Samstag, 9. September 2023

Keine Story: ein Leben: L u s t und L a s t der F a r b e n -

 Wenn dss Spiel vorbei ist:




D e r  F a r b e n  L u s t  und  L a s t


Dem Schüler Jänni (+) gewidmet.


Schulszene: Oberstufenkurs: Auf den Tischen liegen überall die gleichen Taschenbücher: Alfred Andersch: „Sansibar oder der letze Grund“ - „Alles okay; alles gelesens, ihr Schüler: Leutz?


Janni (hat den Roman aufgeschlagen in der Hand:) Ist das denn da vielleicht metaphorisch gemeint?

Lehrerin Pauen: Was meinen Sie, Janni? Können Sie den Zusammenhang noch mal aufzeigen?

Janni: Ah?? - Hieß er so??

Lehrerin erzählt (Rückschau:)Ich glaubte, die erste Szene des Gregor, des kommunistischen Parteigängers auf Abruf, schon abschließend zusammengefaßt und erledigt zu haben, zwei Minuten vor halb zwölf: Ein Mann vor Rerik, an der Ostsee, von wo aus noch ein Weg in die Freiheit führen könnte: nach Sansibar oder anderswo, z.B. den Mississippi hoch! Mit dem Rad unterwegs, er macht Pause; derweil für ihn der personale Autor den Himmel beschreibt; was soll's? Sein Parteiauftrag wartet auf ihn. Will er ihn noch erfüllen?

*

Eine Schülerin spricht mich an, nach Jannis Beerdigung, die nach dem Willen der Eltern in aller Stille abgelaufen war, "ohne schulischen Zirkus, bitte": "Meinen Sie denn, der Janni sei nur so vom Rad gefallen, einfach so!?" Pause. "Der war stinkbesoffen. Der hatte mehr Probleme als Kohle, der blöde Kerl! Daß er vom Rad gefallen ist und dann vom Auto überfahren wurde, das war Zufall - oder -" sie korrigiert sich, "auch wieder nicht. Das hat ihm schon sein Vater prophezeit..."

Wie auf das reagieren, Herr Oberlehrer? Versuchsweise so: "Waren Sie nicht befreundet mit ihm? Ich hab' Sie doch mal mit ihm bei der Lesung mit Erich Fried im Kunstbunker gesehen."

"Ja, das war noch okay, aber er trank zu viel, viel zu viel. Zwei- bis dreimal in der Woche war zu und so was von dicke! Meine Eltern haben ihn dann bei mir erwischt, morgens, als wir zur Schule mußten und ich mit ihm rausschleichen wollte. Weil ich ihn doch nachts nicht die Treppe runterjagen konnte!" "Haben Sie darüber mal mit jemandem sprechen können?" "Mit wem? Mit einem Lehrer?" Pause. "Und dann war er furchtbar verletzlich. Und in unserer ersten Zeit konnte er mir ja noch dolle Märchen erzählen, in allen Figuren, Formen und Farben - die Rapunzel auf dem Kirchturm von St. Peter." Pause. "Wenn er Geld hatte, nahm er Hasch, später Härteres. Sonst blieb er beim Alk. Und besoffen von Farben! Der konnte Märchen erzählen, solange er sprechen konnte, bis er nur noch lallte. Dann erzählte er sich, glaube ich selber, die schönsten Geschichten im Suff!" Pause. "Einmal zeigte er mir den Himmel am Abend über Rerik. Seine Lieblingsstadt auf dem Wege in die Freiheit. Wohin er mit mir wollte! sagte er immer. Ich habe einen gesehen, der ohne Auftrag lebt. Einen, der lesen kann und dennoch aufstehn und fortgehen. Da konnte er mit dem Rad über die Abendwolken reiten, so in ein paar Sätzen. Der konnte Farben beschreiben, alle sichtbare und die unsichtbaren! Farben seien das Lächeln der Natur - war seine Rede. Und beim Trakl fand er alle Farben versammelt. Das Silber für das Gedankliche und so weiter, ich weiß es nicht mehr. Und das Rot für unsere -" Sie stockt.

"Da wurde jeder schöne Abend, der nüchtern anfing, wie zu einem wild glühenden Himmelfahrtstag bei Raffael oder so ausgekleidet, mit Legenden von Herakles oder Ödipus. 'Meinetwegen', sagte er dann immer, wenn ich ihn knuffte, "auch für deinen Jesus, dem Magister aller Regenbögen." Pause.

"Sie wußten bescheid, wie es um ihn stand? Ist das sonst niemandem aufgefallen? Seinen Eltern? Und hier an der Schule?"

"Ich glaube, da konnte ihm niemand helfen."

"Und wie lange ging das schon?"

"Für den Unterricht brachte er meistens Entschuldigungen von seinem Hausarzt: Bronchitis! Aber die letzten zwei Monate war es schlimmer. Von seinen Freunden lieh er nur noch Geld, bis die ihn rauswarfen. Ich konnte ihn nicht mehr bei mir reinlassen." Pause. Sie sind jetzt in der Ecke hinter der Turnhalle. "Das letzte Farbenspektakel - ein Sonnenaufgang vom Balkon des Zeichensaales aus gesehen, das ich von ihm habe - von dem hat er mir im Stadtpark hinterm Festspielhaus erzählt. Da machte er die Farben der Landesflagge zu einer Art stars and stripes. Und dann ist er noch ins lighthouse gefahren, der Idiot. Er hat mich nicht mal nach Hause gebracht. Und dann hat es ihn auf der Bahnhofstraße vom Rad gerissen."

*

Und Janni fragte energisch nach, als ich die Stunde schon beendet sah: "Ich meine die Farben des Himmels. Genauso wie die Türme das wachsame Aussehen dieses Kaffs da an der Ostsee prägen für ihn, den Flüchtling. Könnten die Farben da auch symbolisch gemeint sein? Weil er doch so naturversessen ist als Gegensatz zur Parteiarbeit und allem Zwang und der politischen Bindung, äh, ich meine Bildung. Das ist doch die Bedeutung des goldenen Schildes von Tarasovka, das ist doch richtig? Und jetzt sieht er Rerik, von wo aus er fliehen will - schieferfarben und rote Blöcke, eingelassen in das Blau der Ostsee. Seite 20! Ich meine, kann man das sagen: blau-grau-rot? So wie wir von der Trikolore sagen: blau-weiß-rot?" Alles lachte. "Hab' ich die Farben vertauscht? Egal! Sah er schon seine Freiheit, ein bißchen verschwommen noch, heraufziehen, ganz sinnbildlich? Oder war es der Abschied?"

Der Lehrer hat mehr gedruckst, als zur Klärung beigetragen: "Können wir das Problem nicht in der nächsten Stunde noch aufnehmen? Denken Sie dran, Janni, ja? Sie melden sich wieder? Ein weiser Chinese hat mal gesagt: Farben sind das Lächeln der Natur. Also, so weit für heute."

Beim Hinausgehen knuffte ihn sein Freund, und der enteilende Magister hörte ihn zu ihm sagen: "Aber, die schwarz-weißen Kühe (Andersch, Seite xy) sind doch reine Natur - oder siehst du in ihnen die Gegensätze, wie man sagt, als Schwarzweiß-Malerei von bessener Melkpflicht und Selbstverwirklichung sein auf einem Ökohof?"

(Solch einen Freund hätte ich als Schüler in den kalten Sechzigern haben müssen, ging mir da noch durch den Kopf; jetzt in die 6. Stunde, Fontane-Ballade vom tapferen John M.; aber meine Gedanken laufen anderes - eine kleine, fliehende Erinnerung an meine Schule, wo ich das Abitur machte. Wieder die alte Klasse im Primanerbau vor meinen Augen: "Am farbigen Abglanz haben wir das Leben" - das fand da gespreizt im Faust statt, nur auf dem humanistischen Anstaltspapier. Stockdumme Latein- und Griechisch-Pauker, nur daß sie nicht mehr schlugen wie zu Kaisers Zeiten! Warum bin ich da noch heute über die verlorene Zeit böse? Und: Mach ich's besser. Ratschläge seien auch Schläge, meinen sensible Zeitgenossen.)

Janni hat sich ausgelacht, unsicher, damals, in den abwehrenden Armen seines Klassenkameraden, meine ich.

Und mich hatte die Schelle gerettet.

*

Nichts war mir aufgefallen, damals - als Janni ein halbes Jahr lang in meinem Deutsch-Grundkurs war und ab 11/2 in den Lk überwechselte. „Er kann interpretieren, daß es eine Lust ist zuzuhören. Aber er muß noch methodisch arbeiten lernen“, sagte ich einmal beiläufig der Kollegin, die ihn im nächsten Halbjahr unterrichtete.

*

Dann hat es ihn nach zwei Monaten schon hinausgeschleudert aus seiner Bahn - über alle und alles hinweg: Eltern, Freundin, Clique, Kursgruppe, Lehrer.

Auf seiner Suche nach Farben:ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet: das Leben...!

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