Donnerstag, 30. Mai 2024


 Gaesdoncker Lehrer-Gendenken;

 K  u  r  t     A   b    e   l  s  .


Sehr geehrter Herr Professor Abels!

Als Gaesdoncker, der sich gerne an Ihren Vertretungsunterricht (mehr gab's da leider nicht für meine Klasse) erinnert, möchte ich mich Ihnen vorstellen: Ich hatte Deutschuntericht bei Herrn Cornelius F., mit öden Kostbarkeiten wie Max Mells "Apostelspiel"; Gaisers geisterhafter Saga "Die sterbende Jagd", einem Fliegerroman, in dem Bombenkrieg, Ursachenbeschreibung des Faschismus und Widerstand gegen ihn nicht vorkamen. (Sonst hätten er - Autor und Roman - nach 1950 nicht so viel Erfolg gehabt...) Ich hoffe jedenfalls, daß ich in ignorantia mentis dem Gaiser kein Unrecht tue; ich habe den Roman aus Widerwillen gegen seinen zähflüssigen, häufig naturmagischen, einen gegenrealistischen Stil, post scholam, nicht mehr lesen können. Mit Hölderlin ging's da los nach dem Titelblatt (ich zitiere aus dem Fischer-TB-Band, im 100. Tausend damals schon; geschmückt mit dem Cover-Versprechen "Tragik des Krieges": "Darum geht schrecklich über / Der (sic!) Erde Diana, / Die Jägerin, und zornig, erhebt / Unendlicher Deutung voll, / Sein Antlitz über uns / Der Herr. Indes das Meer seufzt, wenn / Er kommt." (Ohne Quellenangabe bei Gaiser...) Und religiös-kupplerisch endet der Schmarren so: "Himmel und Wasser ein und dasselbe Blau. Nur ein dünner Streif, wo Gott bei den Menschen wohnte in seiner Gnade; eine Warft und zwei Dächer, das Land der Menschen, geborgen, verloren, ganz unerreichbar." (S. 199f.)

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Sie erraten: Ich versuche mit dem Gedächtnis-Stand Gaesdonck fertig zu werden, indem ich Sie als Vorwand, als addressables Opfer nehme...

Doch noch eine Frage dazu:

Gab es damals in den stockstaubigen Kammern der Blumenstraße eigentlich Diskussionnen über solche und andere und zugemutete Lesestoffe? (In der OIII Cervantes' "Don Quijote"; vorher mal eben so ein demutsvoller, demütigend-unschuldsvoller "Parzifal"; eine Schmähung an einen (noch so kleinen) Geist, der sich entwicklen möchte, der Goethes "Prometheus" kennt und noch nicht verarbeitet hat und, Knaben gleich, der Disteln köpft, an Eichen dich und Bergeshöhn! Mußt mir meine ... Hütte...!) Wie stellte das Lehrer-man sich damals die Seelen von Jünglingen/Jungen vor, die nach dem Dritten Reich porös ob der Schatten des sog. 3. Reiches und dem Schweigen darüber nach historischer Erklärung wie ein Schwamm nach Netzung lechzten, nach humaner Zuversicht, ja Hoffnung - daß nicht wiederkehre der Schlamm des Unerlösten, die braune Flut, mit schwarzen U-Booten auf Tauchstation und Irrfahrt, mit Pilgern und Priestern auf romantisch inszenierten Rettungsfahrten, mit verquasten Einschlüssen im Watt, mit einem rettungslos (?) verminten Ufern, einer Brandung, hörbar im Schweigen?

Und wenn ich dann (später erst, bei der Suche nach Grund) auf die Lektüreangaben Ihrer Deutschklasse schielte, wurde mir mulmig, wurd' ich unruhig ob verlorener Jahre und des noch nicht gefundenen Ruhepols der eigenen Persönlichkeit. Da hätte ich doch bei Ihnen eine gehaltvollere Nahrung für meine Deutsch- und Literaturinteressen gefunden!

Sie sehen, derweil ich Ihnen die Zeit raube, beschäftige ich mich mit der damaligen steril-betulichen, nicht wissenden Gaesdonck als anhaltendem Phänomen - Anlaß und Grund des Briefes sind miraber Ihr Erinnerungsbuch, das ich erst vorige Woche in die Finger

ekam - und in anderthalb Tagen auslas. (Wie sehr man, pardon: ich, profitiere als Leser von einer (wohl) jahrelangen Arbeit an und in Ihren Erinnerungen und in der Teilnahme an den von Ihnen mitgeteilten Geschichtsquellen - fühle mich fast als Schmarotzer, da ich die Mühen Ihrer Erinnerung und Ihrer Zeit ja nicht aufbringen kann, nicht muß. Aber so funktioniert wohl Kultur als Pflege eines einsamen und gemeinsamen Landstrichs, hinausgesendet als Hoffnungsmarke, als Boje im Trüb-Nassen, daß einer sich hinausrette - oder mehrere - in der produktiven Nach-Lese Ihres Berichts...)

Schon nach den ersten Seiten schrieb ich Herrn van der Linde an; um ihn über Ihr Buch zu informieren; auch um zu fragen, ob Sie als Beiträger der Gaesdoncker Festschrift im Herbst (Jubiläum! Erinnerungs-Ge- oder Verbot? Zeit-Anhalt! Wahrschreibe-Gelegenheit?) angeschrieben wurden. Ich erwarte jedenfalls etwas (eine Aufsatz, eine Betrachtung) von Ihnen - denn: Das ist meine deutlichste Erinnerung an Sie: Sie pflegten einen freundlichen, nachdenklichen, erarbeitenden, nicht dozierenden Unterrichtsstil (den ich später auch versuchte); Ihre Gesten, vorsichtig formulierend zur Stirn zu fahren, um der Gedanken Geburt wie mit einer Streicheleinheit mitzubegleiten, ist mir als deutlichstes Signal Ihrer Unterrichtskunst haften geblieben. Ja, ich bin auch Deutschlehrer, bin zur Zeit beurlaubt, werde aber wieder in den Dienst gehen; zehn Jahre noch, das ist zu schaffen, bis zur Pensionierung.

Neben eigenen Aufzeichnungen schreibe ich auch Geschichten, fast alle durch den Schatz der Schulerfahrungen geprägt.

Da nutzte ich auch die von Ihnen geschilderte Mörike-Stunde für Luftwaffenhelfer zu einem Entwurf...

Wohl bin ich mir der Gefahr einer falschen Aktualisierung bewußt; stocke aber im Augenblick, den ersten, schnell-intuitven Entwurf zu verändern - so lege ich Ihnen die Story einfach mal vor. Hoffentlich kann man herauslesen, daß ich nicht den Mörike, sondern den ebenso Eduard genannten Lehrer und Schwaben treffend zeichnen will. Mich beschäftigt nämlich Mörike, seit ich als Quartaner am Paulinum in Münster eine völlig sinnlose Prüfungsstunde eines bemitleidenswerten Assesssors miterlebte, Thema der Qual: "Der Feuerreiter"; später habe ich meine erste Staatsexamensarbeit über die Frühfassung "Romanze vom wahnsinnigen Feuerreiter" geschrieben; die Ballade habe ich aber selber nur einmal in der Oberstufe, in einem LK Deutsch, behandelt. Sonst halte ich sie für Uni-Semester-Stoff.

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Nehmen Sie bitte, nach überlanger Einleitung, den herzlichen Ausdruck meiner hellen Freunde über die rheinische und deutsche Geschichts- und Seelenerkundung Ihres Buches an! (Aufforderungssätzchen!)

Am Wochenende werde ich Ihr Buch meinem Sohn, Jura-Student in Bielefeld, mitgeben; er interessiert sich besonders für deutsche und undeutsche Geschichte, auch die Militärtechnik der Faschisten - und wußte natürlich, als ich mich einmal versprach, daß der Stuka eine Ju 87 war...

Eine Frage schlich sich da bei mir ein: Wo mögen damals V2-Rakten abgeschossen worden sein, daß Sie sie aufsteigend in Kirchhellen wahrnehmen konnten? (S. 97) Gab's östlich von Haltern auf dem Schießgelände Startbasen?

Sorry für meinen langen Hin- und Her-Brief; aber als Gaesdoncker und späterer Deutschlehrer habe ich eben mein unsichtbares Feld von Gedankenlinien und Querverindungen zu eigenen Lebensfragen vor den Augen und der Seele.

Auch meiner Mutter hätte ich gerne Ihr Buch geschenkt. Sie hatte als einfache Landarbeiter-Ehefrau - ja, auch sie war Landarbeiterin, mehr mit Vieh; Haus- und Gartenarbeit beschäftigt als mit den Bedürfnissen der Gefühlswelt ihrer acht Kinder - Sie hatte für das Geistes- und Lebensdesaster (im christlichen Deutschland!) vor 45 einen Ausrede, die mir jetzt wieder einfiel: "Hej - gemeint war Hitler - hätt de Jödde nich kapott maken dörve...." - eine niedlich-dumme Einsicht, die vertuscht, daß der Faschismus von vornherein eine inhumane, barbarische Rassenideologie betrieb - auf Kosten aller durch Versklavung, Krieg oder Tötung zu unterdrückenden anderen Religionen und Ethnien - den Deutschen ein Herren-Dasein und verquast animalisch kollektive und germanische Religionsgefühle zu ermöglichen.

Als noch 44 Geborener bin ich Gott und den Alliierten (wem mehr? Ich weiß es nicht!) dankbar, daß die Nazis so ungeduldig und frech waren, so neurotisch undiszipliniert, so grenzenlos idealistisch-heldenhaft, so geck-überstürzt waren, so eilig und frühzeitig den Krieg über ganz Europa zu treiben, daß ihre wirkliche technische Überlegenheit (wie ja ab 35 das große und neuartige Raketenprogramm in Peenemünde beweist) zu spät und nicht mehr effektiv und dann wahnwitz-sinnlos eingesetzt werden mußte - mit den irrwitzigen Menschenopfern (Hekatomben Ihrer Generation, der vor meiner) Und kein Bischof hat je deswegen protestiert! Oder sehen Sie das als Historiker anders?

Von Galen schrieb noch Anfang 45 unter den alliierten Luftangriffen in Münster von "Heimsuchungen Gottes", statt von kriegsbeendenden Maßnahmen, von Freiheitsbedürfnissen zu sprechen - oder von christlicher Schuld! (Zu viel verlangt? Zu streng geurteilt?) Bbrr, was für eine Menschenheimsuchung, weil -täuschung der selektiven Wahrheitsverwalter! Und, ja: Gotteslästerung der geschichtsblinden Seelenhüter und Mitmacher aus Denkfaulheit und vermeintlichem Konservatismus! Bei gleichzeitig behaupteter und im Herrschaftsbereich praktizierter Unfehlbarkeit! (Ach, setze ich mal hinzu: Nur in Dogmenentscheidungen, ex cathedra und solchen Fisimatenten? Einen Menschen als Versuchsmuster, ja, nun, aller Juden, opfern zu lassen - und keine Enzyklika gegen den Faschismus schreiben, ist allerdings Fehlbarkeit! Auf der jahrhundertealten Tradition von Inquisition, Machtkämpfe und verweigerter Nächsten- und Feindesliebe - kein Wunder, nur definitive Menschlichkeit bei maßlosem Stellvertreter-Anspruch... Ich vermute: geistig-emotionale Schwäche aus Desinteresse, fehlende Empathie mit dem Nächsten...)

Nehmen Sie, bitte, meinen (nicht nur ironischen) verbalen Ausreißer nicht persönlich! Ich weiß ja z.B. auch nicht, was Sie weggehen ließ von der so scheinidylischen Gaesdonck - dem Ort und Hort zölibatärer und geistiger Unzucht! Wobei ich mich - bei Klassentreffen - gewundert habe, wie wenig diese Gefühllosigkeiten und psychologischen Unfähigkeiten, sich in junge Menschen reinzuversetzen, geschweige, sich mit ihren Bedürfnissen zu identifizieren oder auseinanderzusetzen, damals vermerkt wurden - wohl nur bei den Opfern dieses Kastens, die schwups, von einem auf den anderen Tag - ohne Erklärung, ohne Einsicht - verschwunden waren. Und ich mußte mir die dummen Witze von Geistlichen und Lehrern anhören, nachdem Dr. R. Baumeister verunglückt war - sie meinten wohl, bei mir Verständnis oder so etwas Humoriges Kurt Abels – ein Gaesdoncker Lehrer...

(über ihn werde ich noch berichten...)

 

http://www.aisthesis.de/images/cover/abels.jpg

 

http://www.aisthesis.de/index.html

 

[Jungsoldaten-Unterricht, Mörike und Heizprobleme...]

 

Endes des zweiten Weltkrieg am Rande Ruhrgebietes: Kindersoldaten erleben Luftangriff, Tod und Vergeltungswaffen, Einübung in Mörike-Sentimentalität und Heizungsprobleme

 

Kurt Abels berichtet über seine „soldatische“ Zeit als „Luftwaffenhelfer“ zwischen Januar 1944 und Juni 1945 in Düsseldorf und ihm Ruhrgebiet:

 

Bei der Rückmeldung teilte mir der Zugführer mit, daß ich zu einem anderen Zug derselben Batterie versetzt worden sei. Einen Grund für die Versetzung nannte er nicht. Die Stellung des anderen Zuges befand sich im Süden des Flugfeldes an der Straße von Kirchhellen nach Hünxe. In der Luftwaffenhelfer-Baracke erfuhr ich, daß ein anderer ebenfalls dorthin versetzter Kamerad meine Sachen, d. h. die in die graue Wolldecke ver­knoteten Habseligkeiten, in die Schulbaracke mitgenommen habe. Von dort könne ich sie am nächsten Mittag nach dem Unterricht in die andere Stellung mitnehmen. Das waren meh­rere Neuigkeiten auf einmal. Anfang Januar hatte also der Schulunterricht nach einer Unterbrechung von mehreren Mona­ten wieder begonnen. Daß es eine „Schulbaracke“ gab, wußte ich nicht. Ich sollte mit ihr bald eine unangenehme Erfahrung machen. Die Nacht verbrachte ich noch in der Stellung in den Heide-Dünen, die ich nur noch einmal, fast zwei Monate da­nach, wiedersehen sollte.

Am nächsten Morgen meldete ich mich in der Schule. Der eine der beiden Lehrer, Herr Zebisch, war wie zuletzt im Au­gust 1944 für die Mathematik zuständig, und da er uns nicht nur in den wenigen Wochen des Schuljahres unterrichtet hatte, sondern auch derselben Schule angehörte wie eine Reihe der Luftwaffenhelfer, darunter ich, war er zugleich der verantwortli­che Klassenlehrer, der dann in der zweiten Märzhälfte, als kaum jemand noch an Schule dachte, die Abgangszeugnisse schrieb. Der andere Lehrer, Dr. Schätzle, war mir unbekannt. Er kam von einer anderen Düsseldorfer Mittelschule. Obgleich er schon älter war, fuhr er Motorrad und erzählte von Fahrten, die er vor dem Krieg in Süddeutschland unternommen hatte. Er löste den älteren Lehrer, Herrn Napp, ab, der offenbar das Pensionsalter erreicht hatte. Dr. Schätzle war Schwabe und hatte eine Vorlie­be für schwäbische Dichter, die er uns im Deutschunterricht nahezubringen versuchte. Ein solcher vergeblicher Versuch bewirkte einen Zusammenstoß zwischen Lehrer und Schülern.

Eines Morgens eröffnete er nämlich den Unterricht, indem er das Gedicht „Das verlassene Mägdlein" von Eduard Mörike vorlas; vielleicht bewog ihn der dunkle, unfreundliche Morgen dazu. Dann forderte er uns au£ die Qualitäten des Gedichtes nachzuempfinden oder zu erkennen. Dazu war anscheinend kaum einer, ich jedenfalls nicht, in der Lage. Vielmehr bemüh­ten wir uns mit unseren schülerhaften, unbeholfenen Worten auszudrücken, daß uns ein Mädchen, das Feuer anmacht und dabei darüber klagt, daß es von seinem Freund verlassen wor­den sei, völlig egal sei, es gehe uns nichts an. Der Lehrer hatte wohl geglaubt, daß der trübe, nebligkalte Morgen, der triste Schulweg, der Aufenthalt in der von einem Ofen geheizten, aber sonst wenig anheimelnden Schulbaracke mit ihren häßlichen Holztischen und den Standard-Flakschemeln einen günstigen Einstieg in die .Behandlung1 oder .Durchnahme' des Gedichtes bieten würden. Die Auseinandersetzung wurde heftiger. „Mägdlein" und „Knabe" erschienen uns als abwegige Wörter; in der rein männlichen Umgebung war ein ganz anderes Voka­bular geläufig. „Der Flamme Schein" und „das Verschwinden der Sternlein" ließen das Gedicht als anachronistisch und des­halb unpassend erscheinen. Schließlich brach Dr. Schätzle die Stunde ab. Aus der Rückschau betrachtet haben wir, wenn nicht dem Lehrer, so doch Eduard Mörike und seinem Gedicht un­recht getan. Das Gedicht wirkt trotz oder vielleicht wegen der Schulstunde an diesem Morgen im Januar 1945 nach. Ich lernte seine literarische Qualität erkennen und habe es nie mehr aus dem Gedächtnis verloren.

Wie im Gedicht das Feueranzünden die traurigen Assozia­tionen des verlassenen Mädchens hervorruft, so verursachte die Notwendigkeit, in der Schulbaracke den Ofen zu heizen, einen zweiten Zusammenstoß zwischen Dr. Schätzle und Schülern, diesmal unmittelbar zwischen ihm und mir. Jeden Morgen wa­ren im Wechsel zwei der Schüler verpflichtet, eine Viertelstunde vor Beginn des Unterrichts den Ofen in der Baracke anzuheizen. In der ersten Januarhälfte nun erinnerte ich mich an die Zahn­behandlung, die im August begonnen hatte, im September fort­gesetzt, aber nicht zu Ende gerührt worden war. Ich ersuchte also um die Erlaubnis, im Militärlazarett in Dorsten zum Zahn­arzt zu gehen. Dieser behandelte mich, war aber mehr als an dem kranken Zahn daran interessiert, daß ich mich häufiger rasiere. Nach der Untersuchung entschied er, daß der Zahn gezogen werden müsse. Dazu bestellte er mich an einem der nächsten Vormittage ein. Dies war unglücklicherweise der Tag, an dem ich an der Reihe war, den Ofen im Schulraum zu bedie­nen. Ich glaubte aber trotzdem zum Zahnarzt gehen zu können, weil der andere Luftwaffenhelfer zum Heizen auch allein in der Lage war. Als dieser, Gerhard F., ein zwar großer und starker, aber nicht besonders aufgeweckter Mitschüler, hörte, daß ich zum Zahnarzt bestellt war, meinte er, er müsse auch mal wieder seine Zähne nachsehen lassen und gehe mit. Weil er sich erst spät dazu entschloß, fand sich niemand, der das Anheizen über­nehmen wollte. Deshalb blieb die Schulbaracke kalt, und als Dr. Schätzle dies wahrnahm, fing er nicht mit dem Unterricht an, sondern

schickte die Luftwaffenhelfer in die Stellungen zurück, begab sich selbst in die Dienststelle der Batterie und informierte den Hauptwachtmeister über das unerwartete und in seinen Augen unerhörte Vorkommnis.

Als Gerhard F. und ich mittags in die Stellung zurückkehr­ten, er in der Gewißheit, daß seine Zähne in Ordnung seien, ich mit einer noch steifen, gefühllosen Gesichtshälfte und ohne den Zahn, der mir gezogen worden war, lag der Befehl vor, daß wir uns umgehend beim Stab und dem Hauptwachtmeister zu mel­den hätten. Dieser verhörte uns, wütete über unsere Pflichtver­gessenheit, und es gelang mir nicht, ihm klarzumachen, daß ich doch in die Klinik bestellt gewesen sei, was angesichts des mili­tärischen Dienstrangs des Zahnarztes für mich einem Befehl gleichgekommen sei. Für ihn waren wir beide Schlawiner und Drückeberger, die für ihr Verhalten gehörig bestraft werden müßten, und zwar damit, daß wir für die nächste Zeit den Ofendienst in der Schulbaracke allein zu versehen hätten.

Diese Strafe traf mich weniger hart als die auch durch Dummheit nicht gemilderte Unkameradschaftlichkeit des Gerhard F. Am meisten aber verletzte mich das Verhalten des Leh­rers. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich Lehrer immer als Ge-

genpart zu den befehlenden, oft rohen Vertretern der nichtzivi­len Welt, vor allem der H[, aber auch des Militärs, angesehen und geschätzt und - wenn auch selten - erlebt, daß sie vernünf­tige Ansprüche gegenüber unvernünftigen Anordnungen durch­zusetzen versuchten, nicht immer ohne Erfolg. Und nun schwärzte mich ein Lehrer um seiner Bequemlichkeit willen bei den militärischen Vorgesetzten an, weil er nicht warten wollte, bis der Raum zehn Minuten nach Beginn des Unterrichts warm wäre. Ich war tief enttäuscht über das Verhalten dieses Lehrers.

Die Zugstellung an der Straße, die den Südrand des Flug­platzes Kirchhellen begrenzte, unterschied sich in mancher Hinsicht von den Stellungen, in denen ich bis dahin gewesen war. Der Umgangston zwischen dem Zugführer, den Soldaten und den Luftwaffenhelfern war offener, kooperativer, fast kame­radschaftlich, wenn auch gelegentlich durch Interventionen nicht ganz dazu gehörender Personen gestört. Die Stellung lag auf einer weiten ebenen Fläche, die einen guten Rundblick er­möglichte. Wir konnten weit nach Osten sehen und Bomben­angriffe auf Städte im nördlichen Ruhrgebiet und das Aufsteigen von V2-Raketen wahrnehmen. Von Westen, vom Niederrhein l her, war von Anfang Februar an das fast ununterbrochene Artil­leriefeuer der Front zu hören. Nach Süden zu senkte sich das Gelände etwas, und ein Birkenwäldchen unweit der Baracken wurde zu einem häufig aufgesuchten Ort, weil hier Stämme geschlagen und in Stücke von etwa 80 cm Länge zum Bau von Knüppeldämmen zersägt wurden. Der kooperative Charakter des Zusammenlebens zeigte sich in einer gleichmäßigen Bela­stung aller ohne Unterschied im Wachdienst. Jeder mußte in jeder Nacht 20 Minuten auf Wache ziehen. Der lange und schwere Wachmantel, das Gewehr und die mit wärmendem Stroh ausgefüllten Holzschuhe wechselten also in einer Nacht­stunde dreimal von Träger zu Träger. Die Gespräche zwischen Unteroffizieren, Soldaten und Luftwaffenhelfern waren offen. Nach dem Anhören der Rundfunkrede Hitlers am 30. Januar 45 setzte mich die unter den Flaksoldaten verbreitete Meinung in Erstaunen, daß die einzige geheime Waffe, die uns noch helfen könnte, das Zusammengehen der westlichen Kriegsgegner mit uns gegen die Russen sein würde.

*

KriKurt Abels: Ein Held war ich nicht. Als Kind und Jugendlicher in Hitlers eg. Köln, Weimar, Wien 1998: Böhlau Verlag. S. 94 - 98

voraussetzen zu können. Übrigens: Ich habe dort noch 65 Abitur gemacht. Nachdem mir Dr. R.-Baumeister die himmlisch-irdische Köstlichkeit "So zärtlich war Suleyken" (Siegfried Lenz!) konfisziert hatte... Vielleicht war das 61/62 mal Gesprächsthema unter Lehrern?? Würde mich interessieren, was Sie erfuhren...

Für heute - Schluß meiner Suche, meiner Versuche:

Ich wünsche, Sie einmal auf der Gaesdonck bei einer Lesung und einer Diskussion zu erleben!!

 

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