Dienstag, 12. September 2023

Ein Porträt in einem Vortrag (2000): S i e g f r i e d v o n V e g e s a c k:

 Ein LebensPorträt:  Siegfried  von  V e g e s a cks



Hier, an diesem Wegweiser ... begann meine Suche nach S. von Vegesack ...

 

 

 

S i e g f r i e d   v o n    V e g e s a c k

 

* ~ *

                               ANTON STEPHAN REYNTJES




Wanderschikld zu SvV.s G r a b s t ä d t e in We i s s e n s t e i n


Siegfried von Vegesack


- die Lebensreise eines baltischen W e l t b ü r g e r s -


*

Ich möchte mich bedanken bei allen Balten und Nicht-Balten, daß Sie meinen Versuch, soviel Unbekanntes oder Verlorenes von Siegfried von Vegesack zu retten und öffentlich zu machen, unterstützt haben.

Von Vegesacks Lebensweg - so will ich ihn skizzieren - führte von Livland über St. Petersburg, Niederbayern, Tessin, Südamerika, Ukraine und wieder nach Niederbayern.

Ich will hierzu besonders die unbekannteren Texte nutzen, so seine Geschichten des russischen Autors Fedor Isjagin, für die SvV sich als camouflierend lediglich Übersetzer ausgab, den „Pfarrer im Urwald“ (1947) oder die Denkschrift „Die Behandlung der Bevölkerung in den besetzten Ostgebieten“ (1944).

Daten zur Vita: Ein Lexikonartikel (zur Orientierung):

* 23. 1888 Gut Blumbergshof bei Valmiera (Wolmar)/Livland

26. 1. 1974 Burg Weißenstein bei Regen.

Romancier, Erzähler, Lyriker, Übersetzer.

Nach dem Abitur in Riga 1907 hatte v.V. in Dorpat das Studium der Geschichtswissenschaften aufgenommen, war der schlagenden Verbindung Livonia beigetreten u. hatte bei einer Mensur ein Auge eingebüßt. Doch gehörte er nie zu jenen Burschenschaftern, die dem Nationalsozialismus den Weg ebneten: Das Verlangen der Reichsschrifttumskammer nach einer schriftlichen Erklärung, »stets für die Deutsche Dichtung im Sinne der Nationalen Regierung« einzutreten, lehnte er ab; schon 1920 war er in der »Weltbühne« gegen antisemitische Tendenzen vorgegangen, u. als die NS-Zeitschrift »Wille zum Reich« 1937 von ihm einen Widerruf verlangte, weigerte er sich. Dabei bedeutete »deutsch« zu sein für V., der als Balte bis 1918 die russ. Staatsbürgerschaft besessen hatte, keine Selbstverständlichkeit.

Die sozialen u. ethnischen. Spannungen, die sich im Baltikum aus dem Verhältnis zwischen herrschendem Adel u. unterdrücktem Volk sowie aus der Abhängigkeit des dt. Adels von der russ. Regierung ergeben hatten, beherrschen die Baltische Tragödie (Bln. 1936), die V. zum Thema seines Erzählwerks wählte.

Er beschrieb darin den Untergang einer Kultur, die V. ungeachtet der Problematik des Kolonialismus geliebt hatte. „Blumbergshof“ (1933), der erste Teil seiner Trilogie, schildert auf der einen Seite das Herrenhaus u. die »Herren«, eingeschlossen die »Jungherren«, zu denen er selbst gehörte, u. auf der anderen das »Gesinde«, die abhängigen Leute. Der »Großherr«, der Vater, regiert seinen Hof wie ein Fürst: »Einmal hatte Aurel gesehen, wie zwei uralte Bäuerchen vor dem Vater auf der Veranda in die Knie gefallen, auf den Knien bis zu ihm gerutscht waren und kniend seine Hand küßten. Der Vater war wirklich fast wie der liebe Gott und auch wie Gott oft lange unsichtbar.«

Mit den Analytikern der Zeit u. den sozialen Verhältnissen kam V. kaum in Berührung. Die politischen Entwicklung in Deutschland blieb ihm ebenso unbegreiflich wie die Nachrichten über die lettischen, estnischen, dann russ. Revolutionen 1905 bis 1907: »Das Reich ist in Aufruhr. Aber in Blumbergshof [...] ist es noch ruhig. Wenn der Postbote nicht jeden Mittwoch und Sonnabend mit den Zeitungen käme, wüßte man gar nicht, was alles da draußen geschieht. Und es geschieht Unglaubliches«, heißt es im zweiten Band der Trilogie mit dem problematischen. Titel „Herren ohne Heer“ (1934).

Das Deutschtum im Baltikum wird gewaltsam beseitigt; den Überlebenden bleibt die Wahl zwischen Russifizierung oder Übersiedlung nach Deutschland. V. entschied sich für Deutschland, wo er sich nichts anderes wünschte »als ein Stückchen Erde, nicht mehr, als man selbst mit zwei Händen bebauen kann«. Er fand es rund um den Weißensteiner Burgkasten. Der »Turm« wurde ihm zur neuen Heimat, zur lebenslangen Wirkungsstätte, die ihm das Herrenhaus Blumbergshof ersetzen mußte.

1936-1938 und erneut 1959 u. 1960 reiste V. nach Südamerika, wo er auf Menschen traf, die er dort nicht vermutet hatte: auf Wolgadeutsche schwäbischer Abkunft, die am Rio Paraná eine neue Heimat gefunden hatten. Zurückgekehrt, veröffentlichte V. sein Südamerikanisches Mosaik (München. 1962) u. den Roman Die Überfahrt (ebd. 1967), Dokumente der Heimat- u. Identitätssuche u. wie „Jaschka und Janne“. Baltische Erzählungen (ebd. 1965) zgl. einfühlsame Reisebücher.

Auf Burg Weißenstein, wo er im 31. Lebensjahr sein der Natur u. der Verinnerlichung zugewandtes Leben begann, wurde V. zum scharf beobachtenden Volkskundler, der das Leben der Menschen seiner Umwelt beschreibt, ihre Armut u. ihren harten Alltag, ihre Bräuche, Sagen u. Legenden, u. er entwickelte sich darüber zum meisterlicher Erzähler. Niemals wurde er laut oder pathetisch; ein feiner Humor überglänzt nicht nur viele seiner Erinnerungen, sondern führte auch zu humoristischen Veröffentlichungen, unter denen das Tierbuch Spitzpudeldachs (Bln. 1936) u. Schnüllermann (Mchn. 1953), ein Jedermanns-Buch, herausragen. Menschenschicksale interessierten ihn jedoch am meisten, u. es gelang ihm, sein eigenes Geschick mit den Schicksalen der Menschen seiner Umgebung zusammenzusehen u. zu verweben.

 

WEITERE WERKE:

Das fressende Haus. Bln. 1932. - Soldaten hinterm Pflug. Ein Erlebnisbericht aus dem Osten. Ebd. 1944. - Der Pastoratshase. Altlivländ. Idyllen. Ebd. 1957. 171983. - Vorfahren u. Nachkommen. Aufzeichnungen aus einer altlivländ. Brieflade 1667-1887. Ebd. 1960. 41981. - Als Dolmetscher im Osten. Aufzeichnungen aus Rußland. Hann. 1965. - Die Welt war voller Tanten. Heilbr. 1970. 111987. - Briefe. Grafenau 1988 (mit Kurzbiogr. u. Bibliogr.). - Übersetzungen: Nicolaj Leskov: Lady Macbeth v. Mzensk. Bln. 1921. - Ders.: Der Mensch im Schilderhaus u. a. Geschichten. Ebd. 1922. - Vladimir Nabokov: König, Dame, Bube. Ebd. 1930.


Sekundär-Literatur:

Franz Baumer: S. v. V. Heilbr. 1974. - Weitere Titel: Dietz-Rüdiger Moser: Auf der Suche nach Heimat u. Identität. Zum 100. Geburtstag S. v. V.s. In: Lit. in Bayern. 12. 6. 1988, S. 46-51.

Lexikonartikels: Dietz-Rüdiger Moser, in: Digitale Bibliothek Band 9: Killy Literaturlexikon, S. 21258 (vgl. Killy Bd. 12, S. 9 ff.)

Von Vegesacks Büchern fehlen hier:

* Gorki: „Die Nase und andere Geschichten“. Deutsch von SvV. Übertragung (1921). München: Verlag Rösl & Cie.

* Der Pfarrer im Urwald. Eine Novelle. 1947.

* Der Herr ohne Hose. Eine Sammlung merkwürdiger Begebenheiten von Fedor B. Isjagin. Einzig berechtigte Übertragung von Siegfried von Vegesack. Frankfurt/M. 1926: Iris-Verlag.

* Briefe. Hrsg. von Marianne Hagengruber. Grafenau 1988 (mit Kurzbiogr. u. Bibliogr.)


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Kurzbiografie:

1888 Am 20. März (westlicher Zeitrechnung) wurde Sieg­fried von Vegesack in Blumbergshof in Livland geboren. Er war das neunte Kind des Ordnungsrichters Ot­to Gotthard von Vegesack und seiner Frau Janet Con­stance Clementine (gen. Jenny) von Campenhausen.

1901 1907 besuchte er das Stadtgymnasium von Riga.

1907 1912 studierte er in Dorpat („Ich weiß kaum noch was").

1912 1914 setzte er das Studium in Berlin, Heidelberg und Mün­chen fort. In München lernte er seine spätere Frau, die schwedi­sche Schriftstellerin Clara Nordström, kennen. Durch den Kriegsausbruch war für Vegesack eine wissen­schaftliche oder journalistische Tätigkeit in seiner Heimat unmöglich geworden. Er folgte seiner Braut nach Schweden.

1915 Am 16. Februar heiratete er Clara Nordströrn in Stockholm.

1916 kehrten Clara Nordström und Siegfried von Vegesack nach Deutschland zurück. Vegesack bekam eine An­stellung in der Pressestelle des Auswärtigen Amtes bei Paul Rohrbach. Er veröffentlichte politische Artikel und, gemeinsam mit baltischen Freunden, Gedichte.

1917 Im April wurde die Tochter Isabel geboren; im Herbst verließ die Familie Vegesack Berlin und übersiedelte nach Niederbayern.

1918 erwarben Clara und Siegfried von Vegesack den leerstehenden Turm der Burg Weißenstein bei Regen. Sie betrieben eine kleine Landwirtschaft und widmeten sich wieder ihrer schriftstellerischen Arbeit; Vegesack über­setzte vornehmlich aus dem Russischen: Romane und Erzählungen von Gogol, Ljeskow und Turgenjew.

1923 wurde der Sohn Gotthard geboren; er fiel 1943 in Po­len.

1923 1926 stellten sich erste schriftstellerische Erfolge ein: In Cottbus wurde „Die Tote Stadt“ uraufgeführt, in Prag mit großem Erfolg Der Mensch im Käfig, bei A. R. Meyer in Berlin erschien der Gedichtband „Die Kleine Welt vom Turm gesehen“. Freunde aus der Berliner und Münchner Zeit kamen zu Besuch nach Weißenstein; die Freundschaft mit Kubin und Koeppel, die in der Nähe wohnten und arbeiteten, und mit Bergengruen wurde begründet.

1929 1932 verpachteten Clara und Siegfried von Vegesack den Turm an die Künstlervereinigung PORZA und zogen in den Tessin. Als Gäste kehrten sie zeitweise auf den Turm zurück.

1932 erschien Vegesacks Roman „Das fressende Haus“ über sei­ne Jahre in Weißenstein, den er in wenigen Wochen im Tessin geschrieben hatte.

1933 Am 12. März wurde Vegesack für einige Tage im Amts­gericht Regen festgehalten, weil er die neuen Machtha­ber beleidigt hatte. Auch dort verfaßte er politisch sati­rische Gedichte, mit denen er schon in den zwanziger Jahren den Zorn der niederbayerischen und baltischen Öffentlichkeit erregt hatte.

1933 1935 erschien in drei Teilen die Baltische Tragödie.

1935 wurde die Ehe geschieden. Vegesack ging in den drei­ßiger Jahren häufig auf Reisen: nach Schweden und Südtirol, nach Jugoslawien, ins Baltikum und nach Südamerika.

1940 Im April heiratete Vegesack Gabriele (gen. Jella) Eber­mayer (geb. 1903), die Tochter eines Würzburger Obersten.

1941 wurde der Sohn Christoph geboren; Vegesack meldete sich freiwillig als Dolmetscher in den Osten, kam als „Sonderführer" in die Ukraine, nach Georgien, auf die Krim und schließlich auch in die alte Heimat. Seine ,Denkschrift" über die Behandlung der Bevölkerung im Osten konnte erst 1965 erscheinen.

1956 wurde Vegesack als Ordentliches Mitglied in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung gewählt.

1957 erschien der Schlußband der Baltischen Trilogie, „Der letzte Akt“.

1959 1960 reiste Vegesack nach Südamerika.

1960 erschien „Vorfahren und Nachkommen“. Die Baltische Trilogie war fertiggestellt.

1963 erhielt Vegesack den Ostdeutschen Literaturpreis der Künstlergilde Esslingen.

1965 1966 reiste Vegesack ein letztes Mal nach Südamerika.

Als eine Lebensbilanz erschien nach dieser Reise der Roman Die Überfahrt (1967).

Neben den hier aufgeführten Büchern erschienen Kinderbücher, Gedicht- und Prosabände, Reiseberichte, Romane und Übersetzungen. In den Fünfziger und Sechziger Jahren arbeitete Vegesack bevorzugt für den Rundfunk, wo er seine Texte zum großen Teil auch selbst lesen konnte.

1974 Am 26. Januar ist Siegfried von Vegesack in Weißenstein gestorben, wo er auch begraben wurdet.


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Im Vortrag erwähnte Werke:

Lyrik (Gedichte)

Novelle

Feuilleton

Lyrik

Humoristisches

Brief


***


Seine Lebensreise


ich lasse sie hier im alten-behaglichen, bäurlich-naturnahen Livland beginnen:


Aurel und der gefangene Igel:


Auf dem Heimweg bellte Laika wütend am Waldrande. Aurel lief hin, kroch ins Ellerngestrüpp   Laika stand da mit gesträubten Haaren, krausgezogener Stirn und starrte kläffend, außer sich vor Entsetzen, zu Boden. Als Aurel das Gras zur Seite bog, lag da eine stachlige braune Kugel: ein Igel. Vorsichtig hob er ihn mit dem Handtuch auf und trug ihn auf dem Arm nach Hause. Schon unterwegs rollte sich die Kugel ein wenig auf, eine schwarze Schnauzenspitze kam zum Vorschein, und dann spürte Aurel auf der Hand das warme, samtweiche Fell des Bauches, die kalten, nackten Füße.

Die großen Brüder und Herr Paukull waren vorausgegangen, so stapfte er allein am Feldrande, aufgeregt und glücklich mit diesem rätselhaften, stachligen Geschöpf. Eine große, noch nie gespürte Zärtlichkeit überkam ihn: dieser kleine Igel sollte es gut haben, er wollte ihn füttern, pflegen, ein richtiges Nest für ihn bauen, einen Garten mit Moos zum Spazierenlaufen. jetzt war die Kugel ganz länglich geworden, schnüffelte an seinem Ärmel herum und kroch von einer Hand auf die andere. Wie unglaublich weich der Bauch war   sogar die Stacheln konnte man vorsichtig streicheln. „Willst du mitkommen ?“ fragte Aurel, und aus irgendeinem Gefühl her­aus, daß dies vielleicht die Igelsprache sei, schnalzte er mit der Zunge. Und wirklich: der dreieckige Kopf nickte zustimmend!

Eifrig stieg Aurel die Stufen der Gartenveranda hinauf, um gleich seine lebende Beute vorzuführen   aber wie erschrak er: da saß Frau von Torklus neben der Mutter am Kaffeetisch. Umkehren konnte er nicht mehr und den Igel fortlegen auch nicht.

»Oh, was für eine niedliche kleine Tierchen! « rief die russische Fürstin begeistert und wollte es gleich auf den Schoß nehmen, fuhr dann aber erschrocken zurück: »Mon Dieu-oh, un hérisson! Sonetschka, Sonjetschka, posmotri: josch!« Sonjetschka stand auf der anderen Seite, ein Porzellanpüppchen, ganz in weißen Spitzen, und reckte die Nase. Sie wollte unbedingt den Igel anfühlen.

»Du mußt unten den Bauch anfassen, der ist ganz weich«, sagte Aurel, nahm ihre Hand und führte sie zum Fell. Aber da erschrak auch der Igel er fauchte unwillig und rollte sich wieder zusammen. Es war schwer diese stachlige Kugel zu halten. »Jetzt wird er mit dem Kopf nicken« erklärte Aurel, um wenigstens dieses Kunststück vorzuführen. Und er schnalzte mit der Zunge.

Der Igel, der sich wieder etwas auseinandergerollt hatte und die spitze schwarze Schnauze vorstreckte, konnte nicht anders: er mußte mit den Kopf nicken. »Willst du Milch trinken?« fragte Aurel und schnalzte Der Igel nickte eifrig. Dann trank er aus einer Untertasse Milch. Sonjetschka war begeistert. jetzt konnte sie sogar seinen weichen Bauch befühlen. [...]

Aurel baute unter der Gartenveranda für den Igel ein großes Paradies: er schleppte viel Moos aus dem Walde, polsterte den ganzen Erdboden mit dicken, weichen Hümpeln und zäunte den Igelgarten mit langen Brettern ein. In eine Ecke stellte er eine Kiste, das war das Haus, damit der Igel sich auch verkriechen konnte.

Viel schwieriger war es, für seine Nahrung zu sorgen. Von Milch allein konnte er nicht leben. Rohes Fleisch rührte er bald nicht mehr an. Er wollte unbedingt etwas Lebendiges haben. Aurel fing Frösche und setzte sie auf das Moos. Der Igel nickte beifällig mit dem Kopf, schien aber sonst diese neuen Mitbewohner kaum zu beachten. Arglos hüpften die Frösche umher. Bis einer der Stachelkugel doch zu nahe kam; die schwarze, spitze Schnauze schoß vor, packte den nackten Schenkel und begann ihn in aller Ruhe zu verspeisen. Um den übrigen Frosch kümmerte sich der Igel nicht, und als er das Bein verzehrt hatte, ließ er den unglücklichen Rest auf drei Beinen weiterhumpeln. Dann kam der nächste dran. Vielleicht wollte der Igel zuerst nur alle ausprobieren? Vielleicht schmeckten ihm nur die Schenkel? oder wollte er möglichst gerecht sein? Das ruhige Schmatzen, während das Opfer vergeblich fortzuhüpfen suchte, war kein ange­nehmes Geräusch. Aber es war doch sehr aufregend, alles genau zu beobachten. Die Stachelkugel mit dem warmen, weichen Bauch stand Aurel doch näher als diese kalten, glitschigen Frösche. ja, Aurel schoß jetzt mit der Windbüchse sogar Sperlinge, nur um dem Igel einen Sonntagsbraten zu verschaffen; das war etwas anderes: mit welcher Gier die spitze schwarze Schnauze sich in den noch warmen Vogelleib hineinbiß und ihn dann in die Kiste verschleppte! Man hörte nur noch ein Schnau­fen, Schmatzen und Krachen.

Einmal kam der alte Indrik vorbei, der nur noch hier und da die Blumen bespritzte und sonst in der Sonne saß und blinzelte. Aber singen konnte er noch, wenn auch nur leise und in sich hinein. Auch wenn er sprach, klang es immer wie ein halbes Singen. Aurel zeigte ihm stolz sein Igel-Paradies, und Indrik blieb stehen, betrachtete alles und befühlte sogar das Moos. Dann schüttelte er traurig den Kopf und sagte mit seiner singenden Stimme: » Armes Tierchen! Armes Tierchen Gottes!«

»Aber warum ist der Igel arm?« fragte Aurel gekränkt.» Er hat hier doch alles: Milch, Frösche, Sperlinge, Moos?«

Indrik schien Aurels Worte gar nicht zu hören. Er nickte mit dem Kopf und wiederholte bekümmert: »ja, ja, ein armes Tierchen! Auch den Igel hat Gott geschaffen in seiner freien Welt; er hat ihm die Freiheit geschenkt, und was Gott ihm gegeben hat, das sollte der Jungherr ihm nicht nehmen.«

» Aber ich sorge doch für ihn, er hat es hier viel besser und schöner als im Wald«, versuchte Aurel sich zu rechtfertigen.

Indriks graue Augen sahen ihn ernst und vorwurfsvoll an, während ein müdes Lächeln sein faltiges Gesicht kräuselte. »schöner und besser als im Walde? Nein! Er wird lieber hungern und frei sein.«

Dann ging der alte Indrik. Aber die Worte blieben. ja, der Igel hatte schon oft versucht, an den glatten Brettern hinaufzuklettern, aber er plumpste immer wieder zurück. Vielleicht war das Paradies für ihn gar kein Paradies, weil ein Zaun herum war?

Eines Morgens trug Aurel mit schwerem Herzen den Igel in den Garten hinunter zu den Nußstauden beim Magazin. Hier gab es sicher sehr viel Mäuse. Er fragte ihn: "Willst du fort?" und schnalzte. Der Igel nickte eifrig mit dem Kopf. Zuerst saß er da, schnüffelte mißtrauisch mit der spitzen Schnauze, blinzelte. Aber plötzlich fing der stachlige Rücken auf den kurzen Beinen an zu rollen und verschwand hurtig zwischen den Gräsern im Klettendickicht. (Blumbergshof)

(Aus: Die Baltische Tragödie. 1. Teil: Blumbergshof (1933). S. 201-204; B.T. Ausgabe 1965. S. 148ff.)

*

Aus SvV.s Bericht „Wie ich die zwölf Jahre erlebte“ erfahren wir, daß er diese Igel-Passage im März 1933 niederschrieb, als er im Reger Stadtgefängnis für drei Tage inhaftiert war. Aus den Forschungen von Franz Baumer und Jürgen Eggebrecht wissen wir, daß dem Dichter hier in der Darstellung des kindlichen Erlebens mit einem Garten- und Waldtier eine tier- und menschenfreundliche Allegorie, poetisch eine Politisierung seiner Freiheitsvorstellungen, gelang.

(Bei Franz Baumer in derBiographie; und Eggebrecht, Jürgen: SvV zum Gedächtnis. Weißenstein 1998. S. 10)

*

Zu Vegesacks Auseinandersetzungen mit der „brauen Suppe“ gibt es Gedichte, die sein Freund Franz Baumer in Vegesacks Lebensgeschichte mitgeteilt hat:


Deutschland ist Gottes Abortgrube

unter der himmlischen Closett Stube:

Sobald ein Engelchen oben was fallen läßt

wächst bei uns unten die braune Pest.

Wann wird man diese Grube leeren,

den Dreck von der Erde kehren?


Die braune Jauche steigt und steigt  

wer eine Nase hat, entfleucht.

Nur Spülwürmer und Maden,

gefräßig und geil,

wühlen mit Lust in den Fladen

und schmatzen: Heil!


**

(Am 13. März 1933 schreibt er, am zweiten Tag der Haft...)


So hocke ich nun auch in kahler Zelle,

geh auf und ab und drück mir selbst die Hand.

Die Sonne scheint wie draußen fast so helle,

nur wirft sie Gittermuster an die Wand.


Der Wärter schlurft im langen Korridore,

streng klirrt sein großer Schlüsselbund.

ich hock mit schiefem Kopf, gespitztem Ohre

und horche, wie ein alter Kettenhund.


Auch ich häng nur an kurzer, schwerer Kette,

und wenn ich gehe, schleppe ich sie mit.

Vom Bett zum Fenster, und von dort zum Bette

sind es fünf und ein halber Schritt.


Der Raum ist warm, ich kann mich nicht beklagen,

die Pritsche hart, so wie es sich gehört.

Ich spür' mit innigem Behagen:

Kein Lärm, kein Mensch, kein Brief, der stört.


Rasieren brauche ich mir nicht die Wangen.

Der edle Vollbart wächst und weht.

Mein Mund versucht den Wasserstrahl zu fangen:

man putzt und wäscht sich, wie es eben geht!


Dann stapft man eine halbe Stunde  

der eine immer hinterm andern her -

in einem engen Hofe in der Runde,  

und wenn die Sonne scheint,   was will man mehr?


Man schlürft aus tiefem Eisenkübel,

die Suppe ist bestimmt sehr gut.

Doch von dem Kübel wird mir übel:

mir ist sehr sträflingshaft zu Mut!


Wie eine Spinne kommt die Zeit gekrochen,

und langsam saugt sie am Verstand.

Zuweilen dringt ein fernes Pochen

wie eine Geisterstimme durch die Wand.


Nachts schaut der Mond durchs schmale Gitter,

sein runder Glatzkopf ist verzerrt.

Er sieht verdrießlich aus, fast bitter -

als wär' er selber eingesperrt.


Der Sternenhimmel hinter Eisenstangen  

kommt je ein Morgenrot?

Wie lange noch? Wir alle sind gefangen:

Der Satan herrscht. Und Gott ist tot.


**


O Volk der Denker und der Dichter,

das selten dichtet, nie gedacht,

der trüben, aufgeblasnen Lichter

in einer trostlos schwarzen Nacht!


O Volk der ewigen Pennäler,

das immer auf der Schulbank schwitzt,

der leeren Schwätzer und Krakehler,

das klext und Hakenkreuze schnitzt!


O Volk der Narren und Idioten,

das immer bunte Fähnchen schwenkt,

und sich mit schwarzen, weißen, roten

und braunen Lappen bunt behängt!


0 Volk der Kinder und der Toren,

das nie was lernt und stets vergißt,

das Gott  und Welt  und Zeit verloren

noch immer hockt auf seinem Mist!


0 Volk der Sklaven und Lakaien,

das niemals muckt, sich immer duckt:

von oben läßt man sich bespeien,  

wenn man nur selbst nach unten spuckt!


0 Volk, das ewig unvollendet

umsonst durch seine Leiden geht,

von dem der Herr sich abgewendet,

weil Er dies Rätsel nicht versteht!

(Aus: F. B.: SvV.: Heimat im Grenzenlosen. Eine Lebensbeschreibung. Heilbronn 1974. S. 94ff.)

**

Vorweggenommen hatte er schon das Gefangenwerden und die Einsamkeit eines Häftlings:


Einzelhaft


Gefangen bist du ewiglich

In Einzelhaft, im harten Ich.


O Auge, das zum andern drängt

Und dennoch nie den Kerker sprengt.


O Hand, die stumm die andre preßt

Und dennoch nie sich selber läßt.


Mund, der sich dem Andern gib

Und dennoch lügt, auch wenn er leibt.


O Herz, das heiß am Andern klopft,

Doch nie sein Blut ins andre tropft.


In Einzelhaft, im harten Ich

Gefangen bist du ewiglich.

(In: Die Weltbühne. 22.I.1926. 14. Jg. S. 546)


*

Geschrieben hat Vegesack die B.T. in Weißenstein, nach dem Tod seiner Mutter, der in ihm eine Verpflichtung auslöste, sich seines Lebensstoffes zu bedienen, um eine allgemeinere, für die baltischen Lebensverhältnisse charakteristische Darstellung mit dichterischem Anspruch und in einem realistisch-chronikalen Stil, der das aufklärerische Pathos des prodesse mit einem freundlichen delectare zu verbinden weiß.


Einen literarisch besonderen Clou verfaßte SvV unter dem Pseudonym des (fiktiven, frei erfundenen!) Erzählers Fedor B. Isjagin: (Frankfurt/M. 1926: Iris-Verlag.) Daraus die merkwürdige Geschichte von Fisdjuchin, dem Abdecker:



Fisdjuchins letzte Fahrt

I

Apollon Akakjewitsch Fisdjuchin, ein altes, ver­trocknetes Männchen, war Abdecker von Beruf und fuhr seit Menschengedenken die Fäkalien der kleinen Kreisstadt in einer Düngertonne auf den Schindanger hinaus, wo sie in einer Grube versenkt wurden. Und diese, wenn auch nicht schöne, so doch in ihrer Art auch nützliche Tätigkeit hätte er wohl noch manche Jahre ausgeübt, wenn ihm nicht plötzlich eines schönen Tages von der Stadtduma gekündigt worden wäre. Und dies geschah auf folgende Weise.

Fürst Barjatynskij, der in unmittelbarer Nähe der Kreisstadt ein großes Gilt besaß, dessen Felder direkt an den Garten des Popen stießen, hatte sich aus dem Auslande einen neuen Inspektor verschrieben, einen sehr energischen und unternehmungslustigen Deut­schen, namens Friedrich Eisenhut.

Dieser Friedrich Eisenhut hatte in Hinterpommern Landwirtschaft studiert, und zwar so gründlich, daß er mit den neuesten Methoden des Ackerbaues und der Viehzucht völlig vertraut war. Außerdem besaß er von Geburt einen Blick für alles Praktische: hätte man ihn mitten in die Sahara gesetzt, sicher wäre er imstande gewesen, den vielen Sand irgendwie nutzbringend zu verwerten.

Auch Krassnyepeski, das Gut des Fürsten, war eine Sandbüchse: nichts wollte gedeihen. Höchstens, daß in einem guten Jahr Flachs und Buchweizen wuchsen, Kohl und Kartoffeln standen immer so schlecht, daß sich die Ernte kaum lohnte.

Als der Inspektor mit dem Vorarbeiter den trost­losen Acker besichtigte, der an den Garten des Popen stieß, blieb er plötzlich stehen, zeigte auf das Städtchen und fragte:

Und wo fährt man all den Mist hin?«'

Welchen Mist?" fragte der Vorarbeiter.

Nun, den Menschendreck, der muß doch irgend­wohin kommen?"

Natürlich kommt der wohin. Den fährt Fisdjuchin auf den Schindanger, in die große Grube. Bei gutem Südwind, besonders im Sommer, kann man das schon merken."

Und wer bezahlt Fisdjuchin?"

Die Stadtduma, der Stadthauptmann. Die Polizei hat es abgelehnt, und auch die Gouvernementsver­waltung zahlt dafür keine Kopeke."


II


Noch am selben Tag ließ sich Friedrich Eisenhut beim Stadthauptmann melden. Dieser war sehr ver­wundert über das Anliegen des neuen fürstlichen Inspektors. Er begriff durchaus nicht, was der Fürst Barjatynskij, der doch von hoher Geburt, einflußreicher Stellung und unermeßlichem Reichtum war, mit den städtischen Fäkalien anfangen wollte.

Da man aber dem Fürsten nichts abschlagen konnte, und Friedrich Eisenhut auch die Gagierung Fisdjuchins und außerdem noch hundert Rubel bar für den jährlichen Kloakenertrag zusicherte, sagte Stadthauptmann schließlich kopfschüttelnd zu:

Nun gut, mag der Fürst nur den Dreck haben, wenn ihm so viel daran liegt. Ich werde Fisdjuchin die Weisung geben."

Aber jetzt zeigte es sich, daß fürstliche Macht und deutsche Energie doch auf ein Hindernis stießen, mit dem weder der Stadthauptmann, noch Friedrich Eisenhut gerechnet hatten. Und dieses Hindernis war Fisdjuchin selbst.

Er weigerte sich einfach, seine Tonne wo anders hin zu fahren, als auf den Schindanger:

Schon vierzig Jahre habe ich sie dort in die Grube ausgeleert, und so Gott will, werde ich sie noch zehn Jahre dort leeren. Einen anderen Weg kenne ich nicht, und werde auch keinen anderen kennen."

Und dabei blieb er. Umsonst bot ihm Friedrich Eisenhut zehn Rubel Gehaltszulage an, Fisdjuchin spuckte nur verächtlich aus:

Der Dreck ist unser. Wenn er will, mag der Fürst ihn sich selber holen!"

Und so geschah es, daß Apollon Akakjewitsch Fisdiuchin, dem alten Abdecker, der seit Menschen­gedenken mit seiner Tonne auf den Schindanger hin­ausgefahren war, von der städtischen Duma gekündigt wurde, und zwar zum ersten Oktober.


III


Am 25. September, dem letzten Samstag im Monat, einem klaren, sonnigen Morgen, zog Apollon Akak­jewitsch Fisdjuchin seinen alten Wagen mit der Tonne aus dem Schuppen, spannte den mageren Klepper an die Deichsel, setzte sich vorn auf das hohe Querbrett,

zündete sich seinen „Nasenwärmer", ein kurzes Pfeif­chen an, ohne das er niemals seinem Beruf nachging, und fuhr holpernd über die Kullersteine des Markt­platzes.

Dann bog er in die sandige Landstraße ein, die zum Pfarrhof führte. Hier hielt er, denn dieser Bezirk war jetzt an der Reihe.

Überlassen wir ihn seiner mühsamen und nicht angenehmen Tätigkeit. Wenden wir uns statt dessen dem nahen Pfarrhof zu, wo gerade Vater Sergius, ein ehr­würdiger Greis mit weißem, wallendem Bart, auf seiner Veranda saß und sich für den morgigen Sonntag vorbereitete. Amwrosija Alexandrowna, seine herzens­gute, nie rastende Gattin, brachte ihm gerade rosa Schaum von frisch eingekochtem Preiselbeerensaft, den er besonders liebte, als Fisdjuchin mit seiner Mähre in den Pfarrhof einbog.

Nun, wie geht's, Apollon Akakjewitschl" rief ihm Vater Sergius freundlich entgegen.

Wie soll es mir gehen," gab Fisdjuchin mürrisch zur Antwort: „heute fahre ich zum letzten Mal, dann mag der Deutsche sich den Dreck selber holen!"

Als der Geistliche nach vielen Fragen den Sach­verhalt erfahren hatte, schüttelte er mißbilligend den Kopf:

Und warum willst denn du nicht deine Tonne auf dem Felde des Fürsten leeren?"

Ist es denn nicht gottlos,« polterte es wie ein lang zurückgehaltenes Gewitter aus der innersten Seele des vertrockneten Alten, „den menschlichen Dünger auf den Acker zu fahren? Der Mensch ist keine Kuh. Wer mag dann noch Brot und Kartoffeln essen? An allem sind immer die Deutschen schuld. Jetzt wollen sie auch Gottes Natur, unsere heilige russische Erde, verunreinigen!"

Du hättest dich doch fügen sollen," meinte Vater Sergius nachdenklich; „so wird es ein anderer tun, und wovon sollst du dann leben?"

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein," gab Fisdjuchin ruhig und fest zur Antwort, „was liegt an mir? Aber Gott darf man nicht beleidigen!"



IV


Als Apollon Akakjewitsch Fisdjuchin seinen gefüllten Wagen auf den Schindanger hinausgefahren und die Tonne in die Grube ausgeleert hatte, klopfte er dem Klepper auf die hervorstehenden Rippen, gab ihm ein Stückchen Zucker, und ließ ihn dann das leere Gefährt langsam heimwärts ziehen.

Er selbst blieb an der Böschung stehen und sah ihm nach. Als der Gaul mit dem Wagen hinter den Weidenbüschen verschwunden war, bestieg Fisdjuchin eine kleine Anhöhe, auf der sich drei magere Birken wie die Galgen auf Golgatha erhoben.

Hier hielt er noch einmal Umschau. Dann nahm er den Hut vom Kopfe, kniete nieder, bekreuzigte sich und betete.

Es dämmerte schon, als er aufstand. Eine blasse Sichel, hing der Mond über dem dunklen Walde ...

Am Sonntag Morgen fand man Apollon Akakjewitsch Fisdjuchin oben an der Birke: er hatte sich erhängt.


V



Was für abscheuliche Geschichten sich die Schrift­steller heute ausdenken! Welche schmutzige Phantasie! Und gar kein Sinn, keine Moral, keine tiefere Be­deutung!

Erstens: wozu hat er sich denn erhängt? Ein vernünftiger Mensch hängt sich nicht auf. Wenn er es wenigstens aus Liebesgram, aus irgend einem schreck­lichen Unglück, Feuersbrunst, Verzweiflung oder sonst irgend einem schweren Schicksalsschlag getan hätte, aber wegen einer Düngerfuhre! Das ist nicht nur verrückt, das ist sogar unmoralisch.

Und zweitens: wie kann ein Abdecker Held einer ernsthaften Erzählung sein? Denn zum Lachen gibt es hier nichts. Die Geschichte ist nicht einmal komisch.

Nichts Erhabenes, nichts Belehrendes, nichts Göttliches!

Und wenn selbst im Schmutz, im Elend, in der tiefsten Erniedrigung etwas Göttliches ist?"

Pfui Teufel, dann häng dich selbst auf!


(SvV. Aus: Der Herr ohne Hose. Eine Sammlung merkwürdiger Begebenheiten von Fedor B. Isjagin. Einzig berechtigte Übertragung von Siegfried von Vegesack. Frankfurt/M. 1926: Iris-Verlag)


**

Eine frühe Station der Lebensreise: Russland, St. Petersburg



Wann, datenmäßig genau, SvV in St. Petersburg war, ist mir bisher nicht gelungen, nachzuweisen. In der B.T. treten mehrere Personen auf, die in Petersburg wohnten oder dorthin reisten.


Die Einleitung aus Gogols „Die Nase“:


Am 25. März ereignete sich in Petersburg ein äußerst seltsamer Vorgang. Der Barbier Iwan Jakowlewitsch, der am Wosnessenskij wohnte (sein Familienname ist verlorengegangen, und sogar auf dem Aushängeschild, auf dem ein Herr mit eingeseifter Wange abgebildet war, mit der Unterschrift: „Hier wird auch zur Ader gelassen, war nichts weiter vermerkt),der Barbier Iwan Jakowlewitsch erwachte ziemlich früh und verspürte den Duft von frisch gebackenem Brot. Nachdem er sich im Bett ein wenig aufgerichtet hatte, sah er, daß seine Gattin, eine recht ansehnliche Dame, die sehr gern Kaffee trank, soeben fertiggebackenes Brot aus dem Ofen holte.

"Heute werde ich, Praskowja Ossipowna, keinen Kaffee trinken“, sagte Iwan Jakowlewitsch, statt dessen möchte ich gern frisch gebacknes Brot mit Zwiebeln essen." (Eigentlich hätte er gern beides gehabt, aber er wußte, daß es ganz unmöglich war, zwei Dinge auf einmal zu verlangen, weil Praskowja Ossipowna solche Gelüste nicht ausstehen konnte.)

(Aus: N. Gogol: „Die Nase und andere Geschichten“. Deutsch von SvV.. München 1921: Verlag Rösl & Cie. S. 7)


Ich erlaube es mir, eine moderne Übersetzungen dem Vegesackschen Text gegenüberzustellen:


Am 25. März trug sich in Petersburg ein außerordentlich sonderbarer Vorfall zu. Der Barbier lwan Jakowlewitsch, wohn­haft am Wosnessenskij-Prospekt (sein Familienname ist ver­lorengegangen, und selbst auf seinem Aushängeschild, das einen Herrn mit eingeseifter Wange und der Aufschrift »Wir lassen auch zur Ader« zeigt, ist nichts weiter angegeben), der Barbier Iwan Jakowlewitsch also erwachte ziemlich früh und roch den Duft von warmem Brot. Als er sich ein wenig im Bett aufrichtete, sah er, daß seine Gemahlin, eine ziemlich respektable Dame, die überaus gerne Kaffee trank, gerade frisch ge­backene Brote aus dem Ofen zog.

»Heute werde ich keinen Kaffee trinken, Praskowja Ossipowna«, sagte Iwan Jakowlewitsch, »aber statt dessen möchte ich warmes Brot mit Zwiebeln essen.« (Das heißt, Iwan Jakowlewitsch hätte gern das eine wie das andere gehabt, wußte jedoch, daß es völlig unmöglich war, zwei Dinge gleichzeitig zu verlangen, da Praskowja Ossipowna derartige Kapricen gar nicht schätzte.)

»Soll der Dummkopf nur Brot essen; um so besser für mich«, überlegte die Gemahlin im stillen, »so bleibt eine Portion Kaffee übrig.« Und sie warf ein Brot auf den Tisch.

(Aus: N. Gogol: die Nase. Übersetzt von Dorothea Trottenberg. Stuttgart 1997: RUB 9628. S. 5)

*

Nochmals: Gogol:

Und nun meine liebste Übersetzung, eine von Korfiz Holm, auch aus den dreißiger Jahren.


Am fünfundzwanzigsten März geschah in Petersburg etwas ganz Unerhörtes, äußerst Sonderbares. Es gab dort auf dem Himmelfahrts-Prospekt einen Barbier Iwan Jakowlewitsch, dem sein Familienname scheinbar zu Verlust gegangen war. Sogar sein Firmenschild trug nur den Vor- und Vatersnamen über einem naturgetreu gemalten Kavalier mit eingeseiften Backen und der Unterschrift: „Auch Aderlässe werden appliziert".

Nun also, der Barbier Iwan Jakowlewitsch erwachte an diesem fünfundzwanzigsten recht früh und spürte gleich: es roch so gut nach heißem Brot. Er richtete sich leicht in seinem Bette auf und sah, daß seine Gattin, eine ehrenwerte Dame, die eine große Kaffeeschwester war, gerade eine Anzahl frischgebackene Brote aus dem Ofen zog.

Hör mal, Praskowia", sagte Iwan Jakowlewitsch, „ich trinke heute lieber keinen Kaffee, und statt dessen möchte ich ein heißes Brot mit Zwiebeln."

Wenn man die Wahrheit sagen soll, so hätte Iwan Jakowlewitsch sehr gern das eine gehabt und deshalb doch das andre nicht entbehrt, aber er wußte zu genau, daß es vollständig ausichtslos war, gleichzeitig zwei so gute Sachen zu verlangen. Seine Praskowja hätte derart üppige Gelüste streng mißbilligt.

Na ja, meinetwegen stopft er sich mit Brot, der Affe!

dachte die liebende Gemahlin. Ist doch mein eigner Vorteil: kommt ja auf mich die doppelte Kaffeeportion.

So kalkulierte sie und warf ihm eines von den Broten auf den Tisch.

Iwan Jakowlewitsch, der wußte, was sich schickt, zog übers Hemd manierlich seinen Frack und setzte sich an den Tisch. Hier schüttete er sich erst einmal ein Häufchen Salz zurecht, schnitt dann zwei Zwiebeln klein, ergriff das Messer und schickte sich mit würdiger Miene an, das Brot zu schneiden. Als er es in zwei Hälften zerteilt hatte, besah er sich die Schnittfläche, und da - erblickte er zu seinem Staunen etwas Weißliches. Er stocherte behutsam mit dem Messer daran herum und fühlte mit dem Finger hin.

Was Hartes ist es! sprach er zu sich selber. Aber was kann es denn nur sein?

Er bohrte seine Finger in das Brot, und siehe da, der Gegenstand war - eine Nase! - Iwan Jakowlewitsch ließ seine Hände sinken, dann rieb er sich die Augen und tastete noch einmal nach dem Ding: ja, es war eine Nase, zweifelsohne eine Nase! Und außerdem kam sie ihm merkwürdig bekannt vor ... Ein jäher Schreck verzerrte sein Gesicht. Doch dieser Schreck bedeutete fast nichts, wenn man ihn an der ungeheuern Entrüstung maß, die sich der Gattin des Barbiers bemächtigte.

Wem hast du diese Nase abgeschnitten? 0 du Biest!" schrie sie in heller Wut. Du Gauner, du! Du alter Süffel! Ich selber zeig dich bei der Polizei an! So ein Räuberkerl! Na ja, umsonst beschweren sich ja nicht so viele Kunden von dir, daß du ihnen bei deinem Bartgekratze fast die Nase aus dem Gesichte reißt!“

(Aus: N. Gogol: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Bd. 3. Erzählungen. Berlin 1952. S. 65f.)


**

Seine langandauernde Lebenstation: Niederbayern,

Ankunft in Weißenstein:

SvV erzählt selber:


Die kleine Stadt, in die ich vor bald einem halben Jahrhundert verschlagen wurde, heißt Regen - aber damals, im Ersten Weltkrieg, war Regen nicht einmal eine Stadt, nur ein Marktflecken, mit kaum dreitausend Einwohnern. Doch dieser Marktflecken hatte ein eigenes, unverwechselbares Ge­sicht, das mich vom ersten Augenblick, als ich über die Steinerne Brücke ging, auf eine seltsame Weise gefangennahm. Die Brücke führte mit einem kühnen Bogen über den Schwarzen Regen, der damals - es war im März - noch gefroren war. Auf dem blanken Eise tummelten sich Burschen, die runde Holzscheiben schliddern ließen - das berühmte Eisstockschießen, das mir noch fremd war. Und fremd war mir auch der Heilige, der auf der rechten Seite mitten auf der Brücke stand - der Sankt Johannes Nepomuk  , und ihm gegenüber, auf der linken Seite, befand sich das Bruckzoll-Häusel, vor dem jedes Fuhrwerk, das über die Brücke wollte, halten mußte, bis es den Bruckzoll entrichtet hatte.

Mächtige Baumstämme und Blochhölzer, von Riesenrossen gezogen, kamen auf ratternden Rä­dern und im Winter auf knirschenden Schlitten­kufen über die Steinerne Brücke   und für jedes Roß wurde ein Bruckzoll erhoben. Autos gab es damals nur in geringer Zahl, die nahm man nicht ernst und ließ sie umsonst über die Brücke laufen. Und auch die Fußgänger durften die Brücke un­entgeltlich benutzen. So kam ich ungehindert am Bruckzoll-Häusl vorbei.

Doch gleich hinterm Nepomuk, wo die Brücke in eine enge Gasse mündet, erlebte ich etwas Seltsames, was ich mir auch heute nicht erklären kann: Ein Mädchen von etwa zwölf bis vierzehn Jahren, mit langen blonden Zöpfen, trat plötzlich auf mich zu, gab mir die Hand, knickste tief  und war ebenso plötzlich spurlos verschwunden. Sie hatte mich wohl mit irgend jemand verwech­selt, denn ich kannte niemand, und niemand kannte mich in dieser mir damals völlig fremden Stadt.

Die Gasse führte mich, sich umständlich an verschiedenen Häuserecken und Winkeln vorbeischlängelnd, auf einen geräumigen viereckigen Platz - den Stadtplatz, der damals noch Markt­platz hieß, auf den an allen vier Ecken die Gas­sen auf Umwegen, fast unsichtbar, mündeten.

Man sagt, daß jedes dritte Haus in Regen ein Eckhaus sei - und so haben sich die Häuser hier nicht der Straße, sondern die Straße hat sich den Häusern und ihren Ecken anzupassen! Doch alle Häuser und engen Gassen, der geräumige Stadt­platz, ja, der ganze Marktflecken, werden überragt und beherrscht vom mächtigen Turm Pfarrkirche.

(Aus: SvV: Regen am Regen. Regen. O.J. S. 6f.)

*


Und, tatsächlich, SvV hatte sich nicht gerade leise gemacht in den Jahren der Weimarer Zeit:


Ich biete Ihnen zwei Texte als Beispiele des humanistisch-christlichen, Engagments des Dichters.


Schlag sie tot, Patriot!" - so formulierte Siegfried von Vegesack einen frühen Beitrag zur Kritik des Antisemitismus:


Ich bin kein Jude. Auch kein besonderer Judenfreund. Aber wenn das so weitergeht wie jetzt, dann könnte man wohl bald das vogelfreie Dasein eines Ostjuden der Schmach, Deutscher zu sein, vorziehen.

Gewiß, man mußte sich auch früher zuweilen als Deutscher schämen. Als alle Welt uns anspie und wir Vertrauen und Achtung wiederzuerringen hoff­ten, indem wir uns selbst bespuckten. Aber damals, als man sich nackt und wehrlos am öffentlichen Pranger der ganzen Welt verhöhnt fühlte - grade damals rief etwas in unserm Innersten: jetzt kannst du dich, jetzt mußt du dich als Deutscher bekennen, denn deutsch sein heißt: verworfen sein - und ist es nicht immer rühmlicher gewesen, statt mit Allen über Einen zu triumphieren, allein von aller Welt verworfen zu werden? Und grade damals, als Millionen von uns ans Auswandern dachten, konnte es für einen Auslandsdeutschen eine schmerzliche Lockung sein, sich im verfolgten und gepeinigten Deutschland dauernd niederzulassen, um an der innersten Gemeinschaft teilzuhaben: an der Gemeinschaft des Unglücks.

Aber heute? Kann man heute noch Deutscher sein, ohne vor Scham sich in den Wäldern verkriechen zu wollen? Heute, wo wir nichts Besseres zu tun haben, als alles Unrecht, das man uns zugefügt hat, am wehrlosen Dritten - am Juden auszulassen! Gibt es denn für uns Deutsche nur dies eine Mittel, unser seelisches Gleichgewicht zu bewahren: zu treten, wenn man getreten wird? Gibt es überhaupt etwas Erbärmlicheres, als Prügel eines Stärkern mit dem Fußtritt gegen einen Schwächeren zu quittieren?

Wenn unsre Alldeutschen ahnten, wie undeutsch sie sind! Denn wenn es einen wirklich deutschen Wesenszug gibt (oder richtiger: gab!), der weder bei den Franzosen noch bei den Russen (von den Engländern ganz zu schweigen) so stark entwickelt ist wie bei uns, so ist es der: daß wir Deutsche für fremde Eigenart ein ganz besonderes Verständnis haben, von Shakespeare bis Strindberg, von Dante bis Dostojewski den fremden Herzschlag wie un­sern eignen spüren. Und nun sollen wir unser Deutschtum" durch Pogro­me betätigen!

Aber ganz abgesehen von allen Gründen der Moral, des Anstandes und unsrer nationalen Würde (wenn es die noch gibt), ist die Judenhetze wohl das Dümmste, was alldeutscher Eifer zur Erreichung seines Zieles anstellen konnte. Denn wenn es so weiter geht, wird voraussichtlich der anständige Jude mit Selbstgefühl Deutschland verlassen. Und grade die Minderwerti­gen, die sich unter allen Umständen anpassen, werden bleiben, werden, wenn’s nötig ist, ihr Judentum verleugnen und umso schneller in den deut­schen Volkskörper eindringen. Es ist so wie mit einer Vergiftung: je heftiger man sich sperkelt, desto rascher und sicherer schreitet sie vor. Gewiß: das deutsche Volk in seiner Mehrheit steht noch nicht hinter den Pogromhelden. Aber so, wie unsre Feinde von gestern durch unablässiges Hetzen schließlich die ganze Welt von unsrer Minderwertigkeit überzeug­ten - genau so wird es auch der alldeutschen Agitation zuletzt gelingen, alle Verbrechen (und erst recht ihre eignen!) auf die Juden abzuwälzen, wenn nicht eine Gegenaktion erfolgt. Nicht von jüdischer, sondern von deutscher Seite müßte diese erfolgen. Nur dann könnte sie vielleicht etwas von dem ungeheuern Schaden wiedergut machen, den alldeutsche Berserkerwut wieder angerichtet hat. Die be­sten Köpfe, die besten Namen aller Derer, denen deutsch sein mehr bedeu­tet als gesinnungstüchtiges Gebrüll in Jägerhemd und Lodenmantel, sollten sich zu einer eindrucksvollen Kundgebung schnell zusammentun:

Schlag sie tot, Patriot!" - nicht die Juden, sondern die für jeden Deutschen schmachvolle Judenhetze!

(ED: Der Aufsatz erschien am 15. April 1920 in der Weltbühne"; aus: SvV.: Briefe. 1914 - 1971. S.66f. - Der Aufsatz wurde gekürzt nachgedruckt in: Weimarer Republik. Lesebuch. Hrsg. v. Stephan Reinhardt. Berlin 1982: Wagenbach Verlag. S. 81)

*

Zu politischen Fragen:


Arbeitslosigkeit, Judenfrage, Nationalsozialismus...


ARBEITSLOSE VOR DIE FRONT!


Ja, hätten wir endlich wieder ein Millionenheer

mit Kanonen, Tanks, Maschinengewehren und Granaten,

dann hätten wir keine Arbeitslosen mehr,  

denn Arbeitslose in Uniform nennt man Soldaten.


Auch Wirtschaft und Industrie würden sich wieder heben.

Am rentabelsten sind ja immer die Kriegsgeschäfte.

Das sogenannte freie Spiel der Kräfte

würde sich am nächsten Massenmord ohne Zweifel beleben.


Durch den modernen Gaskrieg würde ganz Deutschland zur Walstatt.

Kurz: wir geben wieder herrlichen Zeiten entgegen.

Der Stahlhelm rüstet munter zum nächsten Stahlbad:

die einen machen das Geschäft. Die andern bezahlen es mit ihrem Bregen.


So löst sich ganz einfach das Arbeitslosenproblem:

Die Arbeitslosen werden Helden und sterben den Heldentod.

Helden sind billig, bescheiden und bequem:

Helden sind tot. Und brauchen daher kein Brot.

(Neues Tagebuch 1931. S. 290)

*

Eine frühe politische Manifestation, in Anschluß an Vegesacks Engagement im Widerstand gegen die Antisemitismus-Debatte ist der folgende Aufruf:


Entwurf eines Manifestes (wahrscheinlich 1919/20)


Unterzeichnete Männer und Frauen, sämtlich Deutsche und Christen erheben feierlichen Einspruch gegen die immer schamloser um sich greifende Rassenhetze, die unser durch Krieg und Revolution tief erschüttertes Volksleben völlig zu vergiften und jeden Versuch einer Wiedergenesung im Keine zu ersticken droht.


Wo Hass und Feindschaft ist, da ist Niedergang und Tod. Nur Liebe und Hingabe an die Gesamtheit gibt uns die Hoffnung an eine Zukunft zu glauben.


An dieser Zukunft soll ein jeder mitarbeiten, gleichviel ob er Jude ist oder Christ, Semit oder Deutschgeborener!


Deutsche! Grade weil wir Deutsche sind sagen wir uns los von allen jenen kläglichen Wortdeutschen, die im Volke wühlen und durch Entfachung dunkler Masseninstinkte ihre kleinen parteipolitischen Ziele zu erreichen suchen.


Lasst uns, statt in die Barbarei des Mittelalters, in die uns jene hineinhetzen wollen, trostlos zu versinken, die Höhe geistiger und sittlicher Reinheit wiedererringen, in der einst unsere Besten - Kant, Lessin, Herder und Goethe atmeten.


Nur dann können wir, trotz Allem, auf eine deutsche Zukunft hoffen. Denn nur den reinen Herzen gehört die Zukunft!

(Ohne Drucknachweis; ein hektographiertes Blatt im Vegesack-Archiv der Stadtbücherei Regen. (VEG - I. 22)


*

Springen wir in seiner Lebensgeschichte voran, ins Jahr 33:

SvV berichtet:


Als am 5. März 1933 - einem Sonntag - eine blutrote Fahne auf dem Turm der Ruine Weißenstein gehißt wurde, meldete ich dies der Landpolizei in Regen. Ein dicker Wachtmeister kam sofort herauf, holte die Fahne herunter und erklärte mir schmunzelnd: in Bayern wären die Fahnen weißblau - dieser rote Fetzen habe bei uns im Bayerischen Wald nichts zu suchen! Doch das Unglück wollte es, daß schon am nächsten Sonntag, dem 12. März, dieser „rote Fetzen" auch unsere Fahne geworden war! Ganze Horden brauner Uniformen kamen mit klingendem Spiel heraufmarschiert, hißten die blutrote Fahne auf dem Turm - und verhafteten mich! Der dicke Wacht­meister bat mich freundlich, ihm zu folgen. Am liebsten hätte er mich wohl laufen lassen. Väterlich besorgt um mich, ließ er die braune Horde vorausgehen und geleitete mich - sich immer wieder entschuldigend - zum Gefängnis, das sich im Erdgeschoß des Amtsgerichtes befand. Hier wurde ich nicht wie ein Sträfling, sondern fast wie ein Ehrengast aufgenommen. Jeden Morgen erkundigte sich der Gefängnisdirektor nach meinem Befinden und entschuldigte sich händeringend, daß er mir nichts Besseres zum Essen vorsetzen könne.

Ich tröstete ihn: es schmecke mir ausgezeichnet. Nirgends habe ich so ungestört arbeiten können wie damals im Gefängnis von Regen. Es war eine schöne Zeit, an die ich gern zurückdenke! Später, als ich wieder herauskam, zog ich es allerdings vor, hinauszugehen - nach Schweden, in meine baltische Heimat -, nach Südamerika.

Ja, eine schlimme Zeit war angebrochen - aber sie lief zum Glück so geschwind, daß aus tausend Jahren nur zwölf wurden! Doch gerade, wie diese Zeit abgelaufen war, die Stadt sich den anrücken­den Amerikanern übergeben wollte, erschien ein wahnsinniger SS-Mann mit einem Sprengkommando und sprengte die Eisenbahnbrücke und den prächtigen Viadukt der Ostmarkstraße in die Luft. Doch die Amerikaner, die ja nicht mit der Bahn kamen, rollten mit ihren Panzern unbekümmert in die Stadt, wobei über dreißig Häuser zerstört und niedergebrannt wurden.


*

Ja, die Judenfrage- und damit die Menschlichkeitsfrage und der kollektiven Friedensfähigkeit - im Zusammenhang der Diskussion in der Frühzeit der Weimarer Zeit - hatte SvV erkannt. Er genierte sich nicht, seine politischen Ideen auch religiös zu begreifen:


Christus in München


Als der Herr Jesus Christus nach München kam

Und gleich beim Hauptbahnhof ein möbliertes Zimmer nahm,

Warf ihn ein Schupo nachts aus dem Bette

Und fragte, ob er auch eine Einreiseerlaubnis hätte.


Der Herr Jesus Christus zeigte auf das Evangelium.

Der Schupo blätterte darin herum

Und sagte: "Dies ist kein Ausweispapier -

Kommen Sie mit auf das Polizeirevier!"


Der Herr Jesus Christus kam auf die Polizei.

Man fragte ihn, wo er geboren, und wer und was er sei.

Der Herr Jesus Christus sprach: "Ich bin geboren in Bethlehem,

Gestorben auf Golgatha bei Jerusalem;


Der Schreiner Josef war mein Vater, und war es doch nie,

Mein Mutter war Jungfrau und hieß Marie."

Der Schupo fragte ihn: "Sind Sie Christ oder Jude?"

Dem Herrn Jesus Christus war es seltsam zu Mute,


er lächelte und sagte: "Ich bin Jude und Christ!"

Da schrie ihn der Schupo an: "Mensch reden Sie keinen Mist

Und wo wollten Sie denn in Bayern hin?"

Der Herr Jesus Christus sprach: "Ich wollte sehn, wie ich gestorben bin;


Das kann man sich ja jetzt alles genau

bei Euch ansehen in Oberammergau!"

Da hat ihn der Schupo schrecklich angeblickt

Und ihn angebrüllt: "Mensch, Sie sind wohl verrückt!


Nach Oberammergau wollen Sie - Sie?

Das ist doch nur für Christen und unsere Fremdenindustrie!

Aber Sie und die ganze Slawiner- und Judenbande

Schmeißen wir raus aus unserm christlichen Bayernlande!"


Und der Herr Jesus Christus ward zum Bahnhof geführt

Und noch selbigen Tages in einem Viehwagen abtransportiert.

Leider hat man nicht mehr vernommen,

Wohin der Herr Jesus Christus aus Bayern gekommen,


Ob er nach Wien oder nach der Tschechoslovakei,

Nach Jerusalem oder Berlin abgeschoben sei.

Vielleicht, daß man ihn auch gefangen hält

In der Ordnungszelle Niederschönenfeld.


- In Niederschönenfeld waren Protagonisten der Bayerischen Räterepublik gefangen, z.B. auch von Vegesacks Freund Erich Mühsam. Zuerst in der „Weltbühne“, 1923. Hier zitiert nach der Ausgabe der Briefe von Vegesacks: Briefe 1914 - 1971. Herausgegeben von Marianne Hagengruber. Grafenau: Morsak Verlag. 1988. S. 74f.-



Was die Nazis politisch schärfer erregte, war z.B. diese parodistische Ballade:

Denn SvV leiste damit eine wichtige aufklärerische Intention der Satire: Er verwendet das Weihnachtsthema als ästhetisch sozialisierte Aggression, die ex negativo eine Situation und einen Un-Geisteszustand angreift, der ihn empört...


*

Deutsche Weihnacht 1930


Es ist Zeit, dass wir uns vom jüdischen Krippenkind

zum urgermanischen Wotan-Kultus bekehren.

Nur Esel, Schafe und einfältiges Rind

können, damals wie heute, ein jüdisches Wesen verehren.


Diese Kind, das durch feige Flucht und List

sich dem Bethlehemer Pogrom entzogen,

war natürlich Jude und nannte sich nur Christ,

und hat die Weltgeschichte durch seinen Namen betrogen.


Ein arbeitsscheuer, landfremder Vagabund,

der mit bolschewistischen Lehren hausierte.

Mit einen Wort: ein jüdischer Hund,

der gegen die arische Autorität agitierte.


Nein, wir brauchen Wotan, den germanischen Held,

mit rauschendem Vollbart und blitzendem Speere,

der alle Juden verjagt aus der deutschen Welt

mit jauchzendem Walküren-Heere!


Heil Wotan! Heil Hitler! Die Stunde gebeut’s,

die deutsche Weihnacht, jetzt naht sie:

Fort vom Kreuze, - zum Hakenkreuz!

Fort vom Nazarener, - zum Nazi!

(In: Simplicissimus. 22.12.1930; nachgedruckt nach Hagengruber S. 124f.)



Und seine Stimme war noch lauter, teils schriller, er schrieb Balladen, Chansons, sie erklangen in deutschen Kabaretts. Hier noch ein unbekanntes Beispiel, das zeigt, daß die Hoch-Zeit der Nazis in ihrem Kampf gegen die legale demokratische Ordnung durchaus Ähnlichkeiten hat mit unsere Gegenwart, in der Globalismus, Aktienwut und Fremdenfeindlichkeit (bei Jugendlichen mit über 60 % vertreten als Alltagsmeinung):


Das Börsenspiel


Hab ich einen leichten Schwipps,

Geb’ ich dir die besten Tipps:

Her damit, mit den bedreckten

Lappen: kauf dir feine, feine

Prima, prima Anteilscheine, -

Kauf Effekten! Kauf Effekten!


Und vor allem die begehrte

Phönix-Aktie, Schantungwerte,

Dürkopp, Daimler und die hohe

Gelsenkirchen, Hohenlohe,

Horenstein und Mannesmann,

Siemens-Halske, Scheidemandel, -

Alles gibt es ja im Handel,

Wenn man es bezahlen kann!

Selbst mit Lindes Eismaschinen

Läßt sich einiges verdienen.


Mag die Welt auch noch so wettern:

Die Papiere klettern, klettern,

Klettern hoch ins Riesengroße,

Riesenchancen! Riesenhausse!

Kattowitz und Laurahütte!

Sitz nur still: ich schütte, schütte

Dividenden, Anteilscheine,

Vorzugsaktien, feine, feine,

Junge Aktien, junge, junge, -

Und schon türmen sich im Schwunge

Die Millionen, die Millionen.


Und du kannst im Bristol wohnen,

Und du kannst im Auto sausen,

Und du kannst bei Hiller schmausen, -

Lehnst dich üppig in dein Kissen,

Faltest satt die fetten Hände:

Denn bei jedem deiner Bissen,

Mögen auch Millionen frieren,

Schuften, hungern und krepieren,-

Rollt dir, ohne Zahl und Ende,

Rollt dir zu die Dividende!

Laß den Pöbel, den bedreckten,

Für dich schuften, kauf Effekten!


Kauf Produkte! Kauf Produkte!

Und vor allem das begehrte

Weizenmehl, Getreidewerte,

Roggen, Gerste, Kaffeebohne,

Selbst Peluschken sind nicht ohne,

Schau dir auch die Wolle an.

Kauf dir einen ganzen Haufen, -

Ales, alles ist zu kaufen,

Wenn man es bezahlen kann!

Selbst mit Mais und mit Lupinen

Läßt sich einiges verdienen.


Mag die Welt auch noch so wettern:

Die Produkte klettern, klettern,

Klettern hoch ins Riesengroße,

Riesenchance, Riesenhausse!

Nur Geduld, Geduld, ich bitte,

Sitz nur still: ich schütte, schütte

Hafer, Wolle, auch von Schafen,

Doppelzentner, frei ab Hafen,

Seradella, - Junge, Junge,

Und schon türmen sich im Schwunge

Die Millionen, die Millionen.


Und du kannst im Bristol wohnen,

Und du kannst im Auto sausen,

Und du kannst bei Hiller schmausen, -

Lehnst dich üppig in dein Kissen,

Faltest satt die fetten Hände,

Denn bei jedem deiner Bissen, -

Mögen auch Millionen frieren,

Schuften, hungern und krepieren, -

Kannst du doch behaglich heizen,

Denn es steigen Korn und Weizen!

Laß das Volk nur, das verruckte,

Für dich schuften: kauf Produkte!


Kauf Devisen! Kauf Devisen!

Und vor allem die begehrte

Dollarnote, Dollarwerte,

Gulden, Pfund und Schwedenkrone,

Selbst die Lira ist nicht ohne,

Schweizer Frank und Yen sodann, -

Kauf dir einen ganzen Haufen,

Alles, alles ist zu kaufen,

Wenn man es bezahlen kann!

Selbst mit ein paar Tschechen-Kronen

Kann sich das Geschäft schon lohnen.


Mag die Welt auch noch so wettern:

Die Devisen klettern, klettern,

Klettern hoch ins Riesengroße,

Riesenchancen, Riesenhausse!

Nur Geduld, Geduld, ich bitte

Sitz nur still: ich schütte, schütte,

Dollarnoten, Guldenscheine,

Schweizer Franken, feine, feine,

Schwedenkronen, - Junge, Junge,

und schon türmen sich im Schwunge

Die Millionen! Die Millionen!


Und du kannst im Bristol wohnen,

Und du kannst im Auto sausen,

Und du kannst bei Hiller schmausen, -

Lehnst dich üppig in dein Kissen,

Faltest satt die fetten Hände,

Denn bei jedem deiner Bissen, -

Mögen auch Millionen frieren,

Schuften, hungern und krepieren, -

Steigen Dollar, steigen Kronen!

Laß den Pöbel nur, den miesen,

Für dich schuften, kauf Devisen!

(Aus: Das Tagebuch. 4. Jg. 1923. S. 563-565)


*


Bevor wir über den großen Teich fliegen, um mit SvV nach Südamerika zu gelangen, schlage ich eine Gedichtanthologie für Schüler auf, die, noch heute lieferbar, drei Gedichte von SvV druckt:

Schauen Sie mit:



Wolken, Wind und Wälder weit


Wolken Wind und Wälder weit,

Heimat ohne Grenzen.

Rund wölbt sich die Ewigkeit,

wenn die Sterne glänzen.


Wolken sind mein Traumgefild,

Wind und Sturm   Genossen,

Wälder  Heimat, Urgebild,

dem ich einst entsprossen.


Rund wölbt sich die Ewigkeit,

wenn die Sterne glänzen.

Wolken, Wind und Wälder weit -

Heimat ohne Grenzen.


Nepomuk auf der Brücke


Sankt Johannes Nepomuk

mitten auf der Bruck

steht er einsam da aus Stein.

Über seinem Haupt, das sich zur Seite neigt,

glänzt

sternbekränzt

goldner Heiligenschein.

Und er schweigt,

lauscht,

wie der Strom der Zeit,

den die Wälder dunkel rings umschließen,

unaufhaltsam unter seinen Füßen

Tag und Nacht, jahraus, jahrein,

vorüberrauscht

in das Meer der Ewigkeit.


Und mit einer wunderbaren

innigen Gebärde

seiner, ach, so schwachen Hand

hält das schwere Kreuz er fest

an das Herz gepreßt -

wie er einst, vor vielen hundert Jahren,

noch aus Fleisch und Blut,

hier, auf dieser heißgeliebten Erde

schweigend mit dem schweren Kreuze stand,

als man von der Brücke ihn ins Wasser stieß,

in die dunkle Flut -

und sein stummer Blick spricht dies:

Ihr, die ihr an mir vorübereilt,

Jung und Alt,

Frau und Mann -

verweilt,

hört mich Stummen an:

Seid

jederzeit zum Opfertod bereit!

Widersteht dem Bösen jeglicher Gestalt,

der Gewalt -

und ihr überdauert Strom und Zeit

auf der Brücke in die Ewigkeit!"


Sonntag im Marktflecken


Kleine Mädchen schwänzeln mit Entzücken

kichernd Arm in Arm an allen Ecken

und betrachten mit beglücktem Schrecken

das Plakat von Kino-Schauer-Stücken.


Invaliden humpeln bleich an Krücken.

Alte Herren promeniern an Stöcken.

Ladenjünglinge in Sonntagsröcken

schlendern steif und spucken von den Brücken.


Bäuerinnen gehn in schwarzer Haube.

Kegelschieben dröhnt aus grüner Laube

und vom Kirchturm Leichengang-Gebimmel.


Über all dem kleinen Lärm und Staube

stößt mit jähem Flügelschlag die Taube

blendend in den blauen Sonntagshimmel.

(Aus: Gedicht-Buch. Deutsche Gedichte aus zwölf Jahrhunderten für die Schule. Hrsg. v. Karl Pörnbacher. Berlin 1987: Cornelsen Verlag. S. 314f.)


*


Nun, also, auf zur großen Fahrt:


Von Deutschland über den Atlantik nach Südamerika


Südamerika,


Niederbayern


Tessin


Der Hund


Wenn du die Tatzen auf die Brust mir legst,

Mit Augen, abgrundtief und treu,

Und ohne Scheu

Die Ohren zärtlich weit nach hinten schlägst,

Dann fühle ich: daß zwischen mir und dir

Kein Unterschied besteht,

Daß mitten zwischen Mensch und Tier

Die Gottheit geht.


Schöpfungsgeschichte


Das Lesebuch, aus dem die kleine Tochter ihrem Vater jeden Morgen ein Stückchen vorliest, enthält im Anhang allerlei gute und nützliche Sprüche. Um den Unterricht etwas zu beleben, nimmt der Vater, der als Lehrer ziemlich hilflos ist, hier und da einen kleinen Spruch vor, erklärt ihn und läßt ihn von der Tochter auswendig lernen.

Als ersten Spruch wählte er, da ihm dieser für den Anfang besonders passend schien, folgenden Satz: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde." (1. Mos. 1, 1.)

Der Vater erklärt, so gut er es kann, der kleinen Tochter, wie das zuging: wie alles zuerst ein unförmi­ger Brei gewesen sei, aus dem der liebe Gott nach und nach Himmel und Erde, Wasser, Bäume, Tiere und endlich den Menschen geschaffen habe.

Isabel hört aufmerksam zu, erkundigt sich sachlich nach den Blumen und Gräsern, die der Vater natürlich vergessen hat, verlangt Einzelheiten zu erfahren, z. B. warum die Vögel fliegen und die Regenwürmer nur kriechen können, findet aber sonst alles, bis auf die Raupen und Schmetterlinge, die zuerst kriechen und dann fliegen müssen, ziemlich in der Ordnung.

Der Vater atmet erleichtert auf. Er hat dem lieben Gott keine Blöße gegeben und dadurch seine eigene Autorität sichtlich gestärkt. Es ist ihm fast, als hätte er eben selbst die Welt geschaffen: und siehe da, es war alles sehr gut.

Am nächsten Tag soll Isabel ihren ersten Spruch von der Schöpfung hersagen. Und sie sagt:

Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde und ein Moos."

"Ein Moos?"

"Ein Moos 1" Und strahlend, mit überlegener Gebärde zeigt I8abel auf die Stelle im Lesebuch: 1. Mos. 1, 1.

"Papa, das Moos hattest du vergessen!"

Der Vater versucht vergeblich, seine erschütterte Autorität zu retten, er beruft sich feierlich auf Moses und alle Propheten,   aber Isabel bleibt dabei: Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde und   ein Moos."

*

Die Unsichtbaren

Naturgeschichte ist meine schwache Seite. Ich weiß nicht, wie die einfachsten Blumen und Gräser heißen, welche Vögel was für Eier legen, was für Schmetterlinge aus welchen Raupen entstehen und ob die Regen­würmer unter der Erde sehen können. Lauter Dinge, die Isabel unbedingt wissen will und mit denen ich mich immer wieder blamiere, wenn ich mich auf ihre ver­fänglichen Fragen einlasse.

Isabel mußte neulich gurgeln, weil sie Halsschmerzen hatte. Die Mutter sucht ihr das klarzumachen, sie er­zählt ihr von den Bazillen, die im Halse weh tun und die durch das Gurgeln verschwinden.

Was sind Bazillen?" fragt Isabel.

Das sind so kleine Tierchen", erklärt die Mutter, „daß man sie gar nicht sehen kann."

Isabel gurgelt, spuckt aus und fragt mißtrauisch:

Wie weißt du denn, daß es Bazillen sind, wenn du sie gar nicht sehen kannst?"

Ich komme der Mutter zu Hilfe und berichte von Gläsern, durch die man die Bazillen beobachten kann, aber ich merke, Isabel traut der Sache nicht recht und denkt, daß ich ihr wieder Märchen erzähle.

Ebenso schlimm steht es mit der biblischen Ge­schichte. Warum Abraham Isaak opfern sollte, begreift Isabel absolut nicht. Als ich ihr die Geschichte vorlas, brach sie haltlos in Tränen aus, und ich konnte sie lange nicht beruhigen.

Neulich erkundigt sich Isabel eingehend nach Engeln, wie sie aussehen, wie groß ihre Flügel sind warum man sie nicht sehen kann.

"Engel sind für uns Menschen unsichtbar", sage ich, "nur der liebe Gott kann sie sehen!"

"Aber wie weiß man denn, daß sie Flügel haben?" fragt Isabel argwöhnisch.

"Sehr, sehr gute Menschen haben die Engel geschehen“, antworte ich unsicher.

Isabel sieht mich prüfend an: "Papa, hast du je einen Engel gesehen?"

Ich schüttele beschämt den Kopf und versuche, mich zu entschuldigen: "Heutzutage kann überhaupt kein Mensch mehr Engel sehen, sie sind ganz sichtbar."

Isabel denkt lange nach.

Dann fragt sie mich plötzlich, und es blitzt in ihren Augen, als wäre sie hinter ein tiefes Geheimnis kommen:

"Papa - sind Engel vielleicht Bazillen?"


Ein kleiner Irrtum

Man kann merkwürdige Dinge erleben, merkwürdige Dinge, wo man sie am allerwenigsten erwartet.

Da hatten wir eine Katze, eine richtige rote Katze mit rotem Ringelschwanz, weißem Schnurrbart und grünen Augen.

Die Katze hieß, wie alle unsere Katzen, Kisse Mons   Kisse ist der Vorname. Kisse Mons war noch jung, als sie zu uns kam, jung und mager. Aber bald fing sie an zu wachsen, wurde rundlich und dick, immer dicker und dicker ...

Es war klar: Kisse Mons erwartete Junge.

In aller Zartheit bereiten wir Isabel auf das freudige Ereignis vor: Isabel ist ganz außer sich vor Entzücken, sie macht mit liebevoller Sorgfalt ein Kästchen am Ofen zurecht, füllt es mit Heu und allerlei weichen Flicken, legt Kisse Mons zärtlich hinein und deckt sie mit einer wattierten Puppendecke zu.

Kisse Mons ist sichtlich gerührt, schnurrt und schnurrt und findet alles in Ordnung.

Isabel kann es kaum erwarten. jeden Morgen läuft sie in fieberhafter Aufregung zum Katzenbett, um nach­zuschauen, ob die Jungen endlich da sind.

Aber Kisse hat noch immer keine Jungen.

Isabel füttert sie täglich fünfmal mit allen erdenk­lichen Leckerbissen, Kisse frißt und schnurrt, wird dick und rund wie ein Kürbis   aber die Jungen kommen noch immer nicht.

Eine so dicke Katze haben wir noch nie gesehen. Wir raten und wetten, wieviel Kinder sie bekommen wird, und ermahnen Isabel, Kisse nur ganz vorsichtig zu strei­cheln, weil es ihr sonst weh täte.

Isabel streichelt sie ganz vorsichtig, Kisse frißt und schnurrt  , aber die Jungen kommen und kommen nicht.

Die Spannung wächst ins Ungeheure: wir: alle erwarten stündlich das Ereignis.

Da besucht uns eines Tages eine alte, erfahrene Bäuerin. Sie schaut sich die Katze genauer an, lächelt verschmitzt und erklärt sachlich:

"Ja, da könnt ihr noch lange warten, dös is ja überhaupt koa Katz nicht - dös ist ja a Köter!"

Wir alle stehen fassungslos um das Wochenbett herum.

Kisse Mons schnurrt.

Isabel weint bitterlich.

Aber schließlich: man kann von einem Kater nicht allzuviel verlangen.

**

Moos

Hast du schon jemals Moos gesehen?

Nicht bloß so im Vorübergehen,

so nebenbei von oben her;

so ungefähr  

nein, dicht vor Augen, hingekniet,

wie man sich eine Schrift besieht?

O Wunderschrift! O Zauberzeichen!

Da wächst ein Urwald ohnegleichen

und wuchert wild und wunderbar

im Tannendunkel Jahr um Jahr,

mit krausen Fransen, spitzen Hütchen,

mit silbernen Trompetentütchen,

mit wirren Zweigen, krummen Stöckchen,

mit Sammethärchen, Blütenglöckchen,

und wächst so klein und ungesehen -ein Hümpel Moos.

Und riesengroß

die Bäume stehen...


Doch manchmal kommt es wohl auch vor,

daß sich ein Reh hierher verlor,

sich unter diese Zweige bückt,

ins Moos die spitzen Füße drückt,

und daß ein Has', vom Fuchs gehetzt,

dies Moos mit seinem Blute netzt...

Und schnaufend kriecht vielleicht hier auch

ein sammetweicher Igelbauch,

indes der Ameis' Karawanen

sich unentwegt durchs Dickicht bahnen.

Ein Wiesel pfeift, ein Sprung und Stoß -

und kalt und groß gleitet die Schlange durch das Moos...


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Der Pfarrer im Urwal  - eine verschollene Novelle -

(Novelle. 1945 geschrieben; 1947 veröffentlicht; einzige Ausgabe im Keppler Verlag, Baden-Baden)

Wir verabschiedeten uns von ihm nach brasilianischer Sitte, indem wir uns gegenseitig die Schultern beklopften, bestiegen unsere Mulas und schlugen den Weg ein, den er uns gewiesen hatte. Wir konnten ihn nicht verfehlen, denn schon von weitem hörten wir schrille Klagerufe, ein seltsames Gemisch von singenden und wehklagenden Stimmen, das uns immer lauter aus einer trostlosen Anhäufung von schilfge­deckten Lehmhütten und elenden Bretterschuppen ent­gegentönte. Vor einem der Schuppen drängten sich Frauen, Kinder und Männer. Wir stiegen ab, banden unsere Mulas unter einem Schattenbaume fest, und gingen auf die Menge zu, die uns ehrerbietig Platz machte. Alle schienen den Pfarrer und Sylvia zu kennen, denn wir wurden freundlich begrüßt, als hätte man auf uns gewartet.

Wir traten in den Schuppen. Es war so dunkel darin, und so viele Leute standen und hockten herum, daß ich zunächst kaum etwas unterscheiden konnte. Erst als meine Augen, vom grellen Sonnenlicht noch geblendet, sich an die Dämmerung gewöhnt hatten, bemerkte ich in der Mitte des Raumes, wo ein paar Ölfunzeln in Konservenbüchsen schwelten, die Leiche des Knaben, die in einem mit buntem Papier ausge­schlagenen sargartigen offenen Kasten lag.

Der Junge war, von den Füßen bis zum Kopf, sorgfältig in seinen Sonntagsstaat gekleidet: in einer grellgelben Kattunjacke und gestreiften Hosen. Sogar seine Füße hatte man in glänzend gewichste Stiefel gezwängt, die er bei Lebzeiten wohl kaum getragen hatte. Um seinen Hals war ein knallrotes Tuch geschlungen, von dem sich das dunkle, von der Verwesung schon stark entstellte Gesicht unheimlich abhob. Die mageren, bläulich angelaufenen Hände lagen, mit einer Schnur zusammengebunden, in einer unnatürlichen Stellung auf der Brust, als hätte man sie vergeblich falten wollen. In den Knopflöchern und der Brusttasche der gelben Jacke steckten bunte Papierblumen, und sogar die Haare waren von einem kranzartigen Streifen künstlicher Blumen geschmückt.

Am Kopfende hockte die alte Mutter, stumm, zur Bildsäule erstarrt. Nur zuweilen hob sie ein wenig den von schwarzen, glatten Haarsträhnen umrahmten mageren Kopf, blickte mit leeren, verglasten Augen auf die Leiche, als müßte sie sich besinnen, wer das eigent­lich sei, und ließ ihn dann wieder stumpf sinken. Manchmal trat eine mächtige Matrone in einer hellblau schillernden Bluse, ganz umhängt von glitzernden Ketten und Glasperlenschnüren, auf die Alte zu und gab ihr aus einer Flasche zu trinken. Diese Flasche kreiste von Mund zu Mund. Auch uns wurde sie angeboten. Ich führte die Flasche aus Höflichkeit an die Lippen, nahm aber nichts. Es war ein grünliches Ge­tränk, das nach Fusel stank.

Auch sonst war die dumpfe, eingeschlossene Luft von unerträglichen Düften erfüllt: vom Schweiß und den Ausdünstungen der vielen dicht zusammenge­drängten Menschen, dem Gestank der schwelenden Ölfunzeln und dem widerlichen Geruch der Verwesung. Mir wurde ganz schlecht, aber zurück ins Freie konnte ich nicht, da sich hinter uns die Menschen­mauer wieder geschlossen hatte.

Halbwüchsige Mädchen und Burschen, alte Weiber, Männer, Mütter mit Säuglingen an der Brust und kleine nackte Kinder mit Kugelbäuchen und krummen dünnen Beinchen umdrängten die Leiche, die man f ü r die Erde so prächtig ausstaffiert und geschmückt hatte, wie sie nie a u f der Erde gewesen war. Ich mußte an den nackten bronzefarbenen Knaben denken, der sorglos und heiter in der Werkstatt und in der Kaffee­pflanzung gearbeitet hatte, bis ihn die Viper stach. Wie schön war er noch gewesen, als er damals sterbend auf der Veranda lag  , und was hatte man jetzt aus ihm gemacht, in dieser lächerlichen Verkleidung als europäische Zivilisationspuppe! Und doch lag ge­rade in dieser kindlichen Aufmachung etwas Rühren­des und Ergreifendes: mit welcher Liebe hatte man ihn so schön gekleidet, mit welcher Hingabe opferte man alle diese nur durch jahrelange Arbeit zu erschwingenden Kostbarkeiten dem Toten!

Die Wirkung des Cacház machte sich immer mehr bemerkbar. Die Klageweiber, die draußen vor dem Eingang hockten, stießen immer schrillere Schreie aus, und auch im Schuppen wurde das eintönige Stöhnen und Lallen der Menge immer lauter und stürmischer. Bis plötzlich die alte Mutter sich aufrichtete und einen gellenden, durchdringenden Schrei ausstieß: das Zeichen zum Aufbruch. Die Toten, vor allem der tote Vater, waren nun von der Ankunft des Gestorbenen genügend unterrichtet. Nun konnte man ihn ruhig der Erde übergeben, ohne zu befürchten, daß ihm der Ein­laß verwehrt werden würde.

Einige Männer traten an den offenen Kasten, hoben ihn mit der Leiche vom Boden und trugen ihn hinaus.

Alles drängte nach und folgte in ziemlicher Unordnung dem Zug, der sich schnell in Bewegung setzte. An der Spitze gingen die Klageweiber mit gellendem Geschrei, in das die Nachfolgenden, einzeln und willkürlich, ein­fielen. Dann schwankte auf den Schultern der Träger der offene Sarg. Die kanariengelbe Jacke und das rote Halstuch des Toten leuchteten grell in der prallen Sonne. Manchmal neigte sich die Kiste bedenklich auf die Seite, so daß die Beine in den gestreiften hellen Hosen und die Füße in den blankgewichsten Stiefeln ins Rutschen kamen und der dunkle Kopf mit den bunten Papierblumen herauszufallen drohte. Aber dann stemmten sich die Träger dagegen, und die Leiche kam wieder in Ordnung. Hinter dem Sarge schritt der Capitan, der Häuptling der Aymorés, in blaugestreifter Pyjamajacke und roter Hose. Mit diesen alten roten Militärhosen, die noch aus der kaiserlichen Zeit stam­men, als die Soldaten nach französischem Muster rote Hosen trugen, hat die Regierung die Indianer im Reser­vat ausgestattet, aber die meisten haben sie gegen Cacház umgetauscht, und nur der Häuptling trägt seine noch an großen Festtagen.

Hinter dem Häuptling folgten die Männer, und dann, in einigem Abstande, die Frauen und Mädchen.

Auch wir hatten uns getrennt: ich ging mit dem Pfarrer gleich hinter dem Capitan, während Sylvia sich den Frauen angeschlossen hatte. Neben der alten Mutter schwankte die Matrone in der hellblauen Bluse mit den glitzernden Glasperlen. Überhaupt hatte sich jeder möglichst bunt und farbenfroh gekleidet, so daß der Zug einen fröhlichen Eindruck machte. Auch das Geheul der Klageweiber wurde   vielleicht unter der Einwirkung des reichlich genossenen Cacház ungestümer und ausgelassener. Die Kinder hüpften und sprangen vergnügt nebenher, und sogar die Leiche in der Kiste schaukelte lustig auf den $chultern der im Rhythmus des schrillen Gesanges hin und her schwankenden Träger.

So zogen wir zwischen Mais  und hohen Zucker­rohrfeldern auf einem schattenlosen Wege in der pral­len Sonne. Die rote Erde war ausgetrocknet und staubte schon. Hoch über uns kreiste in schönem Segelflug, ohne die Schwingen zu bewegen, ein Urubu   der Aasgeier  , der in Brasilien wie ein heiliges Tier verehrt und geschont wird, weil er allen Unrat und alles Aas vertilgt. Vielleicht hatte er die Leiche gewittert. Aber diesmal wurde er um das erwartete Mahl betrogen.

Endlich waren wir am Rande des Urwaldes an­gelangt, am Friedhof des Reservats, wo die Aymorés begraben wurden. Von einem Friedhof war eigentlich nicht viel zu erkennen: weder Sträucher, noch Blu­men  , von Gedenksteinen oder Holzmalen schon ganz und gar zu schweigen. Nicht einmal eingezäunt war die Stelle. Nur ein paar Pflöcke, hier und dort in den Boden getrieben, deuteten an, wo man die Menschen begraben hatte. Und auch die Pflöcke waren zum gro­ßen Teil schon verfault oder lagen herausgerissen ver­streut auf der von Unkraut und wildern Schling­gewächs überwucherten roten Erde.

Die Träger setzten den Kasten mit der Leiche neben einer flachen, kaum zwei Schaufeln tiefen Grube, und machten sich, teils stehend, teils knieend, daran, ihn in die Erde zu schaffen. Das war nicht einfach, weil die Grube etwas zu kurz war. Man mußte die Kiste ein wenig schräg stellen. Dabei neigte sich der Kopf des Toten nach vorn und die Papierblumen rutschten zur Seite. Doch die über der Brust festgebundenen dunklen Hände rührten sich nicht und bewahrten ihre unnatürlich verrenkte Stellung. Jetzt, im unbarmher­zigen Licht der prallen Sonne, sah das bis zur Unkenntlichkeit entstellte, stark verweste Gesicht noch furchtbarer aus als in der Dämmerung des Schuppens. Die schwarze schiefgezogene Mundhöhle unter dem angefressenen Nasenstumpf hatte sich zu einem dia­bolischen Grinsen verzerrt, während die offenen, gla­sigen Augen sich stumpf und gleichgültig dem Licht und den blauschillernden Schmeißfliegen preisgaben.

Als endlich der Kasten mit der Leiche am Boden der Grube die richtige Lage gefunden hatte, und die Träger sich anschickten, ihn mit ein paar Brettern zu­zudecken, trat der Pfarrer an das offene Grab. Die Klageweiber versummten. Es wurde mit einem Male totenstill, und in dieser Stille sprach der Pfarrer. Ich weiß nicht, was er sagte, denn er sprach Aymoré, aber ich spürte, daß von seinen Worten eine starke Wirkung ausging, denn alle lauschten mit sichtlicher Ergriffen­heit, einige stöhnten laut auf, und irgendwo war ein unterdrücktes Schluchzen zu hören. Am Schluß hob der Pfarrer segnend die Hand über der Grube und schlug das Zeichen des Kreuzes.

Dann wurde die Leiche mit Brettern und Zweigen zugedeckt und Erde darauf geschaufelt. Noch während gegraben wurde, kreiste wieder der Cacház, und dies­mal waren es mehrere Flaschen, die von Mund zu Mund gingen. Wieder stimmten die Klageweiber ihren schrillen Gesang an, der sich immer mehr zu einem wilden, ekstatischen Geheul steigerte. Der Tote war nun von der Erde aufgenommen, er hatte es gut in seiner Pracht und verlangte nur noch nach seinem Mal, das man zu seinen Ehren gerichtet hatte. Und so zog man in freudiger Erregung heimwärts, um ge­meinsam den „Churasco“, den brasilianischen Spieß­braten, mit schwarzen Bohnen und rotem Pfeffer zu verzehren.

(Textausschnitt aus der E.A.: S. 40-46 - Cacház: Zuckerrohrschnaps)

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Zum Begriff des Christentums:


SvV war ein zutiefst religiöser Mensch. Was er schon 1945 beschrieb, wird erst heute politisch so aktuell, daß es nicht mehr unter den Tisch geschoben werden kann.

Zu Indianer-Religionen: das Brasilianische Jubiläum (aus SZ 22.4.2000)


Bei der Ankunft der Portugiesen (unter Führung des Pedro Alvares Cabral) vor 500 Jahren lebten wohl über 970 indianische Stämme im heutigen Staatsgebiet Brasiliens.

Die katholische Kirche hatte ihren An­teil an der Unterdrückung der indiani­schen Völker, und sie will das historische Datum nutzen, um die Indianer und die Nachkommen der schwarzen Sklaven um Verzeihung zu bitten für das Un­recht, das ihnen in den vergangenen 500 Jahren zugefügt worden ist. Auf ihrer Jahrestagung vom 26. April bis 2. Mai will die Bischofskonferenz einen Pasto­ral Brief verabschieden, der nicht nur die Ausrottung der Indianer und die Ver­sklavung der Schwarzen verurteilt, son­dern auch anerkennt, dass die Kirche de­ren religiöse Überzeugungen über Jahrhunderte nicht respektieren wollte. Erst in den fünfziger Jahren unseres Jahrhun­derts, als gemäß den Schätzungen des be­rühmten, inzwischen verstorbenen An­thropologen Darey Ribeiro nur noch rund 100 000 Indios in Brasilien lebten, begann in der katholischen Kirche ein Prozess des Umdenkens, in dessen Folge dann auch der Indianer Missionsrat ent­stand. Heute sei es sogar für den Papst selbstverständlich, dass eine katholische Messe von indianischen oder afrobrasilianischen Tänzen begleitet werde, sagt Bischof Pedro Casadaglia. Der Pastoralbrief zum 500-jährigen Jubiläum will laut Casaldalgia „das Gute und das Schlechte der Vergangenheit aufzeigen, der indianischen und der schwarzen Welt mit Wertschätzung gegenübertreten, Vergebung erbitten und die Übel im heutigen Brasilien aufdecken, zu denen der Bischof Arbeitslosigkeit, Hungerlöhne, Korruption und Gewalt zählt. - - (Eva Karnofsky: Jubiläum ohne Jubel. SZ 22.23.4.2000)

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Von jenseits des Atlantik, zurück auf unseren Kontinent. Der Tessin war häufig Vegesacks Ruhe- und Arbeitslandschaft. Zuerst kam er

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Der Landschaftsfreak

Mein Kampf mit der Plakattafel


Nun hat sich der Fremdenverkehr und die Reklame auch des Bayerischen Waldes bemächtigt: dicht neben der alten Kapelle, die hier oben auf freiem Wiesenhang seit Jahrhunderten über bewaldete Berge weit nach Böhmen schaut, hat man eine unge­heure Tafel mit grellen Plakaten errichtet, direkt an der Straße, so daß all die Fremden, die sonntags in Autobussen, Autokolonnen und auf Motorrädern heraufrattern, um den herrlichen Fernblick zu genießen, sich gleichzeitig auch an den farbenprächtigen Reklamebildern geschäftstüchtiger Zigaretten- und Margarine-Firmen erfreuen können.

Doch ich bin so rückständig, daß ich mich für diese aufdring­liche Pracht nicht begeistern kann. ja, sie ist mir geradezu ein Dorn im Auge, der jedesmal, wenn ich dort vorbeikomme, mir immer qualvoller tief in den Sehnerv sticht. Ich beschwere mich beim Bürgermeister unserer Gemeinde, einem sehr verstän­digen Mann, der mir völlig beistimmt: auch er findet die Plakattafel abscheulich. Aber - so fügt er hinzu - die Gemeindekasse erhält dafür 40 DM im Jahr, auch habe nicht er, sondern der Herr Landrat darüber zu bestimmen.

Ich gehe zum Landrat. Auch er hat volles Verständnis für meine Beschwerde, aber dafür sei nicht er, sondern die Regierung in Landshut zuständig. Ich schreibe an die Regierung, man ver­weist mich an den Bund für Naturschutz in München, und die­ser wieder an das Landratsamt in Regen. Alle geben mir recht, aber es geschieht nichts. Und die Plakattafel, die jede Woche mit immer neuen bunten Reklamebildern beklebt wird, grinst mich geradezu hohnlachend an, wenn ich vorbei muß. Ich nehme mir ein Herz und spreche mit dem Mann, der dies besorgt. Auch er ist verständig und ganz meiner Ansicht. Aber, so fügt er hinzu: für jede Plakattafel erhalte er hundert DM im Jahr, und auf die könne er nicht verzichten, Geschäft sei Geschäft.

Da überkommt mich eines Nachts - die Plakattafel läßt mich nicht einmal schlafen! - Plötzlich (oder hab' ich, wie ein Mör­der, den Mordgedanken schon lange im Innersten heimlich erwogen?) eine solche Wut, daß der Entschluß zur ruchlosen Tat gefaßt ist. Ich warte, bis es zwölf schlägt, Mitternacht, das ist die richtige Stunde für jedes lichtscheue Verbrechen. Dann schlurf ich auf Socken   niemand darf mich hören   die Treppe hinunter, ziehe mir die Sandalen erst draußen vor der Haustür an, hole Axt und Säge aus dem Schuppen und schleiche zur Kapelle. Es ist stockfinstere Oktobernacht: kein Mond, keine Sterne. Nur nach langem Suchen und Umhertappen finde ich mein Opfer, das auf zwei starken Pfosten steht, lege die Säge an und beginne mein Werk. Da ein später Heimkehrer aus dem Städtchen mich im Dunkeln leicht überraschen könnte, muß ich meine Arbeit immer wieder unterbrechen und horchen. Und dabei verrutscht die Säge, so daß ich jedes Mal an einer anderen Stelle ansetzen muß, und der Pfosten ist dick.

Da kommt ein Motorrad mit grellem Lichtkegel die Straße her­aufgeschnurrt. In wilden Sätzen muß ich hinter der Kapelle in Deckung gehen, wo ich mich wie ein aufgescheuchter Hase ängstlich am Boden niederhocke, bis das vorbeirollende Licht  in dessen grellem Schein die Plakattafel zum letzten Mal gespensterhaft auftaucht   im Dunkel verschwunden ist.

Dann gehe ich wieder an meine Arbeit, mit wachsender Wut und Erbitterung. jetzt greife ich auch zur Axt. Eine volle Stunde währt mein Kampf, mein Gegner hält sich tapfer. Endlich schwankt er, ich kann gerade noch im letzten Augenblick zur Seite springen - da kracht die schwere Bretter-Tafel mit Getöse zu Boden, direkt auf die Straße. Tiefbefriedigt, mit einem wun­derbar beglückendem Gefühl, wie ich es nur als Lausbub nach gelungenem Streich gespürt habe, schleiche ich heimwärts.

Wie es den Mörder zur Stätte seines Verbrechens zieht, treibt es auch mich am nächsten Tage zum Schauplatz meiner nächtlichen Untat. Da kommt gerade der Plakat-Mann im Auto heraufgebraust und betrachtet fassungslos das Werk der Zerstörung: die Reklame-Pracht im Straßen-Dreck! Drohend hebt er die Faust: »Diese Lausbuben! «

»Ja«, pflichte ich ihm entrüstet bei, »hier oben ist nichts vor den Lausbuben sicher. Erst kürzlich haben sie auch unsere Bank demoliert! Sie werden mit Ihrer Plakattafel hier kein Glück haben!«

»Aber den Lausbuben werde ich schon erwischen! «

Der Plakat-Mann hat eine Belohnung von fünf DM für den ausgesetzt, der ihm den Missetäter nennt. Aber die Plakattafel hat er jetzt im Dorf an einem alten Stadel angebracht, wo die vorbeiziehenden Rinder staunend die bunten Reklame-Bilder betrachten können. Man soll seine Sünden beichten. So, jetzt ist es heraus: ich habe mein Verbrechen bekannt, den Namen des Missetäters genannt. Ob ich die fünf DM Belohnung erhalten werde?!

(Zuerst gedruckt im Buch „Kleiner Hauskalender. 1966. S. 133ff.)


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Herbst im Tessin


Wenn ich am Morgen die grünen Fensterlä­den aufklappe, ist der Himmel noch ohne Farbe und Glanz. Nur hinter Lanzo d’Intelvi, dort wo ein Stück von Italien sich über das Massiv des Gebirges herüberschiebt, schim­mert es silbrig grün, leuchten die Bergkuppen kupferrot, angeglüht vom nahenden Feuer­ball.

Aber dann, wenn die Sonnenkugel mit einem Ruck, einem mächtigen Sprung sich über den zackigen Grat schwingt, entzündet sich die gläserne Kuppel, flammen die Berge auf, füllt sich das weit ausgebreitete Land mit Licht und Farbe. Silbern funkelt der Tau an den Blättern und Gräsern. Weiße Nebelschwaden brodeln über dem See. Die Sonne hat noch viel zu schaffen und aufzuräumen: da sind die Nebel vom Comer-, vom Luganer See, vom Lago Maggiore, sie liegen tief in den winkligen Gebirgsspalten eingeschlossen und können nur langsam aus ihren Verstecken hervorgeholt und aufgesogen werden. Immer blauer färbt sich der Himmel. Und wie die Sonne brennt! Das ist keine müde, melancho­lische Herbstsonne, die Wärme vortäuscht und in der die Hühner verschlafen ihre Flügel recken, sondern ein unbändiges, noch mit aller Sommerglut erfülltes Feuer, in dem die letzten Trauben, die letzten Früchte reifen.

Die Weinlese, die »Vendemmia«, ist vorüber. Nur hier und da hängen noch die dunklen, süßen Beeren in den gelben Blätterranken. In den engen Gassen, aus allen Häusern strömt der säuerliche Geruch von Most und Trau­ben, die zum Keltern aufgeschichtet sind. Zwischen den Weinstöcken, auf den schma­len Wiesenstreifen, weiden schokoladenbrau­ne Rinder. Die schwarzen, blanken Mäuler bewegen sich mahlend über dem taufeuchten Gras, zupfen hier und dort ein Blatt von den Ranken. Die krummen Hörner wiegen sich hin und her, die Glocken klimpern kurz und hell.

Der Feigenbaum im Garten ist noch voller Früchte. Wie kleine grüne Beutel hängen die Feigen an den weit verzweigten Ästen. Ich kannte sie bisher nur getrocknet, in Bündeln aufgereiht, wie man sie bei uns zu Hause kauft. So wie ich mir auch Datteln nur in den schmalen Schachteln vorstellen kann, eine dicht neben der aiideren. Aber hier pflückt man sich die Feigen einfach vom Baum. Man muß sich nur die ganz weichen aussuchen, nur die sind reif. Dann reißt man die grüne Schale auf, die Frucht teilt sich von selbst, und nun saugt man die rötliche, von hellen Körn­chen durchsetzte Masse aus der grünen Hülle. So pflückt man nach dem Mittagessen sein Dessert einfach von den Zweigen.

Und dann die Kastanien! Auf allen Wegen liegen diese kleinen, stachligen, gelben Igel umher, teils schon geplatzt, so daß die dun­kelbraunen Kastanien blank poliert aus dem dicken Pelz hervorschauen. Man braucht sich nur zu bücken, sie aufzulesen,   bald hat man die Taschen voll und trägt eine Mahlzeit nach Hause. Hier gibt die Natur sie nicht in winzi­gen Tütchen für zwanzig Pfennig, sondern sie stopft dir auch die Mütze voll und schenkt dir alles umsonst.

Vor den Häusern blühen noch Astern und Dahlien: rot, gelb, blau, Violett, weiß und lachsrosa. In den dunklen Bögen der Loggien hängen aufgereiht die gelbkömigen Maiskol­ben und reifen in der Sonne. Bis zu den Knöcheln versinkt man im raschelnden, braunen Blättermeer. Gebückte Weiberchen rechen das dürre Laub zusammen und schleppen es hochgetürmt in spitzen Tragkörben heimwärts. Ziegen meckern. Ein alter, zottiger Bock schaut mit bernsteingelben, weltent­rückten Augen über die Mauer: Pan im Herbst. Eine Eidechse hängt gekrümmt, re­gungslos wie aus Bronze, an der warmen Steinplatte in der Sonne.

Die Singvögel sind verstummt. Dann und wann knallt es. Der Tessiner geht auf die Jagd, und da es sonst nichts zum Schießen gibt, lauert er den kleinen Vögeln auf, Stolz trägt er die winzigen, armseligen Geschöpfe, aufge­reiht an einem Schnürchen für die Polenta nach Hause.

Was gibt es noch für Geräusche? Das Schnat­tern der gemästeten Gänse, Hühnergegacker, das Glockengeklimper der weidenden Kühe. Und plötzlich, wild und aufgeregt, das kollernde Gekakel des Truthahns. Tief im Tal rattert die kleine Ponte-Tresa-Bahn und ver­schwindet pfeifend im Tunnel. Hell und fröhlich wie ein Posthorn tutet der Autobus in das leuchtende Land.

Der moosgrüne Gipfel des Boglia ist jetzt braun gebrannt. Hingelagert im Faltenwurf der Hänge und Schluchten stehen die Berge im Sonnendunst. Im Nachmittagslicht hat das Gebirge Furchen bekommen, immer tie­fer graben sich die dunkelvioletten Schatten in die rosig schimmernden Felsen. Herbst­feuer schwelen, beißende Rauchschwaden ziehen über den abgeernteten Maisacker.

Die Sonne neigt sich. Kaum ist sie hinter dem Hügel von Biogno untergetaucht, weht es ei­sig vom Gebirge. Schnell wie es Tag wurde, wird es Nacht. Über dem Generoso zieht schon der schmale Mond mit seinem weißen, rundgewölbten Segel auf. Die Lichterreihe des Salvatore steigt flimmernd in den nächtlichen Himmel. jetzt ist es Zeit, die Fensterlä­den zu schließen, das Feuer im Kamin zu entzünden, die Kastanien in der Pentola zu rösten. Und während die Schalen in der Glut knallend platzen, fülle ich mir aus der Korbflasche . einen Krug mit dunkelrotem Nostrano - wie der Wein gegen das Feuer funkelt!

Ich setze den Krug an die Lippen und atme tief, bevor ich trinke, den herben Duft des Tessiner Herbstes ein.

(Zuerst in „Das Kritzelbuch“. Bremen 1939. S. 102ff.; zuletzt gedruckt in: „Alles Gute für den Ruhestand. Geschichten für wohlverdiente Mußestunden. Hrsg. v. Anneliese Rübesamen. München/Berlin 1983: Herbig Verlag)

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Das Licht der Lüfte


Auf weißem Quarzfelsen, fast achthundert Meter hoch, stößt die alte Burg wie eine Faust in den Himmel. In ihrem Schutz, ängstlich geduckt vor Sturm und Unwetter, kauert das Dorf, mit schweren Feldsteinen auf den flachen verwitterten Schindeldächern.


Denn hier oben gibt es Stürme, die ganze Häuser davontragen, Dächer wie Papier eindrücken und uralte Bäume entwurzeln. Verräterisch ist die Windstille, tückisch die große Ruhe, wenn der Wind den Atem anhält und kein Blatt sich regt. Nur im Westen, in der Wetterecke, ballt sich etwas Dunkles am Himmel, verdächtige Lichter zucken lautlos hinter den Bergen.

Aber dann plötzlich: du hörst einen dünnen, winselnden Ton, der schnell zu einem Stöhnen und Heulen anschwillt wie das ferne Brüllen eines unheimlichen Tieres, - noch rührt sich kein Blatt, aber das heulen kommt immer näher und näher. Du kennst den laut, du liegst mit Herzklopfen wie gelähmt im Dunkeln, du weißt: jetzt - und da braust auch schon der Orkan durch die Lüfte, wirft sich an die Mauer, reißt und zerrt an den Fenstern, tobt um das Dach, daß die schweren ungeheuren Balken im Dachstuhl knirschen und das ganze Haus wie ein Schiff auf hoher See zu schwanken scheint.

In einer solchen Sturmnacht kam mir der Gedanke: ob nicht außer hier die furchtbare Kraft der Lüfte nutzbar gemacht, in Licht und Wärme verwandelt werden könnte? Denn hier oben gibt es kein Wasser, und der Fluß im Tal ist z weit, um den elektrischen Strom bis zu uns herauf zu leiten. Armselige Petroleumlampen, Talgkerzen und Ölnäpfchen qualmen in den Stuben, man tappt auf dunklen Stiegen, mit schwankender Laterne zum Stall, - die Finsternis ist so furchtbar, daß man schon im Herbst tiefsinnig wird, wenn man an die dunklen Winterabend denkt.

Ein Fachmann kam und nannte den Ort ideal für die Anlage einer Windturbine: kilometerweit, bis zu den Donaubergen im Süden und dem Böhmerwald im Norden, ist diese der höchste Punkt. Nun galt es, die Bauern für den Plan zu gewinnen. Aber sie schüttelten nur mißtrauisch ihre Köpfe: aus Wasser, ja, da könne man Licht machen - aber aus Wind? Das sei doch zweifelhaft. So etwas hätte man noch nie gesehen. Da half kein Zureden, kein Erklären: die schlauen Waldler wollten lieber darauf warten, bis der Fluß vom Tal den Berg herauf flösse, als den unbekannten Lüften zu vertrauen.

So mußte das Kraftwerk allein in Angriff genommen werden: ein mächtiger, siebzehn Meter hoher Eisenturm wurde aufgerichtet, ein ungeheures Rad oben angebracht. Dynamo und Batterie aufgestellt und die Leitung zum Haus gezogen. Und nun kam der große Tag, an dem das Licht zum erstenmal brennen sollte.

Aber wie alles fertig war, blieb der Wind natürlich aus: die Batterie konnte nicht geladen werden. Das große Rad rührte sich kaum, die Bauern schauten lachend hinauf, und wir schlichen beschämt wieder ins Haus.

Am anderen Morgen bestieg ich wieder die Felshöhe; graublaue Nebelwolken umlagerten wie eine feste Mauer den Turm, kein Lufthauch regte sich. Aber gegen Abend fielen die Nebelwände, ein frischer Ostwind fegte sie über die Wälder, das große Rad öffnete seine weiten Flüge und begann, sich langsam zu drehen, dann immer schnelle rund schnelle; der Dynamo fing an zu singen: das Werk war in vollem Gang. Am dritten Tag war die Batterie gefüllt.

Und nun, Punkt acht Uhr, war der große Augenblick gekommen. Das ganze Dorf hatte sich angesammelt und starrte vom Hügel auf unsere Fenster.

Wir saßen schweigend und erwartungsvoll im dunklen Saal, Da, plötzlich begann es unter der orangegelben Lampenglocke über dem großen, runden Tisch zu glühen, und dann flammte es auf, strahlend und blendend wie ein Sonne: das Licht, das Licht brannte!

Und nun eilten wir alle im langen Zug durch das ganze Haus: von Zimmer zu Zimmer, treppauf und treppab, von einem Stockwerk zu anderen. Isabel, die kleine Tochter, die schnell aus dem Bett geholt wurde, stürmte jauchzend im Nachthemd vor uns her und knipste überall die vielen Lampen an, bis alle Räume, alle Treppen und Korridore in einem Meer von Licht strahlten und alle vierzig Fenster das Licht in die Nacht hinauswarfen!

Noch lange standen die Bauern auf dem Hügel. Sie waren ganz still geworden. Dann fragten mich zwei verlegen, ob sie auch Licht bekommen könnten? Und als ich erklärte, das ganze Dorf könne Licht haben, da fühlte ich, daß es auch in den Köpfen der Waldler zu dämmern anfing.

Als aber Isabel auch im Stall die Lampe anknipste, machte Bakele, die brave Kuh, buchstäblich einen Freudensprung. Der Hahn fing verwundert an zu krähen, und auch die verschlafenen Hühner gackerten ratlos: sie wurden an der Weltordnung irre!

(Aus: Vossische Zeitung. ??; um 1931; Erstdruck nicht festgestellt; Text nach Vegesack-Archiv. VEG - I,73; der Text ist verändert eingearbeitet in den Roman „Das fressende Haus“; 1932)

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Einsame Weihnacht


Es war vor dem Ersten Weltkrieg. Ich studierte in Berlin, die Ferien waren zu kurz und die Reise in meine baltische Heimat zu weit, so konnte ich zum ersten Mal zu Weihnachten nicht nach Hause fahren. Das kam mir aufregend, fast heroisch vor: ich fühlte mich wie ein Mann, der einem verwegenen Abenteuer entgegengeht. Mit selbstquälerischer Grausamkeit beschloß ich alle Torturen dieses Abenteuers auszukosten, keine Bekannten, die mich freundlich eingeladen hatten, aufzusuchen und ganz allein den Weihnachtsabend zu verbringen.

Ich bummelte durch die Straßen, blieb vor den Schaufenstern stehen und zwang mich, den Christbaumschmuck eingehend zu betrachten. ja, genau solche funkelnde bunte Kugeln hingen zu Hause an unserem Baum, solche Ketten und Silberfäden, die wir »Christkindleins Haar« nannten. Aber die richtigen Sterne konnte ich nirgends finden. Um meine Qual zu erhöhen, betrat ich sogar die Geschäfte und erkundigte mich nach den zackigen Sternen. Aber die, die man mir vorlegte, waren viel zu blank. Das Fräulein packte verzweifelt ganze Berge von Kästchen aus, versicherte, daß es schönere Sterne gar nicht geben kann, aber ich ließ mich nicht täuschen: es waren doch nicht die richtigen.

Dann kam ich an den Verkaufsständen der Weihnachtsbäume vorbei. Als ich den herben Geruch der Tannennadeln spürte, wurde mir ein wenig flau. Schnell wollte ich weitergehen, aber ich zwang mich, stehen zu bleiben und die Bäumchen aufmerk­sam zu betrachten, als wollte ich eines kaufen. Doch keins gefiel mir. Sie sahen dürr und mager aus, als wären sie gar nicht in einem Walde gewachsen. Die Verkäuferin zog mich von einem Tännchen zum anderen.

Aber selbst geschenkt hätte ich keines genommen: Weihnachten ohne Christbaum - das war ja die große Sensation, die ich mit allen Qualen genießen wollte.

Eine Orgel brummte, ich betrat eine kleine Kirche am Wilhelmplatz. Alle Bänke waren besetzt, ich blieb am Eingang stehen. Lange starrte ich auf die beiden Weihnachtsbäume, die neben dem Altar brannten, und kniff mich in die Finger. Als dann aber »O du fröhliche ... « angestimmt wurde, fühlte ich plötz­lich, wie etwas Heißes in mir aufstieg, die Lichter fingen merk­würdig an zu flimmern, und ich rannte hinaus.

Dann saß ich in einem Café, das trostlos ausgestorben war, ob­gleich ein Plakat »stimmungsvolle Weihnachtsfeier« ankündigte. Die Leere war bedrückend. Der Kellner versicherte mir, das Fest werde um acht Uhr beginnen. Aber vor dieser stimmungsvollen Feier hatte ich eine noch größere Angst. Ich zahlte und ging. Auf dem Bahnhof Friedrichstraße bestieg ich den Zug, um nach Charlottenburg zu fahren, wo ich wohnte. Ein älterer Herr saß im Abteil mir gegenüber und las in einem Buch. Nach eini­ger Zeit klappte er das Buch zu und legte es bei Seite. Wir ka­men ins Gespräch.

»jJa, heute ist Weihnachten«, meinte er nachdenklich, »der un­angenehmste Abend im ganzen Jahr, wenn man allein ist! Sie fahren wohl zu Ihren Eltern, Geschwistern, Freunden oder Bekannten, aber ich fahre, - ja, wie soll ich Ihnen das erklären -ich fahre einfach so spazieren, in der Ringbahn, immer um die Stadt herum! Das mache ich immer am Heiligen Abend. Denn ich habe niemand, zu dem ich fahren könnte, und in meinen vier Winden halte ich es nicht aus. In den Lokalen erst recht nicht. Ich sage Ihnen, junger Mann, für den Fall, daß Sie einmal ganz allein zu Weihnachten sein sollten - in der Eisenbahn ist es am leichtesten. Man ist allein und doch nicht ganz allein. Menschen steigen ein und aus, immer neue Gesichter. Und die Hauptsache - man bewegt sich, man kann sich doch einbilden, daß man irgendwohin fährt, daß man irgendwo erwartet wird ... «

Wir waren längst über Charlottenburg hinausgefahren, als der alte Mann sich erhob: jetzt müsse er wieder umsteigen. Und da ich wirklich zurückfahren mußte, stieg ich mit ihm in den näch­sten Gegenzug. Noch lange fuhren wir an diesem Weihnachts­abend rund um Berlin spazieren, wechselten bald hier,- bald dort die Züge und fanden fast überall leere Abteile. Es war, als liefen die Züge nur für uns. Und der alte Herr erzählte, und ich erzählte, und bald kam es mir so vor, als hätten wir uns schon lange gekannt.

»Wissen Sie, junger Mann«, fuhr der alte Herr fort und beugte sich ein wenig vor, »was das Schlimmste ist, wenn man zu Weih­nachten allein sein muß? Das ist nicht etwa, daß niemand an einen denkt, daß man keine Geschenke bekommt. Nein, viel schlimmer ist: daß man niemandem etwas geben kann, daß man alles für sich behalten muß! Wohltätige Stiftungen, Samm­lungen und dergleichen sind nur ein trauriger Ersatz: man weiß ja nie, wohin die Gelder gehen, ob und wer seine Freude daran hat. Das ist es eben; man will die Freude des anderen sehen oder wenigstens ahnen - wer aber wirklich allein ist, der ist von dieser Mitfreude ausgeschlossen ... Aber auch dafür habe ich mir ein kleines Mittel ausgedacht, ein Mittel, das mich etwas tröstet!«

Bei diesen Worten zog der alte Mann einen Briefumschlag aus der Tasche. »Sehen Sie, junger Mann«, fuhr er geheimnisvoll fort: »Hier habe ich das Mittel aufgeschrieben, und ich bitte Sie um die Freundlichkeit, es aufmerksam zu lesen, denn ich muß jetzt aussteigen, ich bin nun schon zwei Stunden gefahren, bin müde und muß ins Bett. Ich danke Ihnen für Ihre freund­liche Gesellschaft, vielleicht treffen wir uns am nächsten Heiligen Abend - wenn ich dann noch lebe ... « Der Zug hielt. Der alte Mann drückte mir die Hand, stieg aus, winkte mir noch zu und verschwand rasch im Dunkel. Während der Zug sich wieder in Bewegung setzte, öffnete ich neugierig den Briefumschlag: er enthielt nichts als einen Hundertmarkschein, kein Wort, keine Adresse.   Beschämt saß ich da: ich war auf meine einsame Weihnacht so stolz gewesen, aber ich hatte doch ein Zuhause, ich konnte doch an jemand denken. Vor dem grausamen Alleinsein dieses alten Mannes verblaßte meine vor­übergehende Einsamkeit zu einem harmlosen Abenteuer.

(1944)


***


Aus den Jahren 1964/65:

Siegfried v. Vegesack

Die Avantgardisten


Sie bilden sich ein,

immer ganz vorn an der Spitze zu sein,

wenn sie nur tüchtig laufen -

immer grade aus,

keinen Schritt zurück

und sich nicht verschnaufen:

am liebsten wären sie sogar noch ein Stück

vor sich selber voraus!


Und so rennen sie mit stumpfem Blick,

keuchenden Lungen,

hängenden Zungen

und angstverzerrtem Gesicht

wie die Sechs-Tage-Renner Stunde um Stunde

immerzu in die Runde -

und merken nicht,

daß sie im Kreise laufen!


Ach, wenn sie es wüßten,

die Armen, Ewig Gehetzten.

Avantgardisten?

Sie rasen, - und sind doch die Letzten!



Der Quarzkristall


In weißer Zauberstunde,

erstarrt im Sternenschein,

gleißt übern Tannengrunde

der weiße Stein.


In übermoosten Tiefen

drängt aus dem Felsenschacht -

als wenn ihn Sterne riefen -

der Quarz mit Macht.


Er dringt durch Felsenwände,

von Inbrunst ganz erfüllt,

daß sich in ihm vollende

das Sternenbild.


In seligem Erinnern

an das bestirnte All

wächst tief im Felseninnern

der Bergkristall.


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Synthetische Dichtung


Auch Worte

werden heute wie Schaumgummi, Plastik und Eternit

in der Retorte

synthetisch fabriziert,

von der Dichter-Industrie

filtriert, destilliert,

und mit Nitrit

für den Konsum von Poesie

präpariert:

in Dosen abgewogen,

auf Flaschen gezogen,

mit Etiketten bedruckt,

und wie Drogen

und bittere Pillen -

mit heimlichem Widerwillen, -

und doch gläubig, mit Andacht von den Konsumenten geschluckt...

Synthetische Verse und Worte  

Poesie?

Chemie

aus der Retorte.


*

Vegesack und seine Bemühungen um ein Waldgrab:

V.s Brief und letzte Verfügung:


An das Landratsamt Regen

Nr. II/7   554.

Burg Weissenstein, 18. Mai 1964.


Gegen die Entschliessung der Regierung von Niederbayem vom 22. April 1964 erhebe ich hiermit Einspruch.


Die dargelegten Ablehnungsgründe widersprechen den Tatsachen:


1) Die geplante Begräbnisstätte soll keineswegs a u f dem Pfahl, son­dern n e b e n dem Pfahl auf meinem Grund und Boden errichtet werden.

2) Für die vorschriftsmässige Tiefe ist keineswegs irgend eine Spren­gung erforderlich, da das Erdreich hier genügend tief ist und bereits bis zu 1.50 Meter ausgehoben wurde und ohne jede Schwierigkeit auch noch tiefer ausgehoben werden kann.

3) Durch Gutachten von Prof. Dr. Georg Priehäusser, der auf dem Gebiet des Naturschutzes als Geologe eine Autorität ist und im Auf­trage des Landratsamtes Regen die geplante Grabstätte eingehend besichtigt und geprüft hat, bestehen weder aus Gründen des Natur­schutzes, noch aus denen der Wasserversorgung irgend welche Be­denken gegen die Errichtung der Grabstätte. Alle diesbezüglichen Einwände der Regierung sind deshalb hinfällig.

4) Meine Begräbnisstätte würde in keiner Weise einen Eingriff in die freie, schöne und schutzwürdige Landschaft" bedeuten, da dieses Landschaftsbild durch einen bescheidenen Grabhügel nicht im Geringsten verändert werden würde. Weder ein Gedenkstein, noch irgend ein Denkmal, sondern nur ein einfaches Totenbrett an einer Kiefer, - wie es hier üblich ist, - wird die Begräbnisstätte bezeich­nen.


Es ist geradezu grotesk, wenn die Regierung bei ihrer Entschliessung sich auf den Naturschutz beruft: denn die Regierung von Nieder­bayern hat Jahre und Jahrzehnte untätig zugesehen, wie der Quarz des Pfahles als Strassen-Schotter ausgebeutet wurde! Wenn ich den Bund für Naturschutz in Bayern nicht alarmiert und mich für den Schutz des Pfahles eingesetzt und durch mein persönliches Eingrei­fen eine weitere Ausbeutung verhindert hätte, wäre auch der letzte Rest des Quarzfelsens oberhalb des Dorfes Weissenstein spurlos verschwunden.

Auf meine Verdienste als Schriftsteller bilde ich mir nicht allzu viel ein: sie sind vergänglich. Doch mein bleibender Verdienst, dass ich den Quarzfelsen vor dem gänzlichen Untergang bewahrt habe, kann mir niemand abstreiten. Und so glaube ich doch ein gewisses Anrecht auf ein bescheidenes Grab am Fuße des Pfahls zu besitzen, dessen letzter Quarzfelsen oberhalb des Dorfes ohne mein Einschreiten längst vom Erdboden verschwunden wäre.

Da bisher kein einziger Vertreter der Regierung von Niederbayern sich ein Bild von der tatsächlichen Lage der geplanten Grabstätte ge­macht hat, schlage ich vor, dass ein Sachverständiger der Regierung auf meine Kosten herkommt und sich unvoreingenommen durch persönlichen Augenschein davon überzeugt, dass der hier darge­stellte Tatbestand der vollen Wahrheit entspricht.

Sollte die Regierung von Niederbayern trotzdem auf ihrer Entschliessung bestehen und mir die Grabstätte verweigern, werde ich gegen diese Entschliessung Berufung einlegen und den Rechtsweg beschreiten. Da ich mich bereits dem 80. Lebensjahr nähere, werde ich die endgültige Entscheidung der höchsten Instanz kaum noch selbst erleben. Deshalb bestimme ich schon heute als meinen letzten, unumstößlichen Wüten:

dass mein Leichnam eingeäschert, und meine Asche auf meinem Grund und Boden, an der bezeichneten Stelle am Pfahl beigesetzt wird.

Als gläubiger Christ bin ich kein Freund der Feuerbestattung, - eine christliche Beisetzung in der Erde würde meinen Anschauungen als Christ besser entsprechen, ‘von Erde bist du, und zur Erde sollst du werden!’ - da aber hier in Weissenstein kein Dorffriedhof besteht, und ich auch auf dem überfüllten Friedhof von Regen nicht neben meinen Brüdern liegen könnte, bleibt mir als einziger Ausweg die Feuerbestattung.

Ich habe auf dem Lande gelebt, und möchte deshalb auch auf dem Lande begraben sein, - und zwar in dieser Erde, die mir im Lauf ei­nes halben Jahrhunderts zur zweiten Heimat wurde.

Die Urkunde meines letzten Willens werde ich im Notariat Regen hinterlegen.

Eine Abschrift füge ich zur Kenntnisnahme bei.


Weissenstein, Pfingstmontag, den 18. Mai 1964.


*

MEIN LETZTER WILLE

Für den Fall, dass die Regierung von Niederbayern auch nach mei­nem Tode mir ein Begräbnis auf meinem Grund und Boden am Pfahl verweigern sollte, bestimme ich hiermit als meinen letzten Willen, dass mein Leichnam eingeäschert und meine Asche auf der von mir bezeichneten Stelle am Pfahl beigesetzt wird.

Ferner bestimme ich, dass weder ein Gedenkstein, noch ein Denk­mal, sondern nur ein einfaches Totenbrett, wie das hier im Wald der Brauch ist, die Stätte bezeichnen soll. Der Grabhügel soll so unauf­fällig wie möglich sein, und sich in keiner Weise von der von Heide­kraut bewachsenen Umgebung unterscheiden.

Als gläubiger Christ bin ich zwar kein Freund der Feuerbestattung,  eine christliche Beisetzung in der Erde würde meinen Anschauun­gen besser entsprechen. Da aber hier in Weissenstein kein Dorffried­hof besteht, und ich auch auf dem überfüllten Friedhof von Regen nicht neben meinen Brüdern liegen könnte, bleibt mir als einziger Ausweg die Feuerbestattung.

Weissenstein, am Pfingstmontag, den 18.Mai 1964.

(Brief Nr. 209; in: Marianne Hagengruber: Briefe. S. 499ff.)

***

Ein Weißensteiner Feuilleton:

Die Faschings-Postkutsche

Noch vor vierzig Jahren konnte man hier im Bayerischen Wild in einer richtigen Postkutsche fahren, einem kanariengelben Kasten auf hohen gelben Rädern, die im Winter durch Schlitten­kufen ersetzt wurden. Ich selbst bin in einer solchen Postkutsche von Regen nach Bodenmais gefahren - eine der seltsamsten und lustigsten Fahrten, die ich je erlebt habe.

Es war in der Faschingszeit, in Bodenmais sollte ein großes Fa­schingsfest stattfinden. Ich ahnte nichts davon und war deshalb nicht wenig erstaunt, als auf dem Marktplatz in Regen, wo sich damals die Post befand, die sonderbarsten Fahrgäste zu mir in die Postkutsche einstiegen - ein indischer Maharadscha mit Tur­ban, eine stolze Spanierin mit Tamburin und Kastagnetten, ein Pierrot mit weißer Halskrause, spitzem Hütchen und roter Nase und ein pechschwarzer, waschechter Kaminkehrer. Wir alle hat­ten auf den zwei Polstersitzen Platz, und da wir so eng bei­sammen saßen, hatten wir es in dem Kasten auch warm und gemütlich, obwohl ein eisiger Böhmerwind die Schneeflocken um uns her wirbelte.

Bei den letzten Häusern überholten wir eine Bauerndirn, die einen großen grauen Sack schleppte. "Grüß Gott, Zenzerl!" rief der Kaminkehrer und riß die Tür auf. Und selbst der Maharadscha hatte nichts dagegen, daß Zenzerl sich ihm auf den Schoß setzte. Den grauen Sack hielt sie fest auf ihren Knien.

Und nun wurde es immer gemütlicher. Der Kaminkehrer stimmte ein lustiges Lied an, der Pierrot begleitete ihn auf einer Zieh­harmonika, während die stolze Spanierin gelegentlich mit dem Tamburin einfiel. Und der Maharadscha entkorkte eine dick­bäuchige Flasche, die reihum ging das Faschingsfest hatte be­reits begonnen   hier, in der Postkutsche.

Und draußen schneite es noch immer in dicken Flocken. Wir fuhren schon im tiefverschneiten Hochwald. Zuweilen streifte ein Zweig seine Schneelast ins Fenster herein, das wir öffnen mußten, weil wir sonst erstickt wären. Sogar dieser Schnee trug zu unserer Erheiterung bei: die stolze Spanierin versuchte den Maharadscha mit Schneebällen zu treffen, der sich hinter Zen­zerl versteckte, und die wiederum verschanzte sich hinter ihrem grauen Sack. Und der unheimliche graue Sack bewegte sich noch immer:, wer mochte der Unbekannte sein, der verzweifelt in seinem Inneren hin und her hüpfte?

Die naturgetreueste Maske war ohne Zweifel der Kaminkehrer. Wenn es nicht Fasching gewesen wäre, hätte man ihn ohne Wei­teres für einen echten Kaminkehrer gehalten. Auch war er mit seinen Liedern und Späßen der lustigste und witzigste von allen. Als wir endlich gegen Abend in Bodenmais anlangten, stiegen alle Masken beim Gasthof zur Post aus, wo das Faschingsfest stattfand. Nur der Kaminkehrer und die Zenz mit dem Sack stapften mit mir noch ein Stück weiter durch den tiefen Schnee. Und erst jetzt erfuhr ich, daß er gar kein kostümiertet, sondern ein echter Kaminkehrer war, und auch Zenz verriet mir jetzt ihr Geheimnis: im grauen Sack befand sich ein Ferkel, auch ein echtes Ferkel, das sie sich auf dem Ferkelmarkt in Deggendorf erstanden hatte und jetzt nach Hause trug!

Ein echter Kaminkehrer und ein echtes Schwein   so viel Glück ist mir seitdem nie auf einer Fahrt begegnet wie damals in der Bayerischen Faschings Postkutsche!

(Überliefert in den Sonderdruck „S.v.V. in memoriam“ - privater Druck des Verbands der Baltischen Ritterschaften. Bezirksgruppe Bayern. 1974)

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Ein kleines Feuilleton, aus dem Jahre 1944:

SOLL MAN   ODER NICHT?

Ich meine nicht heiraten, rauchen oder trinken. Ich meine Staub wischen: soll man Staub wischen - oder nicht?

Jeden Tag wird in jedem Haushalt mindestens eine Stunde Staub gewischt, Staub gesaugt, Staub gekehrt, Staub abgeklopft, - eine Arbeitskraft und Energie verschwendet, die, produktiv angewandt, wahrschein­lich unser wirtschaftliches Elend beheben, jedenfalls unser Leben wesentlich angenehmer und geräuschloser gestalten würde.

Mein alter Onkel Oscha pflegte zu sagen: „Wozu Staub wischen? Wo er liegt, da liegt er!" Er meinte ganz richtig: durch das Wischen würde der Staub nur aufgewirbelt, nicht aber beseitigt. Als Kind seiner Zeit glaubte er noch an den Staub. Die Lehre vom Staub beherrschte damals noch alle Köpfe. In den Schulen wurde sie eingetrichtert, in den Kirchen ge­predigt. Staub war das, was der Mensch einmal wer­den würde. Und da der Mensch viel zu sehr von seiner Bedeutung eingenommen war, um anzunehmen, daß er sich in Nichts auflösen könnte, klammerte er sich mit Scheu, ja, mit heimlicher Ehrfurcht an das magi­sche Wort Staub.

Der Staub hat also seine metaphysischen, religiösen Hintergründe. Daneben symbolische Bedeutung -. man „schüttelt den Staub von den Füßen". Übrigens: haben Sie jemals einen Menschen gesehen, der den Staub von den Füßen „schüttelt"? Oder haben Sie ihn selbst geschüttelt? Wie tut man das? Schlenkert man

verächtlich mit dem Fuß in der Luft, oder stampft man verbissen auf einer Stelle, bis der Staub her­unterfällt? Eine recht aussichtslose Sache. Und ge­nau so aussichtslos, so sinn- und zwecklos ist der ganze, durch Generationen fortgesetzte Kultus, der mit dem Staub getrieben wird.

Früher wurde dieser Kultus wenigstens geräuschlos, mit einer gewissen sakralen Andacht verrichtet. Es gab kunstvoll gehäkelte Staubläppchen, malerische Staubwedel, mit denen man feierlich, wie segnend, alle Dinge berührte. Da der Staub als letztes Überbleibsel des Menschen verehrt wurde, lag in dieser lautlosen, allmorgendlichen Handlung etwas vom Toten- und Ahnenkultus unserer Vorfahren. Ich kannte - ein Stubenmädchen, das mit verglasten Augen, völlig geistesabwesend, stundenlang Staub wischte. Als ich es einmal genauer beobachtete, entdeckte ich, daß es die, Gegenstände überhaupt nicht berührte, sondern mit der andächtig gehobenen Hand nur geheimnisvolle Zeichen in der Luft beschrieb. Seitdem wurde mir die metaphysische Bedeutung des Staubes und des Staubwischens klar.

Die heutige Zeit hat für Metaphysik äußerst wenig übrig. Dafür hat sie den Reinlichkeits- oder Hygienefimmel. Staub ist für uns nicht mehr letzte, kaum sichtbare Substanz des menschlichen Daseins, son­dern Nährboden für Bakterien, Bazillen und Mikro­ben. Staub muß entfernt werden, und zwar auf eine möglichst radikale, geräuschvolle Art, weil nur ohrenbetäubender Lärm die Gewähr dafür bietet, daß überhaupt etwas geschieht. So entstand der Staubsauger, dieses dröhnende, alles verschlingende Unge­heuer, das allen Staubläppchen und Staubwedeln ein jähes Ende bereitete.

Ich weiß: die Hausfrauen und Hausmädchen sind von diesem Ungetüm begeistert. Erstens kann man alles viel schneller und gründlicher erledigen, zwei­tens ist der schnurrende Staubsauger lustiger, groß­artiger als der stille, bescheidene Staublappen. Man braucht nur den Stöpsel in den Kontakt zu stecken, die schmale Metallschnauze spazieren zu führen, - und der Staub macht sich ganz von selbst aus dem Staube.

So wurde aus der kultischen Handlung der maschinelle Betrieb. Aber der Glaube an den Staub, an die Notwendigkeit seiner Beseitigung ist geblieben. Denn was würde sonst aus der ganzen Staubsauger-Industrie, aus allen Staubsauger-Agenten?

Und trotzdem: ich kann und darf meine weltumstürzende Entdeckung nicht verheimlichen. Auf Grund wochenlanger, genauester Untersuchungen erkläre ich hiermit feierlich: es gibt keinen Staub! Staub ist Aberglaube, eine seit Generationen übernommene Wahnvorstellung, eine fixe Idee, die nur in unseren Köpfen, nicht aber in der Wirklichkeit existiert. Staublappen, Staubwedel und Staubsauger kämpfen gegen ein Phantom, und gerade, deshalb ist ihr Kampf so hoffnungslos, weil Phantome nicht auszurotten sind.

Wie alle großen Entdeckungen beruht auch meine auf einer verblüffend einfachen Beobachtung. Seit Wochen wohne ich allein in unserem alten Turm. Mittags kommt die gute Lina, eine Frau aus dem Dorf, und kocht mir das Essen. Alles übrige, Heizen usw., erledige ich selbst. Als meine Frau mit den Kindern, die in die Schule müssen, zur Stadt fuhr, fragte sie mich besorgt:

"Und wer wird den Staub wischen?"

"Niemand", erklärte ich kaltblütig.

Meine Frau nahm von mir Abschied, als wollte ich zu einem tollen Transozeanflug starten.

Und nun warte ich Tag für Tag auf den Staub. Aber er kommt nicht. Er ist einfach nicht da. Ich suche ihn, kann ihn aber nirgends entdecken. Ich fahre mit dem Finger über die polierte Schreib­tischplatte, - nichts. Ich starre angestrengt auf die Glasscheibe eines Bildes, - nichts. Überall, wo sonst jeden Morgen die Staubläppchen emsig hin und her tupften und zu meiner Verzweiflung alle Dinge durcheinander brachten, oder wo der Staubsauger sein geräuschvolles Unwesen trieb,   laure ich gespannt, mit wachsender Neugier auf jenes rätselhafte Ding, das doch jetzt in Erscheinung treten müßte. Aber auch unter der Lupe ist nicht ein Staubkörnchen fest­zustellen! Beim Ofen setzt sich ein wenig Asche ab. Das ist alles. Aber Asche ist nicht Staub.

Wenn es nun aber keinen Staub gibt, - was werden wir dann nach dem Tode? Meine Entdeckung, rührt an ernste, metaphysische Probleme. Jedenfalls wird sie viel Staub aufwirbeln. Wenn man dieses Bild überhaupt noch anwenden darf.

(Aus: SvV: Kleine Hausapotheke. Hamburg 1944: Hammerich & Lesser. S. 36ff.)

*

Für den Freund Werner von Bergengruen: [Bild fehlt hier!]

 




 

Siegfried v. Vegesack (links) und Werner Bergengruen [Hier fehl leider da Bild; verloren gegangen]

Dank an Bergengruen

Mein Lieberchen   wir hatten uns auf diese Anrede geeinigt, da wir beide uns mit unserem Vornamen nicht befreunden konnten. Du schriebst mir. „Offenbar ist Dir Dein Vorname ebenso unbehaglich, wie mir der meine. Schon die Silbenhäufung Werner   Ber.. ist abscheulich. Du stammst von Richard Wagner ab, ich von Scheffel und seinem Trompe­ter ... ! - „Mein Lieberchen, sei unbesorgt: es soll keiner der üblichen ,Nachrufe' werden - aber ein paar Worte des Dankes mußt Du mir schon erlauben  , des Dankes für eine Freundschaft, die über die Hälfte meines Lebens ungetrübt und immer neu belebt gedauert hat.

Ja, es sind jetzt genau vierzig Jahre her, als mit dem ‘Baltischen Dichterbrevier', das Du 1924 herausgabst, unsere Freundschaft begann. Dann haustest Du einen Sommer bei uns auf dem Turm, dann ich bei Dir in Zehlendorf - und wo sind wir nicht alles seitdem zusammen gewesen -, in Solln bei München, Zürich, Baden­-Baden, Darmstadt - zuletzt noch in diesem Frühjahr in Köln. Und jedes Beisammensein war immer so, als wären wir überhaupt nicht getrennt gewesen. Was war es, was uns beide so fest verband und zusammenhielt?

Nun, zunächst wohl die gemein­same Heimat. Obgleich Du sie schon als Kind verlassen hast, hat sie doch Dein Wesen und Dein Schaffen ge­prägt, und ich kenne kein schöneres und tieferes Wort darüber, als Dein ,Bekenntnis zur Höhle'. Doch Du bist keineswegs in der baltischen Höhle steckengeblieben. Nach zwei Seiten hast Du sie durchbrochen: nach Osten, ins eigentliche Rußland, und nach Süden   Italien. Und Du bekennst: drei Städte hättest Du vor allem geliebt: Riga, Kijew und Rom. Dein Übertritt zur Katholischen Kirche war nicht eine Einengung ins Konfessionelle, Dogmatische, sondern ganz im Gegenteil eine Vertiefung und Er­weiterung in die antike Welt: Ich bekenne mich dazu, ein christlicher Heide zu sein!' Um diesen Glauben, diese Glaubensfähigkeit hab' ich Dich, mein Lieber, oft beneidet. Und wenn ich Deinen Glauben auch nicht teilen kann, so hat er auch mir über manche dunkle Stunde hinweggeholfen. Und dafür danke ich Dir.

Und noch für etwas möchte ich Dir, mein Lieber, danken, für etwas, was heute unter uns armen Tintenkulis sehr rar geworden ist: ich meine den tiefgründigen und hintergründigen Humor, der Dein Schaffen auf eine so unnachahmliche Weise kennzeich­net und Deinem Wesen jenen Zauber gab, dem sich wohl niemand entziehen konnte, der das Glück hatte, Dir zu begegnen!

Und was hast Du mir sonst nicht alles in überreichem Maße geschenkt frei von unserer Berufskrankheit - von Neid und Mißgunst -, hat Dein gutes Wort in schlimmen Stunden, die keinem von uns erspart bleiben, mich, immer wieder aufgerichtet. Aus Deiner ‘Heilen Welt’ - dem schönsten, reichsten und tiefsten Gedichtband, den ich kenne - hab' ich immer wieder Mut und Kraft geschöpft, wenn ich am Verzweifeln war. Auch dafür - und dafür vor allem - dank ich Dir, mein Lieberchen!

Zu meinem 75.Geburtstag schriebst Du mir u. a.:


Wenn wir zusammen Hundertfünfzig zählten -,

Das wär' mal ein Effekt! Doch soll's nicht sein,

Da wir verschieden das Geburtsjahr wählten,

so hol' ich nie Dich ein!...

Jetzt - in einem Jahr hätten wir die Hundertfünfzig geschafft - hast Du mich überholt. Du bist mir vorangeeilt - und es ist nun an mir, Dir zu folgen - dorthin, wo das Ge­heimnis verbleibt'. Und so laß mich schließen mit Deinen Versen, aus der ’Heilen Welt’:

 

Frage und Antwort

Der die Welt erfuhr,

faltig und ergraut,

Narb auf Narbenspur

auf gefurchter Haut,


den die Not gehetzt,

den der Dämon trieb  

sage, was zuletzt

dir verblieb.


Was aus Schmerzen kam,

war Vorübergang.

Und mein Ohr vernahm

nichts als Lobgesang.'

**

Testament

Kein Schauder darf euch fassen,

wenn ihr den Spaten hebt

und, was ich nachgelassen,

der feuchten Erde gebt.

Schon einmal hab ich Zeiten

in dunklem Schoß verbracht,

in feuchten Fruchtbarkeiten

der mütterlichen Nacht.

Grabt ein! Grabt ein!

Ich werde getrost verwesen.

Meine Mutter, die Erde,

wird mein genesen. 

Reval heute: Ordensschloß - (Baltische Briefe. August/Sept. 1964   Nr. 8/9 (190/191)

*

Vegesacks eigene Todesvorsorge:

Grab und Totenbrett: Siegfried von Vegesack

geb. 20. März 1888 in Blumbergshof

gest. 26. Januar 1974 in Weißenstein

Christoph von Vegesack

Dagmar von Vegesack geb. von Falkenhayn

Isabell Lundén geb. von Vegesack

Bo Lundén7 Enkelkinder, 1 Urenkel

Adda von Vegesack


Die Beerdigung findet am Mittwoch, 30. Januar 1974, um 11 Uhr in Weißenstein statt.

Von Beileidsbezeigunqen am Grabe bitten wir höflichst Abstand zu nehmen.

*

Zum Gottesbild:

SvV: Aus: Das fressende Haus:

(Pytt und Kai unterwegs - auf einer Schi-Wanderung...)

Erholt und gestärkt stapften sie dann den Hang zum Gipfel hinauf. Kein Mensch war oben. Auf dem Felsgipfel ragte ein riesiges höl­zernes Kruzifix, das mit Drähten gegen Sturm gesichert war. Das schwarze Kreuz mit dem angenagelten, gekrümmten Leib Gottes stieß grausam in das Blau des Himmels.

Am Südhang, im Schutz einer zerzausten, bärtigen Wetterfichte, lagerten sie sich auf einem braunen Grashügel.

»Wie entsetzlich«, meinte Kai, »überall wird hier dieses furchtbare Kreuz mit dem zu Tode gemarterten Gott aufgestellt   als wären die Menschen stolz darauf, daß sie Gott gekreuzigt haben! Ist es nicht grauenhaft, dieses Verbrechen zum Symbol einer Religion zu machen? Wären wir nicht von Kindheit an dagegen so abgestumpft, und fänden wir bei irgendeinem Negerstamm in Afrika den ange­nagelten Menschengott als Wahrzeichen ihres Glaubens   wie ent­setzt wären wir dann über diese Barbaren! Genau so geht es den Orientalen, wenn sie sich unsere Kirchen ansehen. Diese Barbarei begreifen sie nicht. Wieviel schöner und tiefer ist das indische Symbol des Lingam, der göttlichen Zeugung, des Lebens ... «

Kai sprach noch lange, und gerade weil er von Pytt einen stummen Widerstand gegen diese Ansichten spürte, drückte er sich kraß, manchmal fast verletzend aus.

»Du bist also Heide?« fragte Pytt verwundert. »Du glaubst also weder an Gott noch an Christus?«

»Glauben?« Kai richtete sich halb auf und griff nach einem Zapfen, der im Grase lag. »Ich kann weder glauben noch nicht glauben  alles ist möglich. Ich weiß nichts. Die Gottesleugner kommen mir ebenso dumm vor wie die Gottesanbeter. Ein Blinder kann doch nicht sagen, ob der Himmel blau oder schwarz ist. Für ihn ist der Himmel schwarz, für uns ist er blau. Wer hat nun recht? Vielleicht sind wir alle blind, nur daß wir es nicht wissen.«

Pytt schwieg. Nach einer Weile fragte sie beklommen: »Für dich ist also der Himmel schwarz?«

»Nein, weder schwarz noch blau. Ich weiß es nicht. Ich halte jede Ansicht darüber für vermessen.«

Kai warf den Zapfen fort, riß einen Grashalm aus.

Pytt sah ihn von der Seite an. Wie hart und fremd sein Gesicht war. Diese energisch zusammengepreßten Lippen   war das derselbe Mund, der so zärtlich küssen konnte?

»Aber irgend etwas muß man doch glauben«, meinte sie leise, »irgend etwas ... Wenn man an allem zweifelt, wie kann man da leben? ... Glaubst du auch nicht an ein Jenseits?«

»Nein«, Kai steckte den Grashalm in den Mund. »An euren Him­mel glaube ich jedenfalls nicht. Der ist doch nur ein Trost für die Schwachen und Armen, damit sie sich mit ihrem Elend abfinden. Hier sollt ihr euch schinden, dort werdet ihr belohnt. Seid brav, da­mit ihr in den Himmel kommt. Welche Moral, das Gute tun, damit man nicht in der Hölle geschmort wird! Ist das nicht grauenhaft? Schlimmer als jedes Heidentum. Auf allen diesen Marterln im Walde sieht man die im Höllenfeuer zappelnden Sünder abgemalt. Gott nagelt man ans Kreuz, die Menschen läßt man schmoren, und der Mutter Gottes stößt man ein Schwert mitten durchs Herz!«

Kai redete erregt immer weiter. Pytt fühlte zum ersten Male eine Mauer aufsteigen, die ihn von ihr trennte. Etwas Kaltes, Fremdes schob sich zwischen sie beide. Wie weit war er jetzt, sie konnte nicht hinüber.

»Und an welchen Himmel glaubst du dann?« fragte sie zögernd. Wenn er doch jetzt ein gutes Wort sagen, wenigstens einen Finger über diese schreckliche Mauer herüberreichen würde!

»An welchen Himmel?« wiederholte Kai. Seine Zähne zerbissen den Grashalm, spuckten ihn aus. »An diesen, an diesen hier über uns, an diese Erde unter uns! An den Himmel auf Erden, nicht hin­ter den Wolken! An Gott im Menschen, nicht über den Sternen! Siehst du dort drüben die beiden spitzen Berggipfel, den Osser? Weißt du, wie die Böhmen ihn nennen? ‘Die Brüste der Mutter Gottes!’ Ist das nicht ein schöner Name? Hier, diese Erde ist Gottes Mutter, die ihn immer aufs neue gebiert, den Menschen! Wir Menschen sollen uns vergöttlichen - nicht Gott vermenschlichen! Wir sollen nicht auf den Himmel oben warten und hier verzichten, wir sollen den Himmel auf Erden verwirklichen!« - -(Aus: SvV.: Das fressende Haus.1932. Grafenau. 1978. S. 94f.)

*In einem seiner letzten Briefe zeigt SvV, daß er sich ein Leben lang intensiv mit Menschheits- und Gottesfragen beschäftigt hat: ein Brief an Paul Elbogen (20.02.1970)

Ja, die Phrasenmacher sind die gleichen, - ob sie nun in Washington oder in Moskau leben, - sie wollen das gleiche: eine perfekte Welt! Die es nie geben wird! Und das ist mein grosser Trost: ich möchte lieber in einer verrückten Welt, als in einer perfekten leben! Eine perfekte Welt wäre totlangweilig - man könnte über nichts lachen! Und das Lachen ist doch das Grossartigste, Schönste, was auf Erden gibt! Und vor allem, - das Lachen über sich selbst! Darin sind die Juden Meister, - und wir Balten versuchen es auch!

Wir stehen wieder mal in einer Wende", - früher dachte man, dass die Welt sich um die kleine Erde dreht, dann kam man dahinter, dass die Welt sich - unsere Erde, - sich um die Sonne dreht. Und heute wissen wir, dass auch die Sonne ein ziemlich unbedeutender Stern im All ist, - dass hinter unserer Milchstrasse sich noch Milliarden von Milchstrassen befinden. Wir glauben, dass wir alles erforschen werden,   spazieren auf dem Mond herum, und sind sehr stolz dar­auf! Aber je mehr wir erforschen, - umso grösser wird das Rätsel, in dem wir leben,   das Geheimnis bleibt! Wir wissen nicht, woher wir kommen,   und wohin wir gehen. Zeit und Raum, - das Nach- und Neben-Einander der Dinge,   sind vielleicht nur menschliche Vorstellungen, - vielleicht gibt es noch eine dritte, vierte oder gar fünfte Dimension.

Ich bin kein guter Christ. Ich glaube nicht, dass nur wir Christen die alleinige Wahrheit besitzen. Wir können nicht in das Licht der Son­ne blicken,   es bricht sich in den verschiedenen Farben, die an sich gar nicht existieren. Und so ist es vielleicht auch mit dem grossen Unbekannten, den wir "Gott" nennen. Mir ist das Wort "Gott" im­mer noch näher und lieber, als die abscheuliche "Ideologie"! Genug davon,   verzeihen Sie mir mein Geschwätz! Im Alter wird man leider geschwätzig! (...) (Aus: Briefe. S. 558. -  - Paul Elbogen (* Wien 1894) Schriftsteller, Drehbuchautor. In Berlin war er Redakteur und Lektor gewesen, mußte 1933 emigrieren und kam 1933 nach den USA, wo er als Filmautor und Berater verschiedener Studios arbeitet.

~~ ** 

Das Balten-Lied===

 Balten

Und kommen wir in fremde Lande

Etwa nach Deutschland und Berlin,

So knüpfen wir die alten Bande,

Die uns zur alten Heimat ziehn.

Wir bleiben immerdar die Alten

Wir Balten!


Und gründen einen Baltenabend

Und stimmen alte Lieder an -

Dann wirkt die Heimat erst erlabend,

Wenn man sie laut besingen kann;

Wir wollen nimmerdar erkalten:

Wir Balten!


Wir haben unsre eignen Größen,

Die teilweis' noch am Leben sind,

Die teilweis' allerdings gewesen

Und teilweis' wachsen noch als Kind.

Wir wollen herrlich uns entfalten

Wir Balten!


Seht nur auf unsren großen Schiemann,

Und Adolf Harnack, welch ein Mann.

Sie alle zeigen deutlich, wie man

Ein großer Balte werden kann!

Drum laßt uns nicht die Hände falten

Wir Balten!


Was wäre Goethe ohne Lenzen,

Und Bismarck ohne Keyserlingk,

Sie wurden beide Exzellenzen,

Was wohl nicht ohne Balten ging!

Die überall wir etwas galten  

Wir Balten!


Was wäre Wagner ohne Riga

Und Herder ohne Baltenland -

Es lebe unsre Baltenliga,

Die solche Geister sich verband!

Die Zukunft wolln wir uns gestalten

Wir Balten!


Wir haben unsre eignen Städte,

Wir haben Lemsal und Fellin!**)

Aus ihnen tausend Geistesdrähte

In alle deutschen Lande ziehn.

Wir fürchten keinerlei Gewalten

Wir Balten!


Und wie die Telegraphenpfosten

So reichen wir uns unsre Hand.

Vom Westen bis zum fernen Osten

Steht eine Reihe treuer Posten

Und knüpft das alte Baltenland!

Wir wollen uns die Hände halten

Wir Balten!


Und geht die Welt einstmals zu Grunde

Und stürzt der Himmel donnernd ein,

So laßt uns treu in unsrem Bunde

Sogar im Tode: Balten sein!

Wir speisen kur’sche Wurst und Palten**)

Wir Balten!

*) Lemsal und Fellin waren zwei Kleinstädte in Livland.

**) Palten (schwed.) = Blutkuchen, Blutwurst.

(Aus: Baltische Pratchen. Hrsg. v. Lothar Kaehlbrandt. Köln 1995. S. 19ff.)

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Zur Erinnerung:

Altes und wieder Aktuelles:

Alte Balladen, zur Weltwirtschaftskrise der Dreißiger Jahre geschrieben, haben ihre Wahrhaftigkeit, ihre frische, aussagekräftige Aktualität - leider - bewahrt:


Siegfried von Vegesack

Die Toten halten still

Not kennt kein Gebot

und verordnet immer neue Gebote.

Kein Brot.

Aber in Argentinien heizt man mit Weizen die Schlote.

Wir sind noch nicht tot.

Aber jeden Tag gibt es tausend Selbstmörder Tote:

eine große Stillhalte Aktion.

Aber man hört nicht viel davon:

wie Gott und Hoover will,

die Toten halten still ...


Dahingegen jammern Direktoren. Aufsichtsräte und Generäle,

wenn sie statt zwanzig nur achtzehn Mille erhalten,

lamentieren Bankiersfrauen, weil es ihnen zur Reise nach St. Moritz fehle,

weil sie statt drei nur zwei Dienstboten halten ...


Die Toten erkalten,

sind höchstens noch Seele.

Besser - es wäre endgültig Schluß,

damit der Alpdruck nicht quäle:

ob man im Himmel auch stempeln muß?


Leider können Tote nichts konsumieren.

Daher die Not

der Schwerindustrie:

Tote sind tot

und kaufen nie.

Man kann sie nur noch sezieren:

wie Gott und Hoover will,

Die Toten halten still...


Dahingegen läßt man Millionen Büschel Weizen

ganz einfach verheizen,

um keine Preisstürze zu riskieren:

Besitz ist Besitz.

Und Gott? Und Hoover? Was tut er?

Keep smiling, - solange der Dollar hält!

Die Welt

ist ein Witz.

Aber kein guter.

(In: Die Weltbühne. 28. Jg. 1932.I. S. 652)

**

DER SCHIEBER

Konserven, Leinöl, Dachpappen, Platin und Gold, -

Alles, was rollt,

Schieb ich, wohin Ihr wollt:

Ich habe einen Posten Lebertran

Mit der Bahn

Aus Holland nach Wien, und von Wien nach Bochum („prima Speisefett") verschoben,

Und einen Posten alter Kleiderbestände

Von Krotoschin nach Ostende

Und von Ostende nach Leipzig: „prima Pariser Garderoben".

Bald hab ich ganz Europa verschoben.

Amerika, Asien, Afrika

Sind ja noch bis auf weiteres „freibleibend" da.

Zehn Niggerstämme, die am Kilimandscharo wohnen,

Ein Urwald von recht beträchtlichen Dimensionen,

Ein Posten frischer Klapperschlangen und Rhinozerosse,
Zehn Tausend Schimpansen und Kakadus

(Am liebsten gegen Pariser Dessous)

Frei ab Lager (Timbutku, Rudolf Mosse).


Hätt’ ich, wie Archimedes, einen festen Punkt da oben, -

Die ganze Welt wäre bald verschoben.

Planeten, Sonnen, - Milliarden und Billionen  

Das Geschäft muß sich lohnen,

Wenn es dem Herrgott schon so lange gefällt:

Gott schiebt die Welt!

(Aus: Das Tagebuch. 3/1922. S. 688)


**

Ein Zeugnis humanen, weltbürgerlichen Geistes - aus dem Jahre 1963:

Der WDR stellte am 14.08.1963 an Schriftsteller die Frage: "Was ist und bedeutet Ihnen der Begriff Heimat unter dem Aspekt des grösseren Vaterlandes und eines geeinten Europas?" (Verbunden mit der Bitte, das Ausmaß von 10 bis 15 Schreibmaschinenseiten nicht zu überschreiten.)


Sv.V. antwortete


An den Burg Weissenstein, 18. August 1963.

Westdeutschen Rundfunk,

Herrn Wilhelm Matzel,

Köln



Sehr geehrter Herr Matzel!

Beiliegend meine Antwort auf Ihre Frage,   es war nicht ganz leicht,

sie so kurz zu beantworten!


Mit freundlichen Grüssen!

Siegfried von Vegesack



Auch ich hänge noch heute mit ganzem Herzen an meiner balti­schen Heimat, aber ich gebe mich nicht der Illusion hin, dass das, was einmal war, je wiederkehren wird. Mein Junge ist in Bayern ge­boren, in Bayern aufgewachsen. Selbst wenn die Möglichkeit be­stünde, würde er kaum in meine Heimat zurückkehren. Und wie er, dürfte heute ganz allgemein unsere junge Generation denken und fühlen. Heimat lässt sich nicht vererben,   jeder erlebt und schafft sich seine eigene Heimat. Auch für uns Alte gibt es kein Zurück. Statt der unwiederbringlich verlorenen Vergangenheit nachzu­trauern, sollten wir Heimatvertriebenen den Blick vorwärts, in die Zukunft richten, dieser nicht hindernd im Wege stehen, sondern tatkräftig am Aufbau eines geeinten Europa mitarbeiten.

Grade wir Heimatvertriebenen,   oder sagen wir besser wir Men­schen der Grenze,   die wir in enger Berührung mit unseren Nach­barvölkern aufgewachsen sind und das Opfer des nationalen Wahn­witzes hüben und drüben wurden, sollten aus dem überlebten Be­griff einer engbegrenzten Heimat hinauswachsen in eine grössere Heimat, die keine Grenzen kennt,   in ein Europa, die Heimat aller Europäer. Wir sollten deshalb in unseren Herzen keine Mauern er­richten,   die schlimmer sind, als alle Mauern aus Stein,   sondern Brücken schlagen, von Mensch zu Mensch, von Volk zu Volk. Für uns Heimatvertriebene gibt es heute nur e i n e Heimat: ein geeintes Europa!

(Abgedruckt als Brief Nr. 204 in Marianne Hagengrubers Briefsammlung "SvV: Briefe 1914 - 1971". Grafenau 1988: Morsak-Verlag. S. 493.


Erst jüngst hat Michael Garleff in seinem Aufsatz Verlorene Welt und geistiges Erbe. Geschichtsdeutung deutschbaltischer Schriftsteller, Siegfried von Vegesack und Gertrud von den Brincken

(in Gottzmann (1998): Studien zu Forschungsproblemen der deutschen Literatur in Mittel- u. Osteuropa. Hrsg. C.L. Gottzmann u. P. Hörner. Frankfurt a.M. u.a. 1998, S. 322)

die Sprache als Hort geistiger Heimat hervorgehoben und kam zu folgendem Schluß:


"Diese Brückenfunktion gegen die ebenfalls verbreitete Bollwerk-Mentalität hervorgehoben, das Gemeinsame gegen das Trennende gestellt zu haben, kennzeichnet das literarische Werk deutschbaltischer Schriftsteller, jedenfalls der Besten unter ihnen."


~~ ** ~~

Zum Abschluß ein großer Sprung in die Vergangenheit:

Aber schon mehr als fünfzig Jahre vorher war diese Gesinnung genauso dokumentiert - in einem Feuilleton, das in flüchtig gedruckter Form - in Vegesacks "100 Zeilen!" - seiner "Feuilleton-Korrespondenz" - die Zeit nur durch eine treue Sammlerin - durch Frau Elsbeth Gugg - überdauert hat; hier erfährt zum ersten Mal eine interessierte Öffentlichkeit von dem Zeugnis deutsch-französischer, gemeinsamer Kultur:

Madame d’Amiche

In dieser haß- und wutzerrissenen Zeit, darf man da noch von Menschlichem reden? Und noch dazu von einer kleinen, unbekannten Französin? Mögen eifrige Politiker und emsige Historiker in pathetischen Leitartikel und dickleibigen Büchern das grausige Bild dieser gottverlassenen zeit kommenden Generationen überliefern - ich möchte eine kleine, anspruchslose Begebenheit, die sich in aller Stille unter uns zugetragen hat, mit wenigen Worten festhalten - ein Dokument einfacher Menschlichkeit.

Wer bist du? Aus welchem winzigen französischen Nest stammst du her, zierliche kleine Madame d’Amiche? Ich weiß es nicht. Vielleicht war sie Näherin, Putzmacherin, Ladenverkäuferin. Irgendwo in einer kleinen Provinzstadt. Vielleicht auch etwas wenige Erfreuliches - ein einfaches Mädchen von der Straße. Das alles ist mir gleichgiltig, darauf kommt es nicht an.

Aber dann traf sie das Schicksal. Ein deutscher Kriegsgefangener, ein gemütvoller bayerischer Spenglermeister. Was wird sie seinetwegen erduldet haben - und dennoch trug sie alles, weil sie ihn liebt. Und dieser demütigen Liebe zu dem einfachen fremden Mann opferte sie wortlos: Mutter, Geschwister, Heimat, Vaterland, sich selbst, - als sie in einer dunklen Nacht ihr Elternhaus verließ und den Weg nach Osten einschlug, dem unbekannten Lande ihrer Feinde entgegen. Sie wanderte allein. Nur ihren gelben Lieblingskater trug sie zärtlich unter dem Arm, und einen kleine Pappkarton mit dem Sonntagskleid, ein wenig Puder, einem Spitzenhöschen. So trippelte sie unentwegt sieben Nächste - tagsüber hielt sie sich in den Wäldern oder auch im Korn verborgen; zuweilen klopfte sie bei einem entlegenen Bauernhofe an, und man gab ihr und ihrem Kater etwas Brot und Milch.

Und dann, in einer sternklaren Nacht spürte sie plötzlich spitzen Stacheldraht, hoch aufgerichtet: die Grenze. Die Grenze, das kalte Eisengitter, hinter dem wir Völker, wie wilde Bestien in Käfigen, uns gegenseitig voneinander absperren. Aber die Liebe der kleinen Madame d’Amiche war stärker als das harte Eisengitter, das uns Völker trennt. Sie blickte über den Stacheldraht hinauf zu den Sternen und sah: auch drüben leuchten sie, die fernen, die gütigen - auch drüben ist Heimat.

Und fest und tapfer packte sie den spitzen Draht, bog ihn nieder und, den gelben Kater und den kleine Pappkarton unter dem Arm, schwang sie sich kühn hinauf, hünber auf die andere Seite! Und mutig trippelte sie weiter, bestieg einen Zug und fuhr drauf los, bis sie glücklich in dem kleinen niederbayerischen Marktflecken ankam, wo ihr braver Spenglermeister sie und den Kate liebevoll empfing - auch er ein Held wahrhafter Menschlichkeit!

Ob sie eine neue Heimat gefunden hat. Ich weiß es nicht. Denn auch hier wird sie Haß und Feindschaft begegnen. Aber ihre demütige Liebe, ihre rührende Ergebenheit in alles wird auch diesen Stacheldraht menschlicher Bosheiten überwinden. Und schon sah ich gesinnungstüchtige deutsche Bürgermädchen zu ihr eilen, um sich von ihren geschickten Händen Kleider nach neuestem Pariser Schnitt anfertigen zu lassen. Und geduldig schneidet sie nun deutschen Stoff nach französischem Geschmack zu, und spricht ein köstliches Bayerisch mit französischem Akzent!

So hörte ich sie neulich auf der Straße im Vorübertrippeln sagen: „Ach, ich bin heute ganz damisch!“

Wie das behäbige Bayernwort durch hellen lustigen Akzent alle Schwere verlor und leicht und versöhnt über den beiden feindlichen Sprachen schwebte!

Seit diesem Tage nennen wir sie „Madame d’Amiche“ - wie sie in Wirklichkeit heißt, weil ich nicht.

Aber dies Eine weiß ich: wäre jeder einer so großen Liebe fähig wie du, kleine Madame d’Amiche - es stünde besser um unser Land, um dein Land, um Europa, und um dieses ganze kleine Welt, die wir närrischen Menschen in lauter winzige Stückchen zerrissen haben, um uns wegen dieser Stückchen gegenseitig totzusagen! -

(Aus: "Hundert Zeilen". Nr. 13. Eine "Feuilleton-Korrespondenz" des Siegfried von Vegesack. 30. Juli 1924. Privatdruck, in Regen gefertigt.)

~~ ** ~~

Zugabe:


Siegfried von Vegesack:

Weiter nichts


Ein krummer Weg und alte Weidenstümpfe

Ein halb zerfall‘ner schräger Bretterzaun.

Ein Heuschlag, still und weit. Dahinter Sümpfe,

die weltverloren in der Ferne grau‘n.

Ein Wald mit Kiefern, die zum Himmel reichen.

Ein Roggenfeld, auf dem die Sonne glüht.

Ein Fluss, der zwischen Sand und alten Eichen

träumend gemächlich seines Weges zieht.

Ein Scheunendach, das fern am Waldessaume

von Moos bewachsen altersschwach sich bückt.

Ein kleiner Kirchturm, der da wie im Traume,

versonnen über weite Wälder blickt...

Ein stilles Land mit schweigendem Entsagen.

Ein trüber Streifen fern verblassten Lichts,

in den die Birkenstämme dämmernd ragen -

Und meine Heimat war es. Weiter nichts.

 

<Vortrag im Weissensteiner TurmKasten; auf Einladung der „Balten in Bayern“. 2000 >

>> Vorgelesen wurden nicht alle Erzähl-Teile des Vortrags; je nach [von mir subjektiv vernommener] Zustimmung des Publikums <<

Die Verlesung des Artikel von Eva Karnofsky: „Jubiläum ohne Jubel“, aus SZ 22.23.4.2000, wurde gerade wg. teilweise geäusserten, obstrutiven Missfallens des

Publikaum.klar&bestimmt vorgetragen; weil ich SvV.s Zustimmung aussprechen wollte zurNovelle von 1945:„Pfarrer im Urwald“ (1947 gedruckt und nie mehr eschienen); eine in erzählerischer und in religios-geistigerAuthenzitätet später nie mehr wiederholt wurde: von Siegfried von Vegesack:


Dann sprach der Pfarrer. Zum erstenmal sah ich ihn im schwarzen Talar. Er las aus dem Lukas Evangelium von der Geburt Christi und sprach dann von der Anbetung der Hirten und der Heiligen Drei Könige, die aus dem fernen Morgenlande gekommen waren, um das Kind in der Krippe anzubeten. Er sprach auf deutsch und schloß mit ein paar Worten auf portugiesisch. Dann sangen die Kinder, vom Pfar­rer auf dem Harmonium begleitet, die alten deutschen Weihnachtslieder, zuletzt „Stille Nacht“.

 

Erst nachdem ich die Weihachtsgeschichte, in authentischen, orignären Erzähl-Rahmen gestaltet - gelesen habe, glaube ich >>ist Teil meines Glaubens<<, dass Christen und Nichtchristen - die nicht mehr als 'Heiden' diffamiert werden können - eine theosoph-ökologische Gemeinschaftsaufgabe für die Zukunft haben:

 

Eine BeiSpielsGeschichte für die den Christen auferlegte Nächstenliebe:

   - bei der mensch mitsingen kann: 

"... die Kinder, vom Pfar­rer auf dem Harmonium begleitet, die alten deutschen Weihnachts-lieder, zuletzt 'Stille Nacht'“.




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