Dienstag, 6. Juni 2023

Gerüste .. ob Vater - Mutter - Weltlaufigkeiten

Viele Vater&Mutter&Texte

 

                                   auch zum Ausruhe von Ihren Vorfahren 
                     in Tat&Text&Ideen von Vater&Mutter.

Vater unser

(Text aus: Die gute Nachricht, Mt 6,9b 13,

--- wie er verwandt wurde in der ökumenischen

Eucharistiefeier am 29.05.03 in Berlin)


Unser liebender Vater im Himmel,

mach deinen Namen groß in der Welt,

komm und richte deine Herrschaft auf,

verschaff' deinem Willen Geltung,

auf der Erde genauso wie im Himmel.

Gib uns, was wir heute zum Leben brauchen.

Vergib uns unsere Schuld,

wie auch wir allen vergeben haben,

die an uns schuldig geworden sind.

Lass uns nicht in die Gefahr kommen,

dir untreu zu werden,

sondern rette uns aus de Gewalt des Bösen.

Denn dein ist das Reich

und die Kraft

und die Gerechtigkeit. - Amen.

*

Andere Vater-Mutter-unser-Texte

Pablo Neruda:

GESANG FOR BOLIVAR


Vater unser, der du bist in Erden, im Wasser, in der Luft

all unserer weiten schweigenden Breite,

alles trägt deinen Namen, Vater in unserm Gebiet:

deinen Namen bringt das Zuckerrohr zur Süße,

Bolivarzinn strahlt wie Bolivar,

Bolivarvogel über Bolivarvulkan,

Kartoffel, Salpeter, besondere Schatten,

Strömungen, Adern phosphorischen Gesteins,

alles, was unser, entstammt deinem erloschenen Leben:

Ströme, Ebenen, Glockentürme waren dein Nachlaß,

unser Erbe ist unser täglich Brot, Vater.


Dein kleiner tapferer Hauptmannsleib

hat ins Unendliche hin seine metallische Form gebreitet:

plötzlich kommen deine Finger aus dem Schnee hervor,

und der südliche Fischer bringt jäh ans Licht

dein Lächeln, deine Stimme pochend in den Netzen.


Welche Farbe soll die Rose haben, die wir nahe deiner Seele pflanzen wollen?

Rot soll die Rose sein, die an deinen Schritt gemahnt.

Wie sollen die Hände sein, die an deine Asche rühren?

Rot sollen die Hände sein, in deiner Asche geboren,

Und wie die Saat deines toten Herzens?

Rot die Saat deines lebendigen Herzens.


Und so umgibt dicht heute ein Kreis von Händen.

Neben meiner Hand ist eine andere, und eine andere daneben,

und immer mehr andere, hinunter in die Tiefen des dunklen Kontinents.

Und eine andere dir unbekannte Hand

streckt sich aus, Bolivar, der deinen entgegen.

Von Teruel, aus Madrid, vom Jarama, vom Ebro,

aus den Zuchthäusern, aus der Luft, aus dem Tod Spaniens

kommt diese rote Hand, die ein Kind ist der deinen.


Hauptmann, Kämpfer, wo immer eine Stimme

Freiheit ruft, wo immer ein Ohr lauscht,

wo immer ein roter Soldat eine braune Stirn zerschmettert,

wo immer Lorbeer der Freien grünt, wo immer ein neues

Banner sich mit dem Blut unsrer ruhmreichen Dämmerung schmückt,

Bolivar, Hauptmann   dort kann man ein Antlitz erraten,

in Pulver und Rauch wird dein Schwert wiedergeboren,

wieder ist dein Banner mit Blut bestickt.

Schurken fallen über deine Saat her von neuem:

An ein anderes Kreuz wird der Sohn des Menschen geschlagen.


Doch hin zur Hoffnung führt dein Schatten uns:

Der Lorbeer und das Licht deines roten Heeres

sieht durch die Nacht Amerikas mit deinem Blick.

Deine Augen, die wachsam sind über den Meeren,

über den unterdrückten und verletzten Nationen,

über den dunklen Städten in Flammen,

deine Stimme, deine Hand sind wiedergeboren:

Dein Heer verteidigt die heiligen Banner:

Und das schreckliche Geräusch des Schmerzes zieht voran

der Dämmerung vom Blut des Menschen gerötet.


Befreier, eine Welt des Friedens ward in deinen Waffen geboren,

Frieden, Brot, Korn sprossen aus deinem Blut:

Aus unserem jungen Blut, stammend aus deinem Blut,

wird Frieden, Brot, Korn kommen für die Welt, die wir bauen werden.


Ich traf Bolivar eines langen Morgens

in Madrid im Stab des Fünften Regiments.

»Vater«, sprach ich zu ihm, »bist du’s oder bist du’s nicht oder wer bist du überhaupt?«

Und hinüberschauend nach Cuartel de la Montafia sagte er:

»Ich erwache alle hundert Jahre, wenn das Volk erwacht. «

Aus: P.N.: Aufenthalt auf Erden. Gedichte. S. 157ff.)


*

Oton Zupanic

Ein Kindergebet


Vater unser...

Wärst Du wirklich unser Vater,

müßtest Du, wenn auch noch tiefre Wunden

Dir die harten Eisennägel rissen,

jetzt vom Kreuz zu uns herniedersteigen,

um verwaisten Kindern, die gleich Hunden

heimatlos durch Nacht und Fremde irren,

Deine Liebe jetzt zu zeigen.

Vater unser ...


Vater unser ...

Wo ist er geblieben, unser Vater?

An der Weichsel oder an der Drina...

Ach, wir können es nicht wissen;

eines aber ahnen wir: durchschossen

ist sein Herz, und bleizerrissen

bluten seine Hände, im Verlangen

uns, die Kinder, schützend zu umfangen.

Ja, wir spüren über alle Weiten

seine Liebe und sein Armebreiten...

Vater unser...

(Aus: Die Kinder dieser Welt. Gedicht aus zwei Jahrhunderten. Hrsg. v. Jana Halamickova. Frankfurt/M. 1990. S. 60)


*

Gebete, über Religionsgrenzen hinweg:


Gebete dürfen heute keine isolierte Form der Unterhaltung mit Gott oder geistigen Erscheinungsformen sein.

Ich sah in einem Dokumentarfilm, Peremona; gedreht von Elke Suhr für den wdr 2001) eine Einleitungsszene. Zwei Schwestern wollen Ostern feiern, Sie feiern es als Gedenken, als Sprechen, als Speisen auf dem Friedhof, an Angesicht der Gräber – in frommer, heiliger, kommunikativ bewegter Form.


Ralf Rothmann (1953 )

lebt als Lyriker, Romancier in Berlin; einer der erfolgreichen jüngeren Autoren)


Beschreibung einer Rauchfahne (Kaddisch)


Vor dir liegen die Trümmer deines Glückes,

die verblichene Erinnerung an alle,

deren Herz der Tod verwundet hat.

Hinter dir der Chor der Blumen.

Komm zu mir, mein Freund,

komm aus der Asche ins Licht, in die Talkshow.

Zwischen Preisträgern und Präsidenten

erklären wir uns die geschlossenen Augen,

das gebrochene Herz deines Lieblings.

Vor dir liegen die Trümmer deines Glückes,

Reden am Sonntag, Dichter, denen Gold sagt,

was du leidest, und die den Baum des Lebens schütteln.

jedes Wort gewogen.

Komm aus den Streifen, den Striemen,

komm ans Buffet, mein Freund, wo Sakkos klingeln

und die Lieben in seliger Verklärung weilen,

Frieden senden den Sorgenbeladenen

und den trauernden Töchtern und Söhnen Brot.

Nimm einen Wein oder zwei, nimm Austern

für Auschwitz, laß dir deinen Schmerz erklären

und unseren dazu, das Gas vor laufender Kamera.

Ein neuer Redner wettert, vermißt das Entsetzen,

und hinter ihm der Chor der Blumen, kleine weiße Kehlen

aus Licht: Geschlechter blühen und vergehen. Blühen

und vergehen. Jede Zeile trägt sich selbst.

Nur du stehst in der Asche, mein Freund, und schüttelst

den Baum des Todes. Nur du bleibst im Schatten

dieses Gedichts, und deine Hand fährt über die Stirn,

die geschlossenen Augen des Lieblings –

sanft wie Wind, wie ein Hauch über Asche.


Für Samuel und Markéta Rothmann

(Aus: Ralf Rothmann: Gebet in Ruinen. Gedichte. Frankfurt 2000. S. 63)





**


Vaterunser oder Kaddisch oder Schema Jisrael?


Der Schauspieler Michael Degen (geb. 1932) erzählt in seiner Autobiographie „Nicht alle waren Mörder“ ein existenzielles Erlebnis beim Einmarsch der Russen nach Berlin, im April 1945: Ein russischer Offizier ist auf eine russisch sprechende Deutsche aufmerksam geworden und verhört sie und ihren Sohn


Er hatte sich so in Rage geredet, daß er fast nicht mehr sprechen konnte. »Du bist eine Verräterin und Spionin!«

Er zog meine Mutter vom Stuhl hoch und zerrte sie zur Tür. Ich weinte und versuchte seine Hand von Mutters Arm wegzureißen. Da packte er mich am Kragen: »Du bist Jude, ja?«

Ich konnte nicht sprechen, und Mutter versuchte, mei­nen Kopf zu erreichen. Aber er zerrte sie weg.

»Du bist Jude? Gut. Dann weißt du ja, daß deine Mut­ter auch jüdisch sein muß, ja?«

Ich konnte nur stumm nicken.

»Aber das ist eine Lüge. Deine Mutter hat dich zum Lügen erzogen!«

Er war außer sich vor Wut, und ich dachte: »jetzt bringt er uns alle um! (...)

»Du weißt doch, daß Hitler alle Juden umgebracht hat?«

Er sprach zu mir, aber er meinte wieder meine Mutter.

»Ja«, sagte ich, »ja.«

»Wie kommt es dann, daß du und deine Mutter noch leben?«

»Wir haben uns die ganze Zeit versteckt«, beschwor ich ihn. Ich hätte ihm die ganze Geschichte unserer Flucht er­zählt, wenn er gewollt hätte. Er sollte nur Mutter und mich endlich in Ruhe lassen.

»Hitler«, er sprach Hitler wie Gittler aus, »Hitler hat alle Juden umgebracht. Gut organisiert. Sehr gut. Und da wollt ihr mir erzählen, daß ihr als Juden überlebt habt? Hier, mitten in Deutschland, in Berlin?«

»Wir haben uns versteckt!« schrie ich, »wir haben uns über zwei Jahre versteckt. Bei Freunden, Nutten, Emi­granten, Kommunisten. Sogar eine Nazifrau hat uns ge­holfen, und dafür ist sie umgebracht worden. Und ich habe sie sehr gut leiden können, weil sie uns nie so behan­delt hat wie du! Die ganze Zeit haben wir auf euch gewar­tet, und jetzt wollt ihr meine Mutter umbringen. Und Martchen. Sie hat uns wieder aufgenommen, obwohl ihre Schwester und ihr Schwager ins KZ gekommen sind. Weil sie Kommunisten waren und Flugblätter verteilt haben. Sie hat mehr Mut als ihr alle zusammen. Mit euren Pan­zern und Raketen. So, und jetzt kannst du mich erschie­ßen. Weil du ein Arschloch bist!«

Mutter sah mich an, und ich fühlte, daß sie mich bewunderte. Mehr brauchte ich nicht. Er hätte ganze La­dungen in mich hineinschießen können, mir wäre es egal gewesen. Ich riß mich los und setzte mich auf einen Stuhl. Ließ aber Mutter und ihn nicht aus den Augen.

»Ich habe ihn verunsichert, sonst hätte ich mich gar nicht befreien können«, dachte ich, »vielleicht läßt er jetzt auch Mutter los.« (...)

»Du bist Jude, hast du gesagt«, fing er noch einmal an.

Ich antwortete nicht mehr.

»Und deine Mutter und dein Vater sind auch Juden.«

»Mein Vater ist tot.«

»Bist du auch als Jude erzogen worden?«

Ich sah ihn an und dachte: »Leck mich doch am Arsch!«

»Wenn deine Eltern aus Russisch-Polen sind, dann seid ihr möglicherweise auch fromm gewesen.«

»Nein!« schrie ich plötzlich.

Er hielt meine Mutter immer noch am Arm fest.

»Warum seid ihr nicht fromm gewesen?«

»Weil du meiner Mutter weh tust mit deinen blöden Knochen«, schrie ich weiter.

Ich weiß nicht, ob er mich verstanden hatte, und bei Mutter kam wieder Angst auf.

Er aber blieb gelassen. Scheinbar.

»Weißt du, was du als Jude tun mußt, wenn dein Vater gestorben ist?«

jetzt ließ er Mutter los und trat ganz dicht an mich her­an. Ich nahm zum ersten Mal wahr, daß er hellbraune Au­gen und eine ungewöhnlich hohe Stirn hatte.

»Also, was tust du, wenn dein Vater gestorben ist?«

Wir sahen uns lange an. Ich wütend und er mit Reh­blick.

»Vater unser« hätte ich beinahe gesagt. Heute weiß ich, daß das unser Tod gewesen wäre. Ich schaute zu Mutter hinüber. Sie sah mich ganz gespannt und beinahe nach­denklich an.

»Das Totengebet«, sagte ich und drehte mich zur Wand. Die Pause nahm kein Ende.

»Kannst du noch Kaddisch sagen?«hörte ich ihn fragen.

Jetzt hatte ich aber genug. Ich blieb zur Wand gedreht sitzen, ratterte das Kaddischgebet in rasender Geschwin­digkeit herunter und schaukelte dabei meinen Oberkörper wie ein alter Jude in der Synagoge. Es war eine ziemlich miese Parodie, aber er merkte es nicht. Als ich fertig war, gab es wieder eine lange Pause.

»Sag mir das Gebet, das der Jude spricht, bevor er stirbt.«

Ich rasselte auch das »Schemah Jisrael« herunter und verstärkte die Pantomime noch ein bißchen. Dann kam mir in den Sinn, daß Mutter lachen könnte, und ich brach ab.

»Mehr will ich nicht«, sagte ich und drehte mich zu ihm.

Er weinte. Er weinte ganz eigenartig. Sein Gesicht blieb fast unbewegt, aber die Tränen liefen ihm runter, als hätte er innen einen Wasserhahn aufgedreht. Er zog umständlich ein Tuch aus der Hosentasche und wischte sich damit übers Gesicht.


Der russische Offizier ist Jude und wird später von Michael Degen als Wassili Jakowlewitsch Tunkelschwarz vorgestellt. Ein Soldat, der zwar als Besatzer nach Deutschland gekommen, aber ein Menschenfreund blieb... Erinnerungen, die weh und gut zugleich tun. Sie sind notwendige Bausteine einer deutschen, pardon, Welt-Leitkultur.


Schauen wir ein wenig über die christlichen Grenzen hinaus, lernen wir viel Vertrautes, Erfreuliches, ja spirituell Nützliches, z.B. die Gedenkkultur für gemeinsames Er-Leben, Beten und - beim Kaddisch - für die Erinnerung an die Toten:


Zum Kaddisch können wir lernen, mit Toten umzugehen, um selber Frieden zu finden.



Schemah Jisrael




Schema Jisrael:

Höre, Israel der Herr ist einer und einzig“ (5. Mose 6,4)


Dieser Vers findet sich, auf Pergament geschrieben, in den Mesusot, den Hülsen, die am Türpfosten bewohnter Räume befestigt sind.


In einer Gegenwartserzählung wird der Schema Jisrael so vermittelt:


Jossel Rackower:

Ein moderner geduldiger Ijob


Ein Jude - seine Frau und Kinder waren schon umgekommen - schrieb als Letztes in einem zusammenstürzenden Haus des brennenden Warschauer Ghettos:

Mein Rabbi hat mir oft eine Geschichte erzählt von einem Juden, der mit Frau und Kindern der spanischen Inquisition entflohen ist und über das stürmische Meer in einem kleinen Boot zu einer steinigen Insel trieb. Es kam ein Blitz und erschlug die Frau. Es kam ein Sturm und schleuderte seine Kinder ins Meer. Allein, elend wie ein Stein, nackt und barfuß, geschlagen vom Sturm und geängstigt von Donner und Blitz, mit verwirrtem Haar und die Hände zu Gott erhoben, ist der Jude seinen Weg weitergegangen auf der wüsten Felseninsel und hat zu Gott gesagt:

Gott von Israel, ich bin hierher geflohen, um dir ungestört dienen zu kön­nen, um deine Gebote zu erfüllen und deinen Namen zu heiligen. Du aber hast alles getan, damit ich nicht an dich glaube. Solltest du meinen, es wird dir gelingen, mich von meinem Weg abzubringen, so sage ich dir, mein Gott und Gott meiner Väter: Es wird dir nicht gelingen. Du kannst mich schlagen, mir das Beste und Teuerste nehmen, das ich auf der Welt habe. Du kannst mich zu Tode peinigen - ich werde immer an dich glauben. Ich werde dich immer lieben - dir selbst zum Trotz!’“

Und der Jude fuhr fort: „Und das sind meine letzten Worte an dich, mein zorniger Gott: Es wird dir nicht gelingen! Du hast alles getan, damit ich nicht an dich glaube, damit ich an dir verzweifle! Ich aber sterbe, wie ich gelebt habe, im felsenfesten Glauben an dich.

Höre Israel, der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist einig und einzig!“

(Aus: Willi Hoffsümmer: Kurzgeschichten. Bd. 3. Mainz 1990: Matthias-Grünewald-Verlag. S. 41)



Der Kaddisch


Das Kaddisch-Gebet ist wahrscheinlich das bekanntesten jüdischen Gebete überhaupt und viele Nichtjuden wissen davon und meistens wird es das 'Totengebet' genannt, was es aber nur indirekt ist, in Wirklichkeit ist es die Heiligung des göttlichen Namens und wir sagen es stellvertretend für unsere Verstorbenen um uns an sie zu erinnern . In vielen Gemeinden ist es üblich, daß männliche Verwandte, meistens der Sohn, das Kaddisch nach dem Tod eines Elternteiles sagt und dieses elf Monate lang nach dem Tod des Verwandten sagen. Danach jedesmal wenn der Verstorbene 'Jahrzeit' hat, daß heißt, wenn der Tag des Todes sich jährt. Das Kaddisch-Gebet darf nur in der Gegenwart eines Minjan gesagt werden, das heißt, in der Gegenwart von zehn Männern. In einigen Gemeinden werden auch Frauen zum Minjan gezählt, dort dürfen auch sie Kaddisch sagen. Das Kaddisch-Gebet ist auf aramäisch verfasst worden.


**

Erhoben und geheiligt werde sein großer Name auf der Welt, die nach seinem Willen von Ihm erschaffen wurde- sein Reich soll in eurem Leben in den eurigen Tagen und im Leben des ganzen Hauses Israel schnell und in nächster Zeit erstehen. Und wir sprechen: Amein! Sein großer Name sei gepriesen in Ewigkeit und Ewigkeit der Ewigkeiten. Gepriesen sei und gerühmt, verherrlicht, erhoben, erhöht, gefeiert, hocherhoben und gepriesen sei Name des Heiligen, gelobt sei er, hoch über jedem Lob und Gesang, Verherrlichung und Trostverheißung, die je in der Welt gesprochen wurde, sprechet Amein! Fülle des Friedens und Leben möge vom Himmel herab uns und ganz Israel zuteil werden, sprechet Amein. Der Frieden stiftet in seinen Himmelshöhen, stifte Frieden unter uns und ganz Israel, sprechet Amein.

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Bei diesem Kaddisch handelt es sich um die Grundform, die zwei Abwandlungen erfahren hat. Die Übersetzung ist in Teilen übernommen aus „Sidur Sefat Emet/Victor Goldschmidt Verlag, Basel 1993“. Die aramäische Fassung kann über das Internet bezogen werden: http://www.talknet.de/chajmg/kadish.htm

*

Der Kaddisch hat auch eine für die Verfolgungszeit der Juden in Deutschland typische literarische Form gefunden:


Mascha Kaléko:

Kaddisch


Rot schreit der Mohn auf Polens grünen Feldern,

In Polens schwarzen Wäldern lauert Tod.

Verwest die gelben Garben.

Die sie gesät, sie starben.

Die bleichen Mütter darben.

Die Kinder weinen: Brot.


Vom Nest verscheucht, die kleinen Vögel schweigen.

Die Bäume klagen mit erhobnen Zweigen,

Und wenn sie flüsternd sich zur Weichsel neigen,

Gen Osten wehend ihren trüben Psalm

In bärtger Juden betender Gebärde,

Dann bebt die weite, blutgetränkte Erde,

Und Steine weinen.


Wer wird in diesem Jahr den Schofar blasen

Den stummen Betern unterm fahlen Rasen,

Den Hunderttausend, die kein Grabstein nennt,

Und die nur Gott allein bei Namen kennt.

Saß er doch wahrlich strenge zu Gericht,

Sie alle aus dem Lebensbuch zu streichen.

Herr, mög der Bäume Beten dich erreichen.

Wir zünden heute unser letztes Licht.


(Zuerst 1945 erschienen; aus: Verse für Zeitgenossen. Rororo 4659. S. 46)


*


Mascha Kaléko wird zur Charakterisierung gerne als die weibliche „Kästner“ bezeichnet. Dies kennzeichnet zwar ihren Stil, ihr Temperament, ihren klugen, poetischen und gleichzeitig sachlich realistischen Sprachwitz, unterschätzt sie aber in ihre eigenständige Position in der deutschen Literaturgeschichte. Ihr Leben (von 1907 bis 1975) kennzeichnet die Rolle eines verfolgten deutschen Menschen, der sich nicht dem faschistischen Ungeist, Lüge, Terror und Aggression anpasste. Es führte aus Deutschland hinaus, über die USA nach Israel. Ihr Werk ist bis heute nicht in den Lesebüchern, gar in den Gebetbüchern vertreten. Für sie waren Politik, Privatheit der Familie und Liebe und Glaubensaspekte eine lebendige Einheit, für deren Schönheit, Freiheit und Frieden sie dichtend kämpfte.


*

Gebet der Sioux Indianer

Von den Sioux Indianern ist das folgende Gebet überliefert:


Gott, du bist mein Vater,

du bist meine Mutter.

jetzt werde ich schlafen

unter deinen Füßen, unter deinen Händen,

du Herr der Berge und der Täler,

du Herr der Bäume und aller Schlinggewächse.

Morgen ist wieder der Tag.

Morgen ist wieder das Sonnenlicht.

Ich weiß nicht, was dann sein wird.

Meine Mutter und mein Vater

wissen es auch nicht.

Nur du, Gott, siehst mich.

Du hütest mich auf jedem Weg,

in jeder Dunkelheit, vor jedem Hindernis,

du mein Herr, du Herr der Berge und Täler.

Du weißt, was ich heute gesagt habe,

ob es gut war oder böse,

ob es zu wenig war oder zu viel.

Du aber vergibst mir alle meine Verfehlungen.

*

Mit folgenden didaktischen Anregungen aufgearbeitet im "Erzählbuch zum Glauben". Bd. 3. Das Vaterunser. Hrsg. v. Elfriede Conrad u.a. (Zürich und Lahr 1985: Verlage Benziger und Kaufmann. S. 83):

Stichworte: Abendgebet, Geborgenheit in Gott, sich Gott anvertrauen,

Gott als „Eltern­gott", Gott, der Herr


Problemfeld: Der Betende läßt den ausklingenden Tag an sich vorübergehen (vgl. Hab ich Unrecht heut getan, sieh es, lieber Gott, nicht an) und vertraut sich während der Nacht und für den kommenden Tag Gottes Obhut an. Gott wird als Mutter und Vater zugleich empfunden, so umfassend wird er erlebt.


Biblischer Kontext:

Ps 3,6 Ich lege mich nieder und schlafe ein, ich wache wieder auf, denn der Herr beschützt mich.

Ps 131,2 Ich ließ meine Seele ruhig werden und still; wie ein kleines Kind bei der Mutter ist meine Seele still in mir.

*


Kurt Marti

unser vater


1


unser vater

der du bist die mutter

die du bist der sohn

der kommt

um anzuzetteln

den himmel auf erden


2

dein Name werde geheilgt

dein name möge kein hauptwort blieben

dein name werde bewegung

deine name werde in jeder zeit konjugierbar

dein name werden tätigkeitswor


3

bis wir

loslassen lernen

bis wir erlöst werden können

damit

im verwehen des wahns

komme dein reich



4


in der liebe

zum nächsten

in der liebe

zum feind

geschehe dein wille  

durch uns!



5


unser tägliches brot

gib uns heute damit

wir nicht nur

für brot uns abrackern müssen

damit wir nicht

von brotgebern erpreßt werden können

damit wir nicht

aus brotangst gefügig werden



6


vergib uns

unsere schuld

und die schuld derer

die schuldig geworden sind

an uns

und was

wie niemandes schuld ist:

sachzwänge verhängnis ignoranz


und unseren verdacht

du selber könntest schuldig geworden sein

an so viel elend an zu viel leiden


vergib

wie auch wir


7


und führe uns nicht

wohin wir wie blind

uns drängen

in die do it your self apokalypse

sondern erlöse uns

von fatalität und sachzwang

damit das leben

das du geschaffen

bleibe auf diesem kleinen

bisher unbegreiflich erwählten

planeten im schweigenden all


8


und zu uns

lass wachsen

den baum des glaubens

wurzelnd in dir

entfalte sich seine krone

auf erden:

dein reich

das unsere freiheit

deine Kraft

die ohne gewalttat

deine herrlichkeit

durch die wir gelingen können

in Ewigkeit

*

Friedrich Küppersbusch:

Priester als Väter Juni 1995

«Vater unser», beten die Kleinen, wenn der Bischof reinkommt. «Stimmt, aber nicht so laut », tuschelt Hochwürden. Wieder hat sich das Leben unverschämt katholischen Dogmen widersetzt, denn die verbieten, daß etwa der Baseler Bischof Vogel ein Kind zeugt. Warum aber, so fragen immer mehr Gläubige, soll dann ein jun­ger Mann heute noch katholischer Geistlicher werden? Ganz einfach: Vielleicht hat er es vom Vater.


Friedrich Küppersbusch:

Kruzifix August 1995


Jesus, so stellt das zweithöchste Gericht diese Woche fest, kann den Unterricht an bayrischen Schulen nicht mehr mit ansehen. Der Herr hat sein Flehen erhört. Oder umgekehrt: 2000 Jahre nur rumhängen ist ja auch kein Vorbild für die Jugend. Jeden­falls, so die Richter, gehört der Gekreuzigte in die Kirche. Auch nicht einfach, weil die CSU ja keine verfolgten Ausländer in Kirchen duldet. Auf daß Ihr nicht werdet wie die Kindlein, rät die Schrift. Auch denen, die sich jetzt mit dem Kruzifix ein Sommerloch ins Hirn Semmeln. Der Untergang der abendländischen Kultur stehe auf dem Spiel! Und wir dachten schon, es sei etwas Wichtiges.

(Aus: Friedrich Küppersbusch: „Bis hierhin vielen Dank“. Rororo 60226. S. 128)





Ulrich Schoenborn

Vaterunser der Armen

Die Rezeption des Vaterunsers in Lateinamerika


Lange Zeit galt in Europa die lateinamerikanische "Theologie der Befreiung" als hoffnungsvoller Motor für fundamentale Erneuerung in Gesellschaft, Kirche und Theologie. Mit den globalen Veränderungen, die 1989 eingesetzt haben, ist jedoch eine Dynamik aufgetreten, die vor nichts Halt macht. Im Verlauf dieses Prozesses droht auch "Theologie der Befreiung" zu einer Episode der Kirchengeschichte zu werden. Damit nicht in Vergessenheit gerät, in welch elementarer Weise diese Theologie das Gesicht des Kontinents geprägt hat und noch prägt [1], soll ein Fallbeispiel aus dem exegetischen Bereich in Erinnerung gerufen werden. Referenz ist das Herrengebet, das Vaterunser (Matthäus 6, 9-13; Lukas 11, 2-4). [2]

Der Umgang mit biblischen Texten wird in Lateinamerika "relectura" (span.) bzw. "releitura" (port.) genannt. Als Stichwort einer kontextorientierten Theologie meint releitura nicht nur das wiederholte oder neue Lesen von Bibeltexten und kirchlichen Überlieferungen. Impliziert ist vielmehr eine Antithese, die sich gegen die fraglos hingenommene Tradition wie gegen die Verweigerung elementarer Lebensbedingungen richtet. Auf dem Spiele stehen die Glaubwürdigkeit Gottes und die Würde des Menschen.

Besucher aus dem Land der Reformation und aus den Hochburgen exegetischer Arbeit haben immer schon mit Staunen auf den authentischen Umgang einfacher Menschen (die Armen, die Anderen) mit den Texten der Bibel reagiert. Als Brief, hektographierte Mitteilung, Gedicht oder Lied wirkt diese Bibellektüre über ihre Ursprungsorte hinaus weiter. In solcher "Kleinliteratur" [3] kommt eine neue Art Theologie zu treiben zum Ausdruck: Reflexion der Glaubenspraxis im Horizont von Unterdrückung und Ungerechtigkeit; Entdeckung des parteilichen Gottes, der die Kehrseite der Geschichte als Offenbarungsort erwählt hat; Artikulation von Erfahrungen auf dem Weg zur Befreiung. [4]

In Teil I. der folgenden Überlegungen werden Beispiele von releitura besprochen und zwar so, dass der Weg der Auslegung, die Partizipation der Menschen an der Sinnfindung und die inhaltlichen Schwerpunkte sichtbar werden. Der II. Teil soll zeigen, unter welchen hermeneutischen Bedingungen Auslegung in Lateinamerika geschieht. Impulse, die in exegetischer und didaktischer Hinsicht auch in einem anderen sozio-kulturellen Umfeld relevant sein können, werden im III.Teil thematisiert.

I.

1. Die kleine christliche Gemeinde von Solentiname im Nicaragua der siebziger Jahre hat bei ihren Treffen immer biblische Texte besprochen. Die Gespräche wurden von Ernesto Cardenal, dem geistlichen Leiter, gesammelt und aufgeschrieben. [5]

Der Abschnitt über Matthäus 6,7 - 15 "Jesus lehrt uns leben" [6] fällt durch eine dynamische Gesprächsatmosphäre auf. Männer und Frauen sind in gleicher Weise an dem Gespräch beteiligt. In lockerem Hin und Her werden die einzelnen Bitten des Vaterunser durchgesprochen und bedacht. Die Beiträge kommen spontan oder schließen sich assoziativ an Stichworte an. Nicht immer passt das Gesagte zum Thema. Bisweilen hinkt ein Gedanke hinterher oder bewegt sich am Rande des Missverständnisses. Jeder/jede äußert sich und lässt die anderen an Wissen, Erwartungen und Sorgen teilhaben. In dem Gespräch haben der Humor und die einfältige Utopie ebenso Platz wie der fromme Ausspruch und das politisch besetzte Schlagwort. Es herrscht eine Atmosphäre des Freimutes, der gegenseitigen Annahme, des Respekts vor dem Wort des anderen. Als Vergleich zum Einfühlen in den Gesprächsvorgang legt sich das Gruppenmodell des Jazz nahe und dessen Behandlung eines Themas in Form des Arrangements.

Der Gesprächsleiter hält sich im Hintergrund und vermeidet es, durch sein theologisches Wissen zu dominieren. Er nimmt seine Rolle darin wahr, dass er moderiert, Impulse gibt, Beiträge verknüpft, Ergebnisse zusammenfasst und Sprachhilfen formuliert. Verschiedentlich lässt er theologische Informationen einfließen. Solche Erklärungen halten die Textlinie bewusst: Gott ist nicht Privateigentum eines einzelnen, vielmehr der Bezugspunkt aller. Diese Konzentration auf den ersten Artikel des Credo bestimmt merklich das Gefälle des Rundgesprächs.

Über gemeinsames Nachdenken und Reden gelingt die Aneignung des Textes. So steht der Aussagesinn nicht von Anfang an fest, er wird auch nicht autoritär gesetzt. Vielmehr konstituiert er sich im offenen Prozess zirkularer Kommunikation. Sinn ist das Ergebnis gemeinsamer Arbeit.

Das zeigt sich u.a. bei der Bitte " Dein Reich komme". Die Gesprächsteilnehmer wissen um das, was "eschatologische Dimension" genannt wird, auch wenn sie es nicht in diskursiver Weise zur Sprache bringen. Sie skizzieren die religiöse Denkweise, die zwischen Diesseits und Jenseits trennt. Im Reich Gottes, so wurde ihnen beigebracht, warte eine verheißende Möglichkeit auf sie. Der Glaube daran helfe die traurige Wirklichkeit zu ertragen. Jedoch ist der Graben zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit zu breit. Von Versprechungen allein können sie nicht leben. Darum bringen die Menschen sprechend die traditionellen Vorstellungen in Bewegung:

"Wenn wir darum bitten, dass es kommen soll, dann ist es also noch nicht gekommen. Und wenn wir bitten, dass es kommen soll, dann muss es auch kommen. Und wenn es kommen muss, dann ist es nicht im Himmel oder in einem anderen Leben. Sonst bäten wir ja nicht, dass es kommen solle, sondern dass wir dorthin kämen. Das Reich Gottes ist also etwas, was auf die Erde kommen muss und noch nicht gekommen ist." [7]

Diese Menschen laufen nicht Gefahr, das Reich Gottes mit einer abstrakten Idee zu verwechseln. An seiner Wirklichkeit haben sie nicht den geringsten Zweifel. Was sie aber in Frage stellen, das sind die Lebensbedingungen, die das Gegenteil dessen bewirken, was sie zu fördern behaupten. Trotz schöner Worte arbeiten sie dem Tod in die Hände. Doch das Reich Gottes widerspricht solchem Verwirrspiel und ermutigt zu Gegenmaßnahmen. Das haben die Teilnehmer an der Gesprächsrunde begriffen:

"Im Himmel herrscht Liebe, dort gibt es keinen Egoismus. Und es gibt auch keine Ungerechtigkeit und keine Unterdrückung. Hier auf der Erde leben wir vollkommen anders. In diesem Gebet bitten wir darum, dass wir hier genauso leben möchten wie dort. Es fehlt uns noch viel, bis wir dieses Reich hier verwirklicht sehen. Hier verhungern die einen, und die anderen vergeuden das Essen. Die einen sind krank, ohne irgendeine Medizin, und die anderen haben mehr ärztliche Pflege, als sie brauchen... Das heißt also, dass noch viel Arbeit getan werden muss, bis man dieses Reich endlich sieht." Und Laureano hält fest: "Das Reich Gottes kommt von Gott, aber es wird nicht ohne uns gebaut." [8]

Bei der Suche nach der Bedeutung der "Brotbitte" werden verschiedene Anläufe gemacht. Alle beziehen sich, ohne es zu wissen, auf die Übersetzung des griechischen Wortes "epousios". Die Frage, ob es nun aktualisierend heißt: "Brot gib uns heute" oder generalisierend: "das Brot, gib es uns Tag für Tag", wird ohne exegetische Feinmechanik [9] im Sinne der aktuellen Bitte entschieden. Einer der Anwesenden schlägt auch vor, "Brot" in umfassendem Sinn zu verstehen, d.h. als Metapher für alles, was zum Leben notwendig ist.

Die "Bitte um Vergebung" gibt zu provozierenden Überlegungen Anlass. Dabei kommt auch die Mehrdeutigkeit der Formulierung zur Sprache:

"Wir sollen unseren Schuldigern vergeben. Das kann irgendeine Beleidigung sein. Es können aber auch Geldschulden sein. Ich sage nicht, dass wir unser Geld nicht von einem zurückfordern sollen, der etwas hat, aber einem, der nichts hat, dem sollen wir auch diese Schuld vergeben." [10]

Eine Zeitlang wird ausgelotet, wer das denn beten könne: "Vergib mir meine Geldschuld, wie ich sie dem vergebe/erlasse, der mir etwas schuldet". An dieser Stelle greift der Gesprächsleiter ein. Er informiert, dass nach der Liturgiereform für die katholische Kirche in Lateinamerika die Formulierung "Vergib uns unsere Schuld..." ersetzt wurde durch "Vergib uns unsere Beleidigungen..." [11]. Mit einer philologischen Erklärung und einer Anspielung auf den biographischen Hintergrund des Evangelisten (vgl. Matthäus 9,9-13) rundet er die Erklärung ab.

Ausdrücklich wird damit ein spiritualisierendes Verständnis der Bitte abgewiesen. Wie im vorangehenden Fall das kommende Reich Gottes zum Kriterium des Alltags wurde, so auch hier. Die hermeneutische und existentielle Tragweite des Gedankenganges kann wahrscheinlich nur der ermessen, der unter Geldmangel seufzt bzw. der von Schulden erdrückt wird. In der Welt der Bibel ist das keine Unbekannte. Warum wurde das Modell des Sabbatjahres zur Neuordnung der Besitzverhältnisse (vgl. Jesaja 61,1-11) [12] in die Verfassung des nachexilischen Israel aufgenommen? Warum zerstörten die zelotischen Widerstandsgruppen gegen die römische Besatzungsmacht zuerst die Katasterämter [13], wenn sie eine Stadt in ihre Gewalt gebracht hatten? Schuldverhältnisse waren identisch mit Unfreiheit und Versklavung (vgl. Lukas 16, 1-13) und führten zum Verlust der Menschenwürde. Darum wurden sie nicht hingenommen.

In diesem Gespräch fällt noch nicht das Stichwort "Auslandsverschuldung". Doch meldet sich eine Sensibilität für die verschleiernde Funktion religiöser Sprache an. Wo der Glaube und seine Texte nicht mehr auf den Lebensalltag bezogen sind, zieht Beliebigkeit in den religiösen Diskurs ein. Das Wort verkommt zur Formel. Wenn dagegen an der Wechselseitigkeit von Text und Kontext festgehalten wird, gewinnt nicht nur die biblische Aussage an Profil. Auch die Selbstwahrnehmung derer, die auf der Suche nach Würde und Sinn sind, wird eine andere:

"Wir bitten Gott, dass sein Name geheiligt werde, und es ist unsere Aufgabe, ihn zu heiligen. Wir bitten, dass sein Reich komme, und es ist unsere Aufgabe, es aufzubauen. Wir bitten, dass sein Wille auf Erden geschehe, und es ist unsere Aufgabe, ihn zu erfüllen. Wir bitten um Brot, und es ist unsere Aufgabe, es zu schaffen und zu verteilen. Wir bitten ihn um Vergebung, die wir den anderen geben müssen. Wir bitten ihn, uns nicht in Versuchung zu führen, und es ist unsere Aufgabe, sie zu fliehen... Das Vaterunser ist ein Gebet, das wir beten und auch tun müssen". [14]

Offen bleibt in diesem Gespräch manches, was in Europa immer wieder diskutiert [15] wurde: z.B. der jüdische Hintergrund des Vaterunser; der Konflikt zwischen ethischer und eschatologischer Auslegung oder das vorausgesetzte Vaterbild. Haben die Überlegungen aus Solentiname nur begrenzten, eben exotischen Wert, weil solche Fragen nicht vorkommen? Oder sollte nicht zu denken geben, dass der Dialog über das Vaterunser eine Dimension eröffnet, die jene unbestreitbar wichtige Sachdiskussion selten erreicht. Wenn apathische Wesen zu Menschen werden, indem sie auf das sie rufende und respektierende Wort antworten, kann nicht im herkömmlichen Stil weitergemacht werden.

2. Das zweite Beispiel zeigt, wie Volksreligiosität und mündliche Kultur sich mit der Überlebensfrage von Millionen in Brasilien verbinden. Es stammt von einem lutherischen Pfarrer aus dem Süden des Landes - Silvio Meincke - und ist im Stil eines Bänkelsängerliedes geschrieben.

"Wenn Gott die Erde gehört,
er selbst hat es gelehrt,
muss sie geteilt werden unter die Seinen.
Anderes darfst du nicht meinen."

Im Spiegel alttestamentlicher Erinnerungen erscheint das zentrale Thema der Landfrage: "terra de Deus - terra para todos" / "Gottes Erde - Land für alle". Dem Kundigen teilt der Refrain mit, dass die ungerechten Besitzverhältnisse angesprochen sind. Eine Minderheit besitzt fast die Gesamtheit des bewirtschaftbaren Bodens. Dagegen drängt sich die Masse der Bevölkerung in den Elendsvierteln der Städte zusammen oder ist permanent auf der Wanderschaft. Wer diese Zusammenhänge nicht kennt, kann dennoch ermessen, was die Sehnsucht nach einem Stück Land bedeutet, von dem einen niemand vertreiben kann.

Der Autor betont, dass er nicht eine beliebige Tradition aufgreift, wenn er sich auf das Vaterunser bezieht:

"Beim Vaterunser, mein Freund,
- Christus hat es uns gelehrt -
gedenke des schutzlosen Bruders,
der keine Bleibe findet auf Erden.
Caboclo, Kleinbauer, Wanderarbeiter,
ohne Land vegetiert er dahin,
ausgebeutet, vertrieben, umherirrend.
Der Traum seines Lebens - ein Stück Land."

Die geschwisterliche Gemeinschaft untereinander ist der Prüfstein dafür, ob Menschen sich zu Recht nach dem Namen Jesu Christi nennen. Das unterstreicht die folgende Strophe:

"Beim Vaterunser, mein Freund,
- im Plural, wohlgemerkt -
ist der schutzlose Bruder eingeschlossen.
Das Gebet macht den Landlosen zum Bruder.
Tagelöhner, Pächter, Knecht,
alle sind Geschwister auf dieser Erde."

Der pluralische Aspekt lässt die Vision einer Gegenwelt entstehen, in der menschenwürdiges Leben möglich ist. Von der informativen Anrede wechselt der Text dann ins Appellative. Diejenigen, die ihn hören, lesen oder singen, sollen nicht neutral bleiben. Sie sollen die religiöse Tradition, d.h. das Vaterunser, aus dem Rahmen einer konventionellen Pflichtübung befreien und in ihre Lebenswelt eintauchen.

In der dritten Strophe wird die Brotbitte mit der einleitenden Gebetsanrede verbunden. Das brasilianische Portugiesisch kann hier ein pointiertes Wortspiel [16] anbringen: "pai nosso - pao nosso" / "Vater unser - unser Brot". So werden der Gemeinschaftsaspekt und das Pluralische im Gottesverhältnis unüberhörbar. Beides steht im Alltag auf dem Spiel.

"Beim Vaterunser, mein Freund,
im Plural, wohlgemerkt -
unmöglich ist's, ,unser Brot` zu erbitten
und gleichzeitig die Hand zu verschließen.
,Unser Brot` zu erbitten bedeutet,
nicht nur an sich zu denken.
In die Tischrunde sind alle Geschwister eingeschlossen."

"Brot", das die anderen ausschließt, ist ein fragwürdiges Lebensmittel. Es kann nur noch "Brot der Ungerechtigkeit" genannt werden. Wer davon isst, erfährt keine Stärkung. Es trennt ihn von den Geschwistern und vereinzelt in Lüge und Sünde.

"Unsere Bitte um Brot lässt sich nicht
reimen
mit Hunger und Leiden der Schwachen..."
"Unsere Bitte um Brot nährt die Hoffnung,
du hast es bestimmt gemerkt,
dass es anders werden kann,
auch wenn jeder nur an sich denkt."

Das Bemerkenswerte an dieser Rezeption [17] ist die Konzentration auf eine Bitte sowie die Verschränkung von Text und Kontext. Dadurch erhalten die alten Worte aussagekräftige Konturen. Ohne auf die historischen Vorgaben von Reformation, Aufklärung oder Moderne eigens einzugehen, trifft die releitura den Kern der Sache. Dass dieser Gebrauchstext zum Singen verfasst worden ist, pointiert sein Profil. Melodie und Rythmus lassen den Einfluss der Gaucho-Ballade aber auch der ,literatura de cordel` aus dem Nordosten Brasiliens erkennen. Auf den Märkten des Interior oder bei großen Zusammenkünften und Festen übernimmt das volkstümliche Lied oft die Aufgabe der Nachrichtenübermittlung, Kommunikation und Belehrung. Aus der Perspektive der Armen wird zu den Armen gesprochen und gesungen. Sprache, Anschaulichkeit, Redundanz und religiöse Plausibilität konstituieren eine Atmosphäre befreiender Konszientisierung.

3. Viele Vaterunser-Texte zirkulieren anonym. Das dritte Beispiel "Pai nosso da América Latina" [18] gehört in diese Rubrik:

"Vater, o Vater unser.
Wann wird die Welt uns gehören?
Uns, den Armen und unseren Brüdern?
Vater unser, hart ist es zu sehen,
Wie unsere Brüder unterdrückt
Und gekreuzigt werden.

Vater, o Vater unser.
Wer wird die Tränen trocknen
Der Völker, die kein Brot haben?
Vater unser, wer wird die Völker sättigen
mit Anmut und Befreiung?

Vater unser des verwundeten Amerikas,
Welch´ ein Leben, welch´ ein Elend!
Vater unser, wann kommt die Freiheit
Für die Völker und Nationen?

Vater unser, das brechende Herz unserer Brüder
verlangt nach einer Lösung.
Vater unser, wir hoffen auf
Gerechte Verteilung der Güter.

Vater unser, wann wird die Erde uns
gehören?
Uns, den zahllosen Armen?
Vater unser, wann wird die Erde uns
gehören?
Uns, den von Unterdrückung befreiten Armen?"

Auch hier steht der theozentrische Aspekt, unterstrichen durch die redundante Anrede, im Mittelpunkt. In das Bittgebet sind Elemente des alttestamentlichen Volksklageliedes eingestreut, vor allem dort, wo die Situation der Lebenswelt beschrieben ist. Der Blick richtet sich aber auf den Zeitpunkt, zu dem Gott, der Vater der Armen, Befreiung realisieren wird. So spricht die Sehnsucht nach Erlösung. So drückt sich schlichte Frömmigkeit aus, die sich dessen gewiss ist, dass die bestehenden Verhältnisse zum "Vorletzten" gehören. Das letzte Wort und die letzte Tat gehören Gott, "unserem Vater". Er wird "alle Tränen trocknen" (vgl. Offenbarung 21,4) und die Hungrigen speisen (vgl. Psalm 107,9; 1 Samuel 2,1ff; Lukas 1,53ff).

Ohne konfessionalistische, ethnische oder nationalistische Töne trägt das Lied die Perspektive einer Gemeinschaft vor, die unterwegs ist zu ihrer wahren Geschichte. Der kontinentale Akzent und politische Stichworte verbinden sich mit einer Fülle von biblischen Assoziationen unter dem Leitwort "Vater unser". An den klassischen Text erinnert bis auf die Anrufung kaum etwas. Allerdings besteht eine spürbare Verbindung zu Sachthemen des Gebets, die hier von Motiven engagierter Frömmigkeit überformt sind. Darin entspricht das Lied dem Geist jener biblischen Perspektive, die Jahwe und den immanenten Alltag zusammendenkt, eine Tendenz, die auch das Gebet Jesu geprägt hat.

4. Die zahlreichen Vaterunser-Rezeptionen [19] folgen zwei markanten Strukturen. Häufig begegnet das Homilie-Modell. Das heißt, der klassische Text wird zitiert und mit Erklärungen bzw. inhaltlichen Konkretisierungen kommentiert. Es sind existentielle Paraphrasen, die das Leben der Rezipienten reflektieren. Ein anderes Modell vertreten Texte, die sich nur partiell auf das klassische Modell beziehen. Thematisiert werden einzelne Bitten, die dann meditierend oder umschreibend angeeignet [20] werden.

So unterschiedlich die Textgestalt auch ausfallen mag, in allen Beispielen ist die Absicht wahrnehmbar, den alten Text in eine kontextbezogene Verbindlichkeit zu übersetzen. Von sklavischer Abhängigkeit kann dabei keine Rede sein. Eher trifft man auf Gedanken, die von kritischer Auseinandersetzung zeugen. Verfremdungen werden riskiert, um dem gedankenlosen Reden Widerstand zu leisten.

"Vater unser,
der Armen und der an den Rand der
Gesellschaft Geschobenen.
Vater unser,
der Märtyrer, der Gefolterten ...
Dein Name ist herrlich,
damit die Gerechtigkeit unser Maßstab ist.
Dein Reich ist das Reich der Freiheit,
der Brüderlichkeit, des Friedens und der Gemeinschaft.
Verflucht ist jede Gewalt,
die das Leben verschlingt durch Unterdrückung...
Verzeihe uns, dass wir vor Angst
unseren Mund gehalten haben im Angesicht des Todes.
Verzeihe und zerstöre die Verhältnisse,
in denen die Korruption herrscht
und das Gesetz des Stärkeren ...
Vater unser,
Revolutionär,
Beschützer der Armen,
Gott der Unterdrückten" [21].

Die Vielfalt der Vaterunser-Rezeption unter einfachen Menschen muss mit den Aneignungsversuchen durch Dichter und Schriftsteller zusammen gesehen werden. Am offiziellen Christentum vorbei hat der Text sich einen Platz in der Kultur gesucht. Gedichte z.B. von Juan Gelman (Argentinien), Victor Jara (Chile) oder Mario Benedetti (Uruguay) [22] zeigen, welch evozierende Kraft das Herrengebet ausgeübt hat. Längst bevor die Volksreligiosität bzw. die Religiosität jenseits der offiziellen Kirche als theologisch relevant erkannt wurde, gab es eine religiöse Subkultur, in der die Menschen, die Armen, die Anderen Antworten auf ihre Fragen oder Sprachhilfen fanden[23].

II.

Wer in lateinamerikanischer releitura nach den Spuren historisch-kritischer Exegese sucht, wird es schwer haben. Die üblichen Arbeitsschritte dieses Interpretations-Modells (Textkritik, Literarkritik, Überlieferungskritik, Redaktionskritik, religionsgeschichtlicher Vergleich, begriffsgeschichtliche Untersuchung usw.) sind den Teilnehmern an Gesprächsrunden oder Bibelstudien in Basisgemeinden kaum bekannt. Und wer sie doch kennt, wird sie ganz anders einsetzen. Auch den bekannten Dreischritt von Analyse über meditative Reflexion hin zur Anwendung wird man so nicht antreffen. Der Grund dafür liegt darin, dass die in Europa üblich gewordenen Wissenschafts- und Erkenntnisformen in Lateinamerika sich nicht haben einwurzeln können. Ein methodisch vermittelter theologischer Gesamthorizont blieb Wunschtraum. Das Bewusstsein für Geschichtlichkeit und die Sensibilität für Identitätsfragen, in historischer Forschung unumgänglich, blieben Privileg von Eliten. Zu den Armen und Analphabeten ist die befreiende Wirkung von Kritik nie gelangt. Sie wurden in intellektueller Unmündigkeit gehalten. Die Neuzeit ist ihnen ausschließlich mit ihrer dunklen Seite [24] begegnet. An diesem Prozess war auch die Verkündigung der Kirche(n) beteiligt, insofern sie im Dienst der Mächtigen standen. Daher wundert es nicht, wenn religiöse Apathie der Massen und intellektuelle Opposition weitgehend das Ergebnis institutionellen Handelns der Kirche(n) waren. Theologie und Kirche, aus der Ersten Welt importiert, hatten auf spezifische Fragen keine Antworten, weil sie den Kontext, aus dem diese erwuchsen, nicht ernst genommen haben.

Nun dürfen die vorgestellten Rezeptionen des Vaterunser nicht als Ergebnis eines unwissenschaftlichen Vorgehens beurteilt werden. In ihnen artikuliert sich vielmehr eine Wissenschaftlichkeit eigener Art. Die einfachen Menschen, die Armen, haben sich den Bibeltext angeeignet, obwohl er ihnen lange Zeit vorenthalten und oft genug von den Mächtigen für fragwürdige Zwecke beansprucht worden war. Die armen Anderen hatten nämlich entdeckt, dass sie in den Texten vorkamen und ihnen ermutigende Lebensbedingungen zugesprochen wurden, ganz anders als im Alltagsleben. Eimal neugierig geworden auf den Reichtum der Bibel, ließen sie sich nicht mehr ausschließen aus dem Lernprozess, in dem sie Lernende und Lehrende zugleich waren.

Releitura verwirklicht sich in einem Grad von Wissenschaftlichkeit, [25] die mit den drei Perspektiven der Linguistik (Syntax, Semantik, Pragmatik) transparent gemacht werden kann. Der gerade beschriebene Vorgang der Aneignung (Appropriation) weist in den Bereich der Pragmatik. Lektüre und Textwahrnehmung vertiefen eine Haltung, die an der Praxis orientiert ist bzw. von der Gestaltung des Alltags herkommt. Im Prozess der Auseinandersetzung mit dem Text - was Suche nach Bedeutung, Erklären unbekannter Details usw. einschließt - ergeben sich Anstöße, die in die Lebenswirklichkeit zurückführen. Über die Anwendung konkretisiert sich dann auch Verstehen. M.a.W., im "usus facti" erweist das "factum" seine Evidenz. [26]

Die hermeneutische Relevanz der Praxis ist undenkbar ohne die Erfahrung von Menschen, die durch ihren Kampf um das Überleben gezeichnet sind. Längst bevor Interpretation oder Reflexion einsetzen, ist der Lebensvollzug "dran". Darum können die Bitten des Vaterunser nicht losgelöst vom Kontext gelesen werden. Erst die Verschränkungen mit der aktuellen Situation kanalisieren die Bedeutung und führen semantische Innovationen herauf. Der Text ist also weit entfernt davon, Offenbarungsdepot zu sein. Sinn stellt sich vielmehr als Ergebnis eines Gemeinschaftsunternehmens ein. Die Regeln, die den Umgang mit dem Bibeltext leiten, sind der dialogischen Suche nach Wahrheit verpflichtet. Und ihre Verbindlichkeit wird durch den Blick auf die Not des Anderen geprüft. Denn die eigene Befreiung ist nicht ohne die Befreiung des Anderen zu realisieren, sondern nur gemeinsam mit ihm zusammen.

Erwähnenswert ist noch die besondere Sprachgestalt der releitura. In dem Maß, wie die theologischen Experten sich zurücknehmen, verschwindet die dogmatische oder spekulative Rede. An ihre Stelle treten Aussagen, in denen narrative und metaphorische Elemente herausragen. Das Affektive gewinnt Raum und stimuliert das Kognitive. Aus den Lesetexten werden Lebenstexte.

III.

Die dargelegten Beispiele von releitura haben diese als didaktischen Vorgang ausgewiesen, insofern Lehrinhalte, Lehrende, Lernende und Ziele sich in einer dynamischen Interaktion verbunden haben. Wenn die Rezipienten an der Interpretation beteiligt werden, wiederholen sie nicht nur den Text, sie entwerfen ihn vielmehr neu als Botschaft für ihre Zeit. Sinn bleibt nicht auf die Vergangenheit beschränkt, sondern lädt ein als Gegenwart riskiert zu werden. Das ist mehr als Aktualisierung. Der wissenschaftliche Charakter dieser Rezeption liegt darin, dass Denkakt und Lebensakt sich verschränken. [27]

Aus der Beschäftigung mit der lateinamerikanischen releitura ergibt sich dreierlei:

  • Was in Lateinamerika unter dem Stichwort "releitura" geschieht, kann mit einem Vorgang verglichen werden, den die Überlieferungsprozesse der Bibel selber reflektieren. Traditionen sind keine absoluten Instanzen, sondern bedürfen der Aneignung, was u. U. zu Akzentverschiebungen führt. Im Johannesevangelium z.B. findet sich neben der realpräsentischen Perspektive (vgl. z.B. 3,18; 5,24f; 11,25f), die das Heil als gegenwärtig versteht, auch eine apokalyptische Tendenz, die auf das zukünftige Heil (vgl. z.B. 5,28f; 6,39f; 12,48) sich ausrichtet. Neben Aussagen, die auf eine offensichtlich sakramentlose Gemeinde schließen lassen, treten solche, die auf die Heilsnotwendigkeit der Sakramente (vgl. z.B. 3,5f; 6,51b-58a; 19,34b.35) abheben. Will man den Widerspruch nicht als Ineinander von originaler Tradition und sekundärer, d.h., sinnentstellender Redaktion erklären, bietet sich der konfliktbereite Dialog mit der Überlieferung als Lösungsmodell an. Innerhalb der johanneischen Gemeinde lassen sich dann theologische Perspektiven benennen, die jeweils eine historische Phase [28] bestimmt haben. Das hohe Selbstbewusstsein des johanneischen Glaubens, in der Gegenwart des Heils teilhaftig zu sein, hat Reaktionen provoziert. In kreativer Produktivität wurde die Jesus-Überlieferung weitergedacht, d.h., eine futurische Eschatologie und die Sakramente wurden eingeführt. Der historische Weg der johanneischen Gemeinde spiegelt sich also in den literarischen Eigentümlichkeiten des Evangeliums wider. Was wie ein Widerspruch erscheint, ist in Wahrheit das Ergebnis einer releitura. [29]

  • In der Begegnung mit "neuen" und "andersartigen literarischen Phänomenen" treten dieselben Verhaltensweisen auf wie im Zwischenmenschlichen. Mit Reserve, Skepsis, Angst oder Aggressivität wird auf den Fremden reagiert. Der "Andere" wird als Bedrohung, und als Infragestellung des Vorhandenen bzw. der eigenen Person empfunden. Kehrseite dieser Verhaltenssperre sind enthusiastische Sympathie und die Bereitschaft, das "Neue" oder "Andere" fraglos in den herkömmlichen Rahmen zu integrieren. Durch die Identifikation mit dem Anderen sollen Defizite im Bestehenden kompensiert werden. Was so altruistisch erscheint, ist in Wahrheit ein verdeckter Machtanspruch. Enthusiastische Aufnahme wie vehemente Ablehnung offenbaren gleichermaßen Unsicherheit in Bezug auf sich selbst und sollen Probleme mit der eigenen Identität und Geschichte verbergen. Eine sachgemäße Auseinandersetzung kann wohl erst dann einsetzen, wenn der Mechanismus der Berührungsangst durchschaut ist und die Verstrickungen in den eigenen Kontext bearbeitet werden. [30] Dass zur Universalität des einen Evangeliums mit Notwendigkeit die partikulare Gestalt von Wort Gottes gehört, ist kein Lehrsatz. Diese Paradoxie - "Das universale Wort spricht nur Dialekt" (Pedro Casaldaliga) - will internalisiert und gelebt werden.

  • Bei der Annäherung an Zeugnisse aus Lateinamerika muss eine doppelte Verfremdung bewusst gemacht werden. Der übersetzte Text wird mit einer Sprache und Kategorien der Ersten Welt konstituiert. Was fehlt, sind die spezifischen Konnotationen, der Gefühlshorizont, die Unter- und Nebentöne, die linguistische Tiefendimension des ursprünglichen Textes. Eigentlich ist immer eine Übersetzung zweiten Grades zu leisten, die das alles berücksichtigt.

Bestimmte Schlüsselbegriffe der lateinamerikanischen releitura stoßen im deutschen Sprachraum auf Widerstand, weil sie aufgrund von historischen Vorgängen oder ideologischen Verzerrungen ins Zwielicht geraten sind, wie z.B. der Begriff "Volk".

Hier müssen die jeweiligen Intentionen unmissverständlich benannt werden.
Wenn die Armen, Verfolgten, Bedrängten biblische Texte lesen, finden sie einen Reflex ihrer eigenen Lebensbedingungen, was die Plausibilität des Evangeliums wahrzunehmen hilft. Das Wahrnehmungsvermögen und die Auslegungssprache von Menschen auf der nördlichen Halbkugel sind dagegen von der bürgerlichen Lebenswelt geprägt. Selten ist diese Erkenntnisvoraussetzung bewusst. So verliert z.B. die Rede vom Reich Gottes ihre dynamische und infizierende Kraft im Kontext von Säkularisierung und postmoderner Beliebigkeit. Zu einem ehrlichen Umgang mit den biblischen Texten gehört aber Klarheit über diese Art von Zensur. Nur dann kann es zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenswirklichkeit und zu Sinnkonstitution kommen.

Was aber, wenn Menschen nicht die Notwendigkeit von Alternativen sehen, wenn sie zufrieden mit ihrer Lage sind?
Wer nicht blind und gefühllos seine Gegenwart erlebt, in der doch die Krise des Historischen, die Privatisierung von Religion und der soziale Autismus den Ton anzugeben bemüht sind, der müsste sich eigentlich an den künstlich aufgerichteten Grenzen innerhalb der Einen Welt stoßen.

Der Blick auf das Ganze, der Sinn für das Elementare und die Resistenz gegen die lebensverneinenden Mächte stellen sich aber nicht aufgrund bloßer Forderungen ein. Ein Lern- und VerlernProzess, der die theologischen bzw. exegetischen Monopolvorstellungen und eurozentrischen Perspektiven betrifft, muss dem vorausgehen. [31] Sonst finden die Leser in den Texten immer nur das, was sie so oder so immer schon wussten.

Professor Dr. Ulrich Schoenborn,
Georg-Voigt-Straße 72a,
D-35039 Marburg


*****


[1] Vgl. U.Schoenborn, "Widerruf oder Affirmation? Die Ausgeschlossenen` als neuer Fokus in der ,Theologie der Befreiung`, in: epd(Dokumentation Nr. 1/97, 59-68; H.Brandt, Befreiungstheologie nach der Wende, in: ThLZ 124, 1999, 963-978.
[2] Die in diesem Artikel genannten Beispiele sind meiner Studie "Con irreverencia y gratitud. El ,Padrenuestro` en América Latina" (Buenos Aires 1990) entnommen. Vgl. auch H.Brandt, Vater unser auf Erden. Das Gebet Jesu in Lateinamerika, Hannover 1992.
[3] Der Begriff wurde von Martin Dibelius 1919 (vgl. Die Formgeschichte des Evangeliums, 4. Aufl. Tübingen 1961, 1ff) in die exegetische Diskussion eingeführt.
[4] H. Schroer beurteilt diese Bibellektüre als theologische und politische Kommentierung der Wirklichkeit. Aus Erkenntnissen, die durch wissenschaftliche Arbeit gewonnen wurden, folge die praktische Anwendung (vgl. ders., Bibelauslegung durch Bibelgebrauch. Neue Wege praktischer Exegese, in: EvTh 45, 1985, 500-514). D. Dormeyer schlägt den Ausdruck "wilde Exegese" (vgl. ders., Das Verhältnis von wilder und historisch-kritischer Exegese, als methodologisches und didaktisches Problem, in: Jahrbuch für Religionspädagogik 3, 1987, 111-126. Der Ausdruck stammt eigentlich von Joachim Scharfenberg.) vor, weil ein Prozess abläuft, der die Dimension des Alternativen und Fremdartigen enthält. Beide Einordnungsversuche setzen eurozentrische Denkmodelle voraus. Darum treffen sie das Spezifische des Auslegungsvorgangs nur zum Teil, auch wenn sie sich von Sympathie leiten lassen.
[5] Ernesto Cardenal, Das Evangelium der Bauern von Soletiname, Wuppertal 1980. Vgl. auch H.H.Koch, Ernesto Cardenal, München 1992, bes.77ff.
[6] A.a.O., 95-104.
[7] A.a.O., 98.
[8] ebda
[9] Vgl. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1-7), EKK I/I Neukirchen(Vluyn/Zürich 1985, 345ff; G.Strecker, Die Bergpredigt. Ein exegetischer Kommentar, Göttingen 19852, 122ff.
[10] Cardenal, a.a.O., 102.
[11] Schon Lukas spiritualisiert; vgl. 11,4a: "Vergib uns unsere Sünden...".
[12] Vgl. W. Schottroff, Das Jahr der Gnade (Jes 61,1-11), in : L. u. W. Schottroff (Hg.), Wer ist unser Gott? Beiträge zu einer Befreiungstheologie im Kontext der "ersten" Welt, München 1986, 122-136.
[13] Vgl. H. G. Kippenberg, Religion und Klassenbildung im antiken Judäa, Göttingen 1978, 128ff
[14] Cardenal, a.a.O., 104.
[15] Vgl. Luz, a.a.O., 337ff; ferner H.Brocke/ W.Strolz (Hg.), Das Vaterunser. Gemeinsames Beten von Juden und Christen, Freiburg usw. 1982.
[16] Wahrscheinlich geht das Wortspiel auf P.Casaldáliga, Cantigas menores, Goiania 1979 zurück.
[17] Übertragung: U.Schoenborn.
[18] Text aus: O canto dos oprimidos, Belem 1981, 56; Übertragung: U.Schoenborn.
[19] gl. U.Schoenborn, Con irreverencia y gratitud. El Padre nuestro en América Latina, Buenos Aires 1990.
[20] gl. auch L.Boff, O pai-nosso. A oracao da libertacao integral, Petrópolis 1979 (= dt. 1981, bes. 9; 122); R.Alves, Pai nosso. Meditacoes, Sao Paulo 1987 (= dt. 1988, bes. 8f).
[21] ext in: Schoenborn, a.a.O., 48; Übertragung aus: Christ und Sozialist(Blätter des Bundes der Religiösen Sozialisten Deutschlands. Neue Folge 13, 1989, 1.
[22] gl. die bei Schoenborn, a.a.O., 23, 25, 29 aufgeführten Beispiele.
[23] Nicht von ungefähr weist Carlos Mesters (Das Verständnis der Schrift in einigen brasilianischen Basisgemeinden, in: Concilium 10, 1980, 561-566) auf die "Konnaturalität" der einfachen Menschen mit dem Bibeltext hin. Und Jorge Pixley (Hosea(ein neuer Lesevorschlag aus Mittelamerika, in: EvTh 51, 1991, 80) spricht von dem erkenntnistheoretischen Privileg der Armen und Unterdrückten Lateinamerikas.
[24] Vgl. R. Rottländer, Die Eroberung Amerikas und wir in Europa, in: Misereor - Berichte und Dokumente 5, Aachen 1992, 34ff.
[25] Vgl. J.Sobrino, Theologisches Erkennen in der europäischen und der lateinamerikanischen Theologie, in: K.Rahner (Hg.), Befreiende Theologie. Der Beitrag Lateinamerikas zur Theologie der Gegenwart, Stuttgart usw. 1977, 123-143.170-173; J.B. Libanio, Europäische und lateinamerikanische Theologie: Unterschiedliche Perspektiven, in: Lebendiges Zeugnis 40, 3/1985, 40-55.
[26] Zu dieser Denkfigur vgl. M. Luther, Weimarer Ausgabe 26, 40, 14; 26, 65, 17ff.
[27] Aufschließend für diese Interaktion sind die ökononischen, politischen, ideologischen und sozialen Fragehinsichten, die in zwei Arbeitsgängen an Text und Situation herangetragen werden. Vgl. dazu U. Duchrow, Was können wir von den Basisgemeinden in Brasilien lernen?, in: Pastoraltheologie 75, 1986, 229-248; H. Goldstern, Überlegungen zum befreienden Umgang mit der Bibel in der erneuerten Kirche Lateinamerikas, in: Bibel und Kirche 42, 1987, 116-130; M. Stahl, Vom Verstehen des Neuen Testaments in der einen Welt, in: Zeitschrift für Mission XVI, 1990, 224-239.
[28] Zu dieser Sachfrage vgl. G.Richter, Studien zum Johannesevangelium, Biblische Untersuchungen 13, Regensburg 1977; H.Thyen, Art. Johannesevangelium, in: TRE XVI, 200-25; J.Zumstein, Miettes Exégétiques, Genf 1991, bes. 209ff; K.Wengst, Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus, München 1992; J.Zumstein, Das Johannesevangelium: eine Strategie des Glaubens, in: Theologische Beiträge 28, 1997, 350-363.
[29] Von daher sind wertende Differenzierungen in originale und sekundäre Schichten nicht statthaft. Das Interpretations-Modell der ,releitura` hat neuderdings Jean Zumstein aufgegriffen; vgl. ders., Der Prozess der Relecture in der johanneischen Lieteratur, in: NTS 42, 1996, 394-411, ferner: Zur Geschichte des johanneischen Christentums, in: ThLZ 122, 1997, 417-428. Zum Begriff der ,relecture` hat sich der Literaturwissenschaftler G.Genette (Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris 1982; dt. 1992) ausführlich geäußert.
[30] Zu dieser schwierigen und doch notwendigen Problematik vgl. P.Suess, Über die Unfähigkeit der Einen, sich der Anderen zu erinnern, in: E. Arens (Hg.), Anerkennung der Anderen. Eine theologische Grunddimension interkultureller Kommunikation. FS Helmut Peukert, QD 156, Freiburg usw. 1995, 64-94.
[31] Aus der Diskussion, die in jüngster Zeit Impulse aus Lateinamerika aufgenommen und verarbeitet haben , seien genannt: F.Crüsemann, Anstöße. Befreiungstheologische Hermeneutik und die Exegese in Deutschland, in: EvTh 50, 1990, 535-545; H.K.Berg, Ein Wort wie Feuer. Wege lebendiger Bibelauslegung, München/ Stuttgart 1991, bes. 273ff; H.Brandt, Vater unser auf Erden, Hannover 1992; ferner: Th.Schmeller, Das Recht der anderen. Befreiungstheologische Lektüre des Neuen Testaments in Lateinamerika, NTA NF 27, Münster 1994; U.Schoenborn (Hg.), Hermeneutik in der Theologie der Befreiung, Mettingen 1994, bes. 150ff; M.Fricke, Bibelauslegung in Nicaragua: Jorge Pixley im Spannungsfeld von Befreiungstheologie, historisch-kritischer Exegese und baptistischer Tradition, Münster 1997; E. S. Gerstenberger/U.Schoenborn (Hg.), Hermeneutik - sozialgeschichtlich, Münster 1999.


**

Neu erschlossesn:


STANISLAW VINCENZ (1888 - 1971)

Paraphrase des Vaterunser


O Vater unser,

der Du   bist im Himmel

über den Abgründen, über den Lichternebeln,

auf Orgeln weit   den Sternozeanen,

geheiligt sei Dein Name

mit Lichterstimmen   Stimmen des Dunkels.

Wecke in unseren Seelen Dein Reich,

es quelle wie Deine Orions von selbst hervor,

nach demselben Willen im Himmel

wie auf Erden.

Brot und Gesundheit und Hoffnung

gib uns heute,

damit wir nicht in der Öde abseits des Weges zugrunde gehen.

Und vergib uns unsere Schuld

wie wir vergeben unseren Schuldigern,

entsiegele uns die Augen,

wie auch wir die jüngeren Brüder erleuchten.

Könntest Du uns in Versuchung führen?

Und da unser Herz sich nicht von alleine regt,

erlöse uns von dem Bösen  

Amen.

Ungarn, 1941

Aus: Lyrisches Quintett. Fünf Themen der polnischen Dichtung. Herausgegeben von Karl Dedecius. Frankfurt 1992.S. 188)


*


Vatermutter unser!

Herkömmlich: Vater-Unser

Gespräch zwischen Beter und Gott


Beter(in): „Vater unser im Himmel ...“

Gott: „Ja?“

B.: „Unterbrich mich nicht! Ich bete.“

G.: „Aber du hast mich doch angesprochen!"

B.: „Ich dich angesprochen? Äh, nein, eigentlich nicht! Das beten wir eben so: Vater unser im Himmel!“

G.: „Da. schon wieder. Du rufst mich an, um ein Gespräch zu beginnen, oder? Also, worum geht's?“

B.: „Geheiligt werde dein Name...“

G.: „Meinst du das ernst? Weißt du, was das bedeutet?“

B.: „Es bedeutet ... es bedeutet meine Güte, ich weiß nicht, was es bedeutet. Woher soll ich das denn wissen?“

G.: „Es heißt, daß ich dir viel bedeute und daß du meinem Namen Ehre machst."

B.: „Aha, hin, das verstehe ich. Also: Dein ,Reich komme, dein Wille geschehe, wie im

Himmel, so auf Erden...“

G.: Just du das wirklich?“

B.: „Natürlich. Ich zahle Kirchensteuer und gehe ab und zu in den Gottesdienst.“

G.: „Das ist schön, aber was ist denn dein persönlicher Beitrag zu mehr Frieden und mehr Gerechtigkeit in der Welt?“

B.: „Warum fragst du mich das? Da gibt es noch andere, die vor Geld nicht aus den

Augen sehen können und nichts tun.“

G.: „Entschuldige, ich dachte, du wärst persönlich daran interessiert, daß mein Wille mehr

beachtet wird auf Erden. Du betest doch darum.“

B.: „Kann ich jetzt mal weiterbeten? Unser tägliches Brot gib uns heute ...“

G.: „Es freut mich, daß du nicht nur um dein Brot bittest, sondem um Brot für alle."

B.: „Stimmt, habe ich gar nicht dran gedacht.“

G.: „Es gibt ja noch genug Arme und Hungernde auf der Erde, die mehr brauchen als nur eine kleine Spende.“

B.: „Eigentlich hast du recht, ich weiß. Darum bete ich ja auch: Und vergib uns unsere

Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigem.“

G.: „Und deine Nachbarin?“

B.: „Hör mit der auf? Mit der will ich nichts mehr zu tun haben. Die grüßt mich ja auch

nicht mehr.“

G.: „Habe ich gehört. Aber dein Gebet?“

B.: „Mit meiner Nachbarin hat das nichts zu tun. Soll die sich doch erst bei mir ent­schuldigen."

G.: „Fühlst du dich denn gut dabei?“

B.: „Nee.“

G.: „Ich will dir helfen. Vergib ihr doch, und ich vergebe dir. Ich vergebe dir auch jetzt schon. Und du weißt, da ist einiges.“

B.: „Ich werd's mir überlegen. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns

von dem Bösen ...“

G.: „Gut, wenn du mich darum bittest, aber du kannst auch etwas dazu beitragen.“

B.: „Wie denn?“

G.: „Das Böse, fängt das nicht im eigenen Kopf und im eigenen Herzen an: Alle Schuld auf

die Ausländer schieben oder immer bequemer leben wollen und sich nicht um die

Schöpfung scheren oder mit der Faust zuschlagen, statt miteinander zu reden? Hast du diese Versuchung noch nie gespürt?“

B.: „Ich finde, jetzt wird es aber ungemütlich. Ich wollte doch einfach nur ein Vater unser

beten.“

G.: „Bete ruhig zu Ende.“

B.: „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.“

G.: „Amen.“

B.: Ja, das stimmt. Wenn ich an die Reichen und Mächtigen denke, die es hier auf Erden

gibt, dann bin ich froh, daß sie nicht über alles bestimmen können. Die Macht und

die Kraft und die Herrlichkeit ist bei dir doch besser aufgehoben.“



Darum sollt ihr so beten:


Unser Vater im Himmel, dein Name sei unantastbar, deine Herrschaft laß wirksam werden, deinen Willen laß geschehen im Himmel und in unserer Weit. Gib uns das Brot, das wir heute nötig haben, vergib uns das Böse, das wir getan haben, wie wir dem vergeben werden, der uns Böses getan hat. Schütze uns vor der Gefahr, dich zu verlieren, und mache uns frei von der Macht der Finsternis, die dir feindlich ist. Denn dir steht die Herrschaft zu und die Macht und die Ehre in Ewigkeit. Amen.

*

(Text unbekannten Verfassers, unbekannter Quelle; aus der Gemeindearbeit der Christus-Kirche in Recklinghausen)


*


Ambrose Bierce (1842 1914?), angeleitet durch weltliche, journalistische Belehrung, wagte eine ironische Neufassung für das Vaterunser vorzuschlagen:


O Herr, der Du, wie wir für den Zweck dieses Bittgebets annehmen wollen, Himmel und Erde erschaffen hast; und der Du, sagen wir mal, von Ewigkeit zu Ewigkeit währest: Dich flehen wir an, Deine Aufmerksamkeit zu richten auf einen Haufen der verworfensten Affenärsche, auf denen Dein Auge ruhen zu lassen Du jemals das Vergnügen hattest. Dies im Namen Deines Sohnes, den wir aufgeknüpft haben, Amen.“


Ohne Kenntnis der Zusammenhänge der Vorlage gehen der kritische Witz und die humane Intention seines Angriffs. Als ebenso aufschlußreich wie das auswendig gewußte Vaterunser-Original erweist sich die Information zum Erfahrungshintergrund des Verfassers dieser neuen Version: Bierce hat im amerikanischen Bürgerkrieg an der Schlacht von Shilo teilgenommen, wo sich Konföderierte und Unionssoldaten zu Tausenden abschlachteten, bis der Sieg der Nordstaaten abzeichnete – und mit ihm sich die Idee der Abschaffung der Skalvenhaltung durchzusetzen begann.



Vater unser, gib ab deinen Himmel!“


VERFASSER UNBEKANNT


Ein Vaterunser wider den Papst (um 1600)


Bapst unser Feind, der du zu Rohm bist,

ewig werd verdielgt dein Nam.

Dein Reich gewaltig zerstört wird,

welche du so prechtig fuerst auf dieser Erd.

Dein Wil nicht mehr geschehen soll

auf Erden so oder in der Hell,

darinen du ewig sietzen solt,

weil du bleibst ohn Reu und Buest.

Vor deinen Ablos gieb du uns heut

den jährlichen Zins zu einer Beute

auf daß wir zahlen in Geduld

den Leuten hiemit unser Schuld.

Und fir uns nicht in deinen Ban

damit du kulest mangen Mann.

Sondern erlöß uns, daß wir frey

Gott dienen ohn Abgotterey.

Den dein Reich, Kraft und Herligkeit

sich enden soll in kurzer Zeit. Amen.

(Aus: Gebhard Mehring: Das Vaterunser als politisches Kampfmittel. Zeitschrift des Vereins für Volkskunde. 19. Jg. 1909. S. 134)


*


MIRKO JELUSICH

Vaterunser 1914


Vater unser, der Du bist im Himmel,

aus Not und Tod und Schlachtgetümmel

heben zum Schwur wir empor die Hand :

Wir sind nicht schuld an dem Weltenbrand!

Geheiliget werde Dein Name,

wo Frieden herrscht; uns gönnen sie's nicht!

Siehe, rundum des Hasses Samen

ist aufgeschossen wie Giftkraut zum Licht :

Es ist kein Kampf von gleich gegen gleich!

Zu uns komme Dein Reich,

und Deine helfende Nähe

schütze das Recht gegen falsche List!

Dein Wille geschehe,

auf daß sie alle es inne werden,

daß eine strafende Macht noch ist

wie im Himmel, also auch auf Erden!

Gedenke des Schreckens, der uns bedroht,

und gib uns unser tägliches Brot,

gib uns den Mut, der uns aufrecht hält,

und das Vertrauen auf Deine Huld,

wenn alles um uns in Trümmer fällt,

und vergib uns unsere Schuld,

sofern wir solche begangen hätten,

als auch wir vergeben unsern Schuldigern :

Wir kämpfen ja nur um der Heimat Stätten,

die sie mit Feuer und Mord versehrn!

In Versuchung führe uns nicht,

daß unsere Heere werden zu Horden

und statt zu halten strenges Gericht,

es jenen gleich tun im Sengen und Morden,

sondern vom Übel uns erlöse!

Ein Wort von Dir, so erliegt das Böse,

denn Dein ist das Reich!

So gib uns den Willen zum Schwertesstreich

und gib uns das eherne Herz und die Kraft,

die bis zum Ende den Nacken strafft,

und schenk uns den Sieg und die Herrlichkeit;

wir zieh n in den Kampf, zum Letzten bereit

in Deinem heiligsten Namen. Amen.

(Aus: M.J.: Kriegsgedichte für Feldgrau und Marienblau. Berlin o.J.)




*~*~*



REINHOLD OBERLERCHER:

Das Kapitalunser (1968)


Kapital unser, das du bist im Westen -

Amortisieret werde deine Investition -

Dein Profit komme -

Deine Kurse steigen, wie in Wall Street,

also auch in Europen -

Unser täglich Umsatz gib uns heute -

Und verlängere uns unsere Kredite,

wie wir sie stunden unsern Gläubigern-

Und führe uns nicht in Konkurs,

Sondern erlöse uns von den Gewerkschaften.

Denn Dein ist die halbe Welt und die Macht

und der Reichtum seit zweihundert Jahren -

Mammon.

(Aus: R.O.: Werkhefte des Arbeitskreises für Amateurkunst. Nr. 26/27. Oberhausen 1968)



FLOH DE COLOGNE:

Lehrherr unser ( 1970)


Lehrherr unser, der du hast den Betrieb,

dein Reichtum komme! Dein Wille geschehe

wie in der Werkstatt also auch auf dem Klo.

Unsern täglich Besen gib uns heute

und vergib uns unsere Forderungen,

wie wir bezahlen deine Schulden.

Und führe uns nicht zur Verantwortung,

denn Lehrjahre sind keine Herrenjahre!

In Ewigkeit! Amen!

(Auf LP „Lehrlinge zusammenhalten“. Dortmund 1971: Pläne Verlag)


*


Pablo Neruda:

GESANG FOR BOLIVAR


Vater unser, der du bist in Erden, im Wasser, in der Luft

all unserer weiten schweigenden Breite,

alles trägt deinen Namen, Vater in unserm Gebiet:

deinen Namen bringt das Zuckerrohr zur Süße,

Bolivarzinn strahlt wie Bolivar,

Bolivarvogel über Bolivarvulkan,

Kartoffel, Salpeter, besondere Schatten,

Strömungen, Adern phosphorischen Gesteins,

alles, was unser, entstammt deinem erloschenen Leben:

Ströme, Ebenen, Glockentürme waren dein Nachlaß,

unser Erbe ist unser täglich Brot, Vater.


Dein kleiner tapferer Hauptmannsleib

hat ins Unendliche hin seine metallische Form gebreitet:

plötzlich kommen deine Finger aus dem Schnee hervor,

und der südliche Fischer bringt jäh ans Licht

dein Lächeln, deine Stimme pochend in den Netzen.


Welche Farbe soll die Rose haben, die wir nahe deiner Seele pflanzen wollen?

Rot soll die Rose sein, die an deinen Schritt gemahnt.

Wie sollen die Hände sein, die an deine Asche rühren?

Rot sollen die Hände sein, in deiner Asche geboren,

Und wie die Saat deines toten Herzens?

Rot die Saat deines lebendigen Herzens.


Und so umgibt dicht heute ein Kreis von Händen.

Neben meiner Hand ist eine andere, und eine andere daneben,

und immer mehr andere, hinunter in die Tiefen des dunklen Kontinents.

Und eine andere dir unbekannte Hand

streckt sich aus, Bolivar, der deinen entgegen.

Von Teruel, aus Madrid, vom Jarama, vom Ebro,

aus den Zuchthäusern, aus der Luft, aus dem Tod Spaniens

kommt diese rote Hand, die ein Kind ist der deinen.


Hauptmann, Kämpfer, wo immer eine Stimme

Freiheit ruft, wo immer ein Ohr lauscht,

wo immer ein roter Soldat eine braune Stirn zerschmettert,

wo immer Lorbeer der Freien grünt, wo immer ein neues

Banner sich mit dem Blut unsrer ruhmreichen Dämmerung schmückt,

Bolivar, Hauptmann - dort kann man ein Antlitz erraten,

in Pulver und Rauch wird dein Schwert wiedergeboren,

wieder ist dein Banner mit Blut bestickt.

Schurken fallen über deine Saat her von neuem:

An ein anderes Kreuz wird der Sohn des Menschen geschlagen.


Doch hin zur Hoffnung führt dein Schatten uns:

Der Lorbeer und das Licht deines roten Heeres

sieht durch die Nacht Amerikas mit deinem Blick.

Deine Augen, die wachsam sind über den Meeren,

über den unterdrückten und verletzten Nationen,

über den dunklen Städten in Flammen,

deine Stimme, deine Hand sind wiedergeboren:

Dein Heer verteidigt die heiligen Banner:

Und das schreckliche Geräusch des Schmerzes zieht voran

der Dämmerung vom Blut des Menschen gerötet.


Befreier, eine Welt des Friedens ward in deinen Waffen geboren,

Frieden, Brot, Korn sprossen aus deinem Blut:

Aus unserem jungen Blut, stammend aus deinem Blut,

wird Frieden, Brot, Korn kommen für die Welt, die wir bauen werden.


Ich traf Bolivar eines langen Morgens

in Madrid im Stab des Fünften Regiments.

Vater«, sprach ich zu ihm, »bist du’s oder bist du’s nicht oder wer bist du überhaupt?“

Und hinüberschauend nach Cuartel de la Montafia sagte er:

Ich erwache alle hundert Jahre, wenn das Volk erwacht.“


Aus: P.N.: Aufenthalt auf Erden. Gedichte. S. 157ff.)



Vater Unser


Vater unser im Himmel


warst du der Vater von denen, die zusammengetrieben wurden, die verbrannt worden sind oder anders verreckten?

Warst du der Vater von denen, die sich trieben und schlugen und vergasten?

warst du, bist du der Vater von denen, die den Mund hielten und schwiegen, die "nichts wußten" und die "nichts zu bereuen haben"? Was sind wir für Menschen, daß wir dich "unser Vater" nennen?


Vater unser   geheiligt werde dein Name

ohne Schlußstrich, »daß Auschwitz nicht noch einmal sei...«


dein Reich komme

ohne Schlußstrich, » daß Auschwitz nicht noch einmal sei...«


dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden

ohne Schlußstrich, » daß Auschwitz nicht noch einmal sei« weder im Himmel noch auf Erden


unser täglich Brot gib uns heute

gib allen Brot, das sie brauchen, für das sie nicht erpreßt werden, Brot, an dem niemand stirbt


und vergib uns unsere Schuld

nein, nicht den Schlußstrich machen! weder im Himmel noch auf Erden, denn »Verdrängen hält die Erlösung auf   Sicherinnern bringt sie näher«. Und wir sehnen uns danach, wir wollen, daß die Erlösung näher kommt, uns und allen anderen.


Darum vergib uns:

unser Vergessen, unser Schweigen, unser Rechnen mit Sach­zwängen, unsere Zaghaftigkeit, unsere Phantasielosgikeit im Umgang mit unserer Schuld und im Umgang mit denen, an denen wir schuldig geworden sind.


und vergib uns »unseren Verdacht, du selber könntest schuldig geworden sein an zu viel Leiden«,


wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.

Und führe uns nicht in Versuchung

nicht in die Träume von neuem Ruhm, von »Modell Deutsch­land« auf der einen oder der anderen Seite nicht auf Wege, wohin schon unsere Väter sich geführt wußten,

wo am Ende Gräber, massenhaft, ohne Kreuze waren, nicht dahin, wo Parolen unseren Weg bestimmen,


führe uns nicht in Versuchung

sondern erlöse uns von dem Bösen

von dem Bann, der sich auf uns zu legen droht, vom Nebel des Nationalismus, von der Angst, die herrscht, weil auch wir von Herrschenden, von Kapital und Wachstumsraten mehr erwarten als von dir, damit wir unser Gesicht nicht zu verstecken brauchen.


denn dein ist das Reich

das unter den Menschen und (von mir aus auch) unter den Engeln, in dem für alle eins gilt: Leben und Liebe


und die Kraft

auch wenn sie leise kommt und gegen Erwartung leiser als jede andere Geburt die Kraft, die keinen von uns mächtig macht über andere, die uns weiterdenken läßt und weiterhandeln.


und die Herrlichkeit

unsere Freude in Ewigkeit.

Amen.


(Aus: ESG Köln und KSG an der Fachhochschule Köln [Hrsg.]: Politisches Nachtgebet: „9. November, Kristallnacht   Nur Vergangenheit?“, ESG Informationen 6/78, Köln 1978, S.24f.)


**

Friedrich Küppersbusch:

Priester als Väter (Juni 1995)

«Vater unser», beten die Kleinen, wenn der Bischof reinkommt. «Stimmt, aber nicht so laut », tuschelt Hochwürden. Wieder hat sich das Leben unverschämt katholischen Dogmen widersetzt, denn die verbieten, daß etwa der Baseler Bischof Vogel ein Kind zeugt. Warum aber, so fragen immer mehr Gläubige, soll dann ein jun­ger Mann heute noch katholischer Geistlicher werden? Ganz einfach: Vielleicht hat er es vom Vater.(Aus: Friedrich Küppersbusch: „Bis hierhin vielen Dank“. Rororo 60226. S. 128)


*


Ja, es ist Zeit, sich und für Gott Zeit zu nehmen, ihm in seinem eigenen Gemüt, seinen Wunden und Wundern, seinen Träumen, Hoffnungen zu begegnen;: wir als Menschenkinder brauchen Vater und Mutter; brauchen, je in der unterschiedlichen Sozialisationsformen und -institutionen (Kindheit, Kindergartenzeit, Schulzeit, Freundesgruppe, Mitglied in Kirche, Sportgruppe oder Staat; Liebe und Ehe) beide Götlichkeits-Imaginationen: Vater und Mutter, bzw. besser ausgedruckt: Mutter und Vater. Also: Vatermutterunser, das du unser aller Sehnsucht ist.


*

KARL VALENTIN (1882-1948)

Vater unser, der Du bist im Himmel ...



Vater unser, der Du bist im Himmel,

erlöse die Menschen nun endlich von den Menschen.

Diese Sippschaft ist nicht mehr wert

als daß Du sie vernichtest.

Sie wissen nichts anderes mehr zu tun

als Blut zu vergießen

indem sie sich gegenseitig abschlachten.

Mache Du nun endlich Schluß

mit den unseligen Kriegen

auf der ganzen Erde.

Du allein bist der Größte Feldherr.

Du brauchst keine Giftgase

und keine Kanonen

keine Tanks und keine Bomben.

Du brauchst nicht so grausame Waffen.

Lasse Du harmlose Schneeflocken vier Wochen lang

Tag und Nacht ununterbrochen auf die Erde fallen,

dann ist der wahre Frieden auf Erden  

Amen

(Aus: Sämtliche Werke. Bd. 2. Piper Verlag. 1994)


*


Ernst Toller Das dumme Heldenideal


Es gibt kein dümmeres Ideal als das Ideal des Helden. Je lebens­näher ein Mensch ist, um so näher ist er dem Tode, mit anderen Worten, um so tiefer gefährdet. jeder wahrhaft tapfere Mensch kennt die Stunden, da ihn Hilflosigkeit jäh überfällt, Angst vor den elementa­ren Gewalten, die ihn bedrängen mit unheimlicher Magie.


8. 4. 1927.   Ernst Toller im »Berliner Tageblatt«. Der »Völkische Beobachter« VOM 20. 4. antwortet darauf:


»... In keinem anderen Lande würde sich irgendeine Zeitung für eine derartige Ausschleimung eines jüdischen Gehirnakrobaten herzugeben wagen. In Deutschland aber ist so etwas an der Tagesordnung. Und so ein Bursche, der mit einer solchen Brutalität dem Millionenheere der deutschen Gefallenen ins Gesicht zu höhnen sich erdreistet ... «



Hermann Hesse Keine alte Geschichte


... für mich ist der Krieg mit seinen vier Jahren Mord und Un­recht, mit seinen Millionen Leichen und seinen zerstörten herrlichen Städten keine »alte Geschichte«, die jeder Vernünftige doch Gott sei Dank längst vergessen hat, sondern er ist, weil ich die Bereitschaft zu seiner Wiederholung in tausend Zeichen überall atme, sehe, fühle, rieche, für mich wahrlich eine mehr als ernste Angelegenheit.



Ernst Jünger Selbstanzeige


... Der Nationalismus fühlt sich weit weniger als der Liberalismus in allen seinen Schattierungen auf den Kampf mit geistigen Waffen beschränkt. Da er sich auf eine natürliche und nicht etwa auf eine geistige Gemeinschaft bezieht, spielt der Intellekt nur die Rolle einer Funktion, nicht aber seiner Substanz ... Der Nationalismus ... strebt den nationalen, sozialen, wehrhaften und autoritativ gegliederten Staat aller Deutschen an ... Es gibt keinen besseren Beweis dafür, daß wir nur einen Zusammenbruch und keine Revolution erlebten als den, daß das Ende vom Liede die parlamentarische Demokratie gewesen ist. Unsere Großväter durften ihre angesäuerten Ideale ver­wirklichen, aber dieser Rock war zu billig, zu sehr Konfektion, um dauerhaft zu sein. Es besteht in der Jugend die Auffassung, daß die Revolution nachgeholt werden muß ...

Der wahre Wille zum Kampf jedoch, der wirkliche Haß hat Lust an allem, was den Gegner zerstören kann. Zerstörung ist das Mittel, das dem Nationalismus dem augenblicklichen Zustande gegenüber allein angemessen erscheint. Der erste Teil seiner Aufgabe ist anarchischer Natur, und wer das erkannt hat, wird auf diesem ersten Teile des Weges alles begrüßen, was zerstören kann. Nicht unsere Aufgabe ist es, auf Maßnahmen zu sinnen, die den außenpolitischen Druck erträglicher erscheinen lassen, die innerpolitischen Spannungen mil­dern könnten, an Wahlen teilzunehmen, die Konferenzen und Ab­stimmungen zu beeinflussen, uns mit sogenannten Volksentscheiden zu beschäftigen. Nicht unsere Aufgabe ist es, gegen den allgemeinen Verfall der politischen und sozialen Moral, gegen Abtreibungen, ge­gen Streiks, gegen Aussperrungen, gegen Verminderungen der Polizei und des Heeres mit langen Tiraden zu Felde zu ziehen. Wir überlas­sen die Ansicht, daß es eine Art der Revolution gibt, die zugleich die Ordnung unterstützt, allen Biedermännern. Was hat denn das Ele­mentare mit dem Moralischen zu tun? Dem Elementaren aber, das uns im Höllenrachen des Krieges seit langen Zeiten zum ersten Male wieder sichtbar wurde, treiben wir zu. Wir werden nirgends stehen, wo nicht die Stichflamme uns Bahn geschlagen, wo nicht der Flam­menwerfer die große Säuberung durch das Nichts vollzogen hat. Wer das Ganze leugnet, der kann nicht aus den Teilen Früchte ziehen. Weil wir die echten, wahren und unerbittlichen Feinde des Bürgers sind, macht uns seine Verwesung Spaß. Wir aber sind keine Bürger, wir sind Söhne von Kriegen und Bürgerkriegen, und erst wenn dies alles, dieses Schauspiel der im Leeren kreisenden Kreise, hinwegge­fegt ist, wird sich das entfalten können, was noch an Natur, an Ele­mentarem, an echter Wildheit, an Ursprache, an Fähigkeit zu wirk­licher Zeugung mit Blut und Samen in uns steckt. Dann erst wird die Möglichkeit neuer Formen gegeben sein ...


21.9.1929.   Leopold Schwarzschild hatte Ernst Jünger   als »unbestrittenen geistigen Führer« des »jungen Nationalismus«   aufgefordert, in der Tagebuch-Rubik »Selbstanzeige« sein Programm vorzustellen. Jünger ist die einflußreichste literarische Stimme des glorifizierten Kriegserlebnisses: »In Stahlgewittern«, 1920, »Der Kampf als inneres Erlebnis«, 1922, »Das Wäldchen 125«, 1925, »Feuer und Blut«, 1925, »Die totale Mobilmachung«, 1931. Bis 1932 schreibt Jünger - vielbeachtet - in den Zeitungen der nationalen Revolution, u. a. in: »Standarte« und »Arminius«. (Neben F. Schauwecker, H. Brauweiler, Ed. Stadler u. a. ist jünger einer der geistigen Wortführer des »Stahlhelm« und des »Jungdeutschen Ordens« [Jungdo]).

Jünger, der in seiner »Selbstanzeige« zu Felde zieht gegen Weimar als der »langweiligsten Form der kleinbürgerlichrationalistischen Ordnung im Schrebergartenstil«, wird von Leopold Schwarzschild in der folgenden Ausgabe des »Tagebuchs« (vom 28.9.1929) unter der Überschrift geantwortet: »Heroismus aus Langeweile«. Jüngers Evangelium »vom Führertum, vom Heroismus, vom Kampf als der höch­sten Heroenangelegenheit, von der Unfruchtbarkeit der Humanität, vom Ersatz des Gesetzesrationalismus durch Rassenmagie«, was ist das anderes, fragt Schwarzschild, als »die Steigerung weniger«, erkauft mit »der Erniedrigung vieler«.

In: Lesebuch. Weimarer Republik. Hrsg. v. Stephan Reinhardt. Berlin 2982: Wagenbach Verlag. S.172f.



170f.


Auf den Spuren des Vater-Such-Instinkts

»Der Krieg ist unser Vater«


Friedrich Georg Jünger Der totale Staat


Dieser Staat hat andere Aufgaben, er hat einen anderen Sinn als der liberalistische Staat. Er ist Sammlung und Verdichtung der Ge­walt in einem geschlossenen Absolutismus. Deshalb lehnt er jede Trennung der Gewalten und jede Verwässerung ihres Inhalts durch Körperschaften und gleichgeordnete Mehrheiten ab. Deshalb drängt die nationalistische Bewegung auf Vernichtung aller politischen For­men des Liberalismus.


*~ ~

*

Ernst Jünger:

Der Krieg ist unser Vater


Der Krieg ist unser Vater, er hat uns gezeugt im glühenden Schoße der Kampfgräben als ein neues Geschlecht, und wir erkennen mit Stolz unsere Herkunft an. Daher sollen unsere Wertungen auch heroische, auch Wertungen von Kriegern und nicht solche von Krä­mern sein, die die Welt mit ihrer Elle messen möchten.


Franz Schauwecker Die Besten der Nation

Sie haben das im Instinkt, was andre nicht mal in ihrer Intelligenz besitzen. Sie haben es im Blut. Es ist ja unsre Tragödie heute, daß wir alles Notwendige nur im Blut haben. Das ist das wichtige, daß es noch da ist. Aber es ist nur im Keim da. Und es scheint mir unsre große Aufgabe zu sein, es weiter zu treiben mit allen Mitteln, damit es aus dem Blut in den Geist hinüberschlage, damit es ins Bewußtsein eingehe ...



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