anderer
Ziegenbock ein.

Ich habe bei den Panzergrenadieren gedient und
unsere Kompanie hatte als Maskottchen einen =
real existierenden Ziegenbock.
Die erste Hälfte meiner Dienstzeit (ergo 7-8 Monate)
habe ich mich hygienisch recht gut gepflegt.
Glaub ich jedenfalls.
Dann sah ich (musste ich sehen) eines Vormittags
den Spiess (für Ungediente : der Hauptfeldwebel)
zusammen mit dem Ziegenbock auf dem Flur
im Erdgeschoss unseres Kompanieblocks.
Sie kamen gerade aus der Mannschaftsdusche,
beide ziemlich nassgemacht.
Längergediente Kameraden erzählten auf Befragen :
"Jo, dat macht der Spiess alle paar Monate mal,
den Bock von seinen Wanzen befreien, in der Dusche."

Die zweite Hälfte seiner Dienstzeit soll der Gefreite W.B.S.

durch starken Körpergeruch aufgefallen sein,
besonders bei den Alarmübungen, wo alle Soldaten die
Kaserne mehrere Tage lang nicht verlassen dürfen.

Ich weiss im Moment nicht, für welche Kopien Du Deinen
Wendehals betätigen musst.
Hab in letzter Zeit etliche Kopien an einige Leute geschickt,
weiss jetzt nicht, was Du da bekommen hast.

Dein Weiss Nicht-Werner

**


Nein, keine weiteren Aktualisierungen mehr, bittä, sär!



*

Zwei Romane, ein Tagebuch...


Tagebuch eines Verzweifelten (1947)


*



Reck-Malleczewen, Fritz, eigentl.: F. Reck, * 11. 8.1884 Malleczewen bei Neuendorf/Ostpreußen, ermordet 16.2. 1945 Dachau. - Romancier, Journalist u. Arzt.


R. stammte aus einem ostpreuß. Bauerngeschlecht.

Die nach dem Abitur 1904 eingeschlagene Offizierslaufbahn brach er nach einem halben Jahr ab u. studierte Medizin (1904 bis 1910). Nachdem er 1911 in Königsberg zum Dr. med. promoviert worden war,

machte er eine viermonatige Schiffsreise nach Süd- u.

Nordamerika (1912), über die er in der »Ostpreußischen Zeitung« erfolgreich berichtete. Ab 1913 lebte er - von einem kurzen Zwischenspiel bei der »Süddeutschen Zeitung« in Stuttgart u. am Königlichen Hof- u. Nationaltheater in München abgesehen - als freier Schriftsteller in Pasing bei München, später auf Poing bei Truchtlaching/Chiemgau.

R. trat als Journalist mit Beiträgen für namhafte Zeitungen u. als Bestsellerautor hervor. Der gehobene Unterhaltungsroman Frau Übersee (Bln. 1918) verriet bereits die ihm eigene Vorliebe für die überdimensionierte Figur einer verführerisch-zerstörerischen femme fatale. Ähnlichen Erfolg wie der Erstlingsroman hatte sein mit Hans Albers u. Heinz Rühmann 1931 verfilmtes Buch "Bomben auf Monte Carlo" (Bln. 1930). Da R. an einer »Pseudologia phantastica« (= krankhaftes Lügen) litt (Alphons Kappeler), schmückte er im Laufe der Zeit seine Biographie mit vielen großartigen, aber erfundenen Zügen aus.

Im Dritten Reich, das er von einem monarchistisch-feudalistischen Standpunkt aus ablehnte, blieb R. lange ein Erfolgsautor. Er artikulierte seine Opposition unmißverständlich in dem zwischen 1936 u. 1944 geschriebenen, auf Poing vergrabenen u. postum publizierten Tagebuch eines Verzweifelten (Lorch/Stgt. 1947. Mit Vorwort von Bernt Engelmann. Bln./Bonn 1981).

1937 brachte er seinen verschlüsselten satirisch-antifaschistischen Roman über das Münsterische Wiedertäuferreich des 16. Jh. u. d. T. Bockelson. Geschichte eines Massenwahns (Bln. 1937) heraus. Das mutige Werk erregte ebensowenig den Verdacht der nationalsozialistischen Kontrollinstanzen wie der 1938 in Berlin erschienene Roman über die Französische Revolution, Charlotte Corday. Geschichte eines Attentates. Ende 1944 wurde R. von der Geheimen Staatspolizei aufgrund einer Denunziation wegen Kritik am NS-Regime verhaftet. Er starb im Konzentrationslager Dachau an Fleckfieber.



WEITERE WERKE:

Die Dame aus New York. Bln. 1921 (R.).

Phrygische Mützen. Mchn. 1922 (N.n).

Von Räubern, Henkern u. Soldaten. Als Stabsoffizier in Rußland von 1917 bis 1919. Bln. 1924.

Die Siedlung Unitrusttown. Bln. 1925 (R.).

Acht Kapitel für die Deutschen. Großschönau 1934 (Ess.s).

Ein Mannsbild namens Prack. Bln. 1935 (R.).

Das Ende der Termiten. Ein Versuch über die Biologie des Massenmenschen. Fragment. Lorch/Stgt. 1946.


LITERATUR:

* Alphons Kappeler: Ein Fall v. Pseudologia phantastica‹ in der dt. Lit.: F. R.-M. Mit Totalbibliogr. 2 Bde., Göpp. 1975.

* Ralf Schnell: Literar. Innere Emigration 1933-45. Stgt. 1976.

Heidrun Ehrke-Rotermund

[Autoren- und Werklexikon: Reck-Malleczewen, Fritz, S. 1 ff. Digitale Bibliothek Band 9: Killy Literaturlexikon, S. 16591 (vgl. Killy Bd. 9, S. 323 ff.)]


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RECK MALLECZEWEN, Friedrich Percyval *11. 8.1884 Malleczewen bei Neuendorf/Ostpreußen; ermordet am16.2.1945 Konzentrationslager Dachau


Das jüngste Kind eines masurischen Gutsbesitzers und Landtags- ­und Reichstagsabgeordneten der Konservativen Partei wollte zu­nächst Offizier werden, ließ sich aber nach einem halben Jahr Waf­fendienst beurlauben und studierte von 1904 bis 1909 Medizin in Königsberg, Innsbruck, Rostock und Jena. Nach der Approbation und Promotion arbeitete Reck Malleczewen kurzzeitig als Vertre­tungsarzt, schrieb aber nebenbei Reiseberichte für die Ostpreußi­sche Zeitung und lebte von 1913 an als freier Journalist in München sowie auf Gut Poing in Oberbayern. Er debütierte als Schriftsteller mit dem Unterhaltungsroman "Frau Übersee" (Berlin 1918) und landete mit "Bomben auf Monte Carlo" (Berlin 1930) einen Bestseller. Der Roman wurde 1931 mit Hans Albers und Heinz Rühmann verfilmt. 1933 konvertierte Reck-Malleczewen zum Katholizismus, der »ihm als letztes Bollwerk gegen die zunehmende Verrohung und Vermassung erschien« (Irmgard Reck-Malleczewen).

Während des 'Dritten Reichs', das dieser »stockkonservative, weißblaue und schwarzgelbe Monarchist« (Carl Amery) als plebe­Jisch und amoralisch ablehnte, konnte Reck-Malleczewen weit­gehend ungehindert publizieren. Seine Reichsschriftumskammerakte weist für die Jahre 194o bis 1943 jährliche Einnahmen von ca. 2o ooo RM aus. Die Einkünfte der vorangegangenen Jahre dürften nicht geringer gewesen sein. Reck-Malleczewen veröffentlichte Unterhaltungsromane und Essays, er schrieb für Zeitungen und Zeitschriften und war für Rundfunk und Film tätig: 1934 ver­faßte er zusammen mit - Richard Billinger das Drehbuch zu einer Peer-Gynt-Verfilmung, und noch im August 1939 bot ihm die Ufa auf Initiative Goebbels an, das Drehbuch für einen antisemiti­schen Film zu verfassen - Reck-Malleczewen lehnte ab und be­gründete dies damit, daß er jüdische Freunde habe, denen er ver­pflichtet sei (vgl. Kappeler, S. 452).

Reck Malleczewens publizistische Freiräume sind insofern er­staunlich, als während des 'Dritten Reichs' auch Texte von ihm erschienen, die als Widerstandsbücher intendiert waren und als solche gelesen werden konnten: 1937 erschien „Bockelson - Geschichte eines Massenwahns“ (Berlin), ein Roman über das Münsteraner Wiedertäuferreich von 1534/35, das von ihm mit allen Zügen des Hitlerstaats ausgestattet wurde. In seinem Tagebuch notierte Reck Malleczewen: »Wie das heutige Deutschland, so löst für Jahre sich auch jener Münstersche Stadtstaat völlig aus der zivilisier­ten Welt ... Wie bei uns, so ist auch dort ein Mißratener, ein sozu­sagen im Rinnstein gezeugter Bastard der große Prophet, wie bei uns kapituliert vor ihm, unbegreiflich für die staunende Umwelt, jeder Widerstand ... « (Tagebuch eines Verzweifelten (Lorch 1947), S. 19). Das Buch wurde entgegen der nach dem Krieg vielfach wie­derholten Behauptung nicht verboten (»Es gab keine 'Ächtung' Reck-Malleczewens!« Kappeler, S. 433). Ebensowenig gab Rosen­bergs Amt Schrifttumspflege negative Gutachten über Reck Mal­leczewen ab (vgl. Strothmann, S.444ff). Der Folgeroman, Charlot­te Corday. Geschichte eines Attentats (Berlin 1937), der als camou­flierter Aufruf zum Tyrannenmord verstanden werden konnte, fand sogar den Beifall der Zensurbürokratie. Die Mörderin Jean Paul Marats, des französischen Revolutionsführers, den Reck-Mal­leczewen mit Zügen Hitlers versah, wurde von der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums am i. März 1938 »als Sym­bol völkischen Ehrbewußtseins und nationaler Tradition« bewer­tet, während Marat als »französischer Anarchist und Psychopath« galt (zitiert nach: Kappeler, S. 443). Sichtbar wird hier ein wieder­holt zu beobachtender blinder Fleck der NS Zensur, die die histo­risch verdeckte Darstellung politischer Verbrechen nicht auf das eigene Regime beziehen konnte, ohne sich selbst zu bezichtigen.

Erst am 9. August 1944 verfügte Goebbels einen Boykott über Reck-Malleczewens Schriften: »Jegliche Veröffentlichung von Ro­manen, Aufsätzen und sonstigen Arbeiten von Friedrich Reck-Malleczewen ist gesperrt« (zitiert nach: Kappeler, S.449). Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Reck-Malleczewen als entschiedener Gegner der Nationalsozialisten in Deutschland publizistisch aktiv sein können. Von der Entschlossenheit dieser Opposition zum NS-­Staat zeugen vor allem jene geheimen Tagebücher, die er von Mai 1936 bis Oktober 1944 verfaßte und die erst postum veröffentlicht wurden. In diesem Tagebuch eines Verzweifelten äußert Reck-Mal­leczewen immer wieder seinen Haß auf die Nationalsozialisten (»Horde böser Affen«, und ihren 'Führer' (»Ich hasse Dich ... ich hasse Dich im Schlafen und im Wachen, ich hasse Dich als Verder­ber der Seelen«, und verurteilt deren Terror  und Mordsystem. Da­neben verleiht Reck Malleczewen in diesen Aufzeichnungen aber auch seiner kulturpessimistischen Kritik an den Entfremdungs­prozessen der modernen Industriegesellschaft Ausdruck; er mo­kiert sich über das moderne »Massenwesen«, den »zufällig weißhäutig gebliebenen Nigger, [der] sich all der modernen technischen Apparaturen mit einer an Frechheit grenzenden Selbstver­ständlichkeit bedient, ohne jene Gedankenwelt, aus der diese Apparaturen erwuchsen, auszufüllen«. Reck-Malleczewens Antina­zismus korrespondiert hier mit einer Technik- und Fortschrittsfeindlichkeit (»die Nazis, mit Leib und Seele ihren blöden tech­nokratischen Zielen verschworen ... «), die den deutschen Faschis­mus als Konsequenz einer Modernisierungsbewegung (»Entgötterung blutvollen Lebens«,) begreift, die mit der französischen Revo­lution begann und vom Wilhelminismus sowie der Weimarer Re­publik vorangetrieben wurde. Joachim Fest bewertete das Tagebuch eines Verzweifelten anläßlich seiner Neuauflage (Stuttgart 1967) als »das Resultat der rückwärts gewandten Fluchtträume eines entfremdeten Intellektuellen in der modernen Welt«, der »aller begründbaren Wahrscheinlichkeit nach auch zu den Gegnern unserer heutigen staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung zählen würde« (in: Der Spiegel 3/1967)

Enthalten in:„Joachim Fest über Friedrich Reck-Malleczewen. „Tagebuch eines Verzweifelten. WIDER EINEN WIDERSTAND“:

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45522537.html

[Download am 10.11.2013]

Diese Ordnung erlebte Reck-Malleczewen nicht mehr: Am 13. Oktober 1944 wurde er wegen Wehrkraftzersetzung - er war einem Aufruf zum Volkssturmappell nicht gefolgt - zu einer Woche Arrest verurteilt. Zwei Monate später wurde er von der Gestapo verhaftet. Ein Denunziant hatte ihn beschuldigt, die »deutsche Währung verunglimpft zu haben« (Brief Irmgard Reck-Malleczewens vom 26. 12.1945, in: Kappeler, S. 8). Reck-Malleczewen wurde zunächst in das Münchner Gestapo-Gefängnis verbracht und im Januar 1945 in das KZ Dachau überstellt und verstarb an Fleckfieber.

Nach seinem Tod geriet Reck-Malleczewens literarisches Werk größtenteils in Vergessenheit. Lediglich das Tagebuch eines Verzweifelten erfuhr mehrere Neuauflagen (zuletzt 1994) und wurde als Zeugnis des kompromißlosen Widerstands eines konservati­ven intellektuellen gegen das 'Dritte Reich' rezipiert.


Weitere Bücher:


Phrygische Mützen. (Novellen) München 1922: Drei Masken Verlag. (Enthaltend: Die Fabrik S. 133-167) -.. Acht Kapitel für die Deutschen. Großschönau 1934.   Ein Mannsbild namens Prack. Berlin 1935.   Sophie Dorothee. Berlin 1936.   La Paloma. Berlin 1937.   Der grobe Brief Berlin 1940.   Der große Tag des Leutnants Passavant. Ber­lin 1940.   Der Richter. Berlin 1940.   Spiel im Park. Berlin 1943.   Briefe der Liebe. Berlin 1943.   Diana Pontecorvo. Berlin 1944.   Das Ende der Termiten. Ein Versuch über die Biologie des Massenmenschen. Fragment. Lorch 1946.


Literatur:

Alphons Kappeler: Ein Fall von "Pseudologia phantastica" in der deutschen Li­teratur: Fritz Reck Malleczewen. Göppingen 1975.


Peter Härtling:


Essay:


Aus: Hans Sarkowicz u. Alf Metnzer: Literatur in Nazi-Deutschland. Ein biografisches Lexikon. Hamburg/Wien 200: Europa Verlag. S. 294ff.


Reck-Malleczewen, Fritz: Phrygische Mützen.

Anton Stephan Reyntjes: Erinnerung an RM:


http://stephanus-bullin.blogspot.de/2013/11/fritz-reck-malleczewen-die-fabrik.html?m=0


Weitere Notiz:

RM: Urban, Tierarzt erster Klasse. S. 65 -

Erinnerung an „Tierarzt“: S. 33 – ff.


https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/binary/QOBG3VXEBP5YMMZOUZXIKMDR26WYYTJY/full/1.pdf

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https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Reck-Malleczewen#Weblinks


https://www.deutsche-biographie.de/sfz104646.html


1 Jedes russische Kavallerieregiment führt neben der Musik geschulte Vorsänger mit. (Teil der Militärmusik)


Reck-Male}Das Buch, dem die Novelle entnommen wurde, ist recht preiswert käuflich im antiquarischen Buchhandel; z. B. hier mit dem prächtig aufgemachten Titelbild der „roten Mützen“: http://www.booklooker.de/B%C3%BCcher/Fritz-Reck-Malleczewen+Phrygische-M%FCtzen-Der-Tag-der-Tuilerien-Der-Tag-von-Saint-Denis-Urban/id/A01ofZ4p01ZZd?zid=f80d24dbadc19a74a93a0a7c92e1b766


Zur Information über den vielfältigen Denker und Dichter auf Wikipedia:

http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Reck-Malleczewen

(Hier fehlt die Erwähnung des Novellenbandes „Phrygische Mützen“.)

R.-M.s „Tagebuch eines Verzweifelten“, ist sicherlich das wichtigste Werk, in der Neuauflage bei Eichborn in Frankfurt am Main (1994), als Neuausgabe. Mit einem biographischen Essay von Christine Zeile. Bei Bastei-Lübbe/Eichborn ist kein Titel von R.-R. mehr im Angebot. – Das Thema des „Tagebuchs eines Verzweifelten“ zeigt uns „Nachgeborenen“ Verhältnisse, die sich zwar bis 1945 militärisch erschöpft haben, aber in unterschiedlichen Formen immer präsent bleiben in Maskierungen, in Eruptionen, in Überraschungen, wenn auch unerwünscht.

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Als biografischen, literarischen Artikel empfehle ich:

Essay: „R.-M.: In: Hans Sarkowicz u. Alf Mentzer: Literatur in Nazi-Deutschland. Ein biografisches Lexikon. Hamburg/Wien ²2000: Europa Verlag. S. 334ff.

Für mich, bei meine literarischen und historischen Interessen an deutsch-baltischen Themen ist „Die Fabrik“ eine überraschender Einblick in die sozialen, hier: proletarischen, Unruhen in der Stadt Riga und ihrer Peripherie in Liv- und Kurland, die ansonsten in vielen bürgerlich und/oder gutsherrschaftlich, landwirtschaftlich geprägten, teils idyllischen Porträts angeboten wird.

Revolutionäre Verläufe finden sich ansonsten selten; jedoch in Siegfried von Vegesacks Romanwerk „Die baltische Tragödie“ (1934/35).


2 Russische Bezeichnung für die Westeuropäer (Anm. von R.-M).


3 Die Iberische Madonna; ebenso die Moskauer Madonna: populäre Marienbilder. Eine spätere Kopie der „Gottesmutter von der Pforte“; vgl.http://de.wikipedia.org/wiki/Gottesmutter_von_der_Pforte


4 Kürassiere (anfangs auch Kürisser genannt, von französisch cuirasse für „Lederpanzer“, von cuir „Leder“) sind eine mit Brustpanzern ausgestattete Truppengattung der schweren Kavallerie. Vgl.: https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%BCrassiere


5 Hirtenvolk in Sibirien. Vgl.: Tungusische Völker. Vgl.: https://de.wikipedia.org/wiki/Tungusische_V%C3%B6lker


6 "Auf und fliege wie ein Pfeil", ein populärer Text für das russische Alarmsignal. (Anm. von R.-M.; S. 143)


7 Spottname für die berittenen Truppen der reitenden Infanteristen (Anm. von R.-M)


8 künzeln = reinigen


9 Russischer Armeespitzname für die Cuirassierregimenter


10 Die Benennung einer Figur „Bolkonski“ muss auch bei deutschen Lesern die Erinnerung an den Fürst Nikolai Andrejewitsch Bolkonski“ - aus Tolstois „Krieg und Frieden“ (Moskau, 1868/1869) - auslösen


11Eisenbahnstrike“. Die Schreibweise „strike“ für Streik (dt.) galt lange Zeit gleichrangig in der deutschen Schriftsprache. Vgl. den Artikel in „Brockhaus' Kleines Konversations-Lexikon“. 1906:

Art der Wasserschlangen (s. Meerschlangen), olivengrün, mit zahlreichen dunklen Querbändern, von den ind. bis zu den chines. Meeren häufig. Streik (engl. „strike“, » Schlag«), Ausstand, Arbeitseinstellung, gemeinsame, freiwillige Niederlegung der Arbeit seitens mehrerer Arbeitnehmer zur Erlangung günstigerer Arbeitsbedingungen(…).


12 Historisch ausgewiesen: Schreyenbusch (Ortsteil und Bahnhof) im Stadtgebiet Riga: Čiekurkalns (lett.).


13 Unsere heutige Schreibweise „zyklopisch“ - als Erinnerung an den Riesen Zyklop oder Klyklop, den Odysseus mit seinen Männern besiegen konnte - meint lt. Duden „eine gewaltige Größe aufweisend; gigantisch“. Das antike Geschehen ist bei R-M. sicherlich prägnanter als bei unserer heutigen Lektüre.


14 Prachtstraße in Riga

15 Polizeileutnant (OriginalFußnote,in der Ausgabe, S. 166) - Pristaw - Pris|taw

der; -[s], -s <aus gleichbed. russ. Pristav> (früher) russ. Polizeioffizier.