Montag, 9. Dezember 2019

Eine seltsame B e g e g n u n g


anton@reyntjes.de



Novembertags


Ilse Aichinger:
Nachruf

Gib mir den Mantel, Martin,
aber geh erst vom Sattel
und lass dein Schwert, wo es ist,
gib mir den ganzen.



Wie sah der doch aus - naja - wie ein Ausländer. - Eben. - Ein Asylant? - Weiß nicht. - Komm erzähl: Ein Italiener? Oder so mehr wie ein Albaner? - Kroate - Lederhäutig, mediterran? Äh? -
Hör zu! Also: Eine langovale, fast runde Gesichtsfläche, mit kleiner Nase und starken Backenknochen; trotzdem groß, ja stattlich, aber kein bisschen unangenehm; herrisch? nein - eher herrschaftlich, eindrucksvoll.
Er benahm sich - ja, selbstsicher, unauffällig in diesem unseren Gastland und hätte auch kaum mein Interesse gefunden, wenn er nicht für einen kurzen Moment in mir, als er mir sein fast klassisches Profil und die haarlose, hohe Stirn zeigte, die Erinnerung an einen Onkel, den Lieblingsbruder meiner Mutter, ausgelöst hätte, fern aus meiner Kindheit flog's mich an, einen Onkel Klaus oder Martin - der Name wollte mir nicht so schnell auf die Zungenspitze. Wenn der mich abholte zu einer Tour auf dem Motorrad, seiner knatternden 80er Zündapp, dem stinkenden, herrlichen Maschinchen, mit dem zweiten Sitz, Sonderausstattung, genarbte Ledersitze. Fußschaltung, Windschutzschirm, mit grüner Sonnenblende. Rollend ins frische Land, auf, zum Rhein, in die Büsche, zu den Wiesen...
Der Mann stand unentschlossen im silbrig-weiss glänzenden, lichthell aufgeputzten Kaufhaus an einem Verkaufsstand mit Unterwäsche, Trikotagen, als ich von der zweiten Etage runter zur Kinderboutique fuhr. Ich verließ, wie magisch oder automatisch, in dieser Ebene die Rolltreppe und bemerkte, schräg von oben herabblickend, dass ihm seine lichtgoldschönen Haare, leicht ergraut, in einem deutlichen Wulst, wie eingekerbt, rund um seinen Kopf lagen, als ob sich ein Helm, ein Motorradhelm, noch nachträglich abzeichnete. Aber der Mann war schon zu alt - die Idee, dieser Mustermann auf einer Kawasacki, heute etwa - wirkte belustigend.
Eher ein weises Altersgesicht, geglüht durch die Jahre, fünfzig? fast sechzig? Auch die aufrechte Haltung, heldenhaft denke ich heute, fiel mir auf. Ritterlich? Blöde Attribute. Ein Mann wie mein Onkel, der mich, bevor ich dann in die Pubertät kam, sonntags zu Spritztouren einlud, hinaus zu den Silberseen. Und Mutter packte besonders lecker geschmierte Brote ein!
Kaum auszumachen - ein verhuschtes Lächeln auf seinem Antlitz; und wohin blickte er? Ach - auf eine unschlüssig suchende Schülerin vor der Krawattenauslage, noch etwas schlacksig, die, still versonnen, frühe achtzehn, auch mich freute; so alt wie die; da findest du Männer, die dir nachlaufen, in alle Kaufhäuser!
Jetzt fährt er, etwas verlegen, mit der Linken über seinen schwitzenden Nacken, unter den blinkenden Spot-Stechern des Verkaufstisches, addiert wohl im Kopf seine Kaufwünsche, nachdenklich.
Ich beobachte unbemerkt; meine Drogeriesachen habe ich alle im Beutel; sehe, wie er warme Unterwäsche kauft, weiter einen Parka, wir sind schon am nächsten Stand, als ob's gemeinsam wäre, in einer anderen Abteilung, zwei blau-weiße Wollmützen, geringelte, dicke, gewirkte Strümpfe, einen blau-weissen, anderthalbmeterlangen Schal.
Die Artikel bezahlt er an der Sammelkasse 15 der Textilabteilung, geduldig im Gedränge mit ungeduldigen Frauen.
Mit dem herübergereichten Geldschein - einem quelligen Lappen, fiel mir auf - geht die Kassiererin, nachdem sie die Kollegin am Packtisch informiert hat, in einen Nebenraum, die zwei Spiegeltüren klappen hinter ihr nach. Langsameren Schritts, geradezu behutsam, kehrt sie zurück, entschuldigt sich süßsauer beim Kunden, verabschiedet ihn mit einem lang betrachtenden Blick, fast schon wieder freundlich, oder wie gemeint?
Ich ging dem Fremden durch die kleine, novemberlich aufgestimmte City nach; verrückt, denke ich heute, aber ich ging. Ich fühlte mich geschützt durch die Passanten. Wenn er jetzt nordwärts weitergeht, beim Lohtor gerade aus, zur Beisinger Höhe, wo die städtischen Arbeiter vor zwei Wochen die Container und die Wohnwagen aufgestellt haben. Dort würde er nochmals die Gas- und Wasseranschlüsse zu den Behausungen prüfen, die aus den vergitterten Absperrungen herausführen. Ob diese Kisten wackeln im Sturm? Ob -
Ich muss zurück. Was mache ich nur?
Die Temperaturen waren tagszuvor, wie vom Essener Wetterdienst gemeldet, erheblich gefallen. Feuchte Novemberluft, erfrischend kühl, winkende Atemfähnchen aus den Mündern der Hastenden, quirlig ziehende Gerüche der Brutzelstuben und lastender Gestank der Autos von dem Parkplatz her durchzogen die Straßen, vermischten sich zu einem trübsinnigen Kondensat, legten sich auf Autolack, Asphalt, Fensterscheiben, Mantelstoff und Haut der Hände und Gesichter. Auch auf meine Knochenhaut - ich streichle mein rechtes Handgelenk, das mein Onkel damals -
Auf den breiten, gedrängt vollen Fußwegen waren überraschend viele Kinder mit ihren Eltern unterwegs, vereinzelt auch an der Hand von Großvätern und -müttern. Die Kleinsten, im Kinderwagen, und die Fünf- oder Sechsjährigen schon mal auf den Schultern ihrer Väter. Überall Laternen, fast nur Batterielichter, die keinen Ärger bei dem zugigen Wind in der Altstadt machten und keine Fackel in Brand gehen ließen.
Die Breitestraße entlang, das schummrige Lampengässchen, an Sankt Peter vorbei und die Münsterstraße rechts ab, über den von einer Lichtgiraffe der Freiwilligen Feuerwehr unwirklich angestrahlten Holzmarkt, der an diesem Freitag für den Parkverkehr gesperrt war.
Ich war ihm nachgegangen. Er schien es nicht eilig zu haben, im Gedränge mitlaufend konnte ich ihm ohne Schwierigkeiten folgen. Vorbei an den im Kontrast zum frühen Abend grell ausgeleuchteten Schauflächen der schreiend lockenden Läden - nur vor einem mehrfenstrigen Spielwarengeschäft mit verführerischen Dekorationen und einer glitzernden Erwachsenenwelt in Miniaturen und Nachbauten verharrte er kurz: -Eisenbahnen, wie viele, fuhren nebeneinander, übereinander, unter- Kopfschüttelnd? Ich bin heute unsicher, ob mich meine Erinnerung nicht trügt; nein, ob kopfschüttelnd oder tief versunken, sich freuend ob alter, verschütteter Kinderträume?

Im fahlen Neon-Gefunzel des ersten Subterrasse des Parkhauses unter der Merkur-Kaufwelt spricht er mich an: " Was folgen Sie mir, junge Frau? Seit zwanzig Minuten schon!?" (Oh Gott, so viel Zeit schon rum? Da wartet mein Mann seit einer Viertelstunde bei den Kinderstrumpfhosen im Erdgeschoss, mit meinem Einkaufszettel - und dann wollten wir zum Rathausvorplatz ziehen. Verdammt!)
Ich habe keine Antwort auf seine unvermittelte Frage und hampele von einem Fuß auf den anderen, wie ein Backfisch - (was sagte Onkel Klaus, nachdem er mich auf dem ersten Foto seiner Agfa-Box festgehalten hatte? Hippeldern? Vergiß es, Mädchen.)
Gottseidank fällt mir ein Handschuh hin.
Der Mann steht vor einer Parkbox im düsteren-schmierigen Betongrau der Unterwelt. Wendet sich dort einem Pferd zu, das den Kopf, ohne zu wiehern, ihm zudreht; nickt es freundlich? Das hellbraune Halfter ist in einem Ring verknotet, der in die Betonwand eingelassen ist. Er tätschelt dem Apfelschimmel den langglänzenden Hals: "Ruh-, ruhig, mein - ruhig breitsilbig gesprochen: Co-adj-utor! Fein, brav! Ja, ich bin’s, mein Kerl! Mein Guter!" Und dann zu mir: "Warum sind Sie mir gefolgt?" Wieder seine Frage! Auch jetzt kann ich ihm seine berechtigte Frage nicht sinnvoll beantworten. "Ich hab' dich" - stottere ich, "ich glaube, Sie zu kennen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch! Nix Unanständiges!" Pah, doof und rot - mit meiner Bombe, sag ich dir! Mein erster vollständiger Satz ihm gegenüber, obwohl ich mir mehrere Anreden und Erklärungen schon während des Fußwegs hierher überlegt habe. Nur diesen Unsinnssatz nicht. So geht es mir, wenn ich intuitiv mich auf was einlasse und dann - Scheiß-Onkel!
"Sind Sie - etwa - eine Kaufhausdetektivin? - Auf der Jagd nach einem Dieb?" Gleichzeitig. Mit seiner Frage kramt er schon, nach Quittungen wohl, in seiner hellhäutigen Ledertasche.
Ich atme ein bisschen auf: "Neinnein, lassen Sie bitte. Bitte nicht. Nur - ganz einfach ist es. Sie erinnern mich an meinen Onkel, aus Kindertagen. oder war's schon der Opa? Von weit her, aus dem alten Lievland her. Wenn kann ich da noch fragen, seit Omas Ersatzfrau (Urte, Burte, Schnurrte! - hatten die älteren Geschwister immer am Telefon ihr ins Ohr kichern dürfen, und wir hatten schallend gelacht - und uns auf das nächste Päckchen mit einer neuen Reimaufgabe gefreut) auch schon mit dem typischen Totenbrief abgemeldet war...
Gott, wie weit her! Die Stimmen, die Bilder! Bevor Mutter mit uns Kindern wegzog vom Vater, hierhin in den Ruhrpott. Einen Onkel Martin? "Kennen Sie ihn?" Welch Gestammel! Ich breche ab - ich bin doch wohl bescheuert. Wieder so beschämt und hilflos, als Klaus damals den feuchten Fleck auf dem Ledersitz seines ganzen Stolzes sah und mich fragte - was konnt ich da schon sagen - ich zeigte auf meinen Hintern...
"Haben Sie schon selber Kinder?" fragt er mich nach einer Pause, in der ich mich weder in meiner Erinnerung an Verwandte noch in meiner Gegenwart wohl fühle, die Hand wieder am Gesäß, als Klaus sagte: "Hast du etwas die -?" obwohl der hier als Mann nicht gefährlich wirkt, nur väterlich, so einfach lieb.
"Jaja, deshalb sind wir in der Stadt. Wintersachen einkaufen und dann - mein Mann - der wartet ja!"
Der Mann greift zum braunen Pappkarton, der an der dunklen, von runden Stellen verrußten Wand steht, schlägt den ineinander gesteckten Klappdeckel auf, entnimmt ihm vorsichtig einen Helm, der glänzt metallisch, ein - wirklich - ein blitzendes Schwert und einen roten Mantelfetzen in zwei Teilen, mit Druckknöpfchen, Brokat oder Samt, ein Gewebe wie aus einem Theaterfundus. "Würden Sie mich dann bitte allein lassen? Es wird jetzt Zeit für mich. Ich will mich umziehen. Und für Sie - Sie doch auch! Zeit, meine ich."
"Sind Sie - was ?" Statt verständlich zu fragen, ich geb mir ja Mühe, reagiere ich doch lieber auf seine Bitte, wiederholt sie, als er sich hinter seinem Pferd beginnt umzukleiden.

Meinen Mann, genervt, treffe ich in dem von schwülwarmer Heizungsluft durchzogenen Kaufhauseingang. Da steht er nicht gerne. "Was blieb ihm übrig, als dumm runzustehen... Mensch, wo warst du nur, Wiltrud?? Läßt mich stehen zwischen den kaufwütigen Weibern. Ich renn hier rum wie gejagt und - und such dich wie bescheuert. Die Kinder sind mit Peter und Traudl und ihrem Sulky losgezogen über den Markt, und du fehlst ihnen. Wo warst du!"
"Dann haben wir ja noch zehn Minuten Zeit, bis sie am Rathaus sind! Komm mit!" Ich bin mir meiner Sache sicher.
Es gelingt mir, ihn mitzuziehen. Eine kurze Erklärung, mehr nicht; ich stottere nicht mehr. Ich führe ihn auf dem kürzesten Weg zum Parkhaus am Ring, von hinten passieren wir das taumelhelle Kaufhaus.
In der Parkbox, 1. Tiefebene Nr. 25, steht ein schwarzer Mercedes, ein Dienstwagen, kenntlich am Nummernschild aus der Kreisstadt.
Nichts, kein Ring im Beton, kein abgestellter Karton. Kein Schauspieler. Bin ich denn -? Nur die Erinnerung an diesen Sommertag, der Dreck auf dem Soziussitz, mein Scham, ich lief weg, zum Rhein runter. Am Deich versteckt ich mich in einer wandernden Schafsherde und riß Büschel des weißen Grases aus und fütterte das kleinste Lämmchen, ganz weiß, verstehste? Der Onkel wartete, kraulte mich irgendwie.
Ich musste zurückkehren. Kein Wort mehr.
"Suchst du Pferdeäpfel?" höhnt mein Mann, mich von oben herab anblickend, als ich mich bücke, um unter die Nobelkarosse zu schauen. "Hier, eingeklemmt unter der Kofferraumhaube - ein Stoffetzen! Oder was anderes von dem feinen Herrn mit den grauen Schläfen? Eine - Visitenkarte, mit Hotelangabe und Preiskalkulation für eine Stunde?"
Ich schaue erst gar nicht hin, worauf mein Mann mit spitzen Fingern und heißer Nase zeigt, und winke zum Treppenhaus hoch, zwar enttäuscht, aber zielgewiss nach oben.
"Ich weiß doch, wen ich gesehen habe! Und den kann ich Dir auch zeigen! Ich bin doch nicht -"
"Du, werd nicht mucksig! Klaro? Ach, komm, Kleines, du Rabenmutter, du Träumerin!" Doch zieht er mich lachend, mir in den Handballen kneifend, hoch in die dämmrige Abendluft. Mein Arm wir länger. Ich stehe -
Zum Rathaus am Königswall schaffen wir es hastend, ohne Diskussion, fast verödet sind hier Markt und Straßen.
Von oben, von der Freitreppe des Rohbaus für das von einigen VEBA-Knilchen gesponserte „Neue Technikum“ (IT-Undsoweiter) herab entdecken wir auf dem Vorplatz unsere Kinder in Rufweite. Sie sind die letzten, die eine pralle Tüte mit einem großen Stutenkerl aus der Hand des Vorsitzenden der Städtischen Werbegemeinschaft erhalten. Der Martin segnet sein Umfeld. Hinter ihnen bleiben mehrere Kinder in der Schlange stehen, mit offenen Armen, sie gehen leer aus, betroffen zum heiligen Mann hinaufblickend.
Ich habe keine Lust, mich anzustrengen, mich durchzudrängen, zu ihnen rüberzugehen und die Gerechte zu spielen, die Helferin. Die schwarz angemalten Ruprechte, zwei stumm grölende Knechte, und die uniformierten Feuerwehrmänner gehen Achseln zuckend zurück zum Reiter und dem Bürgermeister, der jetzt ins Mikrophon pustet: "Wie schon seit Jahrhunderten besucht uns heute in unserer schönen Stadt, hier auf dem einladenden Markt -"
Ich empfinde nur noch eine Schallwand, eine verzerrte Kulisse aus Gelichter und Geräuschen. In meinem Kopf geht der letzte Satz des Fremden im Parkhaus spazieren, die Augen versuche ich vor der Lichtfassade des Rathauses zu schließen. Ich bin am Rhein, ich sitze auf meinem eigenen Dreck, ich wage nicht, den Onkel anzufassen, wie kann ich mich halten -
Der Mann bückte sich hinter dem Pferd, schaute freundlich zu mir auf; der Lärm des Platzes, mit Kommandos und schönen Worten, dringt in mein Ohr. Das Gesicht meines Onkels und seine Antwort, unterlegt mit Farbspiegelungen, Lichtkegeln, geschnitten ins Novembertrübe, mit hellem Lächeln und unter dem Schmirgeln der Reifen aus der Parkhausebene, erscheinen wie im Schwindel machenden Endlosband eines dröhnenden Halleffekts: Der Lärm und die Lichtfetzen trennen sich, vermengen sich aufs neue. Ich sehe laut und höre scharf seinen letzten Satz, dem ich davongelaufen bin: "Würden Sie mich denn erkennen, wenn ich unkostümiert beim Umzug mitmachen würde, in Zivil und zu Fuß? - Sozusagen privat?"
Ein Mann fasst mich an. Wer? Meiner. "Was ist mit dir, Wiltrud?"
Wo bin ich noch?
Weißt du, wo die Kinder sind.“
Bei Omi?“ frag ich zurück, „vielleicht?“
Quatsch! Kuck hin!“
Wie, wo?
Da zu dem heiligen Rotmantel!“
Seh nix!“
Kuck höher!“
Da? Da! Da - auf dem Schimmel? - wovon du immer geträumt hast! - Mädchen, wie ist dir?“
Gut, daß er mich in den Arm nahm -
*

Eine seltsame Begegnung:
Veröffentlicht unter dem Titel „Eine seltame Begegnung“ (Recklinghäusser Zeitung 06.12.2018)



Auf der L e i t e r des Hasses

Ganz ferne rauscht auf seinem Geleise ein Panrzug vorbei:

 
Stephanie D.-R.:

Is da noch, jau, Platz neben Sie auffa Bank da - 
 
... da iss noch Platz neben Sie - auffa Bank, junge Braut -

Saß ich da, allein. Ja, selber schuld, ich im schwül-warmen Bus, lasse mich durch die Gegend schaukeln, okay, von der jungen Busfahrerin mal abgesehen, die kaum grüßte, als ich in Speckbusch eingestiegen bin. Die werde ich gleich interviewen, kann doch sicherlich eine Rast von fünf oder zehen Minuten machen, eben Kaffeepause. Sie fährt heute ihrem Fahrplan ja wohl weg wie nie im Jahr; aber erst abwarten, was sich so tut. Einmal im Jahr dabei sein, wenn keiner allein sein will.
Heute abend kommt kein Kontrolleur, wetten? Bequem ist es hier schon, in den neuen Schnellbussen, flottweg, und komfortabler als zu meiner Schulzeit.
Immer diese Unterführung, wenn ich unter der durchfahre, zähle ich immer die Riesenbuchstaben unserer Zeitung, von R bis g; könnten eine Modernisierung brauchen, Fraktur ist unmodern.
Imma diese Linkskurve, sich anlehn'n können, ewig dieselbe, minutenlang, fast jedenfalls, wie ich et bei meinem Männe gern habe.
Nur noch zwei Blocks bis dahin. Grau, lang, öd gleiche Fensterlöcher.
Waren da eigentlich Blumen zu sehen? Oder sonst was? In diesem Schlafzimmerfenster da? Ob sie gesehen hat, dass ich den Arm noch hochreckte, so als Gruß, was besonderes für heute abend? Ein Mädchen, ja, passend zur Stunde? Wirklich? Zwischen der beatmeten Scheibe und dem dunkelgrünen Rollo hinter ihr, auf der Fensterbank stehend?
Ließ Worte wie Hauch von ihren Lippen aufsteigen. Wie alt? sechs, nein, eher älter, stand da im bauschigen Nachthemdchen, allein, wie abgestellt und winkte - ja, wie ein Christkind hinter Eisblumen; kann ich nicht schreiben, glaubt keiner! Muß ich deleten, später!
Die Bescherung ist wohl gelaufen für die. Ab-ins-Bett oder so! Engelchen du. Wie lange stehst du da wohl? Und wer kommt vorbei, heute? Wer winkt schon, wenn er nach Hause will in die Wärme des Lichts, der geplanten Gefühle! Hart ist das Leben; gerecht bin ich, nur gerecht, hat der Vater rübergerufen! Jetzt aber ab, du, Marsch! Sonst ist morgen kein fern. Und kein raus auf den Spielhof! Und keine Omi!
Warum bremst die da? Ortsausgang schon, ein Besoffener auf dem Überweg? Ist die Fahrerin verrückt geworden? Das haut mich glatt vom Sitz. Teufel auch; wer will da draußen mit? Wollen die alle einsteigen? Eine ganze Horde? Alles Skins, oh Gott, sehen die stark aus, im Dress wie wenn-zum-Fußball! Haben die sich vor den Bus gestellt? Die provozieren die Fahrerin doch! Na, halat mal Ruhe!
Erst mal fühlen, was noch da ist von meiner Ausrüstung: Vom Sport-Walther holte ich mir ein Kassettengerät, das man in die Innentasche des Parkas stecken kann; mit einem Minimikrophon unterm Reißverschluß, das sich einschaltet, wenn man zu sprechen beginnt. Muß ich dann die Interviewten auch noch bitten, einer Veröffentlichung zuzustimmen?
Quatsch, das anonymisiere ich dann einfach, dass keiner sich wiedererkennen kann. Jumän Tatsch, das macht's! sagt unser Chef, wenn er meine Texte redigiert.
So habe ich mir einen Fahrplan geben lassen, mir eine Route zurechtgelegt, über Sinsen nach Haltern, rüber nach Dorsten, dann über Marl-Mitte zurück, nach RE-West, vielleicht noch nach Gelsenkirchen rein, wenn ich zu wenig interessante Menschen treffen sollte. Ich will ja nicht auch noch auf die Phantasie zurückgreifen müssen, für eine Reportage vom Heiligen Abend.
"Dä Platz da, is dä noch frei, Fräulein! - Hallo, Miss! Neben Ihnen auffa Bank, is da noch frei? Oder wie hätt'n set gerne?"
So hat der Kerl mich doch aus dem vorgetäuschten Dösen geholt.
Ich kuck ihn mir an - wie mein Vati mal einen bösen Onkel anstarrte, der seinem Schatzi-Liebling und meine Püppi streicheln wollte. Dort längs der Kiefernschonung, dann den Bach lang, nördlich des Haard-Grenzwegs.
Hat der sich den einzigen besetzten Platz im Bus ausgesucht, um sich neben mich zu setzen, ohne meine Antwort abzuwarten! War der einzige, der vorne bezahlen wollte, den die Busfahrerin noch reingelassen hat von der Horde. Hat clever reagiert, schnell die Tür in der Mitte und hinten wieder zuzischen lassen, als sie die Schweinerei der Truppe kapierte. Da haben die Macker gegrölt. Und einer, der erste, kann nicht mehr raus. Meckert, schimpft. Knallt gegen die Scheibe. Will zurück zu den Kumpels. Der nimmt mich auf den Kiecker. Na danke, du Rotzlöffel!
Da krieg' ich einen Skin auf meine Bank, danke für die Überraschung!
"Ist der Platz neben Ihnen noch frei?" Tannenzweig an seiner C&A-Mütze, angenäht; die er genüßlich in den Nacken zurückschiebt.
Ohne abzuwarten, gleich weiter: "Steht mir echt geil! nicht wahr, Fräulein?"
Mies der Kerl! Ja, übel wird mir: Angst, Scheißangst! Gerate ins Schwitzen. "Bin gemütlich drauf heut' abend. Gut drauf zum deutschen Fest." Mein Schweigen überzeugt ihn nicht. "Gut drauf bin ich heute." Er wendet sich nach vorne: "Aber, was die da mit uns gemacht hat, nur weil Hannes eine Flasche auf den Asphalt knallen ließ! Das schafft Rache! Maik hat noch einen Pappkasten mit Bierdosen vor ihren Vorderreifen links gelegt, hat die doch sehen müssen! Zweimal acht Dosen starkes Bier, im Pack. Gutet – very Gutet - von Aldi, wat huckelt die dadrüber mit ihrem Bus, die Scheiß-Fotze-da! Alte! Hei - du!"
Ich schüttle den Kopf. Will ihm die Hand auf die Schulter legen. Sieht der aber nicht.
"Soll aussteigen, die Tussi! – Watt, Jung! – Die sollten wir ablösen und rausschmeißen!“
Jau – und nach Hause fahren und ihr mit Opi-Vati-Männe-im-Arm ein deutsches Weihnachtslied singen, als Ständchen. Die gehört doch an Heim und Herd, dat Weib, sieht doch gut aus von vorn, dat Frau!"
Da schimpfen sie nochmals los über die Bus-Tussi, nein, nicht druckreif! Ne, wiederhol ich nicht.
Eigentlich müßte ich den Notstopp drücken. Können die Kerls uns noch einholen? Einer ist langeweg hingeknallt. Wie lang die jungen Leute sind! Und der ist nicht so bomber-fettig! Die andern sind im Dunkel verschwunden. Bleibt der Bock in Leder und Schweiß und Aufgedunsenheit neben mir sitzen, kuckt interessiert auf meinen Busen, beruhigt sich aber zusehends, betatscht mich mit seinen fixen Augen, ein Hans-Albers-Blau, klasse! Tapfer bleiben, Anne!
Aber wenn der seine Glatze unter eine Perücke gesteckt hätte, oder meinetwegen unter ein NATO-Käppi, ich hätt' ihn mit einem satten Lächeln ankucken können. Auf der Wange - was hat der da? Stacheldraht, als Tatoo? Weiß nicht - oder aufgemalt so. Der könnte doch seine Glatze mit zwei Händen glatt und satt bedeckt halten, und grinst mich an! War ein hübscher Kerl sonst, so irgendwie! Un kriegt der die Backe wieder sauber? Der steilt sich und sitzt auf einer Leiter des Hasses und klopft von oben runter auf mich!
Das fiel mir leider zu spät ein. Wäre ja wirklich der Baustein für eine Story zum Fest gewesen - an diesem unseren Glorien-Fest!
Will zu seinen Genossen zurück. "Hab's nicht eher geschnallt! Dann sah ich Sie!"
Ja, hätte das ein Interview gegeben! Den Kerl interviewen! Ausquetschen, warum und wieso denn deutsch und - und: welche Bildung. Elternhaus? Lehrer oder was? Alles Scheiße?
Wie Männer sich verändern, so ohnewasaufdemSchädel! Wie alt? So sechzehn; ich kann so was nicht auseinanderhalten in dieser gnadenlosen Aufmachung.
"N' Abend, natürlich."
"Ja, sozusagen: Heiligen Nabend!"
Aber ich laß mich nicht stören, ich möchte weiterlesen. Keine Nachfrage, klar, Junge? Mach' die Fliege! Such dir 'ne andre Tante, die stricken kann und so was Feistes aushält! - Hab ich das wirklich gesagt?
"Ich steh' nicht auf Anmache oder so! Nur damit Sie klarsehen! Und dass Ihre Freunde da abgehängt wurden, tut mir leid!"
Mit diesen Glatzen komme ich nicht klar. Was sagen die Kumpels untereinander? Freunde? Genossen wohl nicht! Entsetzlich, wie die durch ihre Kluft wirken, männliches Outfit, einfach stark, derbe. Scheiß-Backe!
"Ja, staunst! Das ist unser Fieling, echt stark." Wieder nichts von mir. ich komm' nicht dazu, den Mund aufzumachen.
"Ob ich das immer trage? Im Bett nich, ne, nich? - Zigarette?"
"Hier ist Nichtraucher, junger Mann."
"Lesen kann ich schon. Nich, wie Sie denken. Kurz vor dem Abi, dat bin ICKE! Ob ich dat Reifezeugs aber verstehn will, dat is hier die Frage. Kommt aber gut an, allein, wie wir aussehen, damit fegen wir die Bürgersteige leer, na klar! Mit Pauer!"
Ja, die Bürgersteige. Da sind die meisten Zeitgenossen weg von der Bahnsteigkante. Weg vonner Kante! Aber draußen, so wie am 20. April vor dem Judenfriedhof in Nord: "Kennze doch, Fräulein, nur Kanickel, Draht und Tore! Gut geschützt das! All' unsere Karten für das Fußballländer mußten wir wieder eintauschen, mit Portoverlust, die Kapitalisten. Berlin, ade! Dortmund ade! Wir kommen aber wieder!"
War leider noch besser abgesichert der Friedhof, als wir gedacht hatten! Haben die da aufgepaßt da, so eine Masse Bullerei, hundsgemein! Wohl eine Hundertschaft draußen für uns paar Männekes! Mit Schäferhunden, die die Falschen beißen sollten! Die haben uns abkacken lassen wie die Straßenköter! Verräter am Volk die, pah, Säuglinge die! Und am nächsten Tag nix von uns in der Zeitung. Keine Zeile! Keine Bild! Das hat uns am meisten geärgert! Aber den Verräter kriegen wir."
Von dem Vorfall haben wir nichts im Polizeibericht zu legen gekriegt. Spinnt dat Männeken hier?
"Muß einer von Norberts Truppe sein. Den setzen wir so was von unter Druck, dass der nur so weinend erzählt wie auf Mamas Schößchen! Gibt wieder einen Selbstmord mit Stromkabel um den freigelegten Hals. Rache für Rudolf und so weiter! Rache für - Einer, der gehört ja zu uns; konnte uns nicht mehr anpeilen, oder ein Verräter, aber das nur fürn Polizistenbrot, 'nen Appel und Ei und Pensionsanspruch nach vierzig Jahren? Kann der sich nicht leisten mit seinem Geländewagen, den wir ihm bezahlt haben für unsere Fahrten inner Halterner Heide. Fressen muß der bei uns, kacken auch!"
Hab' schon zu viel dem Kerl zugehört - mit dem reden? denk ich. Wo der hinwill heute abend? Gehört ans Mutterns Rockzipfel!
 

Richtig mal im Backteig knatschen, alles nacherziehen, nicht so viel schleckern, Arni, vom rohen Teig kriegst du Bauchschmerzen! Noch ein Backblech, dann sind wir fertig, Papi wird sich freuen, wenn wir ihm das erzählen, und erst das Christkind. Dann gibt es keinen Feuerwehrwagen und keine Böller. Oder nochmals unter Vaters schützende Hände! Aber jetzt keine Verschwendung mehr!
Buh! Unsympathisch, der Kerl. Abwarten, mir bedrohlich. Muß ja nicht den ersten interviewen, ist auch noch zu früh für die Heiligabendstimmung. Müssen erst ins Nachdenken kommen, die Leute, in Ruhe braten lassen, und dann das richtige Wort!
"Sind Sie immer so schweigsam? Oder nur wegen meiner besonderen Gestaltung?" Zusätzlich läßt er den rechten Ärmel hochrutschen, langsam, ich sehe eine Tätowierung. Ich sehe zwei Kreuze, ineinander gezeichnet, mit äußeren Haken, so dass sie wie Schnitzelräder vorwärtszulaufen scheinen.
"Die Zeit, wir werden sie nutzen. Sie arbeitet für uns, jawoll! Für die Zukunft! Für die Starken!"
"Hab ich zu dumm gekuckt?
"Klar: Alles Schwache wird weggehämmert. Alles Interlektelle -
Typisch dein Sprachfehler! Hasse vom Pott hier. Woet am stärksten kochen tut! (Habe ich aber nicht gesagt, nur gedacht.)
"Allet wird aufgeräumt. Worte des Führers! Wie Raketen vom Urvater Thor! Wenn wir die erst haben. Wie die Affgaaan'n die hatten gegen die Russen. Diese da, die Dinger vonner Schulter zu schießen! Panzerfäuste, so. Aber eben besser. Für gegen Flugzeuge! - Die -"
"Stinger-Raketen."
"Äh, hömma! Ach! Kann reden, die Braut! - Na, all die Stubenhocker, das Gesindel, die Erfüllungsheinis der Fremdländer! - Vastehse doch? Oder?"
Jetzt will ich die Klappe doch nicht mehr halten? Wer bin ich denn. Jetzt geht sein Grinsen in ein Lächeln über, mit kackbraunen Mausezähnchen vorne. Los! Sag was, lüg was! Irgendwas!
Steht der wieder auf. Zeigt na vorne: "Mit der da am Steuer hab' ich noch ein Hühnchen zu rupfen; ‚n ganzen Stall voll, das Huhn! Die Kumpels haben alle gültige Märkchen oder eine Sechserkarte! Interessiert dich nicht, ne! Aber - schlaf weiter, Prinzessin! Bis wir dich wecken! Dass ich nicht lache: Hotelmieze! Siehst aus wie eine Emanze! Lehrsche wohl? Oder Tussi bei der Stadt? Meldeamt, wie, immer korrekt, hä? Hätte was werden können mit uns drei!"
Er packt sich, gottseidank! Den Dickarsch steif gehalten bei der Bewegung, wie das Arschleder der Kumpels! Wo die sich hinsetzen!? Was man sich so einbrockt, mit gut gemeint!
Und ich fühlte mich so gut vorbereitet! Und stieg um 17,40 Uhr in den Bus, der nach Norden abfuhr; ich war der einzige Fahrgast.
An einer Haltestelle, fast auf freier Strecke im Wald, stieg ein junger Mann in Bomberjacke ein. Nach dem Trabbel kam er zu meiner Sitzbank, ließ sich grinsend nieder, in parodierter Verbeugung.
"Na, Frollein, noch keine Verpflichtung für heute abend? Oder wartet der Gnädigste am Herd? Mit Pasta oder son Schitt?"
Ich schwieg, lächelte geringschätzig, aber ohne besondere Überzeugung. Er strählte seine Glatze. "Frisch lackiert für heute abend. Öl, Sonnenöl einfach! Für den Einsatz parfümiert! Wir fahren nach HÜHNEr-Franz! An der Umgehungsstraße, kenn'n Sie doch, ja? Alles schön dunkel dort jetzt. Auf dem Hof ist nämlich heut' mittag die Beleuchtung ausgefallen, reines Wunder vom Tage. Wissen wir alles. Versteh'n Se! Mal sehen, ob's Remmdidemmi gibt auf dem Spielplatz, den illegalen, was die da hingeschleppt haben, die Asis und die Kanakas. Haben den Teppichboden aussem Rathaus, wo eina draufgekackt hatte vonne Initiative gegen Zigeunabrut; waa unsa besta Mann, hihi, allet geplant! Haben den geschenkt g'kriegt und unta die Schaukels ausgelegt in den Mist da. Säue!"
Wie kann ich mit dem reden? Soll ich nach der Schule fragen? Müßte doch noch in die Schule - ob der noch lernen will? oder nur kaputtmachen. Wie wir: Macht kaputt, was euch kaputt macht? Was waren wir noch naiv! Und erst die 68er! Was feiern die heute.
"Werdet wie die Kinda und redat dat, wat iha halten können tut! Hihi! Wir spieln den eins auf! Die Ärsche der Bürokraten als Trommel und Pauke! Hitla hat auch genau vasprochen, was er gehalten hat! Macht uns heiß unsa Führa, auf die Bescherung dort! Ha!"
"Darf ich Sie mal etwas fragen?"
"'türlich, schöne Braut, darf ich's wagen, Antwort der schönen anzutragen! Platt wie! Klassische Bildung, hab ich von mein letzten Pauker! Der konnte sich druchsetzen, wie ein Führa! Aba nix wie gefragt! Schönes Weib und Gretchen! Ich kassier aber vorher", lachte de doch wie - ich weiß nicht, Stan und Lauel und Hape und Alf zusammen, irgend so'n Verschnitt aus BLÖD-Lache und Kampf.
"Ja, Ihr Lehrer, wie war der so?"
"Dafst du sagn, Mädkn! Kannst ja meine Mami sein, die Liebe, die Gute! Will heut am'd bei mia auffa Bettkante sich ausheulen, von wegen Alten und so. Habb ich doch geahnt, so'n Schlammassel! Da hab' ich den Beand angerufen. Und klappt! Watt sachich imma? Wia ziehn los! Nua die Tussi da voan. Wenn wia die nochmal aufschneiden können tun! Jau?"
Ja, ich hab' noch gefragt, ja, er hatte die Hauptschule abgebrochen. War intelligent für Ssprachen. Konnte sogar Russisch. Aber ich glaube, nur so nachmachen. ichwillmich gar nicht mehr dran erinnern. Einmal, sagte der: "Dem Schniedas wollten wia mal die Klöten ansengen!" Oder ein anderer westfälischer Ausdruck dafür! Du verstehst, Schatz? Fragte nochmals nach Geld, aber eher lachend! Hatte ja recht, wie die hofiert wurden nach Hünxe oder Hoyerswerda! Hängen mir zum Hals raus, diese Saftärsche. Ich hatte die Nase voll von einem Skin! Weißt du, deren dickfettige Haut! Woher sind die so aufgeblasen, so ebermäßig, affenartig feist und ungestaltet gerundet, und ruckelnd in ihren Bewegungen, Maschinenkörper, ausgerichtet auf den Revierkampf, gesteuert durch die Rivalitätsaggression, den ausgespielten Futterneid, programmiert auf Nahkampf im pubertär aufkackenden Rudel gegen was nervös und unsicher ist, gegen die von der Politik etikettierten armen Scheißer von draußen!
Sehe ich Gespenster? Einfach schmierig so was von Jugend! ich hatte keine Fragen mehr drauf. Ehrlich! Hormone allüberall, über alles in der Welt, nicht nur in Deutschland. Muttis ganze, fetttriefende Liebe: kahl auf der Kopfhaut, auch unter der Hirnhaut? Vaters Prügelbock? Brut, die hochgepäppelte, verquer und verzogen, die da aus Deutschlands Schoß kroch, dem vereinten? Das hätten wir auch ohne das gekriegt! Und wir Wessis stärker als die drüben, nur mal so gedacht, wenn die Einheit nicht gekommen wäre. Darf ich doch mal sagen!
Ich verkrampfe noch mehr, ziehe meine Arme dicht vor den Körper und versuche das leise Laufgeräusch des Recorders mit einem Husten zu übertönen. Kann ich das Ding auch wieder abstellen, hätte Heiner mir erklären sollen! Da war nix Verständliches drauf! Ich Unglücksvogel!
Am Stadtrand, zwei Haltestellen weiter - der Bus hält für einen älteren Mann, Typ Oberbuchhalter, der einsteigt. Da, drei Schritte neben dem Wartehäuschen eine Telefonzelle, schnell bin ich am Ausstieg, rufe der Fahrerin zu: was von "Tschuldigung, bitte öffnen Sie mal"; die drückt die Tür auch prompt auf. Danke! Ich winke, mit einem Armen rudernd zurück, sie grüßt.


Ich springe raus. Da, in die offene Zelle, der Hörer, keine drei Groschen, also Notruf: "Hier, die Polizeiwache, Schäpers. Oberwachtmeister."

Melden die sich immer so gleichgültig? Der Beamte auf der Wache protokolliert ziemlich desinteressiert meine Meldung. Ja, bei "hühner-Franz", der verblichenen Hausinschrift, "auch Eier und Enten vorrätig". Aber die sind noch nicht alle da, wenn die nicht mit eigenen Wagen fahren. Was? Eine Streife ist schon dort? - Haben alles im Griff. Trotzdem, danke schön! Na dann, schöne Weihnachten. - Nein, Weihnachten passiert hier nichts! Können Sie sich drauf verlassen! Ach - woher wissen Sie das denn eigentlich mit dem Bomberangriff? Hallo?" Ich lege auf! Auch wieder falsch!
Nochmals anrufen? Ich bin wohl nur was für den Schreibtisch wert!
Nach Plan lohnt es sich gerade, auf den Gegenbus aus Dülmen zu warten. Wenn es wenigstens schneien würde, da könnte ich auf meinem Handrücken Kristalle zählen, bevor die Eissternchen verlöschen. Der letzte Schnee zu Weihnachten? Glaube, das war, ja, als Vater Mutti den Pelz schenkte. Den ich immer zu Weihnachten ins Auto packe, wenn ich sie besuche. Da zieh' ich ihn für sie an. Und sie streichelt ihre schrubbigen Runzelhände, und ich schäme mich. Ob sie den noch hat?
Upandaway. Zurück zur Sinsener Straße, wo war das Mietshaus, hingehauen von Architekten in den fünziger Jahren, die nie in solche Betonzeilen einziehen würden, die sie heute abreißen, um -
Wo steckt das Kind, das mir im Nachthemd zuwinkte?
Sie noch wartet - auf Vorbeikommende, die ihr völlig unbekannt sind, dass sie ihnen zuwinken kann? Ob sie müde geworden ist, weinend eingeschlafen? Liegt sie jetzt im Bett, schwitzt und schläft?
Gegenüber der Tankstelle, richtig, da muß doch der Tankwart von da auch das Kind gesehen haben, mit dem blassen Gesicht, den Engelshänden hinter der Scheibe und den gehauchten Worten: An der Tankstelle war noch Verkehr. Ob sie sich inzwischen schlafen gelegt hat? Wie kalt hat sie es wohl in ihrem Zimmer mit dem quäkenden Brüderchen? Ab, ins Bett, Blag! Penz! Göre, du! (Oder was sonst?) So was von ungezogen! Weihnachten ist für dich gelaufen! Sofort in dein Zimmer! Und nicht mehr gemuckst! Muß der Vater erst die Zeitung weglegen und aufstehen? Mit dem gerollten Blatt kommt er auf sie zu.
Keine Chance für Weihnachtsmänner, keine Möglichkeit für Weihnachts-Frauen? Und wenn ich mit dem Skin verwandt wäre? Er mein Neffe? Verrückte, sentimental geisternde Phantasie! Hätte ich was ausrichten können gegen deren Plan? Oder was verhindern? Was würde die Polizei schon aus der Randale machen? Haben die für Heiligabend eigentlich eine Reserve, eine Spezialtruppe, ein Eingreifkommando, das abrufbereit steht für die innere Sicherheit auch in den Hütten, in den Containern: Angepiepst: Weg von der duftenden Gattin, von der neuen Eisenbahn weggeholt! Bethlehem später, jetzt gilt es auf der Dortmunder Straße? Die Alleingelassene, Kids und die Mami, verkrümmeln sich vors Fernsehen, oder doch alle ins Ehebett, und dann wieder von früher erzählt: Mamis viele hundertmale Weihnachten? Oder sind schon mit den strahlend bunten Lichtpünktchen auf den Schirmen getröstet, zu Zeilen angeordnet, die nicht gelesen werden müssen, wo es kracht: krawumm! Später, Kindchen, der Papi repariert es wieder. Komm, setz' dich zu mir! Einmal war es so kalt am Heiligabend, dass -
Gibt's das noch? Komm, setz dich auf meinen Schoß. Ich leg' das Strickzeug weg? Erzähl mir' was von deinem Teddy! Wie mach' ich das später? PC aus? Und von meinen Heinzelmännchen erzählen, die mich als Steppke Nacht für Nacht im Advent besuchten, die auf einmal verschwunden waren, als -?
Es ist feucht-warm, bestimmt vierzehn Grad. Da blüht die japanische Zaubernuß schon, da nieste ich immer furchtbar, dann die Ohrschmerzen oder die Neenhöhlen, und noch schlimmer: Frohes Fest mit Cortison. Bevor ich ins Träumen komme, jetzt will ich's auch wissen.
Steht das Kind noch dort hinter der Scheibe? Ob sie beschlagen ist? Das war keine Thermopen-Scheibe! Da zog's immer, das kann ich dir aber vertellen. Soll ich dann klingeln, da: Parterre, links, oder draußen gegen die Scheibe klopfen? Da kann ich doch nicht einfach reinschneien, bei Mütters! Das Feuerwehrauto aus dem Kleiderschrank holen! Verdammte Neugiersnase! Der Papa wird schon mit dir fertig!
Da, die Tankstelle schiebt sich ins Blickfeld. Die drei Pappeln - nur noch eine, die da steht! Hat schon dicht, Tankstelle Mütters! Klar, und? Jetzt, da, das graue Haus, in dem wir wohnten, bis die Planer von der FANAL-Benzin zuschlugen und alles niederlegten, bis auf die alte Fassade für die Parkpalette neben dem Supermarkt. Dort erlöschen gerade die Weihnachtsbäume.
Ich stehe wieder auf der kühlen Fensterbank und zähle mit Bleistiftstrichen auf der Tapete die vorbeifahrenden Autos, miese Weihnacht, versauter Heiligabend. Aus dem Wohnzimmer schallt es von unserem ersten Fernseher gemütlich her: Leise rieselt - Was? War das Freddy, der mit den großen Augen, heiliger Freddy Quinn, deine kurzen Locken und deine ewige Sehnsucht; den ich einmal heiraten wollte, ich splillerig Blag, ausgestellt hinter einer kalten Scheibe vor einer glitzernden Winterwelt. Ein hingestelltes Mädchen!
Der Vater hat dich erhöht, du Auserwählte!
Akeda!
Wat issen dat fürrn Woat - äh?


Illustrationen zur „Leiter des Hasses“ - und zu WEIHNACHTEN - von Ewgenia Agarunowa (mit Dank!).



 

Dienstag, 10. September 2019

Mörike-Spuren bei Wilhelm Lehmann

Vor Spiele:

Mörike-Spuren ... bei Wilhelm Lehmann:


Von der Vring:

Wiederzukommen,
Neu zu erfahren,
Was uns genommen
Bei jungen Jahren.
(Aus: Die Lieder des Georg von der Vring. Albert Langen, Georg Müller Verlag, München, S.57)

Von der Nachwirkung Mörikes zeugen die Werke dieser [gemeint: jungen deutschen … der 50/60er Jahre] Dichter auch dort, wo sie (wie in der wortkargen, geheimnisvollen Lyrik Wilhelm Lehmanns) nur von ferne an die Sehweise des großen Schwaben, an sein Wissen um die Dinge erinnert.

»Mörike«, schreibt mir [S.S. Prawer] Wilhelm Lehmann, "hat mich nicht etwa in eine bestimmte (andere, von mir aus gesehen) Richtung gewiesen, sondern mich, meine Neigung bestätigt .

So warmen Fußes, Sommergeist,
Daß unter dir das Eis zerreißt -
Verheißung, und schon brenne ich,
Erfüllung, wie ertrag ich dich?
(Wilhelm Lehmann, „Ahnung im Januar“)

Das scheue und zu den Elementen hin zitternde Lebensgefühl, das sich in solchen Versen ausdrückt, ist dem Eduard Mörikes zutiefst verwandt.
In: Prawer, S[iegbert] S[alomon]: Mörike und seine Leser. Versuch einer Wirkungsgeschichte. Stuttgart 1960. S. 96. - Prawer gibt keine genauen Daten, keine Angaben zu dem Brief Lehmanns; er merkt an:

* *

Trotz mancher Anklänge hält es aber schwer, den »Einfluß« Mörikes auf die neuere Dichtung zu ermessen.
Wir wissen zum Beispiel, daß HofmannsthaI gern Mörikesche Gedichte vorlas: wieviel ist .aber von der Gefühlswelt und der Rhythmik Mörikes in seine Gedichte übergegangen? Wieweit ist etwa „Vorfrühling“ den »Wind«-Gedichten Mörikes verpflichtet? Gehen nicht Rilkes »Dinggedichte« .zuletzt auch auf die Mörikeschen Dinggedichte zurück, mit denen sie so gern verglichen werden? Und hat sich nicht selbst ein so »unMörikesches« Werk wie Trakls „Abendland“ zuletzt auch an den freien Rhythmen von Mörikes „Äolsharfe“ geschult?



- Trakl, Nossack...

#
O des Knaben Gestalt
Geformt aus kristallenen Tränen,
Nächtigen Schatten.
Zackige Blitze erhellen die Schläfe
Die immerkühle,
Wenn am grünenden Hügel
Frühlingsgewitter ertönt.
(Georg Trakl: Die Dichtungen. Otto Müller Verlag, Salzburg 1938, S. 171)

Von „Einfluß“ im gewöhnlichen Sinne ist hier nicht mehr zu reden - aber Mörikes eigentümlich schwankende Gefühlswelt und subtile Rhythmik haben soldie Dichtung gewiß mitbestimmt. Nun darf natürlich nicht geleugnet werden, daß die heutige Dichtung durch eine tiefe Kluft von Mörike getrennt ist - wie ja auch die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts Dinge er leb t haben, von denen die des neunzehnten höchstens einmal angsterfüllt träumten. Nach dem Naturalismus und der Neuromantik, nach dem Expressionismus, dem Surrealismus und der neuen Sadilldikeir, nach Rilke, Eliot, Valery, Lorca und Gottfried Benn kann der moderne Dichter kaum mehr auf Mörike zurückblicken. »Nadi meinem persönlichen Dafürhalten«, schreibt mir deshalb Klaus Demus, dessen Urteil sich audi andere Dichter unserer Zeit (darunter Günter Eich, Karl Krolow und Ilse Aichinger) anschließen, »sehe ich keine Möglichkeit einer Beziehung zwischen Mörike und der modernen Dichtung. . .. Nein, im kann nicht sehen, daß Mörikes Dichtung von ihrem Ort aus weiterwirken könnte.« Und trotzdem wirkt sie weiter! Wenn auch von unmittelbarem »Einfluß« nur wenig die Rede sein kann, so ist doch gewiß, daß, wie es Hans Erich Nossack ausdrückt, »kein Deutscher, der Verse schreibt, ohne die Mörikeschen Zeilen: -Gelassen stieg die Nacht ans Land- oder -Der Sonnenblume gleich steht mein Gemüte offen- oder ohne -Orplid- zu denken ist«.3 Unerwartet leuchten in Iosef Weinhebers -Du bist Orplid- 4 und in Gottfried Benns späten Gedichten Mörikes Visionen als ungestillte Sehnsucht auf, als verlorenes Gut, das es wieder zu erringen gilt:


Wilhelm Lehmann:
EDUARD MÖRIKE
Text zur Schallplatte: „Eduard Mörike. Eine klingende Anthologie“. Christophorus Verlag Freiburg.
(e: 1961; ED in W. L.: GW. Bd. 8, S. )

Am schnell verrauschenden Strom der Zeit bilden sich immer wieder Uferstellen, an denen der eilige Mensch entzückt stehen bleibt, in einer Zeitlosigkeit zu verweilen, die sein Leben erfrischt. Die Dichtung Eduard Mörikes bedeutet eine solche Stelle. Alle Kunst setzt uns in den Stand, über dem Schweren leicht zu werden. Im Leben Mörikes gab es viel Qual; er wurde deren Herr mit Hilfe der Dichtung. Wir nennen heute Kunst, die das Innere erschüttert, existentialistisch: ihr [sic!] steht das Dasein auf dem Spiele. Kunst als höchster Lebensernst war das Ergebnis unserer klassischen Epoche gewesen. Einer alteingesessenen schwäbischen Bürgerfamilie entstammend, 1804 in Ludwigsburg im Neckartal geboren, reicht Eduard Mörike also noch in die Klassik und erlebt die späte Romantik als Gegenwart. Der Neunundzwanzigjährige bekennt dem sechzigjährigen Ludwig Tieck »unbedingte Hingebung und immer neue Bewunderung«. Als Schüler, als Student ergeht Mörike sich, nach ungetrübter Kindheit, mit vertrauten Freunden in Märchenphantasien. erfindet Orplid, das „Land, das ferne leuchtet“, ergötzt sich an Puppenspielen und will das Klaviera] aufs freie Feld schaffen, um in der Nacht darauf zu spielen. War es Goethes Tat, in allen Dingen auf das individuelle Erlebnis auszugehen, schwelgte die Romantik vollends in der Ungehemmtheit des persönlichen Lebens. Aber wenn Goethe den Überschwang der Romantiker beklagte: »Das will alles umfassen und verliert sich darüber immer ins Elementarische«, so bewahrte vom Klassischen her die Form Mörike vor dem Zerfließen in die Naturseligkeit. Daß er dies vollendet darstellt, macht seine Bedeutung aus. Er steht „dem Eindruck naher Wunderkräfte offen, / Die aus dem klaren Gürtel blauer Luft / Zuletzt ein Zauberwort vor meine Sinne ruft“. Er lauscht den Erscheinungen und hört: »Horch! auf der Erde feuchtem Grund gelegen, / Arbeitet schwer die Nacht der Dämmerung entgegen«, und» Wie süß der Nachtwind nun die Wiese streift / Und klingend jetzt den jungen Hain durchläuft!« Er findet das beschwörende Wort von »der Erdenkräfte flüsterndem Gedränge« und preist den Fluß, der ihn „mit Liebesschauerlust“ kühlt. Heidnisches und Christliches streiten sich um sein Wesen. Als amtierender Pfarrer ist er nie glücklich, gerade weil Lieder wie „Wo find ich Trost?“ und „Neue Liebe“, Seufzer aus gepreßter Brust, offenbaren, wie nahe ihm das christliche Mysterium ist. Er fürchtet überhaupt den Aufruhr der Gefühle, sie möchten ihn zerschmettern: »Wollest mit Freuden / Und wollest mit Leiden / Mich nicht überschütten« (wobei »vergnügt“ in der ersten Strophe den alten Sinn 'begnügt' trägt).

Der Begriff des »Biedermeiers« besagt hier gar nichts; Innigkeit, das wäre die schlüssige Bezeichnung. Nur Oberflächlichkeit glaubt, Mörikes Kunst als spielende Anmut ausreichend gekennzeichnet zu haben; es braucht nicht erst der Vertiefung durch Hugo Wolfs Kunst, das zu offenbaren. Es gibt harmlose, freundliche Naturen, denen zerstörerische Leidenschaften fernbleiben; liebenswürdige Zugänglichkeit kostet sie nicht viel. Mörikes Seelengrazie jedoch ist Sieg über das Chaos des aufgeregten Innern. Sie wird ihm zur Sprachgrazie. Das ist sein Triumph. Er hat das Jauchzen erfüllter, die Pein enttäuschter Liebe gesungen („Ein Stündlein wohl vor Tag“, „Das verlassene Mägdlein“). Ihm selbst hat die irdische Liebe mehr Leid als Glück gebracht. Den Studenten der Theologie stürzt die Begegnung mit einem noch heute rätselhaft gebliebenen Mädchen von großer Schönheit - halb verlorenes Kind, halb Nymphe - in selig-unseligen Wirrwarr. Die Peregrinalieder, voll von Mignonklängen, bezeugen es. Als Vikar eines schwäbischen Dorfes verlobt er sich mit der sanften Luise Rau, einer Pfarrrerstochter. Seine wirtschaftlichen Verhältnisse, die sein Leben lang unsicher bleiben, mehr noch seine religiöse Haltung machen eine Bindung unmöglich. Er heiratet 1851 Margarethe von Speeth, zwei Töchter werden geboren, nach zweiundzwanzig Ehejahren wird eine Trennung nötig. Unentbehrlich bleibt ihm die Schwester, Klärchen, bleiben Freunde, darunter der „Urfreund“, der gleichaltrige Pfarrer Wilhelm Hartlaub. Der Siebzigjährige schreibt: „Der beste Trost, der uns noch bleibt, sind unsere Freunde.“
Mörike ist auch ein zuweilen karger, zuweilen überströmender ausgezeichneter Briefschreiber gewesen. Allein die Briefe an Wilhelm Hartlaub machen in der Handschrift fünf robuste Bände aus. Alle seine Erlebnisse legt er in dem Roman „Maler Nolten“ nieder, einem Zauberbuche, das Wirklichkeit und Traum zusammenbildet. Es erscheint im Todesjahr Goethes. Wir müssen es in der ersten Fassung lesen,wiewohl der Verfasser sie nicht wiedergedruckt wissen wollte.
Ludwig Bauer, der Jugendfreund, hat Mörike als Verkörperung der Poesie empfunden. Mörike war eine scheue, sehr zarte, viel kränkelnde, gleichwohl zähe Natur. An dem erst Einundfünfzigjährigen entdeckt Theodor Storm bereits »verfallene Züge«. Gewisse Einflüsse trotzig abwehrend und nie weichlich, spricht Mörike selbst von »dem unglaublich verzärtelten Gang meines inneren Wesens«1. Er hatte anderes zu tun, als in die politischen Vorgänge seiner Zeit einzugreifen, aber er beachtete sie wohl. Shakespeare, Goethe, Jean Paul, Lichtenberg liebend zugetan, sucht er in Zeichnen, Malen, Schnitzen, Töpfern, im Sammeln von Münzen und besonders Versteinerungen, im Hegen von Tieren und Pflanzen Erleichterung seiner schwierigen Existenz. Die Musik bedeutet ihm das größte Wunder. Mozart wahrhaft geistähnlich, schreibt er die Novelle „Mozart auf der Reise nach Prag“, eine Herrlichkeit unserer Prosa. Sie schildert einen sonnigen Tag im Leben des Bewunderten. Die Baßsaite des Todes durchdringt die Helle. Ergriffen hören wir zu. Wir Heutigen sind empfindlich gegen Abschilderung musikalischer Vorgänge in poetischer Weise; aber es trifft uns, wenn der Choral „Dein Lachen endet vor der Morgenröte“ aus Mozarts „Don Giovanni“ von Mörike so wiedergegeben wird: „Wie von entlegenen Sternenkreisen fallen die Töne aus silbernen Posaunen, eiskalt, Mark und Seele durchschneidend, herunter durch die blaue Nacht.“ Die Novelle endet in die todesbangen, todesgewissen Verse: „Ein Tännlein grünet wo.“
Alles Gestaltete ist heiter, und noch die betrübteste Melodie tröstet. Die Melancholie hat sowieso die Heiterkeit zur Schwester. Mörike kennt auch das Behagen Goetheschen Charakters. Die Poesie arbeitet der Flucht der Erscheinungen entgegen, hält mit liebender Hand Dinge, Situationen, Ereignisse, Wesen fest. Gegen die Überzeugung, »daß nichts bleibt und kein Moment des Genügens uns Stand halten kann«, befreundet er sich, in »sanfter Wollust seines Daseins«, mit den Menschen, Tieren, Pflanzen, der Landschaft seiner nächsten Umgebung und schreibt Idyllen wie die vom Bodensee und dem „Alten Turmhahn“.
Es ist oft, als befrage er die Dinge selbst, und sie antworten launig, vom Schweigen erlöst; auch die Menschen ergehen sich dabei in der energischen Lust des bloßen Daseins. „Erdenleben, laß dich hegen. Uns ist wohl in deinem Arm“, heißt es im Gedicht „Herbstfeier“; ein anderes feiert „das schöne Gemüt“, weil es »den heiteren Blick doch in die Welt noch behielt“. Nietzsche, dessen fanatischem Auge unsere Zivilisation fast nur Schäden aufwies, entgeht in seinen Betrachtungen über Kunst und Künstler nicht der Gefahr, beide zu sehr als sein Material anzusehen. Aber Kunst ist der Triumph und das Symbol des Lebens an sich und unterliegt nicht den Werturteilen selbst der radikalsten Philosophie. Zuweilen ahnt Nietzsche das, und wie er über Carl Maria von Weber schweigt, ist sein Angriff auf Mörike abwartender im Ton, als es sonst bei ihm zu sein pflegt. Er merkt es wohl, daß ihm eine solche harmlose Poetenseele ein Schnippchen schlagen kann. Wie wenig auch dem bitteren Philosophen ein Dichter des Idyllischen und Volksliedhaften, nach Goethe und als Zeitgenosse Schopenhauers, in sein Konzept paßt, Mörike ist mit Daseinsherrlichkeit da, und das Dasein kann man nicht bestreiten. Der wunderbare Mann hat es nicht nötig, sich zu rechtfertigen:
Am Waldessaume kann ich lange Nachmittage,
Dem Kuckuck horchend, in dem Grase liegen;
Er scheint das Tal gemächlich einzuwiegen
Im friedevollen Gleichklang seiner Klage.
Da ist mir wohl, und meine schlimmste Plage,
Den Fratzen der Gesellschaft mich zu fügen,
Hier wird sie mich doch endlich nicht bekriegen,
Wo ich auf eigne Weise mich behage.
Und wenn die feinen Leute nur erst dächten,
Wie schön Poeten ihre Zeit verschwenden,
Sie würden mich zuletzt noch gar beneiden.
(In: L. W.: G.S. Bd. 8. Autobiographische und Vermischte Schriften. Hrsg. v. Verena Kobel-Bänninger. Stuttgart 1999. Text S. 454 – 458. Anm. S. 770 – Dieser Essay ist auch im Internet erreichbar, in einem Schüler-Forum:
http://www.biblioforum.de/forum/read.php?35,10279

Ich füge an:
Erläuterungen der Herausgeberin Verena Kobel-Bänninger: (Ich gebe die Seiten- und Zeilenangaben nach der Abdruck an.)

Die Schallplattenreihe »Deutsche Dichtung. Eine klingende Anthologie« war nicht zuletzt für die Verwendung im Unterricht gedacht. Lutz Besch, der am Aufbau der Reihe maßgebend beteiligt war, erwartete jedoch, als er Lehmann um das Geleitwort für eine Mörike-Platte bat, keine didaktischen Hinweise. Diese wurden, von Paul Wanner verfaßt. der Platte gesondert beigegeben. Vielmehr wünschte er sich einen »besonders schönen und eindringlichen Text«, in dem ohne »journalistische Glätte« das »Betroffensein seines Autors durch die Dichtung Mörikes gespiegelt sein sollte.« (An Wilhelm Lehmann, 9.6.1961) Gesprochen bzw. gesungen wurden folgende Stücke: 1. Im Frühling 2. Nachts 3. Ein Stündlein wohl vor Tag 4. Das verlassene Mägdlein 5. Schönes Gemüt 6. Erinna an Sappho 7. Neue Liebe 8. Wo find ich Trost 9. Denk es, o Seele (ln der Vertonung von Hugo Wolf; Claus Ocker, Bariton - Walter Bohle, Klavier) 10. Idylle vom Bodensee - Dritter Gesang.
Die Auswahl stammt nicht von Lehmann, lag ihm aber vor und wurde bei der Abfassung des Textes berücksichtigt.

454,17 dem sechzigjährigen Ludwig Tieck: Brief vom 20. 2.1833.
454,27f. »Das will alles umfassen ... «:Brief von Sulpiz Boisseree an seinen Bruder, 4.5.1811. Siehe die Erläuterung zu 384,221
454,32ff. »dem Eindruck naher Wunderkräfte ... «:»An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang«, 2. Strophe.
455,2f. »Horch! auf der Erde ... «: »Nachts«,
455,3-5 »Wie süß der Nachtwind ... «: »Gesang zu zweien in der Nacht«.
455, 6 »der Erdenkräfte ... «: Ebd., von Lehmann öfters zitiert. Vgl. 227,21 und Lesart zu 171,251
455,7 »mit Liebesschauerlust«: »Mein Fluß«.
456, 91 »Der beste Trost. ..«: Brief vom 5.9. [1873} an Wilhelm Hemsen (1828-1885), in: Eduard Mörike, Unveröffentlichte Briefe. Hrsg. von Friedrich Seebaß. Zweite, umgearbeitete Auflage. Stuttgart: Cotta 1945, S.469.
456,17f. Wir müssen es in der ersten Fassung lesen: Die Umarbeitung, welche nach Mörikes Willen die frühere Fassung ersetzen sollte, blieb unvollendet. Vgl. Mörikes Brief an Wilhelm Hartlaub (10.3.1868), wo es heißt: »Sie [die Arbeit am Maler Nolten] muß aber getan sein, und falle sie aus, wie sie wolle, so weiß ich doch, daß ich mit dieser Umformung das alte Buch vertilge, d. h. den Wiederabdruck unmöglich mache.« Lehmann besaß eine Ausgabe der Erstfassung (Eduard Mörike, Maler Nolten. Ein Roman. In ursprünglicher Gestalt. Leipzig: Insel- Verlag [1913]. Vgl. 72,22-25.
456, 24 »verfallene Züge«: Vgl. »Meine Erinnerungen an Eduard Mörike«. Storm, Bd. 4, S. 480.
456,25 f. von »dem unglaublich verzärtelten Gang meines inneren Wesens«: Brief an Wilhelm Waiblinger [August 1824].

457,28 ein anderes: [Das schöne Gemüt].
Ich ergänze:
[Schoenes Gemuet. 1861]
Wieviel Herrliches auch die Natur, wie Grosses die edle
Kunst auch schaffe, was geht ueber das schoene Gemuet,
Welches die Tiefen des Lebens erkannt, viel Leides erfahren
Und den heiteren Blick doch in die Welt noch behielt? –
Ob dem dunkelen Quell, der geheimnisvoll in dem Abgrund
Schauert und rauscht, wie hold laechelt die Rose mich an!
458,12 »Am Waldessaume ... «: Das Sonett »Am Walde« wurde auf der Plattenhülle ohne Stropheneinteilung und ohne die letzten drei Zeilen abgedruckt. Der Anfang lautet bei Mörike: »Am Waldsaum kann ich ... «.


Mörike: Am Walde
*
[Es fehlt das letzte Terzett:]
Denn des Sonetts gedraengte Kraenze flechten
Sich wie von selber unter meinen Haenden,
Indes die Augen in der Ferne weiden.

Als komplettes Sonett sieht der Text so aus:

Eduard Mörike: Am Walde

Am Waldsaum kann ich lange Nachmittage,
Dem Kukuk horchend, in dem Grase liegen;
Er scheint das Tal gemaechlich einzuwiegen
Im friedevollen Gleichklang seiner Klage.
Da ist mir wohl, und meine schlimmste Plage,
Den Fratzen der Gesellschaft mich zu fuegen,
Hier wird sie mich doch endlich nicht bekriegen,
Wo ich auf eigne Weise mich behage.
Und wenn die feinen Leute nur erst daechten,
Wie schoen Poeten ihre Zeit verschwenden,
Sie wuerden mich zuletzt noch gar beneiden.
Denn des Sonetts gedraengte Kraenze flechten
Sich wie von selber unter meinen Haenden,
Indes die Augen in der Ferne weiden.



Erläuterungen:
Von Nietzsche ist die schmähliche Aburteilung zu Mörike bekannt: „ganz schwach und undichterisch“ bekannt.

Im Original so: 8 [2]
Gegen die lyrische Poesie bei den Deutschen. Da lese ich, daß gar Mörike der größte deutsche Lyriker sein soll! Ist es nicht ein Verbrechen dumm zu sein, wenn man hier also Goethe nicht als den größten empfindet oder empfinden will?— Aber was muß da nur in den Köpfen spuken, welcher Begriff von Lyrik! Ich sah mir darauf diesen Mörike wieder an und fand ihn, mit Ausnahme von 4—5 Sachen in der deutschen Volkslied-Manier, ganz schwach und undichterisch. Vor allem fehlt es ganz an Klarheit der Anschauung. Und was die Leute an ihm musikalisch nennen, ist auch nicht viel: und zeigt wie wenig die Leute von der Musik wissen: die mehr ist als so ein süßliches-weichliches Schwimm-schwimm und Kling-kling!— Gedanken nun hat er gar nicht: und ich halte nur noch Dichter aus, die unter anderm auch Gedanken haben, wie Pindar und Leopardi. Aber was kann auf die Dauer einem diese Knaben-Unbestimmtheit des Gefühls sein, wie sie im deutschen Volkslied sich ausdrückt! Da lobe ich mir selbst noch eher Horaz, ob der schon recht bestimmt ist und die Wörtchen und Gedänkchen wie Mosaik setzt. (Friedrich Wilhelm Nietzsche: Fragmente 1875-1879, Band 2. „Sommer 1875“. „Gegen die lyrische Poesie bei den Deutschen“)

* ~ *

DER ZITRONENVOGEL
(1949; ED; aus: W.L.: GW. Bd. 8, S. 326 - 328)

Der erste durchwinterte Zitronenfalter zickzackt über die schon lange blühenden, stäubenden Haselbüsche. In seiner Einsamkeit bannt er den Blick doppelt, dreifach. Das Schwefelgelb seiner graziös gebuchteten Flügel, die weiße Seidenmähne seines Rückens entzücken, als sähe man ihn zum erstenmal. So schönes Geschöpf braucht keine Stimme. Dem Urgrund, dem er entstieg, legten die Gnostiker das Schweigen als Gattin bei. Mag den Zarten wiedereinfallende Kälte vernichten, er leistet als Vergängliches den wundervollen Dienst des Gleichnisses. Lautlos deutet er auf die große Einheit. Stoff und Geist hat noch kein Wort gespalten. Welche Weisheit des Fleisches, welche Geistigkeit der Materie! Vertieft sein Anblick das Schweigen um die Phänomene - wenn es sich löst, spricht es mit Mythen, mit Symbolen als allein ihnen gemäßem Ausdruck. Er läßt Jules Renard vom Körper als dem klugen Hunde der blinden Seele und die alten Chemiker vom Archäus sprechen als einer jedem Bestandteil der körperlichen Welt innewohnenden plastischen Natur, deren Wesen man Denken nennen kann, wenn man nur darunter kein Bewußtes versteht. Und die Gnostiker glaubten, daß die in der (ganz platonisch gefaßten) Materie gehaltene und darin waltende Weisheit den Demiurgos, den Gott des alten Bundes,ihm selber unbewußt dahin bringe, ihren und aller Dinge Rückgang in die Fülle des Seins zu vermitteln. Wir geraten mit dem Falter in die Vorwelt, da man noch wußte, wieder Materie zumute ist, denn das Ich ist, mit Gottfried Benn zu sprechen, eine späte Stimmung der Natur. Wir sind in der Zeit, da die Wissenschaft noch nicht aufgehört hatte zu verehren. Noch wird die Schlacht nicht geschlagen, die toben wird zwischen denen, die das Allgemeine und denen die das Einzelne für das Primäre halten. In seinem Fluge preist der Falter die ungeschiedene Einhelligkeit. Das Zergliedern,wie es die neue Wissenschaft emsig trieb, heilt zum Ganzen. Goethe beklagt die Zerstückelung der zeitgenössischen Naturwissenschaft. »Indem ich Linnés scharfes, geistreiches Absondern, seine treffenden, zweckmäßigen, oft aber willkürlichen Gesetze in mich aufzunehmen versuchte, ging in meinem Innern ein Zwiespalt vor: das,was er mit Gewalt auseinander zu halten suchte, mußte, nach dem innersten Bedürfnis meines Wesens, zur Vereinigung anstreben.« Er fragte,warum die Naturforscher nicht ein so wichtiges Phänomen,wie es die Metamorphose der Insekten darstellt, auf allen Straßen predigen. Wie versagen auch noch heute die meisten Naturkundebücher! Sie geraten in ein wässeriges Salbadern, in eine nichtige Vermenschlichung, oder sie ergehen sich in unfruchtbaren Synthesen oder werden als Aufzählung harter, abrupter Details, Nekro- statt Biologie. Wer sah schärfer, redlicher als Goethe? Wer hütete sich mehr den Gegenständen die Grille, die einem durchs Gehirn läuft, aufzuheften? Er sah im Realen das Ideelle. Der wahren Naturkunde dient als Motto, was Tschuangtse sagt:Wenn man die einzelnen Glieder eines Pferdes aneinanderreihen wollte so würde man noch kein Pferd dadurch bekommen: »Das Pferd muß zuerst dasein und seinen einzelnen Teilen Zusammenhang geben, dann erst haben wir das vor uns, das wir Pferd nennen.« Die Tatsache, daß einer Eidechse der verlorene Schwanz nachwächst, rührt aus der Einheit des Tieres. Es ist die Idee der Eidechse, die das Organ wieder ersetzt. Gegenüber so lebhaft-zartem Wesen,so glücklicher Mobilität werden abstrakte Fragen gegenstandslos: Ob etwa die Sinnlichkeit mehr der Feind als der Diener der wahren Erkenntnis oder ob die Empfindung mit Fichte und Leibniz ein unreines Denken oder mit Condillac das Denken ein verfeinertes Empfinden sei. In einem zeugenden Augenblick fallen Empfindung und Denken zusammen, bilden Außen und Innen sich in eins.(»So im Anschauen wie im Begriff« glückte es Goethe 1787 in Sizilien, die Metamorphose der Pflanzen zu gewinnen.) Vielleicht hat Leibniz recht mit seiner Behauptung, wer nur deutliche Gedanken hegte wie Gott, der hätte keine Sinnesempfindungen. Kaum ins Dasein gerückt aber, unterliegt der Zitronenfalter dem Gebot der Endlichkeit. Mit unbeirrbarer Sicherheit eilt er dem auf ihn wartenden Weibchen zu und vollzieht die Verbindung. Als irdisches Wesen trifft ihn wie den Menschen jene kleine Zäsur im All, der Zwiespalt der Geschlechter. Es ist, als ob das derbe All seine Zartheit nicht entbehren könne, als ob die Idee seine Art zu perpetuieren beflissen sei, damit uns der Falter als leiser Wink ihrer Götternähe, als Gruß des reinen Seins, nicht verlorengeht.
(ED in Welt am Sonntag. Nr. 14 v. 3.4.1949; abgedruckt nach Bd. 8, S. 326 - 328; Anm. S. 729f.)
Erläuterungen nach S. 729f.:

Erdmann, Johann Eduard (1805 - 1892): Grundriß der Geschichte der Philosophie. Bd. 1,2; 2. Aufl. Berlin: Wilhelm Hertz 1870. Hier: § 123,,2; in Bd. 1. S. 195

Anm.:
Condillac, M. L. Abbé (s. S. 727: Erläuterung zu S. 322,27)
a] Die „Story“ vom ins Freie gehobene, geschobenen Klavier ist mir aus der Mörike-Biografik nicht bekannt; glaubhaft als bezeichnende Extraordinalität ist sie allerdings schon, obschon arg übertreibend.
1] Das Zitat findet sich als authentische, intime Aussage Mörikes in seinem Brief an den Jungfreund Wilhelm Waiblinger, den er derozeiten noch mit „Sie“ anredete, aus August 1824,sich selbst psychologisch zu diagnostizieren: : „unglaublich verzärtelten Gang meines inneren Wesens“.
Genauer Wortlaut des allbekannten Zitats (aus dem Brief an Wilhelm Waiblinger v. 13. oder 14. August 1824):
Als Neunzehnjähriger diagnostizierte Mörike, nicht zufällig in einem Brief an Waiblinger, seine eigene Lebensschwäche:
„Es ist überhaupt in meinem wirklichen Zustand ein besonders peinlicher Zug, dass alles, auch das Kleinste, Unbedeutendste, was von außen an mich kommt - irgendeine mir nur einigermaßen fremde Person, wenn sie sich auch nur flüchtig nähert, mich in das entsetzlichste bangste Unbehagen versetzt und ängstigt, weswegen ich entweder allein oder unter den Meinigen bleibe, wo mich nichts verletzt, mich nichts aus dem unglaublich verzärtelten Gang meines innern Wesens heraus stört u. zwingt.“ (EM: WuB. 10, S. 57 – 61; hier S. 59;6f.
– Dieser August-Brief an Waiblinger enthält noch andere poetische Hinweise: “(...) ob Du nicht in der leztern Zeit einen Traum gehabt habt, wo sich alle schönen Gestalten in Feuer und Qualm aufgelößt u. Dich zum Theil verlassen haben, zum Theil neben Dir in den Schutt versunken, vergangen seyen (...)“(S. 58) – die Gestalt und das Schicksal des Schemens vom Feuerreiter, bezogen auf den Sprecher. M. Selbst hat ja den Zeitpunkt der Entstehung der Ballade auf den Sommer 1824 bestimmt. Ich glaube, M. beschreibt hier im Brief verstörende Gefühlsmomente ob seltsamer Gestalten.