Freitag, 8. September 2023

Tatsachen von einer mittelalterlichen S c h u l e


Über die nämliche Gaedonck; über Widerstand. Über Tasächliches:

 

Die Schrift von K. Abels (2002) lag damals 1999 nochnicht vor; aber sie war auch für mich eine Genugtuung:K. A.: "Kadetten. Preußenfilm, Jugendbuch und Kriegslied im 'Dritten Reich'". Ein schönes Geschenk ... für Leser .. wie mich!



Dieser Brief war nicht vergeblich geschrieben..: Er wurde beantortet.


A.St.R.                 RE 20.04.1999

 

Sehr geehrter Herr Professor  K u r t   A b e l s!;

 

... als Gaesdoncker, der sich gerne an Ihren Vertretungsunterricht (mehr gab's da leider nicht für meine Klasse in der UI) erinnert, möchte ich mich Ihnen vorstellen:

Ich hatte Deutschuntericht bei Herrn Cornelius F., mit religiös-öden Kostbarkeiten wie Max Mells "Apostelspiel"; Gaisers geisterhafter Saga "Die sterbende Jagd", einem Fliegerroman, in dem Bombenkrieg, Ursachenbeschreibung des Faschismus und Widerstand gegen ihn nicht vorkamen. (Sonst hätten er - Autor und Roman - nach 1950 nicht so viel Erfolg gehabt...) Ich hoffe jedenfalls, daß ich in ignorantia mentis dem Gaiser kein Unrecht tue; ich habe den Roman aus Widerwillen gegen seinen zähflüssigen, häufig naturmagischen, einen gegenrealistischen Stil, post scholam, nicht mehr lesen können. Mit Hölderlin ging's da los nach dem Titelblatt (ich zitiere aus dem Fischer-TB-Band, im 100. Tausend damals schon; geschmückt mit dem Cover-Versprechen "Tragik des Krieges": "Darum geht schrecklich über / Der (sic!) Erde Diana, / Die Jägerin, und zornig, erhebt / Unendlicher Deutung voll, / Sein Antlitz über uns / Der Herr. Indes das Meer seufzt, wenn / Er kommt." (Ohne Quellenangabe bei Gaiser...) Und religiös-kupplerisch endet der Schmarren so: "Himmel und Wasser ein und dasselbe Blau. Nur ein dünner Streif, wo Gott bei den Menschen wohnte in seiner Gnade; eine Warft und zwei Dächer, das Land der Menschen, geborgen, verloren, ganz unerreichbar." (S. 199f.)*}Bis Walter Jens sich dieser semi-religiösen Kultur annahm und ihr heftig widersprach: Walter Jens: Gegen die Überschätzung Gerd Gaisers. In: Die Zeit, 25. November 1960}

*

Sie erraten: Ich versuche mit dem Gedächtnis-Stand Gaesdonck ex tempore fertig zu werden, indem ich Sie als Vorwand, als addressables Opfer nehme...

Doch noch eine Frage dazu:

Gab es damals in den stockstaubigen Kammern der Blumenstraße eigentlich Diskussionnen über solche und andere und zugemutete Lesestoffe? (In der OIII Cervantes' "Don Quijote"; vorher mal eben so ein demutsvoller, demütigend-unschuldsvoller "Parzifal"; eine Schmähung an einen (noch so kleinen) Geist, der sich entwicklen möchte, der Goethes "Prometheus" kennt und noch nicht verarbeitet hat und, Knaben gleich, der Disteln köpft, an Eichen dich und Bergeshöhn! Mußt mir meine ... Hütte...!) Wie stellte das Lehrer-man sich damals die Seelen von Jünglingen/Jungen vor, die nach dem Dritten Reich porös ob der Schatten des sog. 3. Reiches und dem Schweigen darüber nach historischer Erklärung wie ein Schwamm nach Netzung lechzten, nach humaner Zuversicht, ja Hoffnung - daß nicht wiederkehre der Schlamm des Unerlösten, die braune Flut, mit schwarzen U-Booten auf Tauchstation und Irrfahrt, mit Pilgern und Priestern auf romantisch inszenierten Rettungsfahrten, mit verquasten Einschlüssen im Watt, mit einem rettungslos (?) verminten Ufern, einer Brandung, hörbar im Schweigen?

Und wenn ich dann (später erst, bei der Suche nach Grund) auf die Lektüreangaben Ihrer Deutschklasse schielte, wurde mir mulmig, wurd' ich unruhig ob verlorener Jahre und des noch nicht gefundenen Ruhepols der eigenen Persönlichkeit. Da hätte ich doch bei Ihnen eine gehaltvollere Nahrung für meine Deutsch- und Literaturinteressen gefunden!

Sie sehen, derweil ich Ihnen die Zeit raube, beschäftige ich mich mit der damaligen steril-betulichen, nicht wissenden Gaesdonck als anhaltendem Phänomen - Anlaß und Grund des Briefes sind mir aber Ihr Erinnerungsbuch, das ich erst vorige Woche in die Finger bekam - und in anderthalb Tagen auslas. (Wie sehr man, pardon: ich, profitiere als Leser von einer (wohl) jahrelangen Arbeit an und in Ihren Erinnerungen und in der Teilnahme an den von Ihnen mitgeteilten Geschichtsquellen - fühle mich fast als Schmarotzer, da ich die Mühen Ihrer Erinnerung und Ihrer Zeit ja nicht aufbringen kann, nicht muß. Aber so funktioniert wohl Kultur als Pflege eines einsamen und gemeinsamen Landstrichs, hinausgesendet als Hoffnungsmarke, als Boje im Trüb-Nassen, daß einer sich hinausrette - oder mehrere - in der produktiven Nach-Lese Ihres Berichts...)

Schon nach den ersten Seiten schrieb ich Herrn van der Linde an; um ihn über Ihr Buch zu informieren; auch um zu fragen, ob Sie als Beiträger der Gaesdoncker Festschrift im Herbst (Jubiläum! Erinnerungs-Ge- oder Verbot? Zeit-Anhalt! Wahrschreibe-Gelegenheit?) angeschrieben wurden. Ich erwarte jedenfalls etwas (eine Aufsatz, eine Betrachtung) von Ihnen - denn: Das ist meine deutlichste Erinnerung an Sie: Sie pflegten einen freundlichen, nachdenklichen, erarbeitenden, nicht dozierenden Unterrichtsstil (den ich später auch versuchte); Ihre Gesten, vorsichtig formulierend zur Stirn zu fahren, um der Gedanken Geburt wie mit einer Streicheleinheit mitzubegleiten, ist mir als deutlichstes Signal Ihrer Unterrichtskunst haften geblieben. Ja, ich bin auch Deutschlehrer, bin zur Zeit beurlaubt, werde aber wieder in den Dienst gehen; zehn Jahre noch, das ist zu schaffen, bis zur Pensionierung.

Neben eigenen Aufzeichnungen schreibe ich auch Geschichten, fast alle durch den Schatz der Schulerfahrungen geprägt.

Da nutzte ich auch die von Ihnen geschilderte Mörike-Stunde für Luftwaffenhelfer zu einem Entwurf...

Wohl bin ich mir der Gefahr einer falschen Aktualisierung bewußt; stocke aber im Augenblick, den ersten, schnell-intuitven Entwurf zu verändern - so lege ich Ihnen die Story einfach mal vor. Hoffentlich kann man herauslesen, daß ich nicht den Mörike, sondern den ebenso Eduard genannten Lehrer und Schwaben treffend zeichnen will. Mich beschäftigt nämlich Mörike, seit ich als Quartaner am Paulinum in Münster eine völlig sinnlose Prüfungsstunde eines bemitleidenswerten Assessors miterlebte, Thema der Qual: "Der Feuerreiter"; später habe ich meine erste Staatsexamensarbeit über die Frühfassung "Romanze vom wahnsinnigen Feuerreiter" (1828) geschrieben; die Ballade habe ich aber selber nur einmal in der Oberstufe, in einem LK Deutsch, behandelt. Sonst halte ich sie nur für Uni-Semester-Stoff geeignet.

*

Nehmen Sie bitte, nach überlanger Einleitung, den herzlichen Ausdruck meiner hellen Freunde über die rheinische und deutsche Geschichts- und Seelenerkundung Ihres Buches an! (Aufforderungssätzchen!)

Am Wochenende werde ich Ihr Buch meinem Sohn, Jura-Student in Bielefeld, mitgeben; er interessiert sich besonders für deutsche und undeutsche Geschichte, auch die Militärtechnik der Faschisten - und wußte natürlich, als ich mich einmal versprach, daß der Stuka eine Ju 87 war...

Eine Frage schlich sich da bei mir ein: Wo mögen damals V2-Rakten abgeschossen worden sein, daß Sie sie aufsteigend in Kirchhellen wahrnehmen konnten? (S. 97) Gab's östlich von Haltern auf dem Schießgelände Startbasen?

Sorry für meinen langen Hin- und Her-Brief; aber als Gaesdoncker und späterer Deutschlehrer habe ich eben mein unsichtbares Feld von Gedankenlinien und Querverindungen zu eigenen Lebensfragen vor den Augen und der Seele.

Auch meiner Mutter hätte ich gerne Ihr Buch geschenkt. Sie hatte als einfache Landarbeiter-Ehefrau - ja, auch sie war Landarbeiterin, mehr mit Vieh; Haus- und Gartenarbeit beschäftigt als mit den Bedürfnissen der Gefühlswelt ihrer acht Kinder - Sie hatte für das Geistes- und Lebensdesaster (im christlichen Deutschland!) vor 45 einen Ausrede, die mir jetzt wieder einfiel: "Hej - gemeint war Hitler - hätt de Jödde nich kapott maken dörve...." - eine niedlich-dumme Einsicht, die vertuscht, daß der Faschismus von vornherein eine inhumane, barbarische Rassenideologie betrieb - auf Kosten aller durch Versklavung, Krieg oder Tötung zu unterdrückenden anderen Religionen und Ethnien - den Deutschen ein Herren-Dasein und verquast animalisch kollektive und germanische Religionsgefühle zu ermöglichen.

Als noch 1944 Geborener bin ich Gott und den Alliierten (wem mehr? Ich weiß es nicht!) dankbar, daß die Nazis so ungeduldig und frech waren, so neurotisch undiszipliniert, so grenzenlos idealistisch-heldenhaft, so geck-überstürzt waren, so eilig und frühzeitig den Krieg über ganz Europa zu treiben, daß ihre wirkliche technische Überlegenheit (wie ja ab 35 das große und neuartige Raketenprogramm in Peenemünde beweist) zu spät und nicht mehr effektiv und dann wahnwitz-sinnlos eingesetzt werden mußte - mit den irrwitzigen Menschenopfern (Hekatomben Ihrer Generation, der vor meiner) Und kein Bischof hat je deswegen protestiert! Oder sehen Sie das als Historiker anders?

Von Galen schrieb noch Anfang 45 unter den alliierten Luftangriffen in Münster von "Heimsuchungen Gottes", statt von kriegsbeendenden Maßnahmen, von Freiheitsbedürfnissen zu sprechen - oder von christlicher Schuld! (Zu viel verlangt? Zu streng geurteilt?) Bbrr, was für eine Menschenheimsuchung, weil -täuschung der selektiven Wahrheitsverwalter! Und, ja: Gotteslästerung der geschichtsblinden Seelenhüter und Mitmacher aus Denkfaulheit und vermeintlichem Konservatismus! Bei gleichzeitig behaupteter und im Herrschaftsbereich praktizierter Unfehlbarkeit! (Ach, setze ich mal hinzu: Nur in Dogmenentscheidungen, ex cathedra und solchen Fisimatenten? Einen Menschen als Versuchsmuster, ja, nun, aller Juden, opfern zu lassen - und keine Enzyklika gegen den Faschismus schreiben, ist allerdings Fehlbarkeit! Auf der jahrhundertealten Tradition von Inquisition, Machtkämpfe und verweigerter Nächsten- und Feindesliebe - kein Wunder, nur definitive Menschlichkeit bei maßlosem Stellvertreter-Anspruch... Ich vermute: geistig-emotionale Schwäche aus Desinteresse, fehlende Empathie mit dem Nächsten...)

Nehmen Sie, bitte, meinen (nicht nur ironischen) verbalen Ausreißer nicht persönlich! Ich weiß ja z.B. auch nicht, was Sie weggehen ließ von der so scheinidylischen Gaesdonck - dem Ort und Hort zölibatärer und geistiger Unzucht! Wobei ich mich - bei Klassentreffen - gewundert habe, wie wenig diese Gefühllosigkeiten und psychologischen Unfähigkeiten, sich in junge Menschen reinzuversetzen, geschweige, sich mit ihren Bedürfnissen zu identifizieren oder auseinanderzusetzen, damals vermerkt wurden - wohl nur bei den Opfern dieses Kastens, die schwups, von einem auf den anderen Tag - ohne Erklärung, ohne Einsicht - verschwunden waren. Und ich mußte mir die dummen Witze von Geistlichen und Lehrern anhören, nachdem Dr. R. Baumeister verunglückt war - sie meinten wohl, bei mir Verständnis oder so etwas Humoriges voraussetzen zu können. Übrigens: Ich habe dort noch 65 Abitur gemacht. Nachdem mir Dr. R.-Baumeister die himmlisch-irdische Köstlichkeit "So zärtlich war Suleyken" (Siegfried Lenz!) konfisziert hatte... Vielleicht war das 61/62 mal Gesprächsthema unter Lehrern?? Würde mich interessieren, was Sie erfuhren...

Für heute - Schluß meiner Suche, meiner Versuche:

Ich wünsche, Sie einmal auf der Gaesdonck bei einer Lesung und einer Diskussion zu erleben!!


Mit freundlichen Grüßen - und der Bitte um Verständnis und dem Dank für hre Geduld:

A. Rey....

P.S. Wenn die Mörike-Stunde nix taugt - ich kann Kritik vertragen; teile sie ja auch aus - und weiß die wahrheitsfördernde Wirkung. Ist der Ton, das Klima, sind die Beiträge Ihrer Kameraden im Text getroffen? Das interessiert mich sehr. Hängt auch vohl mit meiner lebenslangen Frage zusammen, was hätte ich damals gemacht, als nicht nur die Politiker, auch die Leher und Priester versagten (Mit Ausnahme der Garde vornehmlich junger Kapläne, die Kopf und Betonkragen riskierten; wie Rektor Mertens - von dessen Beispiel und Leiden wir auch der Gaesdonck nichts, rein gar nichts, erfuhren. Das waren nicht nur verpaßte Gelegenheiten. Das hatte Intention und System.) Und was könnte, müßte ich heute in vergleichbaren Situationen tun, riskieren an Kritik, Widerstand, gar Vorbild?

 M e i n  Mörike- mit der roten Freiheitskappe:!

 

 

 

 



 

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