Sonntag, 10. März 2024

Parabeln von G o t t & den Menschen-Bildern/Bedürftigkeiten

 

 

< Halbgesichtig, ein Freund der Gott-Los-Igkeiten >


Literarisches Stichwort Gott #?

(unveröffentlicht!)


Unsere Gottesbilder


Parabeln von Gott und seinen 'Bildern' unter/bei den Menschen


In dieser kleinen Sammlung sind keine biblischen Gleichnisse vorgestellt; sondern literarische Parabeln, die in ihrer grundlegenden, symbolischen Komplexität nicht eindimensional, nicht eindeutig interpretierbar sind.


Es gibt keinen Gott, es gibt nicht den einen Gott; es gab und gibt nur Gottesbilder: historische und aktuelle, rote und weiße oder schwarze, allerliebst geschönte und verdunkelte, gewalttätige und friedvolle, klerikal-zwanghafte und liberale, zölibatär-selektive und liebend-gewährende.

Die Erfahrungen von 4000 Jahren Patriarchat in unsere abendländischen, seit 2000 Jahren christlichen Kultur, sowie der außerchristlichen, weitaus friedlicheren, nicht expansionisti-schen Religionen in Nordamerika (Indianerreligionen) oder in Asien (Buddhismus, Hinduimus) und unser gegenwärtigen Übergangsphase mit vielen disparaten Gottesbildern (vom weiblichen Gott z.B.) beweisen bei unvoreingenoner, historisch-kritischer, literarischer und sprachpsychologischer Betrachtung, daß es nicht nur nicht den, ja sogar nicht nur den einen Gott, sondern "nur" Gottesbilder gibt, individuelle, multiple, polyglotte - eingebrannt in die psychischen Instanzen (Es, Ich, Überich) des gesellschaftlichen Individuums als eines sprach-bewußten, selbst verantwortlichen Mitglieds der Menschheit und Angehöriger der jeweiligen als göttlich imaginierten oder gottfernen Kultur.


Aus dem Gott (maskulinum; simplicitas majestatis) kann mensch, also man und frau, mit einiger Phantasie und gehöriger Berechtigung einen weiblichen (weißen oder schwarzen oder homophilen oder sonst wie funktional-ästhetischen) auf jeden Einzelfall hin utilitaristischen Gott versprachlichen. Was unveränderlich scheint, ist das Fundament solchen viel, gar alles versprechenden, macht- und lustvollen Imaginierens: des Göttlichen (neutrum als kein Weibliches und kein Männliches) als des kleinsten gemeinsamen Nenners der Rasse homo sapiens sapiens.


Die schönsten, inhaltlich und sprachlich überzeugendsten Parabeln der Literatur aus Ost und West, Nord und Süd künden von dieser psychischen Sehnsucht, dieser kognitiven Gewißheit als eines sozialen Auftrages. Personifizierungen und Attribuierungen nach geschlechts-, rassen-, institutions-spezifischen oder personalen Bedürfnissen sind von der nächsten Generation immer wieder in Frage gestellt worden; häufig mit den geistlosen-gewalttätigen Mitteln der sich im Göttlichen legitimierenden Vorgänger, der Kriegs-, Kreuzungs-, Inquisitions-, Kolonialismus- oder menschenrechtsfeindlichen Strategen.


Wir als Beter und Leser erkennen die parabolische Grundstruktur vieler Prosatexte; wir sie interpretieren den Aufbau, die Personen, die Funktionen der Handlungen, die zentralen Möglichkeiten der tradierten, menschenalten Symbole, die wir existenziell, historisch, ökologisch und religiös deuten können, ohne sie für eine Machtfrage zu deteminieren.


Lebensaussagen und Beschreibungen des Schriftstellers als das gesellschaftliche Engagement eines Autors nach Borcherts Selbstverständnis. In der jungen deutschen Literatur nach 45 war die Verantwortung eines Künstlers entscheidendes Kriterium für einen sprachlichen und moralischen Neuanfang der neuen deutschen Kultur; die Sch. können diese Intention einschätzen. Die Sch.*innen können Beziehungen zu anderen poetologischen Parabeln erkennen und im Unterschied zu anderen Dichtern Lessing, Brecht, Kafka) verschiedene Dichtungsauffassungen benennen und Erörterungen in der Spannbreite von l’art pour l’art bis zu kritisch engagierter Literatur. Borchert akzentuiert im Text sehr stark die kritisch bewußten und gesellschaftlich vernehmbaren Leistungen des Dichters, insbesondere die Verpflichtung in der präzis realistischen Benennung der Umstände eines Hauses (als Bild für die Gesellschaft) und in den dialogischen, vorbildlichen Aufgaben der Person als Ausübung seiner beschreibend­erklärenden und warnenden Funktion gegenüber seinen Mitmenschen, die nicht über seine Perspektive und Kunstmöglichkeit (präzise Nomen, dynamische Verben). Der Dichter ist der psychologischen politischen Aufklärung verpflichteter, poetologisch reflektierender Realist in einer politischen Grenzsituation des Neuanfangs nach 1945.



Text 1:


Gotthold Ephraim Lessing

Suche nach der Wahrheit


Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung des Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet.

Der Besitz macht ruhig, träge, stolz.

Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: "Wähle!" Ich fiel ihm mit Demut in seine Linke und sagte: "Vater, gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!" (1778)

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Erläuterungen:

Lessing (1729 - 1781), der deutsche literarische Stammvater der geistesgeschichtlichen Aufklärung, formuliert seine Intention als eine glückliche Versöhnung zwischen dem allen Menschen dieser Erde eingeborenen Gottesgefühl, der sprachlich-kritischen Vernunft und der historischen Ethik einer umfassenden Toleranz. Ich halte die kleine Parabel nicht nur für geistreich, sondern auch humorvoll, gerade auch in seiner impliziten Kritik der Wahrheitsvertreter.

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Wolfgang Borchert

GOTTES AUGE


Gottes Auge lag rund und rotgerändert mitten in einem weißen Suppenteller. Der Suppenteller stand auf unserem Küchentisch. Blutfleckige Eingeweide und das milchbleiche Skelett eines größe­ren Fisches ließen den Küchentisch aussehen wie ein Schlachtfeld. Das Auge in dem weißen Teller gehörte einem Kabeljau. Der lag in großen weißfleischigen Stücken in unserem Topf und ließ sich kochen. Das Auge war ganz allein. Es war Gottes Auge.

Du mußt nicht immer mit der Gabel das Auge auf dem Teller hin- und herrutschen lassen, sagte meine Mutter.

Ich ließ das glatte runde Auge durch die Kurven des Suppentellers sausen und fragte: Warum denn nicht? Er merkt es doch nicht mehr. Er kocht doch.

Man spielt nicht mit einem Auge. Das Auge hat der liebe Gott genau so gemacht wie deins, sagte meine Mutter.

Während ich die sausende Rundfahrt des Kabeljauauges plötzlich abbrach, fragte ich: Das soll vom lieben Gott sein?

Natürlich, antwortete meine Mutter, das Auge gehört dem lieben Gott.

Nicht dem Kabeljau, bohrte ich weiter.

Dem auch. Aber in der Hauptsache dem lieben Gott.

Als ich von dem Teller aufsah, merkte ich, daß meine Mutter weinte. An diesem Tag, wo es bei uns Kabeljau gab, war mein Großvater gestorben. Meine Mutter weinte und ging hinaus. Da zog ich den Teller mit dem einsamen Auge mittendrin, mit dem rotgeränderten Auge, das Gott gehören sollte, ganz dicht an mich heran. Ganz dicht brachte ich meinen Mund über den Teller.

Du bist das Auge vom lieben Gott? flüsterte ich, dann kannst du wohl auch sagen, warum Großvater heute mit einmal tot ist. Sag das, du!

Das Auge sagte es nicht.

Das weißt du nicht mal, wisperte ich triumphierend, und du willst das Auge vom lieben Gott sein, und weißt nicht mal, war­um Großvater tot ist. Kommt er denn auch nicht wieder, Groß­vater, fragte ich dicht über dem Teller, weißt du denn, ob er noch mal wiederkommt, du, sag das doch. Du mußt das doch wissen. Kommt er nun nie wieder?

Das Auge sagte es nicht.

Ganz dicht hielt ich meinen Mund an das Auge und fragte noch einmal eindringlich und ernst: Du, sehen wir Großvater denn nicht wieder, du? Sag das doch. Sehen wir ihn noch mal wieder? Wir können ihn doch noch mal irgendwo treffen, nicht? Du, sag doch, treffen wir ihn wieder? Du, sag das, du bist doch vom lieben Gott, sag das 1

Das Auge sagte es nicht.

Da stieß ich den Teller wütend von mir weg. Das Auge glitschte hoch über den Rand auf den Fußboden. Da blieb es liegen. Ge­spannt sah ich hin. Das Auge lag auf der Erde. Und es war Gottes Auge. Gottes Auge lag auf der Erde. Aber es sagte nichts. Ich sah noch einmal hin. Nein, Nichts. ich stand auf. ich stand lang­sam auf, um Gott Zeit zu lassen. Ganz langsam ging ich zur Küchentür. Ich faßte nach dem Türgriff. ich drückte ihn langsam herunter. Mit dem Rücken zu dem Auge hin wartete ich 50 noch einen langen langen Augenblick an der Küchentür. Es kam keine Antwort. Gott sagte nichts. Da ging ich, ohne mich nach dem Auge umzusehen, laut aus der Tür.


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HEINRICH BÖLL:


Ich denke, wir sollten Gott, auch das Wort Gott, eine Weile in Ruhe lassen; Gott hat viel und viele »Worte gemacht«, nehmen wir also erst einmal seine Wörtlichkeit; es war eine grausame Verstümmelung Gottes, seine dunkle Wörtlichkeit mundgerecht zu machen, zu fix und fertigen Antworten zurechtzu­schneidern, mit denen alle Probleme gelöst werden konnten; auf diese Weise ist er zu einem »Deus ex machina« erniedrigt worden, der hinter der Kulisse des Todes dann schon »alles recht« machen wird; ein Katechismus Gott, mit dem die Menschen abgefertigt wurden wie an einem Krankenkassenschalter. Daß er lebendig und gegenwärtig sei, schließt Fertigkeit aus; nichts, was lebt, ist fertig ...

Gott fehlt etwas, solange den Menschen etwas fehlt: das Menschgewordene, das man vielleicht an Stelle des Wortes »christlich« einsetzen sollte; vielleicht sollten wir mehr an die Ergänzung Gottes als an ihn selbst denken. Offenbar hatte er mit der Erde etwas vor, das bisher mißlungen ist -. Logos hineinzubringen, das ist einer der Namen Gottes. Es gibt da noch andere Synonyma. Liebe, Gerechtigkeit, Worte, die ebenso zerstückelt als mundgerechte Abfertigungs-Bissen vorgekaut und hingestreut worden sind zur Abfütterung der erwartungsvoll geöffneten Münder unzähliger Ge­schlechter. Was man die »Unruhe der Jugend« nennt, ist die Erwartung einer neuen Menschheit, die unab­hängig ist von dem biologischen Begriff Jugend. Was lebt, ist jung, und was lebt, ist in Bewegung, ist in ständiger Unruhe.

...das Wort Gottes ist ein unerforschter Him­melskörper, der, wenn wir ihn entdecken würden, sich als sehr steinig erweisen könnte, weil er voll abgelenk­ter menschlicher Hoffnungen, mißbräuchlich verwen­deter Abfertigungen läge, voller Flüche, die alle zu Steinen geworden sind, weil die Menschen nicht das geworden sind, was der Menschgewordene war: ein Mensch. (Böll? Ja, der Heinrich Böll! Aus dem Jahr 1968/69)


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BERTOLT BRECHT:

Die Frage, ob es einen Gott gibt


Einer fragte Herrn K., ob es einen Gott gäbe. Herr K. sagte. »Ich rate dir, nachzudenken, ob dein Verhalten je nach der Antwort auf diese Frage sich ändern würde. Würde es sich nicht ändern, dann kön­nen wir die Frage fallenlassen. Würde es sich ändern, dann kann ich dir wenigstens noch so weit behilflich sein, daß ich dir sage, du hast dich schon entschieden: Du brauchst einen Gott.«


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MAX FRISCH


Im Grunde, ehrlich genommen, hoffe ich doch in allem auf Verwandlung, auf Flucht. Ich bin ganz einfach nicht bereit, ein nichtiger Mensch zu sein. Ich hoffe eigentlich nur, daß Gott (wenn ich ihm entge­genkomme) mich zu einer anderen, nämlich zu einer reicheren, tieferen, wertvolleren, bedeutenderen Per­sönlichkeit machen werde - und genau das ist es ver­mutlich, was Gott hindert, mir gegenüber wirklich eine Existenz anzutreten, das heißt erfahrbar zu wer­den. Meine conditio sine qua non: daß er mich, sein Geschöpf, widerrufe . . .

Wenn ich beten könnte, so würde ich darum beten müssen, daß ich aller Hoffnung, mir zu entgehen, be­raubt werde. Gelegentliche Versuche, zu beten, scheitern aber gerade daran, daß ich hoffe, durch Beten irgendwie verwandelt zu werden, meiner Ohnmacht zu entgehen, und sowie ich erfahre, daß dies nicht der Fall ist, verliere ich die Hoffnung, auf dem Weg zu sein. Das heißt, unter Weg verstehe ich letztlich noch immer nur die Hoffnung, mir zu entgehen. Diese Hoffnung ist mein Gefängnis. Ich weiß es, doch mein Wissen sprengt es nicht, es zeigt mir bloß mein Ge­fängnis, meine Ohnmacht, meine Nichtigkeit.


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MARTIN BUBER

Die fünfzigste Pf'orte


Ein Schüler Rabbi Baruchs hatte, ohne seinem Leh­rer davon zu sagen, der Wesenheit Gottes nach­geforscht und war im Gedanken immer weiter vorge­drungen, bis er in ein Wirrsal von Zweifeln geriet und das bisher Gewisseste ihm unsicher wurde. Als Rabbi Baruch merkte, daß der Jüngling nicht mehr wie ge­wohnt zu ihm kam, fuhr er nach dessen Stadt, trat unversehens in seine Stube und sprach ihn an: »Ich weiß, was in deinem Herzen verborgen ist. Du bist durch die fünfzig Pforten der Vernunft gegangen. Man beginnt mit einer Frage, man grübelt, ergrübelt ihr die Antwort, die erste Pforte öffnet sich: in eine neue Frage. Und wieder ergründest du sie, findest ihre Lö­sung, stößest die zweite Pforte auf - und schaust in eine neue Frage. So oft und fort, so tiefer und tiefer hinein. Bis du die fünfzigste Pforte aufgesprengt hast. Da starrst du die Frage an, die kein Mensch erreicht; denn kennte sie einer, dann gäbe es nicht mehr die Wahl. Vermissest du dich aber, weiter vorzudringen, stürzest du in den Abgrund.« »So müßte ich also den Weg zurück an den Anfang?« rief der Schüler. »Nicht zurück kehrst du«, sprach Rabbi Baruch, »wenn du umkehrst; jenseits der letzten Pforte stehst du dann, und stehst im Glauben.«


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Lessing:

Der Besitzer des Bogens


Ein Mann hatte einen trefflichen Bogen voll Ebenholz, mit dem er sehr weit und sehr sicher schoß, und den er ungemein wert hielt. Einst aber, als er ihn aufmerksam betrachtete, sprach er: Ein wenig zu plump bist du doch! Alle deine Zierde ist die Glätter. Schade!“ Doch dem ist abzuhelfen, fiel ihm ein. Ich will hingehen und den besten Künstler Bilder in den Bogen schnitzen lassen. Er ging hin, und der Künstler schnitzte eine ganze Jagd auf den Bogen; und was hätte sich besser auf einen Bogen geschickt, als eine Jagd?

Der Mann war voller Freuden. „Du verdienst diese Zieraten, mein lieber Bogen!“ - Indem will er ihn versuchen; er spannt, und der Bogen zerbricht.


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Bertolt Brecht

Form und Stoff


Herr K. betrachtete ein Gemälde, das einigen Gegenständen eine sehr eigenwillige Form verlieh. Er sagte: »Einigen Künstlern geht es, wenn sie die Welt betrachten, wie vielen Philosophen. Bei der Bemühung um die Form geht der Stoff verloren. Ich arbeitete einmal bei einem Gärtner. Er händigte mir eine Gartenschere aus und hieß mich einen Lorbeerbaum beschneiden. Der Baum stand in einem Topf und wurde zu ausgeliehen. Dazu mußte er die Form einer Kugel haben. Ich begann sogleich mit dem Abschneiden der wilden Triebe, aber wie sehr ich mich auch mühte, die Kugelform zu erreichen, es wollte mir lange nicht gelingen. Einmal hatte ich auf der einen, einmal auf der anderen Seite zu viel weggestutzt. Als es endlich eine Kugel geworden war, war die Kugel sehr klein. Der Gärtner sagte enttäuscht: „Gut, das ist die Kugel, aber wo ist der Lorbeer?“


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Wolfgang Borchert (1921-1947):

DER SCHRIFTSTELLER


Der Schriftsteller muß dem Haus, an dem alle bauen, den Na­men geben. Auch den verschiedenen Räumen. Er muß das Krankenzimmer «Das traurige Zimmer» nennen, die Dachkammer «Das windige» und den Keller «Das düstere». Er darf den Keller nicht «Das schöne Zimmer» nennen.

Wenn man ihm keinen Bleistift gibt, muß er verzweifeln vor Qual. Er muß versuchen, mit dem Löffelstiel an die Wand zu rit­zen. Wie im Gefängnis: Dies ist ein häßliches Loch. Wenn er das nicht tut in seiner Not, ist er nicht echt. Man sollte ihn zu den Straßenkehrern schicken.

Wenn man seine Briefe in anderen Häusern liest, muß man wis­sen. Aha. Ja. So also sind sie in jenem Haus. Es ist egal, ob er groß oder klein schreibt. Aber er muß leserlich schreiben. Er darf in dem Haus die Dachkammer bewohnen. Dort hat man die toll­sten Aussichten. Toll, das ist schön und grausig. Es ist einsam da oben. Und es ist da am kältesten und am heißesten.

Wenn der Steinhauer Wilhelm Schröder den Schriftsteller in der Dachkammer besucht, kann ihm womöglich schwindelig werden.

Darauf darf der Schriftsteller keine Rücksicht nehmen. Herr Schröder muß sich an die Höhe gewöhnen. Sie wird ihm gut tun.

Nachts darf der Schriftsteller die Sterne begucken. Aber wehe ihm, wenn er nicht fühlt, daß sein Haus in Gefahr ist. Dann muß er posaunen, bis ihm die Lungen platzen!

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Konzept

für die Abiturplanung:


Analyse eines fiktionalen Textes

Wolfgang Borchert: Der Schriftsteller

(Aus: W.B.: Das Gesamtwerk. Reinbek: Rowohlt 1989. S. 285


Analysieren Sie den Text, unter besonderer Berücksichtigung der Textsortel


Voraussetzungen:


Die Sch. beherrschen die Analyse einer Parabel; sie haben den Autor und sein literarisches Selbstverständnis als wichtigen Repräsentanten (Borchert, Böll, Bender) der jungen Literatur nach 45 in Kurzgeschichten kennengelernt (12/1). Weiterhin Bezug zu Borcherts poetologischem und gesellschaftskritischem „Manifest“ (13???) (Blickfeld Deutsch S. 373)


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Gotthold Ephraim Lessing (1729 - 1781):

Die Parabel


Ein weiser, tätiger König eines großen, großen Reiches hatte in seiner Hauptstadt einen Palast von ganz unermeßlichem Umfange, von ganz besonderer Architektur.

Unermeßlich war der Umfang, weil er in selbem alle um sich versammelt hatte, die er als Gehilfen oder Werkzeuge seiner Regierung brauchte.

Sonderbar war die Architektur; denn sie stritt so ziemlich mit allen angenommenen Regeln; aber sie gefiel doch und entsprach doch.

Sie gefiel vornehmlich durch die Bewunderung, welche Ein­falt und Größe erregen, wenn sie Reichtum und Schmuck mehr zu verachten als zu entbehren scheinen.

Sie entsprach durch Dauer und Bequemlichkeit. Der ganze Palast stand nach vielen, vielen Jahren noch in eben der Reinlichkeit und Vollständigkeit da, mit welcher die Bau­meister die letzte Hand angelegt hatten; von außen ein wenig unverständlich, von innen überall Licht und Zusammenhang.

Was Kenner von Architektur sein wollte, ward besonders durch die Außenseiten beleidiget, welche mit wenig hin und her zerstreuten, großen und kleinen, runden und viereckten Fenstern unterbrochen waren, dafür aber desto mehr Türen und Tore von mancherlei Form und Größe hatten.

Man begriff nicht, wie durch so wenige Fenster in so viele Gemächer genugsames Licht kommen könne. Denn daß die vornehmsten derselben ihr Licht von oben empfingen, wollte den wenigsten zu Sinne.

Man begriff nicht, wozu so viele und vielerlei Eingänge nötig wären, da ein großes Portal auf jeder Seite ja wohl schicklicher wäre und eben die Dienste tun würde. Denn daß durch die mehrern kleinen Eingänge ein jeder, der in den Palast gerufen würde, auf dem kürzesten und unfehlbar­sten Wege gerade dahin gelangen solle, wo man seiner bedürfe, wollte den wenigsten zu Sinne.

Und so entstand unter den vermeinten Kennern mancherlei Streit, den gemeiniglich diejenigen am hitzigsten führten, die von dem Innern des Palastes viel zu sehen die wenigste Gelegenheit gehabt hatten.

Auch war da etwas, wovon man bei dem ersten Anblicke geglaubt hätte, daß es den Streit notwendig sehr leicht und kurz machen müsse, was ihn aber gerade am meisten ver­wickelte, was ihm gerade zur hartnäckigsten Fortsetzung die reichste Nahrung verschaffte. Man glaubte nämlich verschiedne alte Grundrisse zu haben, die sich von den ersten Baumeistern des Palastes herschreiben sollten, und diese Grundrisse fanden sich mit Worten und Zeichen bemerkt, deren Sprache und Charakteristik so gut als verloren war.

Ein jeder erklärte sich daher diese Worte und Zeichen nach eignem Gefallen. Ein jeder setzte sich daher aus diesen alten Grundrissen einen beliebigen neuen zusammen, für welchen neuen nicht selten dieser und jener sich so hinreißen ließ, daß er nicht allein selbst darauf schwor, sondern auch andere darauf zu schwören bald beredte, bald zwang.

Nur wenige sagten: »Was gehen uns eure Grundrisse an? Dieser oder ein andrer, sie sind uns alle gleich. Genug, daß wir jeden Augenblick erfahren, daß die gütigste Weisheit den ganzen Palast erfüllet, und daß sich aus ihm nichts als Schönheit und Ordnung und Wohlstand auf das ganze Land verbreitet. « '

Sie kamen oft schlecht an, diese wenigen! Denn wenn sie lachenden Muts manchmal einen von den besondern Grund­rissen ein wenig näher beleuchteten, so wurden sie von denen, welche auf diesen Grundriß geschworen hatten, für Mordbrenner des Palastes selbst ausgeschrien.

Aber sie kehrten sich daran nicht und wurden gerade dadurch am geschicktesten, denienigen zugesellet zu wer­den, die innerhalb des Palastes arbeiteten und weder Zeit noch Lust hatten, sich in Streitigkeiten zu mengen, die für sie keine waren.

Einstmals, als der Streit über die Grundrisse nicht sowohl beigelegt als eingeschlummert war, - einstmals um Mitternacht erscholl plötzlich die Stimme der Wächter: »Feuer! Feuer in dem Palaste!“

Und was geschah? Da fuhr jeder von seinem Lager auf, und jeder, als wäre das Feuer nicht in dem Palaste, sondern in seinem eignen Hause, lief nach dem Kostbarsten, was er zu haben glaubte   nach seinem Grundrisse. »Laßt uns den nur retten!« dachte jeder; »der Palast kann dort nicht eigentlicher verbrennen, als er hier stehet!«

Und so lief ein jeder mit seinem Grundrisse auf die Straße, wo, anstatt dem Palaste zu Hilfe zu eilen, einer dem andern es vorher in seinem Grundrisse zeigen wollte, wo der Palast vermutlich brenne. »Sieh, Nachbar! hier brennt er! Hier ist dem Feuer am besten beizukommen.« - »Oder hier vielmehr, Nachbar, hier! « - »Wo denkt ihr beide hin? Er brennt hier!« - »Was hätt' es für Not, wenn er da brennte? Aber er brennt gewiß hier!« - »Lösch' ihn hier, wer da will. Ich lösch' ihn hier nicht.« - »Und ich hier nicht!« - »Und ich hier nicht!«

Über diese geschäftigen Zänker hätte er denn auch wirklich abbrennen können, der Palast, wenn er gebrannt hätte. - Aber die erschrocknen Wächter hatten ein Nordlicht für eine Feuersbrunst gehalten.


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Franz Kafka (1883 - 1924):

Eine kaiserliche Botschaft


Der Kaiser - so heißt es - hat Dir, dem Einzelnen, dem jäm­merlichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten, gerade Dir hat der Kaiser von seinem Sterbebett aus eine Botschaft gesendet. Den Boten hat er beim Bett niederknien lassen und ihm die Botschaft ins Ohr geflüstert; so sehr war ihm an ihr gelegen, daß er sie sich noch ins Ohr wiedersagen ließ. Durch Kopfnicken hat er die Richtigkeit des Gesagten bestätigt. Und vor er ganzen Zuschauerschaft seines Todes - alle hindernden Wände werden niedergebrochen und auf den weit und hoch sich schwingenden Freitreppen stehen im Ring die Großen des Reichs vor allen diesen hat er den Boten abgefertigt. Der Bote hat sich gleich auf den Weg gemacht; ein kräftiger, ein unermüdlicher Mann; einmal diesen, einmal den anderen Arm vorstreckend, schafft er sich Bahn durch die Menge; findet er Widerstand, zeigt er auf die Brust, wo das Zeichen der Sonne ist; er kommt auch leicht vorwärts, wie kein anderer. Aber die Menge ist so groß; ihre Wohnstätten nehmen kein Ende. Öffnete sich freies Feld, wie würde er fliegen und bald wohl hörtest Du das herrliche Schlagen seiner Fäuste an Deiner Tür. Aber statt dessen, wie nutzlos müht er sich ab; immer noch zwängt er sich durch die Gemächer des innersten Palastes; nie­mals wird er sie überwinden; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Treppen hinab müßte er sich kämpfen; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Höfe wären zu durchmessen; und nach den Höfen der zweite umschließen­de Palast; und wieder, Treppen und Höfe; und wieder ein Palast; und so weiter durch Jahrtausende; und stürzte er end­lich aus dem äußersten Tor aber niemals, niemals kann es geschehen liegt erst die Residenzstadt vor ihm, die Mitte der Welt, hochgeschüttet voll ihres Bodensatzes. Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten. Du aber sitzt an Deinem Fenster und erträumst sie Dir, wenn der Abend kommt.



Heinrich Heine:

(Ohne Titel)


So verwerflich aber jede Diskussion über das Dasein Got­tes ist, desto preislicher ist das Nachdenken über die Natur Gottes. Dieses Nachdenken ist ein wahrhafter Gottesdienst, unser Gemüt wird dadurch abgezogen vom Vergänglichen und Endlichen, und gelangt zum Bewußtsein der Urgüte und der ewigen Harmonie. Dieses Bewußtsein durchschau­ert den Gefühlsmenschen im Gebet oder bei der Betrach­tung kirchlicher Symbole; der Denker findet diese heilige Stimmung in der Ausübung jener erhabenen Geisteskraft, welche wir Vernunft nennen, und deren höchste Aufgabe es ist die Natur Gottes zu erforschen. Ganz besonders religiöse Menschen beschäftigen sich mit dieser Aufgabe von Kind auf, geheimnisvoll sind sie davon schon bedrängt, durch die erste Regung der Vernunft. Der Verfasser dieser Blätter ist sich einer solchen frühen, ursprünglichen Religiosität aufs Freudigste bewußt, und sie hat ihn nie verlassen. Gott war immer der Anfang und das Ende aller meiner Gedanken. Wenn ich jetzt frage: was ist Gott? was ist seine Natur? so frug ich schon als kleines Kind: wie ist Gott? wie sieht er aus? Und damals konnte ich ganze Tage in den Himmel hin­aufsehen, und war des Abends sehr betrübt, daß ich niemals das allerheiligste Angesicht Gottes, sondern immer nur graue, blöde Wolkenfratzen erblickt hatte. Ganz konfus machten mich die Mitteilungen aus der Astronomie, womit man damals, in der Aufklärungsperiode, sogar die kleinsten Kinder nicht verschonte, und ich konnte mich nicht genug wundern, daß alle diese tausendmillionen Sterne ebenso gro­ße, schöne Erdkugeln seien wie die unsrige, und über all die­ses leuchtende Weltengewimmel ein einziger Gott waltete.

Einst im Traume, erinnere ich mich, sah ich Gott, ganz oben in der weitesten Ferne. Er schaute vergnüglich zu einem kleinen Himmelsfenster hinaus, ein frommes Greisengesicht mit einem kleinen Judenbärtchen, und er streute eine Menge Saatkörner herab, die, während sie vom Himmel niederfie­len, im unendlichen Raume gleichsam aufgingen, eine unge­heure Ausdehnung gewannen, bis sie lauter strahlende, blü­hende, bevölkerte Welten wurden, jede so groß wie unsere eigne Erdkugel. Ich habe dieses Gesicht nie vergessen kön­nen, noch oft im Traume sah ich den heiteren Alten aus sei­nem kleinen Himmelfenster die Weltensaat herabschütten; ich sah ihn einst sogar mit den Lippen schnalzen, wie unsere Magd, wenn sie den Hühnern ihr Gerstenfutter zuwarf. Ich konnte nur sehen wie die fallenden Saatkörner sich immer zu großen leuchtenden Weltkugeln ausdehnten: aber die etwanigen großen Hühner, die vielleicht irgendwo mit auf­gesperrten Schnäbeln lauerten, um mit den hingestreuten Weltkugeln gefüttert zu werden, konnte ich nicht sehen.

Du lächelst, lieber Leser, über die großen Hühner. Diese kindische Ansicht ist aber nicht allzusehr entfernt von der Ansicht der reifsten Deisten. Um von dem außerweltlichen Gott einen Begriff zu geben, haben sich der Orient und der Okzident in kindischen Hyperbeln erschöpft. Mit der Un­endlichkeit des Raumes und der Zeit hat sich aber die Phan­tasie der Deisten vergeblich abgequält. Hier zeigt sich ganz ihre Ohnmacht, die Haltlosigkeit ihrer Weltansicht, ihrer Idee von der Natur Gottes. Es betrübt uns daher wenig, wenn diese Idee zugrunde gerichtet wird. Dieses Leid aber hat ihnen Kant wirklich angetan, indem er ihre Beweisfüh­rungen von der Existenz Gottes zerstörte.

(Aus: H. H.: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Stuttgart 1997: RUB 2254.S. 102f.)

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Gottesfurcht

(Eine chassidische Geschichte)


Susja betete zu Gott: "Herr, ich liebe dich so sehr, und ich fürchte dich nicht genug! Herr, ich liebe dich so sehr und ich fürchte dich nicht genug! Mache, daß ich dich fürchte wie einer deiner Engel, die dein furchtbarer Name durchfährt!" Alsbald erhörte Gott das Gebet, und der Name durchfuhr dem Sussja das verborgene Herz, wie es den Engeln geschieht! Da kroch Sussja unter das Bett wie ein Hündchen, und die Angst des Tieres erschütterte ihn, bis er aufheulte: "Herr, laß mich dich wieder lieben wie Sussja!" Und Gott erhörte ihn zum andern Mal.

(Aus: Werner Truwin (Hrsg.): Kontexte. Forum Religion. Düsseldorf 1986: Patmos Verlag. S. 51)

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Bloch:


Wolfdietrich Schnurre:

Die schwierige Lage Gottes


"Und verschone uns mit Feuer,

Mißernten und Heuschreckenschwärmen",

beteten die Farmer am Sonntagmorgen.

Zu gleicher Zeit hielten

die Heuschrecken einen Bittgottesdienst ab,

in welchem es hieß:

"Und schlage den Feind mit Blindheit,

auf daß wir in Ruhe

seine Felder abnagen können."

(Aus: W. Sch: Kassiber.)


TV-Nachricht (nach einem US-Sender)

Text fehlt noch..

(Zitiert nach: Behrendt, Joachim-Ernst:Geschichten wie Edelsteine. Parabeln, Legenden, Erfahrungen aus alter und neuer Zeit. München 1996. Kösel Verlag. S. 120)

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Augusto Monterroso:

Wie das Pferd sich Gott vorstellt


Trotz allem, was gesagt wird, widerspricht die Vorstellung eines von Pferden bewohnen und von einem Gott in Pferdegestalt regierten Himmels dem guten Geschmack und der elementarsten Logik, überlegte neulich das Pferd.

Jeder weiß, fuhr es in seiner Überlegung fort, daß wir Pferde, falls wir fähig wären, uns Gott vorzustellen, ihn uns als Reiter vorstellen würden.

(Aus: A.M.: Das Gesamtwerk und andere Fabeln. Zürich 1973: Diogenes. S. 46


*

Rudolf Baumbach

Die Gäste der Buche


Mietgäste vier im Haus hat die alte Buche.

Tief im Keller wohnt die Maus, nagt am Hungertuche.


Weiter oben hat der Specht seine Werkstatt liegen.

Hackt und zimmert kunstgerecht, daß die Späne fliegen.


Stolz auf seinen roten Rock, mit gesparten Samen,

sitzt ein Protz im ersten Stock, Eichhorn ist sein Name.


Hoch im Wipfel, im Geäst, pfeift ein winzig kleiner

Musikante froh im Nest, Miete zahlt nicht einer.



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Bertolt Brecht

Über die Unfruchtbarkeit


Der Obstbaum, der kein Obst bringt

Wird unfruchtbar gescholten. Wer

Untersucht den Boden?


Der Ast, der zusammenbricht

Wird faul gescholten, aber

Hat nicht Schnee auf ihm gelegen?



Bertolt Brecht

Über die Gewalt


Der reißende Strom wird gewalttätig genannt

Aber das Flußbett, das ihn einengt

Nennt keiner gewalttätig.


Der Sturm, der die Birken biegt

Gilt für gewalttätig

Aber wie ist es mit dem Sturm

Der die Rücken der Straßenarbeiter biegt?



Bertolt Brecht:

Wahrnehmung


Als ich wiederkehrte

War mein Haar noch nicht grau

Da war ich froh.


Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns

Vor uns liegen die Mühen der Ebenen.


Die Kameltreiber

Unbekannt:


Eine Karawane zieht durch die Wüsten. Die Europäer, die die Karawane leiten, haben sich „Eingeborene“ als Lastträger gemietet. An einer Oase machen sie Rast. An meinem Morgen werden die Europäer wach, die als die Sonne schon hoch am Himmel steht. Die Gelegenheit, an diesem Tag das nächste Tagesziel zu erreichen, ist schon sehr geschrumpft. Sie sehen die Lastträger schweigend im Kreis sitzen, still und in sich versunken. Man rüttelt sie wach, aber sie sind kaum ansprechbar. Auf die Frage: Warum geht ihr nicht weiter, was ist los?“, sagt schließlich der Führer der Einheimischen: Wir können noch nicht weiter, wir müssen warten, bis unsere Seelen nachkommen.“

(Ohne Autorenangabe abgedruckt in: Meine Zeit. Hrsg. v. M. Lay. (Heft der katholischen Glaubensinformation.) Frankfurt-Höchst. S. 2.


*


Die Geistlichen aller Kirchen und die durch sie Privilegierten haben das Sonderrecht, in großer Harmonie, ohne Hetze, gemäß ihren inneren und liturgisch-historischen Bedingungen, zu leben und ihre klerikale Gefühlswelt als Glaubenpraxis zu realisieren. Gewöhnliche Gläubige haben diese Chancen nie gehabt; sie werden auch nicht darauf warten können, daß sie unter friedlichen, dem eigenen, inneren Zeitgefühl entsprechend leben und arbeiten zu können. Wer hier nicht eine der wesentlichsten Zeit-Erscheinungen der verlorenen Kirchennähe, der angeblichen Gottlosigkeit des Modernen-Zeiten-Menschen - unter dem Diktat des angeblich unabänderlichen Globalismus - erkennt, hat noch nicht begonnen nachzudenken - über Zeit und Ewigkeit.


Rafael Seligmann, ein deutsch-jüdischer Schriftsteller unserer gemeinsamen Gegenwart im Politischen und Religiösen, setzt hier neue Akzente:


Vor Gottes Thron steht ein Pokal, ein Tränenbecher. Wann immer ein Jude Unrecht erleidet, tropft eine Träne in den Pokal. Sobald der Becher überläuft, erhebt sich Gott und hilft seinem bedrängten Volk.

Das Märchen muß aber anders lauten:

Gott ist alt. Sehschwäche, Gicht und Schwermut plagen ihn. Der Tränenpokal ist ein Faß ohne Boden, dennoch läuft er ständig über, denn er wird von den Tränen alles Menschen gespeist. Gott fehlt die Kraft, sich um das Leid seiner Geschöpfe und ihre Tränen zu kümmern. Er hat resigniert. Die einzigen, die den Tränenstrom verebben lassen können, sind die Menschen selber.

(Vorangestelltes Motto des neuen Romans von Rafael Seligmann: Der Milchmann. München

1999: dtv 24177. S. 7)


So verweist Rafael Seligmann darauf, statt der alten Mythen mit ihren Wirklichkeits verdrängenden Impulsen, ein realistisches, ein soziales und politisches Engagement anzustreben, das Toleranz, Gemeinschaftssinn und Phantasie entfalten kann.


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Die Fabel vom Gewicht der Schneeflocken

(von einem unbekannten Autor)


„Sag mir, was wiegt eine Schneeflocke?“ fragte die Tannenmeise die Wildtaube.

„Nicht mehr als ein Nichts“, gab sie zur Antwort.

„Dann muß ich Dir eine wunderbare Geschichte erzählen“, sagte die Meise. "Ich saß auf dem Ast einer Fichte, dicht am Stamm, als es zu schneien anfing; nicht etwa heftig im Sturmgebraus, nein, wie im Traum lautlos und ohne Schwere. Da nichts Besseres zu tun war, zählte ich die Schneeflocken, die auf die Zweige und auf die Nadeln des Astes fielen und darauf hängenblieben. Genau drei Millionen siebenhunderteinfundvierzig - tausendneunhundertzweindfünfzig waren es.

Und als die 3 741 953. Flocke niederfiel, nicht mehr als ein Nichts, brach der Ast ab.“

Damit flog die Meise davon.

Die Taube, die seit Noahs Zeiten eine Spezialistin in dieser Frage, sagte zu sich nach kurzem Nachdenken: „Vielleicht fehlt nur eines einzelnen Menschen Stimme zum Frieden zur Welt.“

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