Die frühen, sozialistischen Balladen Siegfried von Vegesacks
… im Zusammenhang mit zeitgenössischer Lyrik der 20er und 30er Jahre -
- Aus von Vegesacks Anfängen als politischer Schriftsteller vor 1933 -
Anton Stephan Reyntjes - Recklinghausen - 02361/25417 - anton@reyntjes.de
Einige, prägnante Gedichte in den frühen Jahren vor der Nazizeit fallen aus von Vegesacks existenzieller und Ideen- und Natur-Lyrik heraus:
Es sind Balladen, politische Gesänge, die direkt in die Zeitumstände einzugreifen wünschen, indem sie Leser oder Zuhörer bewegen wollen.
Seine bisherigen Themen waren: Landschaft, Vaterhaus, Figuren aus der baltischen Lebenswelt, Religion, Sterben; Vorbilder -
Seine neuen Themen sind: Politik, soziale Missstände, Rollenbeziehungen zwischen Frau und Mann (Liebe, Sexualität, Prostitution), Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Ex-Kaiser, Spekulanten, Wirtschaftsmagnaten.
Ebenso die neuen, poetisch-philosophischen „zwölf Apostel“: Nietzsche, Tolstoj, Hölderlin, Büchner, Schopenhauer, Jean Paul, Heinrich Mann u. a. (Enthalten im Gedichtbuch „Die kleine Welt vom Turme aus gesehen“. Berlin 1925)
„Der Armenhäusler“, auf von Vegesacks Freund Jakob Haringer bezogen, ist noch eines der allgemein moralischen Gedichte. Es fällt nicht aus dem Rahmen anderer human, d. h. an Mitmenschlichkeit orientierter Texte:
SvV.: Der Armenhäusler
Alle Quellen sind mir versiegt.
Alle Lichter erloschen.
Ich hab ein totes Kind gewiegt,
Und aufbewahrt einen falschen Groschen.
Die Nacht ist sternenlos,
Wie eine alte Frau,
Die ihre Augen ausgeweint.
Verwelkt die Brust, verblüht der Schoß,
Die Haare der Liebe wurden grau.
Wie ist die Welt versteint!
Not, Not und nichts als Not:
Was hab ich sonst gekannt?
Not war mein täglich Brot
Vor dieses Lebens kalter Kerkerwand.
Mein Herz ist ausgebrannt.
Oh, wär ich tot!
(Zuerst 1925; in: Hagengruber, S. 82)
*
SvV.:
Masken
Masken sind wir, Larven Gottes
in dem Spiel um Ruhm und Geld,
Komödianten Seines Spottes
auf der Bühne dieser Welt!
Jeder spielt hier seine Rolle
würdevoll, wie es sich ziemt.
Leben heißt das bunte, tolle
Stück, indem ein Jeder mimt.
Ob als Jüngling, ob mit Glatze,
Prominent oder Statist -
immer schminkst du deine Fratze,
niemals bist du, was du bist!
Einmal nur im runden Jahre
seid ihr wirklich, was ihr seid:
Masken, Larven, wunderbare
Narren, toll im Narrenkleid!
Einmal können wir es wagen
wahr zu machen Trug und Schein:
einmal laßt uns Masken tragen -
aber keine Masken sein!
Doch finden sich, wenn man sich bemüht und Zeitschriften der 30er Jahre studiert, auch Gedichte, die man dem freundlichen Dichter des Heimatlichen, ob im Livländischen oder im Niederbayerischen, nicht ohne Weiteres zugetraut hätte.
*
SvV.:
Notschrei deutscher Fürsten
Deutsches Volk hilf deinen armen
Fürsten edelen Geblütes!
Fühl ein menschliches Erbarmen
Untertänigen Gemütes!
Wenn Millionen auch verhungern, und Millionen elend starben:
Deutsches Volk, lass deine Fürsten, deine Fürsten nur nicht darben!
Oder sollen wir von heute
An nicht mehr, wie früher, erben?
Ganz wie andre simple Leute
Schäbig unser Brot erwerben?
Hast du auch den Krieger-Witwen, deinen Waisen nichts zu geben:
Deutsches Volk, lass deine Fürsten, deine Fürsten fürstlich leben!
Knausre nicht mit den Millionen,
Denk der Kronen, die uns zieren!
Fürstlich musst du uns entlohnen,
Weil wir dich so klug regierten!
Deine Krüppel, Invaliden, deutsches Volk, magst du vergessen:
Doch vergiss nicht die erlauchten, hohen, fürstliche Maitressen!
(Hagengruber, S. 105f.; ohne Angabe des Erscheinungsdatums))
Zum Zusammenhang: Es gab große demokratische Reaktionen auf die Regierungspläne der Fürstenabfindungen. Diese Frage wird zu einem beherrschenden Thema der innenpolitischen Auseinandersetzungen im Jahre 1926, begleitet von Massenveranstaltungen und Kundgebungen. Das Vermögend e Fürsten war nach der Novemberrevolution beschlagnahmt worden, nun versuchten sie, es zurückzuerlangen. Die Regierungsparteien (DVP, Zentrum, DDP, BVP) schlagen am 2.2.1926 im Reichstag eine Entschädigung "nach Billigkeit" vor.
Bekannt wurde folgender Aufruf:
Aufruf zur entschädigungslosen Enteignung der Fürsten
Zu einer Zeit, in der breite Schichten des Volkes schlimmer darben als im Kriege, in der die notwendigsten Kulturaufgaben vernachlässigt werden müssen, in der es nicht möglich ist, den Wohnungslosen ein Heim, den Kranken zureichende Nahrung, den Opfern des Krieges und der Inflation die geschuldete Unterstützung zu gewähren, in einer solchen Zeit des wirtschaftlichen Tiefstandes und der allgemeinen Verarmung wagen es die ehemaligen Fürsten, Vermögensansprüche in Höhe von mindestens drei Milliarden Goldmark an den Staat zu stellen.
Auf diese Herausforderung gibt es nur eine Antwort: entschädigungsIose Enteignung. Diese Maßnahme ist notwendig geworden, nachdem die Gerichte sich als willfährig genug erwiesen, für die Fürsten und gegen die notleidenden Volksmassen zu entscheiden. Sie ist ein Akt der Selbstverteidigung und der Notwehr aller derer, die durch Krieg und Inflation um Hab und Gut gebracht, also ebenfalls enteignet worden sind, und die jetzt der Wirtschaftskrise und dem Steuerdruck erneut zu erliegen drohen. Sie ist ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit. Wenn der Staat die Opfer des Krieges und der Inflation mit Bettelpfennigen zu entschädigen wagt, dürfen die Fürsten, die an dem Unglück Deutschlands in erster Linie mitschuldig sind, nicht bevorzugt und mit Milliarden abgefunden werden.
Millionen Deutsche aus allen politischen Lagern und allen sozialen Schichten haben die Forderung der entschädigungslosen Enteignung der Fürsten begeistert aufgenommen und verlangen stürmisch eine schnelle und klare Entscheidung. jetzt gilt es, dem Volksvermögen Milliarden an Geldeswert zu erhalten und sie den durch Krieg und Inflation schwer geschädigten Schichten zuzuführen.
Die Unterzeichneten erklären, dass sie sich in die Massenbewegung einreihen und sich dem Volksentscheid für entschädigungslose Enteignung der Fürsten anschließen.1
Ob Vegesack zu den Unterzeichnern gehörte, habe ich noch nicht ermittelt; ich halte es für sehr wahrscheinlich. Zu den Erstunterzeichnern dieses Aufrufes gehören u. a. Max Barthel, J. R. Becher, Adolf Behne, Hermann Duncker, Eduard Fuchs, Kurt Hiller, Siegfried Jacobsohn, Alfred Kerr, Erwin Piscator, Kurt Tucholsky; die Maler Erich Godal, George Grosz, K. Kollwitz, Conny Neubauer, Max Pechstein, Heinrich Zille; die Professoren Albert Einstein, Paul Oestreich; Reichstagspräsident Paul Löbe. - Bereits im Februar hat sich die »Gruppe 1925« mit einer von Rudolf Leonhard unterzeichneten Resolution gegen die Fürstenabfindung gewandt: „Wir wollen damit zum Ausdruck bringen unsere tiefe Abneigung sowohl gegen die Kräfte, die i: der vergangenen Epoche wirksam waren wie gegen ihre verantwortlichen Träger. Man hat den Staat vergötzt, die materielle Macht und die materiellen Güter, und das Leben des Volkes missachtet ...“
Die Frage der Fürstenabfindung wird zur beherrschenden innenpolitischen Auseinandersetzung des Jahres 1926, begleitet von zahlreichen Massenveranstaltunge und Kundgebungen. Nach der Novemberrevolution beschlagnahmt, versuchten die Fürsten die Verfügungsgewalt über ihre Vermögen wieder zurückzuerlangen. Die Regierungsparteien (DVP, Zentrum, DDP, BVP) schlagen am 2.2.1926 im Reichstag eine Entschädigung »nach Billigkeit« vor.
Auf Initiative der „Liga für Menschenrechte“ und der KPD war bereits am 6.1. ein „Reichsausschuß zur Durchführung des Volksentscheids für entschädigungslose Enteignung der Fürsten« gegründet worden - unter Vorsitz von Robert Kuczynsk Zahlreiche republikanische, pazifistische und kommunistische Organisationen unterstützen den Reichsausschuß, u. a. die Arbeitsgemeinschaft entschiedener Republik riet, der pazifistische Studentenbund, die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit, die Internationale Arbeiterhilfe. Die Kampagne gegen die Fürstenabfindung wird auch unterstützt von SPD, ADGB, Reichsbanner und Teilen der DDI Die vom 4. bis zum 27. 3. erfolgende Einzeichnung zum Volksbegehren ergibt 12 523 939 Stimmen.
Als der Reichstag die Enteignung mit 236 gegen 142 (SPD und KPD) ablehnt wird ein Volksentscheid nötig. Die Gegner des Volksbegehrens (unter ihnen Hindenburg) erklären, dass die Linke eine generelle Enteignung, nicht nur die der Fürsten plane. Statt der erforderlichen 20 Millionen stimmen am 2o. 6. 1926 nur 14 45 5 184 Wähler für die entschädigungslose Enteignung. Daraufhin schließen die Länder Vergleiche mit den Fürstenhäusern. Das Land Preußen gewährt im Oktober 1926 dem einstigen preußischen Königshaus eine Abfindung in Höhe von 15 Millionen Reichsmark in bar, einschließlich Bodenbesitz im Wert von 5oo Millionen RM.
Zur Ergänzung: 1926 verdient ein Berliner Maurer in der Stunde 4,26 RM (das ist Spitzenlohn ein ungelernter Metallarbeiter 44 Pfennige. Durchschnittlicher Stundenlohn in der Weimarer Republik: 87,1 Pfennige. Durchschnittlicher Wochenverdienst der Arbeiter: 41,75 Mark brutto.
Auch persönlich trägt Vegesack die Stellungnahme Ärger ein. In seinen Briefen ist nachzulesen, dass er von einem Freund und vom Verband der „Philister“ der „Livonia“ (Alte Herren der Burschenschaft der Universität Dorpat) angegriffen wurde.
Gehrt, ein Jugendfreund Vegesacks, der die Korrespondenz der „100 Zeilen" erhalten hat und sich nach zunehmendem Ärger über Vegesacks Sinneswandel nun empört Luft macht, als in dieser Korrespondenz und auch im Simplizissimus die Fürstengedichte" erschienen: "Wo hast Du dieses semitisch-zersetzende, kommunistisch-plebejisch-Verletzende her? - Mit der Muttermilch hast Du es nicht eingesogen - und baltischer Einfluss ist es auch nicht."
(Brief vom 23. Februar 1926, ANA 397 der BSt; zitiert nach Hagengruber S. 104)
Die alten Herren waren gekränkt; vom Vorsitzenden des Livländischen Stammadelsverbandes kam folgender Brief (11. Februar 1926, ibid):
„Sie haben es für möglich befunden im Simplicissimus unter Ihrem Namen Lieder zu veröffentlichen, die durch Inhalt und Form tiefste Empörung und Ekel bei Ihren baltischen Standesgenossen und in den besten Kreisen Deutschlands erregt haben.
Sie haben das Recht freier Veröffentlichung Ihrer Dichtung. Wir, Ihre Standesgenossen vom livländischen Adel haben aber auch das Recht aus der Veröffentlichung solcher Erzeugnisse Ihres dichterischen Talents, die nicht mit den traditionellen Begriffen von Ehre und Pietätsgefühl unseres Standes vereinbar sind, die Konsequenzen zu ziehen.
Der Vorstand des livländischen Stammadelsverbandes hat beschlossen, gegen Sie wegen Veröffentlichung dieser aufhetzerischen, zynischen Spottlieder, als einer die Ehre und die geheiligten Traditionen des baltischen Adels verletzenden Handlung bei der Plenarversammlung des livländischen Stammadelsverbandes Klage zu erheben, und Ihren Ausschluss aus der livländischen Adelsmatrikel zu beantragen...“
Der Adelsverband schloss SvV aus; daraufhin traten auch seine Brüder aus. Auch der Livonen-Philister-Verein in Dorpat (Alte Herren der Burschenschaft) war gekränkt (Brief vom 4. 6. 26, ibid): „Auch die Philister der Livonia sind veranlasst worden, zu Ihrer Veröffentlichung Stellung zu nehmen. In diesem Anlass hat am 16. Mai d. J. eine Livonen-Philister -Versammlung stattgefunden, an der ein Vertreter der Rigaschen Philister teilnahm und zu der Äusserungen der in anderen Städten Estlands lebenden Philister eingelaufen waren.“
Eine Entscheidung wurde vertagt und Vegesack aufgefordert, sich persönlich zu dieser Angelegenheit zu äußern.
Kurt Tucholsky:
FÜRSTENABFINDUNG
Tucholsky hat sich nicht nur in etlichen, fundierten Beiträgen mit den Lebens- und politischen Bedingungen in Livland und dem Kurland beschäftigt, wo er sich im Weltkrieg I, als Jurist und Offiziersanwärter aufhielt, sondern auch mit den Nachkriegs- und Folgeproblemen des kaputten deutschen Kaiserreiches.
Im Kriege stand in Berlin ein Blinden-Lazarett, in dem lagen die unglücklichsten der Soldaten. Das besuchte von Zeit zu Zeit die Frau eines Hohenzollernprinzen, huldvoll lächelnd und stramm begrüßt von den klirrenden Stabsärzten. Die hohe Frau ging von Bett zu Bett und richtete Ansprachen an die Blinden. Gut, und was noch -?
Sie verteilte. Nämlich - ?
Ihre Fotografie mit Unterschrift.
Verlorenes Augenlicht kann nicht wiederkommen. Aber wenn das deutsche Volk noch einen Funken Verstand hat, dann gibt es für die blinden Kameraden eine andre kleine Ansichtskarte mit Unterschrift ab: einen Stimmzettel.
Als Dank, Quittung und Anerkennung für ein taktvolles Fürstenhaus.
(1926. Aus: K.T.: Gesammelte Werke. Bd. 4. 1924/1926. S. 404)
*
SvV
Lied deutscher Krüppel
- zum Leierkasten zu singen -
Spielt auf ihr Krüppel groß und klein,
Den Fürsten hochgeboren!
Wir haben ja nur Arm und Bein,
Und Lasst keinen Thron verloren!
uns ein Liedchen singen!
Dem Herrn in Doorn,
Hochwohlgeborn,
Ein lustig Ständchen bringen!
Sind wir auch lahm und taub und blind,
Und können kaum noch gehen,
So lasst uns doch mit Weib und Kind
Den Leierkasten drehen:
Gebt her den letzten Heller,
Dem Herrn in Doorn,
Hochwohlgeborn,
Auf sein Fürstenteller!
So humpeln wir von Tor zu Tor
Und sammeln ohne Ende,
Und spielen euch ein Liedchen vor
Zur deutschen Fürstenspende:
Wir schenken unsre Krücken -
Den Herrn in Doorn,
Hochwohlgeborn,
Ein wenig zu beglücken!
Ein Schimmer ist vom Fürstenglanz
Uns Krüppeln doch geblieben,
Drum sei als Dank des Vaterlands
Auf unser Grab geschrieben:
„Sie wollten gern krepieren,
Dass die in Doorn,
Hochwohlgeborn,
Millionen einkassieren!“ 2
SvV
Hugo, wo hast du wieder deine Finger drin
Hugo, wo hast du wieder deine Finger drin
Hugo, wo schaust du wieder schon so gierig hin?
Alle deine Taschen sind voll bis an den Rand,
und schon wieder streckst du auch die leere Hand.
Kohle, Stahl, Papier, - alles ist schon dein,
Und du steckst dir immer neue Sachen ein.
Ich tu’ es ja nicht wegen des Gewinns,
Ich tu’ es nur als Patriot!
Ich bin ja nur Hugo Stinnes,
Nur Stinnes, nur Stinnes,-
Stirb oder friss mein Brot!
Hugo, wo hast du wieder deine Finger drin
Hugo, wo schaust du wieder schon so gierig hin?
Eine Zeitung nach der andern kaufst du dir,
Kaufst Druckerschwärze und das Druckpapier,
Läßt dann drucken nur das, was dir behagt,
Und ganz Deutschland liest, was Hugo Stinnes sagt:
Ich tu’ es ja nicht wegen des Gewinns,
Ich tu’ es nur als Patriot!
Ich bin ja nur Hugo Stinnes,
Nur Stinnes, nur Stinnes,-
Stirb oder friss mein Brot!
Hugo, wo hast du wieder deine Finger drin
Hugo, wo schaust du wieder schon so gierig hin?
Baust dir Schiffe, Häuser, Fabriken ohne Zahl,
Kaufst dir Flüsse, Städte, - alles ganz egal.
Menschen an der Isar, Spree und an der Lahn,
Und kaufst du dir die ganze Eisenbahn!
Ich tu’ es ja nicht wegen des Gewinns,
Ich tu’ es nur als Patriot!
Ich bin ja nur Hugo Stinnes,
Nur Stinnes, nur Stinnes,-
Stirb oder friss mein Brot!
(Zuerst in: Tage-Buch - Berliner Zeitschrift - vom 15. April 1922.
Aufgeführt im Kabarett „Bonbonniere“ in München. Die Musik stammte von einem Siebzehnjährigen, der auch am Flügel saß: Peter Kreuder.
Am 9. November 1923 stürmten braune Windjacken die Bühne.
SvV hatte die Großstadt Berlin, obschon er ins Niederbayern sich verzogen hatte, nicht aus den Augen verloren. Er hatte Verbindungen zu Stefan Großmann, dem Herausgeber der linksorientierten Zeitschrift „Tage-Buch“.
(Vgl. Brief von Großmann v. 7.4.1922; in: Hagengruber, S. 53)
Der Unternehmer Stinnes war Mitglied der Deutschen Volkspartei, MdR. Konzern-Herr, einer der größten deutschen Trusts, ein Unternehmen, das 2888 Betriebsstätten kontrollierte: Bergbau, Handel, Tansportunternehmen, Papierfarbiken, Verlage, Banken, Versicherungen.
Von Kurt Tucholsky gibt es ebenso einen Text, der das politische und wirtschaftliche Treiben, pardon: Wirken, von Stinnes behandelt.
Kurt Tucholsky:
Prophezeiung
Natürlich kommt noch mal die Stinnes-Zeit:
mit Streikverboten, Posten an den Ecken,
mit Schwarz-Weiß-Rot und den Etappenrecken -
das kommt bestimmt. Nur ists noch nicht so weit.
Hoch oben Landwirtschaft und Industrie.
Handlangerdienste tut der kleine Bürger.
Der Großknecht war noch stets ein guter Würger
(nach unten hin) - er liebt die Monarchie.
Wie bläht sich dann der kleine Mittelstand!
Geschwollen blickt er auf zum Reichsverweser.
„Die Pazifisten? Und die ‘Vorwärts’-Leser?
Die Kerle müssen alle an die Wand!“
Potsdam steht auf. Hervor kraucht Prinz an Prinz.
Wer nicht pariert, der fliegt. Und e setzt Hiebe!
Jetzt bin ich Gottseidank Herr im Betriebe!
Der kleinste Koofmich fühlt: Ich bins! Ich bins!
Holt aus dem Mottenschrank die Uniform!
Ein Klassenurteil, Haft, für feiles Morden
gibt’s Titel, Stellen, Rang und schöne Orden...
„Der Adler Erster“ - so was hebt enorm!
Du Proletarier, bist der tiefste Stein.
Auf dir wird immer feste druff getreten.
Das putzt die Stiefel sich an dem Proleten -
Und jeder, jeder will ein Cäsar sein.
Poincaré? Wir ziehen übern Rhein!
Und über die Verfassung (altes Möbel!)
grinst bayerisch-preußischer Soldatenpöbel.
Und dann das schöne Plus, das da erzielt wird!
Wann, Deutschland, siehst du ein, was hier gespielt wird?
He, Republik -!
Sie fährt empor, nickt, döst und schlummert wieder ein.
(Zuerst 1922. In: K.T.: Gesammelte Werke. Bd. 3. S. 130f.)
Oder:
Tucholskys Kleinessay „Die weinenden Hohenzollern“ (K.T.: Bd. 3. S. 181f.)
*
In dem großen, aber nicht großartigen Angebot der "Heils-Christusse" der 20er und 30er Jahre ist von V. ein liebenswerter, undogmatischer, christlich verantwortlicher Denke geblieben.
Goebbels
Wessel
Steiner
In einer Zeit, als die wirklichen christusmäßig Mutigen, die jungen Kapläne und Vikare im KZ saßen, vornehmlich in Dachau, schrieb SvV. diese schlichte, aber nachdrückliche und eindeutige Ballade:
*
SvV.:
Christus in München
Als der Herr Jesus Christus nach München kam
Und gleich beim Hauptbahnhof ein möbliertes Zimmer nahm,
Warf ihn ein Schupo nachts aus dem Bette
Und fragte, ob er auch eine Einreiseerlaubnis hätte.
Der Herr Jesus Christus zeigte auf das Evangelium.
Der Schupo blätterte darin herum
Und sagte: "Dies ist kein Ausweispapier -
Kommen Sie mit auf das Polizeirevier!"
Der Herr Jesus Christus kam auf die Polizei.
Man fragte ihn, wo er geboren, und wer und was er sei.
Der Herr Jesus Christus sprach: "Ich bin geboren in Bethlehem,
Gestorben auf Golgatha bei Jerusalem;
Der Schreiner Josef war mein Vater, und war es doch nie,
Mein Mutter war Jungfrau und hieß Marie."
Der Schupo fragte ihn: "Sind Sie Christ oder Jude?"
Dem Herrn Jesus Christus war es seltsam zu Mute,
er lächelte und sagte: "Ich bin Jude und Christ!"
Da schrie ihn der Schupo an: "Mensch reden Sie keinen Mist
Und wo wollten Sie denn in Bayern hin?"
Der Herr Jesus Christus sprach: "Ich wollte sehn, wie ich gestorben bin;
Das kann man sich ja jetzt alles genau
bei Euch ansehen in Oberammergau!"
Da hat ihn der Schupo schrecklich angeblickt
Und ihn angebrüllt: "Mensch, Sie sind wohl verrückt!
Nach Oberammergau wollen Sie - Sie?
Das ist doch nur für Christen und unsere Fremdenindustrie!
Aber Sie und die ganze Slawiner- und Judenbande
Schmeißen wir raus aus unserm christlichen Bayernlande!"
Und der Herr Jesus Christus ward zum Bahnhof geführt
Und noch selbigen Tages in einem Viehwagen abtransportiert.
Leider hat man nicht mehr vernommen,
Wohin der Herr Jesus Christus aus Bayern gekommen,
Ob er nach Wien oder nach der Tschechoslovakei,
Nach Jerusalem oder Berlin abgeschoben sei.
Vielleicht, dass man ihn auch gefangen hält
In der Ordnungszelle Niederschönenfeld. 3
Dass ein Jude in einem Viehwagen abtransportiert wurde - man darf dieses Handlungsmoment durch als epochentypischen, prophetischen Hinweis verstehen auf die massenhaft organisierte, industriell technisch betriebene Vernichtung der jüdischen Religion in Mitteleuropa betrachten, den der Faschismus ab 1940 betrieb. Die antisemitisch-mörderische Einstellung, Menschen, meist deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens, zu verfolgen, zu vertreiben und zu vernichten - diese Ideologie hat SvV schon sehr früh gesehen und dagegen protestiert.
Vgl. seinen öffentlichen Protest gegen den Antisemitismus, als er noch eine kleine Flamme war, die die Deutschen hätten austreten können, wenn sie es religiös und demokratisch und nachbarschaftlich gewollt hätten: „Schlag sie tot, Patriot!“ 4
SvV endet in seinem Manifest: „’Schlag sie tot, Patriot!’ - nicht die Juden, sondern die für jeden Deutschen schmachvolle Judenhetze.“
*
Zurück zum Thema Mission, Kolonialisierung und Humanismus:
Ein zeitgenössisches Vergleichsgedicht ist Weinerts kirchenkritische Ballade: „Das Evangelium im Urwald“.
ERICH WEINERT
Das Evangelium im Urwald
Als der weiße Mann zu den Kunama kam
Mit der Zivilisation,
Da kannten die Wilden noch keine Scham
Und keine Religion.
Sie kannten die Sonne, den Wald und die Wolken,
Sie hatten in Liebe Kinder gemacht,
Bananen gefressen, Kühe gemolken,
Doch niemals an ihren Schöpfer gedacht.
Sie kannten in ihrer Primitivität
Keine Zerknirschung und kein Gebet.
Was für elende Sünder sie waren,
Das erfuhren sie er erst von den Missionaren.
Denn sie brachten ihnen in eigener Person
Die Religion.
Als der weiße Mann zu den Kunama kam,
Da brachte er Ordnung in ihren Kram.
Er sagte zu ihnen:
„Jhr müsst euch jetzt euer Brot verdienen.
Gott schuf nicht für Faulenzer dieses Land.
Ich werde euch Brot für Arbeit verkaufen."
Und dass kein Widerstand entstand,
Schoss, er die Häuptlinge über den Haufen.
Nun mußten sie auf den Plantagen keuchen.
Doch der weiße Mann brachte ihnen zu Lohn
Alle Segnungen der Zivilisation,
Die Prügeljustiz, den Schnaps und die Seuchen,
Aber auch die Religion.
Als der weiße Mann zu den Kunama kam,
Da hatten sie Essen und keine Not,
Da waren sie wild und ohne Gebot.
Heut aber sind die Kunama zahm
Und beten um das tägliche Brot.
Denn der weiße Mann nahm sich alles zu eigen,
Die Hütten, die Felder, die Weiber,
Die Fische, die Palmen, das Vieh und die Feigen,
Sogar ihre Seelen und Leiber.
Tausende sind in den Minen gestorben,
Tausende sind auf den Feldern verdorben.
Doch was bedeuten die irdischen Leiden!
Sie haben dafür den himmlischen Lohn.
Denn nun genießen sie alle Freuden
Der Religion.
(Zuerst 1926; aus: „Die Affenschaukel“.
*
Man könnte den Text (mit Ausnahme der Anspielung auf Niederschönenfeld als eine heutige, satirische Replik auf Reaktionen zum Kruzifix-Urteil des Verfassungsgerichtes aus dem Jahre 1995 lesen - aber es wurde schon im Mai 1923 in der Berliner Zeitschrift „Die Weltbühne“ gedruckt.
Eine moderne, heutige Reminiszenz, von einem Autor, der am überzeugendsten religiöse Lyrik unserer Tage - 1994 - schreibt:
Paul Konrad Kurz:
INRI
Jeder Pfarrer weiß
die Leute wollen
einen Oberammergauer Christus
chorisch mit Gewändern
auf barocker Bühne
Handlich der Gehängte
nicht muckend
INRI über
der Dornenkrone
abends morgends unerschüttert
das geweihte Holz
(P.K.K.: Der Fernnahe. Theopoetische Texte. Mainz 1994: Matthias-Grünewald-Verlag. S. 120)
An einige weitere Gottes-Balladen, die in unseren heutigen säkularisierten Tagen altmodisch und obsolet sind, möchte ich erinnern: Erich Weinert: Das Evangelium im Urwald. (1926)
Ich zitiere nur die letzte Strophe:
Tausende sind in den Minen gestorben,
Tausende sind auf den Feldern gestorben.
Doch was bedeuten irdische Leiden!
Sie haben dafür den himmlischen Lohn.
Denn nun genießen sie alle Freuden
Der Religion.
(Abgedruckt in: Die Affenschaukel. Deutsche Satiren. Hrsg. v. Karl Heinz Berger. Berlin 1968: Eulenspiegel Verlag. S. 306f.)
Ernst Toller:
Die Mauer der Erschossenen
Pietá
Stadelheim 1919
Wie aus dem Leib des heiligen Sebastian,
Dem tausend Pfeile tausend Wunden schlugen,
So Wunden brachen aus Gestein und Fugen,
Seit in den Sand ihr Blut verlöschend rann.
Vor Schrei und Aufschrei krümmte sich die Wand,
Vor Weibern, die mit angeschossnen Knien „Herzschuß!“ flehten,
Vor Männern, die getroffen sich wie Kreisel drehten,
Vor Knaben, die um Gnade weinten mit zerbrochner Hand.
Da solches Morden raste durch die Tage,
Da Erde wurde zu bespienem Schoß,
Da trunkenes Gelächter kollerte von Bajonetten,
Da Gott sich blendete und arm ward, nackt und bloß,
Sah man die schmerzensreiche Wand in großer Klage
Die toten Menschenleiber an ihr steinern Herze betten.
(Wiedergegeben nach: Karl-Josef Kuschel (Hrsg.): Und Maria trat aus ihren Bildern. Literarische Texte. Freiburg 1990: Herder Verlag. S. 70)
Die in den sozialistisch-humanistischen Köpfen virulenten Ideen sind einfach zu benennen, und kein Geheimnis in deren Werk:
Chancen zur Arbeit und sozialen Teilhabe, Menschlichkeit, Zugehörigkeit, Aufmerksamkeit, Gerechtigkeit, Ausgleich oder Anerkennung für Leiden, Beschaffung von Lebensnotwendigem, Solidarität, .
SvV.:
Der humane Rundfunk
Wer ein halbes Jahr erwerbslos war,
darf jetzt gratis dem Rundfunk lauschen.
Er kann sich an einer Beethovenschen Symphonie
oder an einem Vortrag über die Not der Schwerindustrie
unentgeltlich berauschen.
Er darf alles hören,
sich über alles belehren:
über die Beziehungen Goethes zu Frau von Stein,
über Kaninchenzucht, Deutsche trinkt deutschen Wein,
die voraussichtlichen Schöpfungen der kommenden Frühjahrsmode
(man trägt wieder Seiden-Voile und Sammet-Kappen mit Reiherfedern!)
über die Heilkraft von radioaktiven Bädern,
die Eishockey-Meisterschaft in Davos und das Leben nach dem Tode.
Auch über diese gegenwärtige Weltwirtschaftskrise
kann sich jeder Arbeitslose kostenlos belehren
und sich immerhin durch die Gewissheit trösten,
dass auch drüben, im allerreichsten und größten
Erdteile vierzehn Millionen hungern und frieren.
Es liegt also gar kein Grund vor, sich irgendwie zu beschweren:
Die Krise ist eben ganz allgemein, naturgegeben und gottgewollt.
Der eine verhungert. Der andere erstickt im Gold.
Man darf nur nicht das Gottvertrauen verlieren.
Achtung! Jazzband aus dem Adlon-Hotel! Auf baldiges Wiederhören!
Der neueste Schlager quiekt: "Aber, Emil, warum hast du mich nicht lieb?!"
Viereinhalb Millionen Arbeitslose hocken andächtig lauschend davor.
Viereinhalb Millionen Arbeitslose sind ganz Ohr,
denn ihre Gedärme sind ja schon längst außer Betrieb...
Doch für Erwerbslose besonders zu empfehlen
ist Orgelmusik mit Chorälen:
Radio und Gashahn werden gleichzeitig aufgedreht.
Mit dem letzten Wort der Sonntagspredigt -
von der man nur noch ein fernes Säuseln versteht -
ist alles erledigt...
Deutscher Arbeitsloser, lege dich dankbar zur letzten Ruh:
Der Rundfunk gibt dir gratis die schönste Musik dazu!
- Zuerst in der Zeitschrift 'Das Tagebuch' (Jg. 12. 1931). S. 315. -
Im Vergleich mit zeitgenössischen Texten von anderen Autoren (Erich Kästner, Kurt Tucholsky und Mascha Kaléko, Bertolt Brecht, Klabund und Walter Mehring):
*
S v V
Notschrei deutscher Fürsten
Deutsches Volk hilf deinen armen
Fürsten edelen Geblütes!
Fühl ein menschliches Erbarmen
Untertänigen Gemütes!
Wenn Millionen auch verhungern, und Millionen elend starben:
Deutsches Volk, lass deine Fürsten, deine Fürsten nur nicht darben!
Oder sollen wir von heute
An nicht mehr, wie früher, erben?
Ganz wie andre simple Leute
Schäbig unser Brot erwerben?
Hast du auch den Krieger-Witwen, deinen Waisen nichts zu geben:
Deutsches Volk, lass deine Fürsten, deine Fürsten fürstlich leben!
Knausre nicht mit den Millionen,
Denk der Kronen, die uns zieren!
Fürstlich musst du uns entlohnen,
Weil wir dich so klug regierten!
Deine Krüppel, Invaliden, deutsches Volk, magst du vergessen:
Doch vergiss nicht die erlauchten, hohen, fürstliche Maitressen!
(Hagengruber, S. 105f.)
*
Ein Vergleichstext:
Mascha Kaléko:
Chor der Kriegerwaisen
(geschrieben zwischen zwei Kriegen)
Wir sind die Kinder der Eisernen zeit’,
Gefüttert mit Kohlenrübensuppen.
Wir haben genug von Krieg und Streit
Und den feldgrauen Aufstehpuppen!
Kind sein, das haben wir niemals gekannt.
Uns sang nur der Hunger in Schlaf...
Weil Vater im Schützengraben stand,
Zu fallen für Kaiser und Vaterland,
Wenn’s grade ihn mal traf.
Unser Kinderschreck war ein Heldentod,
Unser Märchenbuch: Extrablätter;
Unser Leckerbissen: das Karten-Brot;
Kanonen - unsere Götter.
Die Schulfibel prangte so stolz schwarzweißrot,
Draus lernten wir: Tod den Franzosen!
Wir übten: ‘Man sagt nicht Adieu; nur Grüßgott’
Und schwärmten für Stahlbadehosen.
Und kam eines Tages ein Telegramm,
Wenn der Vater schon lang nicht geschrieben -
Dann zog sich die Mutter das Schwarze an,
Und wir waren kriegshinterblieben.
Wir lernten Geschichte und Revolution
Am eigenen Leibe erfahren.
Wir schwitzten für Gelder der Inflation,
Die später Klosettpapier waren.
Wir spüren noch heute auf Schritt und Tritt
Jener ‘Herrlichen Zeiten’ Vermächtnis.
Und spielt ihr Soldaten, wir machen nicht mit;
Denn wir haben ein gutes Gedächtnis.
*
Ein zeitgemäßer Vergleichstext:
Kurt Tucholsky:
Recht muss Recht bleiben
„Wir können nicht zahlen! Wir werden nichts zahlen!
Die Gläubiger sollen uns was malen!“
Das geht gegen Welschland und gegen New York.
Verträge nehmen wir leicht wie Kork.
Nur nicht gegen die, die uns beherrschten:
Wie steht denn die Sache mit unsern Ferschten-?
Sagt da einer: Groß ist die deutsche Not?
Sagt da einer: Sparen heißt das Gebot?
Ruft da der Nazi? Tyrannei?
Rundfunkt da der Goerner: Ein Volk sei frei?
Stehn da die Bürger auf wie ein Mann,
weil keiner zahlen will und kann?
Kriegen die Fürsten, was andre suchen?
Brot-? Ja, Kuchen.
Die bekommen Millionen und Millionen.
Die dürfen in weiten Schlössern wohnen.
Die kassieren für Kind und Kindeskind,
weil wir brave Untertanen sind.
Der in Doorn, der den Haß einer Welt gesammelt,
der hat noch nie so viel Geld gesammelt.
Die Burschen können in Dollars baden,
ihre Konten sind von Gottes Gnaden.
Wirft die einer zum Tempel hinaus?
So sehn wir aus.
Kein Geld für Krüppel. Kein Geld für Proleten.
Kein Geld für die, die der Krieg zertreten.
Der Wind pfeift durch den Hosenriss.
Der Dank des Vaterlands ist euch gewiss.
Die leiden. Die hungern. Und die Fürsten.
Aber immer fest für die Fürsten!
Sie zapfen an deutschem Gute und Blute.
Da heißt es nicht: Tribute! Tribute!
Da zahlt der Deutsche getreu seinem Eid,
an die gottgewollte Obrigkeit.
Aber der kleine Mann, der in Land und Stadt
seine Kriegsanleihe gezeichnet hat,
der kann sich sein Geld in den Schornstein schreiben.
Recht muß Recht bleiben.
(1932. Aus: K.T.: Gesammelte Werke. Bd. 10. S. 39)
Extreme Identifikationen stellen keine sprachlichen oder geistigen Schwierigkeiten, keine Denkverbote für SvV dar. So finden sich bei ihm Perspektiven des lyrischen Ich, die man ungewöhnlich nennen kann: Vorstadtdirne oder Hund oder
Ein glanzloses, ein wahres und die Realität nachbildendes, erschütterndes Gedicht; eine kleine unprätentiöse Ballade; Form und Inhalt in einer Übereinstimmung, wie sie Brecht in den 30er Jahren in seinen Sachgedichten erreicht hat.
Nochmals Liebe, Sexualität als Motiv innerhalb der "Neuen Sachlichkeit":
Vgl. Brechts „Lied eines Freudenmädchens“ - oder:
Kästners „Sachliche Romanze“ – weltberühmte Liebeslieder, der Schmelz und Schmerz neu waren, die Sinne und die Sagen über Liebe neu aufmischten, in der „Neuen Sachlichkeit“.
*
SvV.:
Nüchterne Liebeserklärung
Es ist immer dieselbe Frage,
und immer dieselbe Antwort, die man gibt:
Lotte bittet Paul, dass er's ihr sage,
und Paul bittet Lotte, dass er sie liebt...
Aber unser Herz ist doch kein Automat:
Einwurf zehn Pfennig, Antwort: immer dieselben Pfefferminztabletten.
Es gibt diesen und jenen Grad,
es eiserne, hölzerne, Feder- und Daunenbetten.
Liebe ist ein Wort mit viel zu schwerem Gewicht.
Ob ich dich liebe? Ich weiß es nicht.
Ich kenne nur dein Gesicht
Ich kenne nur dein Gesicht,
deinen kleinen geschwungenen Mund,
deinen Nacken, deine schmalen Arme und Hände.
Aber noch bin ich nicht untergetaucht bis zum Grund
deiner dunklen Augen, bis zur Glut deiner flackernden Brände...
Ob ich dich liebe? Vielleicht. Und das ist schon viel.
Liebe ist ein Spiel
mit vielen Nuancen,
eine Lotterie
mit wenigen Gewinnen und vielen Nieten.
Soll man sie deshalb verbieten?
Wer spielt, verliert zwar nie.
Aber nur wer mitspielt, hat Chancen..
(Zuerst in Neue Revue. Berlin. 2. Jg. 1930/31.S. 78)
*
Gertrud von den Brincken (1892 -1982):
Junge Frau
Oft hatte sie des Gatten so gewartet
im Fensterdämmerlicht als junge Frau:
von winterdürren Ästen ganz umgartet
stand starr das kleine Vorstadthaus im Grau.
Kein Laut, kein Schritt. Nur mit erschrecktem Laufe
Floh eine Katze bis zum Kellerspalt.
In langen Zapfen hing das Eis der Traufe,
unsäglich leblos und unsäglich kalt.
Rings Schnee in Schnee, der Dach und Dunkel flachte.
Zwei Krähen flügelten im kahlen Baum.
Die Frau am Fenster, die des Gatten dachte,
erschrak vor etwas, das sie einsam machte -
noch einsam, als er eintrat in den Raum.
(Aus: G. v. d. B.: Unterwegs... Gedichte. Stuttgart 1942. S. 65)
*
SvV.:
Heinrich Mann
Vergaß er mich, hat er mich ganz vergessen?
Ich friere so
und war doch einst der süßen Glieder froh,
wenn übe meinem marmorblassen
Arme
das Mondlicht hergeflimmert
und Brust und Schenkel
bedeckt mit kleiner Schatten Laubgesprenkel
und über meinen Leib geschimmert.
Ein Knabe klagte,
dass ich mich seiner Not erbarme.
Nun sind auch seine Lippen mir geschlossen.
Vergaß er Mnais? Die Tränen, die er einst vergossen?
War es nur Spiel,
dass er so hart die süßen Stunden schmäht? -
Und hat doch einst so heiß zu mir gefleht!
Wie tief er fiel:
nun zieht gefeiert er auf lauten Gassen
und predigt Liebe - und hat mich verlassen!
(In: Die Weltbühne. 8.7.1920; nach Hagengruber, S. 201: 'Mnais': Anspielung auf „Mnais und Ginevra“. 1906)
**
Eeinige Eloge auf Dichter und Philosophen sollen hier noch erwähnt werden:
Büchner, Nietzsche, Hölderlin...
Es kommt mir nicht darauf an, nachzurechnen, welchen Belang die Dichter für SvV hatten,
Georg Büchner
Komet, des Flammenspeer
Wild in den Himmel stieß,
Ein Feuermeer
Von Meteoren, Sternen, Sonnen uns verhieß,
Und jäh erlosch die Nacht.
Und doch die Funken, die sein Hirn entfacht,
Als es gen Himmel schlug,
Sie sind genug,
Um, - mögen auch Jahrhunderte vermodern, -
In fernste Nacht als Götterstrahl zu lodern.
(In: Die Weltbühne. 16. Jg. Nr. 9.. - 26. Februar 1920. S. 272)
<Enthalten in: Georg Büchner und die Moderne: 1875-1945: Texte, Analysen, Kommentar
Hölderlin
Nietzsche
Siegfried von Vegesack
Wie Viele folgten Deinen Bahnen,
Die nichts von Deinem Geiste ahnen!
Sie hörten nur das Wort der Macht
Und stürzten geifernd in die Schlacht.
Du aber wollest aufwärts finden,
Den Mensch im Menschen überwinden,
Und schautest fern, Kolumbus gleich,
In neue Welten, in das Reich
Der Kinder, weit und unbekannt,
Und riefst vom Maste jubelnd: „Land!"
Wir aber fuhren auf das Riff,
Und jählings kenterte das Schiff.
Was dämmert fern am Horizont?
Ein Fiebersumpf? Ein Land, besonnt?
Wer bringt uns Kunde von da her?
Das Schiff versank. Um uns ist Meer
(S.717
Allgemeine politische Tendenzen der End-Weimarer Zeit:
Ein Überblick:
SvV.:
[Ohne Titel überliefert]
„O Volk der Denker und der Dichter,
das selten dichtet, nie gedacht,
der trüben, aufgeblasenen Lichter
in einer trostlos schwarzen Nacht;
O Volk der ewigen Pennäler,
das immer auf der Schulbank schwitzt,
der leeren Schwätzer und Krakeeler,
das klext und Hakenkreuze schnitzt;
O Volk der Narren und Idioten,
das immer bunte Fähnchen schwenkt,
und sich mit schwarzen, weißen, roten
und braunen Lappen bunt behängt!
O Volk, das ewig unvollendet
umsonst durch seine Leiden geht;
von dem der Herr sich abgewendet,
weil Er dies Rätsel nicht versteht!“
*
(Geschrieben im März 1933, als SvV im Gefängnis in Regen „einsaß“, weil er sich Nazi-Machenschaften auf der Burg Weißenstein widersetzt hatte.)
Mitgeteilt von Thomas von Vegesack in seinem Text „Onkel Siegfried und die zwölf Jahre“:
http://www.von-vegesack.de/pdf/vortr-thomas-ueber-siegfried.pdf
Vollständig ist der Text enthalten in:
Vegesack, Siegfried von: Mein Bekenntnis. Verlag: Eugen Salzer Vlg., Heilbronn 1963 (auch als Schallplatte).
Ich zitiere ihn aus dem undatierten Manuskript, nach dem die Broschüre 1963 gedruckt wurde.
SvV.:
Im Gefängnis
(Geschrieben am 13. März 1933 im Gefängnis des Amtsgerichtes Regen)
So hocke ich nun auch in kahler Zelle,
geh auf und ab und drück mir selbst die Hand.
Die Sonne scheint wie draußen fast so helle,
nur wirft sie Gittermuster an die Wand.
Der Wärter schlurft im langen Korridore,
streng klirrt sein großer Schlüsselbund.
Ich hock mit schiefem Kopf, gespitztem Ohre
und horche, wie ein alter Kettenhund.
Auch ich häng nun an kurzer, schwerer Kette,
und wenn ich gehe, schleppe ich sie mit.
Vom Bett zum Fenster, und von dort zum Bette
ging es fünf und ein halber Schritt.
Der Raum ist warm, ich kann mich nicht beklagen,
die Pritsche hart, so wie es sich gehört.
Ich spür' mit innigem Behagen:
Kein Lärm, kein Mensch, kein Brief, der stört.
Rasieren brauche ich mir nicht die Wangen.
Der edle Vollbart wächst und weht.
Mein Mund versucht den Wasserstrahl zu fangen:
man putzt und wäscht sich, wie es eben geht!
Dann stapft man eine halbe Stunde -
der Eine immer hinterm Ändern her -
in einem engen Hofe in der Runde, -
und wenn die Sonne scheint, - was will man mehr?
Man schlürft aus tiefem Eisenkübel,
die Suppe ist bestimmt sehr gut.
Doch von dem Kübel wird mir übel:
mir ist sehr sträflingshaft zu Mut!
Wie eine Spinne kommt die Zeit gekrochen,
und langsam saugt sie am Verstand.
Zuweilen dringt ein fernes Pochen
wie eine Geisterstimme durch die Wand.
Nachts schaut der Mond durchs schmale Gitter,
sein runder Glatzkopf ist verzerrt.
Er sieht verdrießlich aus, fast bitter –
als wäre er selber eingesperrt.
Der Sternenhimmel hinter Eisenstangen –
kommt je ein Morgenrot?
Wie lange noch? Wir alle sind gefangen:
Der Satan herrscht. Und Gott ist tot. 5
*
Und SvV teilte noch einen vulgären Versuch mit, wie er in sprachlicher Verachtung der erniedrigenden Situation fertig wurde, dass sich in seinem Sprachgefühl eine Art Befriedigung einstellen konnte; die zeigte: Ich bin nicht das Opfer, das sie aus mir machenwollen; ich zeige ihren Versuch, mich zu demütigen an als humane Verletzung, als Gefährdung meiner personalen Würde. (Wer heute auf diesen fäkalischen Ort, diese Umstände, diese infektiöse Umgebung eines gewissenhaften Menschen, dem Unrecht angetan wird, gefühlsmäßig abwehrend reagiert, hat natürlich eine gesundes Empfinden.
Aufklärerische Dichter zeigen uns, ja demonstrieren oppositionell-persiflierend und drastisch auch Gelegenheiten, Begebenheiten, Schmähungen und Verletzungen… - damit sie nicht als entsetzlich im Bewusstsein der Mitmenschen oder der Nachwelt erhalten bleiben – und als Appell: So darf man nicht mit Mit-Menschen umgehen.
(Ohne Titel)
Deutschland ist Gottes Abortgrube
unter der himmlischen Closett-Stube:
Sobald ein Engelchen oben was fallen lässt,
wächst bei uns unten die braune Pest.
Wann wird man die Grube leeren,
den Dreck von der Erde kehren?
Die braune Jauche steigt und steigt –
Wer eine Nase hat, entfleucht.
Nur Spulwürmer und Maden,
gefrässig und geil,
wühlen mit Lust in den Fladen
und schmatzen: "Heil!"
Dies ist natürlich keine hohe Lyrik, keine Poesie nach klassischen Begriffen; sondern Gebrauchslyrik: Ausdruck der Not, der Zwangslage, der Verlassenheit, für die aber ein Dichter (gegenüber sprachlich hilflosen oder restringierten Menschen) Begriffe, Bilder, Sätze, Zeilen, Reime, Verse … hat. – Deshalb überleben auch viele poetisch veranlagte Menschen existenzielle Nöte, indem sie mitteilen von dem, was andere „umwerfen“, ja, umbringen könnte.
Und Leser, die nicht beleidigt oder entsetzt sind von de Wortwahl, den Bildern und den Aussagen, können teilnehmen an diesen Katastrophen, Erniedrigungen, Menschenrechtsverletzungen.
Noch drei Sätze zu dieser konkreten - nicht nur sprachlichen, sondern auch materiellen und ideellen - Herleitung der „braunen Scheiße“:
Dass sich alle Heilsideen als Gewalttaten – zumindest in ihrer Legitimation und Androhung, wenn nicht gar in ihren Tötungsabsichten und praktizierten Mördereien auf angeblich Göttliches, Übergeordnetes, Ewiges, Absolutes berufen, kennen wir nicht erst seit dem deutschen Faschismus; es ist in allen omnipotenten, gewalttätigen religiösen Ableitungen enthalten … - wie (so zeigt SvV.) als Ausscheidung zu hoch angesetzter, himmlisch abgeleiteter Vernichtungsbotschaften.
Thomas von Vegesack fügte dem Text, die als Rede 2008 in Weißenstein gehalten wurde, hinzu:
„In dem Manuskript, das Siegfried mir schickte, hat er mit Tinte zugeschrieben: ‚Und so sah es 1933 aus!!!’“
Soziale und demokratisches Missbehagen, Ausgrenzungen, Bedrohungen und/oder Terror, Antisemitismus, Aktionen und Pogrome der SA.
SvV.:
Okkulte Dinge
Alle Dinge sind okkult,
und ein Phänomen ist unser Leben.
Nur Geduld, nur Geduld:
wenn wir tot sind, werden wir den Schleier heben!
Fräulein Olga schenkt dir ihre Huld,
doch okkult bleibt, ob sie's dir nur gönnte?
Nur Geduld, nur Geduld:
in neun Monaten zahlst du die Alimente!
Keine Abrüstung? Wer ist dran schuld?
Auch die Politik ist ein Mirakel.
Nur Geduld, nur Geduld:
sicher kommt es bald zum Kriegsspektakel!
Wer hat heut Geld? Das bleibt okkult.
Keiner zahlt, und jeder sucht das Weite.
Nur Geduld, nur Geduld:
sicher machst du selber auch bald pleite!
Auch die Filmprüfstelle bleibt okkult.
Die Justiz ist blind. Die Richter schnarchen.
Nur Geduld, nur Geduld:
diese Republik hat wieder bald Monarchen!
Auch was Adolf will, bleibt noch okkult,
Soll der Gummiknüppel uns regieren?
Nur Geduld, nur Geduld:
bald wird man auch dich noch massakrieren!
Kinder, wozu noch Geschrei, Tumult?
Mord und Fehlspruch sind doch keine Schande!
Alle, alle Dinge sind okkult
in dem teuren deutschen Vaterlande!
(Neue Revue. 3. Jg. 1931. S. 22)
*
Zu diesem Thema dieser Vergleichstext :
HELLMUTH KRÜGER (1890-1955)
Der Bücherkarren
Ich baue meinen Karren um, weil ich so langsam spüre,
der Felix Dahn kriegt Publikum, nach rechts geht die Lektüre.
Den Emil Ludwig stell ich weg, der hat nun ausgejodelt,
jetzt kommt die Karre aus dem Dreck: Wir werden umgemodelt!
Wie sag ich's meinen Lesern gleich:
Wir kriegen jetzt das Dritte Reich!
Wenn ich wüsste, was der Adolf mit uns vorhat,
Wenn er erst die Macht am Brandenburger Tor hat?
Müssen wir dann alle braune Hemden tragen?
Darf dann niemand mehr das Wörtchen »nebbich« sagen?
Wird ein Vollbart unsre Heldenbrust bedecken?
Werden wir zum Gruß die dürren Arme recken?
Rufen wir dem Adolf »Heil«?!
Oder auch das Gegenteil?
Bald gibt es keine Mollen Bier, nur Met gibt es zu trinken,
Und bei Kempinski rollen wir aufs Brot den Bärenschinken.
Statt Girls tanzt ein Walkürenchor bei Herman Haller balde,
Das Kadeko macht Kabarett im Teutoburger Walde.
Hab ich das richtig vorgeahnt?
Ich weiß ja nicht, was Adolf plant!
Wenn ich wüsste, was der Adolf mit uns vorhat,
Macht er aus Berlin nur eine Münchner Vorstadt?
Wird das Tageblatt Fraktur nur schreiben?
Wird der Kreuzberg ohne Haken bleiben?
Darf sich Reinhardt nur noch Goldmann nennen?
Oder wird man ihn trotzdem verbrennen?
Trifft ins Herz uns Adolfs Pfeil?
Oder nur ins Gegenteil?
Dieses flotte, kritische und prophetisch kluge Chansons wurde zuerst 1931 vorgetragen im Berliner Corso-Kabarett. Krüger lebte damals in Berlin, als Schauspieler und Künstler, nach 33 als unverbindlicher Humorist weiter in Deutschland.
(Nachgedruckt in: Volker Kühns verdienstvoller Kabarettsammlung: „Kleinkunststücke“. Bd. 3. 2001. 29f.
Zur Biografie: Krüger, Hellmuth ( 10. 6. 1890 in Dorpat - 18. 1955 in München) Privatunterr. u. Zeddelmannsches Privatgymn. in Dorpat. 1907 Birkenruh. Schauspielschüler in München und Berlin. Schauspieler, Operettensänger, Kabarettist, auch Mitarb. d. „Lustigen Blätter" u. d. „BZ am Mittag". Seit 1945 in München am Bayer. Rundfunk u. a. Sendern. 1945 - 48 am Kabarett „Die Schaubude". Verf. von Drehbüchern und einer Operette.
Bücher als selbständige Veröffentlichungen Krügers:
- (Hg.) Novellen und Dramen. XI. Charlottenburg: Lehmann (= Ostsee und Ostland 1, Bd 2. 1916. - Das Loch im Vorhang. Licht- und Schattenbilder aus dem Deutschen Theater. Bln: Eysler (= Lustige Bücherei Bd. 35) 1920.
- Geheimblätter des Deutschen Theaters. 1921. - Von Liebe ist nicht die Rede. Erzählungen. 127 S. Mchn: Drei Fichten Verl. 1947.
- Unordentliches Bilderbuch. Gedichte und Zeichnungen. 101 S. m. Abb. Mchn: Pohl (1954)
**
Der Dichter
Plötzlich schäle ich mich aus mir heraus
und werfe mich in die Welt -
ein Blitz, der sie durchgrellt.
Keuchend fliehe ich in mein Haus.
Alle Schmerzen zittern in mir:
Ich war Wir
und wurde wieder Ich.
Staunend finde ich mich,
ruhig brennendes Licht,
im Gedicht.
**
Plötzlicher Morgen
Unvermutet aufgewacht
weht mir Wind entgegen.
Heller Morgen überdacht
mich auf grünen Wegen.
Blumen stehen kraus geneigt:
Bunte Teppichsäume.
Eine kleine Wolke steigt
auf die Apfelbäume.
**
Sonntag-Nachmittag
Die Stadt ist leer, die Straße glatt,
am Baume gilbt das grüne Blatt.
Zwei Tauben trippeln auf dem Damm.
Mein Kopf ist wie ein nasse Schwamm.
Wenn ich pack’ und in zerdrück’,
bleibt nur ein Bündel Luft zurück.
**
Besuch
Leere Wände starren mir entgegen,
steige ich in mein Gehirn.
Und ich stehe sehr verlegen
hinter meiner glatten Stirn.
Schwarze Nägel kriechen in die Mauer,
die Tapete ist zerfetzt.
Kummervoll geht der Beschauer,
tief im Innersten verletzt.
**
Gericht
Tiefer sinke ich und tiefer,
heller leuchtest du und heller.
Kürzer werden meine Schreie
und mein Herz schlägt schnell und schneller.
Schwächer werden meine Hände.
Nur dein Licht wird immer lichter.
Leben: totgeweihter Kerker -
Und ich selbst der letzte Richter.
(Bereits 1924 erschienen in dem Baltischen Dichterbrevier 1924, Herausgegeben von Werner Bergengruen. Neuner Verlag Berlin und Leipzig. S. 111)
*
Ein verwunderlicher Fall von literarischer Unverwüstlichkeit. Nein, der materielle Zeitzusammenhang über die Jahre hinweg zurück - bundesdeutsche Gegenwart, Drittes Reich, Weimarer Zeit, lettische Republik, deutschsprachiges Livland - ist kaum mehr herzustellen. Wir können Krügers knappes Werk aber als Beispiel für integre private und künstlerische Existenzen ehren, über historische Katastrophen hinweg: Geschichte, aus der wir lernen, dass es sich lohnt, zu lernen; dass wir aus entlegenen Eckende Weltliteratur immer wieder überrascht sind über die Individualität und Humanität von Dichtern, denen Zeiten, Umstände und Politiker und ihre Landsknechte übel mitspielten...
**
Arbeitslosigkeit und anschließende soziale Fragen:
Notschrei deutscher Fürsten
Deutsches Volk hilf deinen armen
Fürsten edelen Geblütes!
Fühl ein menschliches Erbarmen
Untertänigen Gemütes!
Wenn Millionen auch verhungern, und Millionen elend starben:
Deutsches Volk, lass deine Fürsten, deine Fürsten nur nicht darben!
Oder sollen wir von heute
An nicht mehr, wie früher, erben?
Ganz wie andre simple Leute
Schäbig unser Brot erwerben?
Hast du auch den Krieger-Witwen, deinen Waisen nichts zu geben:
Deutsches Volk, lass deine Fürsten, deine Fürsten fürstlich leben!
Knausre nicht mit den Millionen,
Denk der Kronen, die uns zieren!
Fürstlich musst du uns entlohnen,
Weil wir dich so klug regierten!
Deine Krüppel, Invaliden, deutsches Volk, magst du vergessen:
Doch vergiss nicht die erlauchten, hohen, fürstliche Maitressen!
(Hagengruber, S. 105f.)
*
Erich Kästner machte zwei Jahre später (in dem Gedichtband „Gesang zwischen Stühlen“. 1932) folgende Anmerkungen zum Thema Weihnacht (Liebe, Christlichkeit, Verschenken und Ausgleichen können, soziale Gerechtigkeit…):
Erich Kästner:
Legende, nicht ganz stubenrein
Weihnachten vergangenen Jahres
(17 Uhr präzise) war es:
Dass der liebe Gott nicht, wie gewöhnlich,
den Vertreter Ruprecht runterschickte,
sondern er besuchte uns persönlich.
Und erschrak, als er die Welt erblickte.
Er beschloss dann doch, sich aufzuraffen.
Schließlich hatte er uns ja geschaffen!
Und er schritt (bewacht von Detektiven
der bewährten Argus-Institutes,
die, wo e auch hinging, mit ihm liefen)
durch die Städte und tat nichts als Gutes.
Gott war nobel, sah nicht auf die Preise,
und er schenkte, dies nur beispielsweise,
den Ministersöhnen Dampfmaschinen
und den Kindern derer, die im Jahre
mehr als 60000 Mark verdienen,
Autos, Boote .- lauter prima Ware.
Derart reichten Gottes Geld und Kasse
abwärts bis zur zwölften Steuerklasse.
Doch dann folgte eine große Leere.
Und die Deutsche Bank gab zu bedenken.
Dass sein Konto überzogen wäre.
Und so konnte er nichts weiter schenken.
Gott ist gut. Und weiß es. Und wahrscheinlich
war ihm die schichte äußerst peinlich.
Deshalb sprach er, etwa zehn Minuten,
zu drei sozialistisch eingestellten
Journalisten, die ihn interviewten,
von der Welt als bester alles Welten.
Und die Armen müssten nichts entbehren,
wenn es nur nicht so sehr viele wären.
Die Reporter nickten auf und nieder.
Und Gott brachte sie bis ans Portal.
Und sie fragten: „Kommen sie bald wieder?“
Doch er sprach: „Es war das letzte Mal.“
(E.K.: Zeitgenossen, haufenweise. Werke. Bd. 1. Gedichte. München 1998: Carl Hanser Verlag. S. 211f.)
Weiterhin das bewegende, tief die deutsche Seele kratzende Thema Weihnachten... Fast für jedes Jahr läßt sich ein bedeutendes Beispiel der Stimmungen jener Zwischenkriegsjahre: Neben Kästner, Tucholsky, fast regelmäßig für jeden Dezember. Schon 1918 bringt einen überlieferungswürdigen Text als in paralleles Beispiel:
Klabunds „Berliner Weihnacht 1918“
Am Kurfürstendamm, da hocken zusamm
Die Leute von heute mit großem Tamtam.
Brillanten mit Tanten, ein Frack mit was drin,
Ein Nerzperlz, ein Steinherz, ein Doppelkinn.
Perlen perlen, es perlt der Champagner.
Kokotten spotten: Wer will, der kann ja
Fünf Braune für mich auf das Tischtuch zählen...
Na, Schieber, mein Lieber! - Nee, uns kann’s nicht fehlen,
Wir wolln uns mal wieder amüsieren.
Am Wedding ist’s totenstill und dunkel.
Keines Baumes Gefunkel, keines Raumes Gefunkel.
Keine Kohle, kein Licht ... im Zimmereck
Liegt der Mann besoffen im Dreck.
Kein Geld, keine Welt, kein Held zum Lieben...
Von sieben Kindern sind zwei geblieben,
Ohne Hemd auf der Streu, rachitisch und böse.
Sie hungern und fräßen ihr eignes Gekröse.
Zwei magre Nutten im Haustor frieren:
Wir uns mal wieder amüsieren.
Es schneit, es türmt. Eine Stimme schreit: Halt...
Über die Dächer türmt eine dunkle Gestalt...
Die Blicke brennen, mit letzter Kraft
Umspannt die Hand einen Fahnenschaft
Die Fahne vom neunten November, bedreckt,
Er ist der letzte, der sie noch recht...
Zivilisten ... Soldaten... tach tach tach...
Salvenfeuer ... ein Fall vom Dach...
Die deutsche Revolution ist tot...
Der weiße Schnee färbt sich blutigrot...
Die Gaslaternen flackern und stieren...
Wir wolln uns mal wieder amüsieren.
(Aus: Volker Kühn (Hrsg.): Hoppla, wir beben. Kabarett einer gewissen Republik. 1918 - 1933. S. 35)
Kurt Tucholsky:
Einkäufe 1919
Was schenke ich dem kleinen Michel
Zu diesem kalten Weihnachtsfest?
Den Kullerball? Den Sabberpichel?
Ein Gummikissen, das nicht näßt?
Ein kleines Seifensiederlicht?
Das hat er noch nicht. Das hat er noch nicht!
SvV.:
Deutsche Weihnacht 1930
Es ist Zeit, dass wir uns vom jüdischen Krippenkind
zum urgermanischen Wotan-Kultus bekehren.
Nur Esel, Schafe und einfältiges Rind
können, damals wie heute, ein jüdisches Wesen verehren.
Diese Kind, das durch feige Flucht und List
sich dem Bethlehemer Pogrom entzogen,
war natürlich Jude und nannte sich nur Christ,
und hat die Weltgeschichte durch seinen Namen betrogen.
Ein arbeitsscheuer, landfremder Vagabund,
der mit bolschewistischen Lehren hausierte.
Mit einen Wort: ein jüdischer Hund,
der gegen die arische Autorität agitierte.
Nein, wir brauchen Wotan, den germanischen Held,
mit rauschendem Vollbart und blitzendem Speere,
der alle Juden verjagt aus der deutschen Welt
mit jauchzendem Walküren-Heere!
Heil Wotan! Heil Hitler! Die Stunde gebeut’s,
die deutsche Weihnacht, jetzt naht sie:
Fort vom Kreuze, - zum Hakenkreuz!
Fort vom Nazarener, - zum Nazi!
(In: Simplicissimus. 22.12.1930; nachgedruckt nach Hagengruber, S. 124f.)
*
Siegfried von Vegesack
Das Börsenspiel
Hab ich einen leichten Schwipps,
Geb’ ich dir die besten Tipps:
Her damit, mit den bedreckten
Lappen: kauf dir feine, feine
Prima, prima Anteilscheine, -
Kauf Effekten! Kauf Effekten!
Und vor allem die begehrte
Phönix-Aktie, Schantungwerte,
Dürkopp, Daimler und die hohe
Gelsenkirchen, Hohenlohe,
Horenstein und Mannesmann,
Siemens-Halske, Scheidemandel, -
Alles gibt es ja im Handel,
Wenn man es bezahlen kann!
Selbst mit Lindes Eismaschinen
Läßt sich einiges verdienen.
Mag die Welt auch noch so wettern:
Die Papiere klettern, klettern,
Klettern hoch ins Riesengroße,
Riesenchancen! Riesenhausse!
Kattowitz und Laurahütte!
Sitz nur still: ich schütte, schütte
Dividenden, Anteilscheine,
Vorzugsaktien, feine, feine,
Junge Aktien, junge, junge, -
Und schon türmen sich im Schwunge
Die Millionen, die Millionen.
Und du kannst im Bristol wohnen,
Und du kannst im Auto sausen,
Und du kannst bei Hiller schmausen, -
Lehnst dich üppig in dein Kissen,
Faltest satt die fetten Hände:
Denn bei jedem deiner Bissen,
Mögen auch Millionen frieren,
Schuften, hungern und krepieren,-
Rollt dir, ohne Zahl und Ende,
Rollt dir zu die Dividende!
Laß den Pöbel, den bedreckten,
Für dich schuften, kauf Effekten!
Kauf Produkte! Kauf Produkte!
Und vor allem das begehrte
Weizenmehl, Getreidewerte,
Roggen, Gerste, Kaffeebohne,
Selbst Peluschken sind nicht ohne,
Schau dir auch die Wolle an.
Kauf dir einen ganzen Haufen, -
Alles, alles ist zu kaufen,
Wenn man es bezahlen kann!
Selbst mit Mais und mit Lupinen
Läßt sich einiges verdienen.
Mag die Welt auch noch so wettern:
Die Produkte klettern, klettern,
Klettern hoch ins Riesengroße,
Riesenchance, Riesenhausse!
Nur Geduld, Geduld, ich bitte,
Sitz nur still: ich schütte, schütte
Hafer, Wolle, auch von Schafen,
Doppelzentner, frei ab Hafen,
Seradella, - Junge, Junge,
Und schon türmen sich im Schwunge
Die Millionen, die Millionen.
Und du kannst im Bristol wohnen,
Und du kannst im Auto sausen,
Und du kannst bei Hiller schmausen, -
Lehnst dich üppig in dein Kissen,
Faltest satt die fetten Hände,
Denn bei jedem deiner Bissen, -
Mögen auch Millionen frieren,
Schuften, hungern und krepieren, -
Kannst du doch behaglich heizen,
Denn es steigen Korn und Weizen!
Laß das Volk nur, das verruckte,
Für dich schuften: kauf Produkte!
Kauf Devisen! Kauf Devisen!
Und vor allem die begehrte
Dollarnote, Dollarwerte,
Gulden, Pfund und Schwedenkrone,
Selbst die Lira ist nicht ohne,
Schweizer Frank und Yen sodann, -
Kauf dir einen ganzen Haufen,
Alles, alles ist zu kaufen,
Wenn man es bezahlen kann!
Selbst mit ein paar Tschechen-Kronen
Kann sich das Geschäft schon lohnen.
Mag die Welt auch noch so wettern:
Die Devisen klettern, klettern,
Klettern hoch ins Riesengroße,
Riesenchancen, Riesenhausse!
Nur Geduld, Geduld, ich bitte
Sitz nur still: ich schütte, schütte,
Dollarnoten, Guldenscheine,
Schweizer Franken, feine, feine,
Schwedenkronen, - Junge, Junge,
und schon türmen sich im Schwunge
Die Millionen! Die Millionen!
Und du kannst im Bristol wohnen,
Und du kannst im Auto sausen,
Und du kannst bei Hiller schmausen, -
Lehnst dich üppig in dein Kissen,
Faltest satt die fetten Hände,
Denn bei jedem deiner Bissen, -
Mögen auch Millionen frieren,
Schuften, hungern und krepieren, -
Steigen Dollar, steigen Kronen!
Laß den Pöbel nur, den miesen,
Für dich schuften, kauf Devisen!
(Aus: Das Tagebuch. 4. Jg. 1923. S. 563-565)
Eine andere, nur scheinbar merkwürdige, unpassende Perspektive: SvV wählte sich Auf- und Über- und Zublicke als Anblicke auf die ihn umgebene Welt, dass in einem Tiergedicht auf einen seine Lieblingshunde religiöse Frage angesprochen wurden, denen ich mich als Leser und Mensch- und tier- und Gott-Sucher nicht entziehen kann.
SvV.:
Der Hund
Wenn du die Tatzen auf die Brust mir legst,
Mit Augen, abgrundtief und treu,
Und ohne Scheu
Die Ohren zärtlich weit nach hinten schlägst,
Dann fühle ich: dass zwischen mir und dir
Kein Unterschied besteht,
Dass mitten zwischen Mensch und Tier
Die Gottheit geht.
Ein Vergleichstext?
Der begriff „Hund“ als Schimpfwort ist hier schon mehrmals eingeflossen.
Ich will hier aber vorausweisen auf dein Gedicht, dass ein krasses Menschenschicksal vorhält: auf Kurt Tucholsky „Die Gefangenen“. (Text S. 41)
Kurt Tucholsky:
Arbeit tut not -!
Es raucht der Schlot. Sirene gellt.
Arbeit tobt durch die deutsche Welt:
Noch mehr Tender-!
Graumorgens taumelt, lungenkrank,
der Mann aus seinem Menschenschrank.
Die Pfeife hetzt zum Eingangstor,
Kontrolluhr, Wächter und Hund davor...
Noch mehr Tender! Noch mehr Automobile!
Der Stumpfsinn treibt die Transmission.
Wir haben auch einen Leitspruch schon:
Arbeit tut not!
Die Fräser surren,
Hämmer hämmern, die Sägen schnurren...
Noch mehr Tender! Noch mehr Automobile!
Noch mehr Zangen! Noch mehr Spatenstiele!
Grau stickt Büroluft alle Lungen.
Hier hockt die Jugend; hier sitzen die Jungen.
Rabatte gellen durchs Telefon -
es klappert Underwood und Cohn:
Noch mehr Tender! Noch mehr Automobile!
Noch mehr Zangen! Noch mehr Spatenstiele!
Noch mehr Aktien! Noch mehr Industrie!
Und alles made in Germany!
Waren! An Waren produzieren!
Waren sinnlos produzieren!
Will einer sie haben? Kann einer kaufen?
Unser Land soll in Waren versaufen?
Klopfen, hämmern, schneiden und weben -
eine Kleinigkeit fehlt: das Leben.
Kleben, kochen, färben und braten -
Kinder, macht Kinder! Der Staat braucht Soldaten!
Sind die Gräben einst voll, sind die Gräber auch -
das ist des Landes so der Brauch.
Produziert Kinder! Unentwegt!
Sie werden euch später in Kalk gelegt.
Das ist Wirtschaftspolitik.
Und es bläst die Militärmusik:
Noch mehr Granaten! Noch mehr Automobile!
Noch mehr Kinder! Noch mehr Spatenstiele!
Noch mehr Bleche! Noch mehr Krane!
Noch mehr Werften! Noch mehr Vulkane!
In die Welt gepresst bis zum Börsensieg -
Und wenn sie nicht wollen, macht Deutschland Krieg!
Wer wird uns den rasenden Kaufmann bezwingen -?
Arbeit tut noch:
Die Masse wird’s bringen.
(1925; aus: K.T. Gesammelte Werke. 1925-1926. Bd. 4. S. 43f.)
*
Siegfried von Vegesack
Die Toten halten still
Not kennt kein Gebot
und verordnet immer neue Gebote.
Kein Brot.
Aber in Argentinien heizt man mit Weizen die Schlote,
Wir sind noch nicht tot.
Aber jeden Tag gibt es tausend Selbstmörder-Tote:
eine große Stillhalte-Aktion.
Aber man hört nicht viel davon:
…. wie Gott und Hoover will,
…. die Toten halten still ...
Dahingegen jammern Direktoren, Aufsichtsräte und Generäle,
wenn sie statt zwanzig nur achtzehn Mille erhalten,
lamentieren Bankiersfrauen, weil es ihnen zur Reise nach St. Moritz fehle,
weil sie statt drei nur zwei Dienstboten halten ...
Die Toten erkalten,
sind höchstens noch Seele.
Besser: es wäre endgültig Schluss,
damit der Alpdruck nicht quäle:
Ob man im Himmel auch stempeln muss?
Leider können Tote nichts konsumieren.
Daher die Not
der Schwerindustrie;
Tote sind tot
und kaufen nie.
Man kann sie nur noch sezieren:
…. wie Gott und Hoover will,
…. Die Toten halten still …
Dahingegen läßt man Millionen Bushel Weizen
ganz einfach verheizen,
um keine Preisstürze zu riskieren:
Besitz ist Besitz.
Und Gott? Und Hoover? Was tut er?
Keep smiling, - solange der Dollar hält!
Die Welt
ist ein Witz.
Aber kein guter.
**6
(In: „Die Weltbühne“. 28. Jg. 1932. I. S. 652)
*
Weitere ironisch anrührende Details aus wirtschaftlich verwandten Zyklen:
SIEGFRIED VON VEGESACK
DER SCHIEBER
Konserven, Leinöl, Dachpappen, Platin und Gold, -
Alles, was rollt,
Schieb ich, wohin Ihr wollt:
Ich habe einen Posten Lebertran
Mit der Bahn
Aus Holland nach Wien, und von Wien nach Bochum („prima Speisefett") verschoben,
Und einen Poster alter Kleiderbestände
Von Krotoschin nach Ostende
Und von Ostende nach Leipzig: „prima Pariser Garderoben".
Bald hab ich ganz Europa verschoben.
Amerika, Asien, Afrika
Sind ja noch bis auf weiteres „freibleibend" da.
Zehn Niggerstämme, die am Kilimandscharo wohnen,
Ein Urwald von recht beträchtlichen Dimensionen,
Ein Posten frischer Klapperschlangen
und Rhinozerosse,
Zehn Tausend Schimpansen und Kakadus
(Am liebsten gegen Pariser Dessous)
Frei ab Lager (Timbutku, Rudolf Mosse).
Hätt' ich, wie Archimedes, einen festen Punkt da oben,
Die ganze Welt wäre bald verschoben.
Planeten, Sonnen, - Milliarden und Billionen
Das Geschäft muß sich lohnen,
Wenn es dem Herrgott schon so lange gefällt:
Gott schiebt die Welt!
(Aus: Das Tagebuch. 3/1922. S. 688)
Kurt Tucholsky:
Arbeit für Arbeitslose
Herrn Ebermayer zur Beschlagnahme freundlich empfohlen
Stellung suchen Tag für Tag,
aber keine kriegen.
Wer kein Obdach hat, der mag
auf der Straße liegen.
Sauf doch Wasser für den Durst!
Spuck aufs Brot - dann hast du Wurst!
Und der Wind pfeift durch die Hose -
Arbeitslose.
Arbeitslose.
Schaffen wollen - und nur sehen,
wie Betriebe schließen.
Zähneknirschend müßig gehn...
bleib du nicht am Reichstag stehn-!
Geßler läßt was schießen.
Zahl den Fürsten Müßiggang;
Friere nachts auf deiner Bank.
Polizeiarzt, Diagnose:
Arbeitslose.
Arbeitslose.
Wart nur ab.
Es kommt die Zeit,
darfst dich wieder quälen.
Laß dir von Gerissenheit
nur nichts vorerzählen:
Klagen hilft nicht,
plagen hilft nicht,
winden nicht und schinden nicht.
Dies, Prolet, ist deine Pflicht:
hau sie, dass die Lappen fliegen!
Hau sie bis zum Unterliegen!
Bleib dir treu.
Die Klasse hält
einig gegen eine Welt.
Auf dem Schiff der neuen zeit,
auf dem Schiff der Zukunft seid
ihr Soldaten! Ihr Matrosen!
Ihr - die grauen Arbeitslosen!
(1926; aus: K.T. Gesammelte Werke. 1925-1926. Bd.4. S. 369f.)
*
Erich Kästner:
Kinderlied für Arbeitslose 1)
Schlafzimmer habt ihr immer noch keins.
Doch Kinder kriegt ihr fast jedes Jahr eins.
Warum ihr das wohl tut?
Euch geht's wohl noch zu gut?
Der letzte Groschen wird verfeuert.
Der Vater wird bald ausgesteuert.
Das Hinterhaus ist voll Geschrei.
Eia popeia, eia popeia -
Von wegen Eiapopei!
Die Dummheit sollte Grenzen haben.
Was sollen denn die vielen Knaben?
Sie werden erstens groß
und zweitens arbeitslos.
Wann werdet ihr denn nur gescheit?
Ihr seid nicht mehr, je mehr ihr seid!
Was soll die Fortpflanzerei?
Eia popeia, eia popeia -
Von wegen Eiapopei!
Und jeder hat Töchter, und jeder hat Söhne.
Und immer tiefer drückt man die Löhne.
Laßt doch die Kindereien!
Begnügt euch mit einem und zweien.
Ihr seid der Bund der Kinderreichen.
Ihr liefert für die Zukunft Leichen.
Ihr liefert dem Elend frei ins Haus.
Eia popeia, eia popeia -
Schlaft ein? Nein! Schlaft aus!
(1930. Zuerst 1930, in: Die Weltbühne. 36. Jg. 02.09.1930. S. 360. Textabdruck nach E. K.: Wir sind so frei. Werke. München 1998.S. 337f.
~~* ~~
SvV:
Christus in München
Als der Herr Jesus Christus nach München kam
Und gleich beim Hauptbahnhof ein möbliertes Zimmer nahm,
Warf ihn ein Schupo nachts aus dem Bette
Und fragte, ob er auch eine Einreiseerlaubnis hätte.
Der Herr Jesus Christus zeigte auf das Evangelium.
Der Schupo blätterte darin herum
Und sagte: "Dies ist kein Ausweispapier -
Kommen Sie mit auf das Polizeirevier!"
Der Herr Jesus Christus kam auf die Polizei.
Man fragte ihn, wo er geboren, und wer und was er sei.
Der Herr Jesus Christus sprach: "Ich bin geboren in Bethlehem,
Gestorben auf Golgatha bei Jerusalem;
Der Schreiner Josef war mein Vater, und war es doch nie,
Mein Mutter war Jungfrau und hieß Marie."
Der Schupo fragte ihn: "Sind Sie Christ oder Jude?"
Dem Herrn Jesus Christus war es seltsam zu Mute,
er lächelte und sagte: "Ich bin Jude und Christ!"
Da schrie ihn der Schupo an: "Mensch reden Sie keinen Mist
Und wo wollten Sie denn in Bayern hin?"
Der Herr Jesus Christus sprach: "Ich wollte sehn, wie ich gestorben bin;
Das kann man sich ja jetzt alles genau
bei Euch ansehen in Oberammergau!"
Da hat ihn der Schupo schrecklich angeblickt
Und ihn angebrüllt: "Mensch, Sie sind wohl verrückt!
Nach Oberammergau wollen Sie - Sie?
Das ist doch nur für Christen und unsere Fremdenindustrie!
Aber Sie und die ganze Slawiner- und Judenbande
Schmeißen wir raus aus unserm christlichen Bayernlande!"
Und der Herr Jesus Christus ward zum Bahnhof geführt
Und noch selbigen Tages in einem Viehwagen abtransportiert.
Leider hat man nicht mehr vernommen,
Wohin der Herr Jesus Christus aus Bayern gekommen,
Ob er nach Wien oder nach der Tschechoslovakei,
Nach Jerusalem oder Berlin abgeschoben sei.
Vielleicht, dass man ihn auch gefangen hält
In der Ordnungszelle Niederschönenfeld.
(In Niederschönenfeld waren Protagonisten der Bayerischen Räterepublik gefangen, z.B. auch von Vegesacks Freund Erich Mühsam.)
(Hier zitiert nach der Ausgabe der Briefe von Vegesacks: Briefe 1914 - 1971. Herausgegeben von Marianne Hagengruber. Grafenau: Morsak Verlag. 1988. S. 74f.)
Dass ein Jude in einem Viehwagen abtransportiert wurde - man darf dieses Handlungsmoment durch als epochentypischen, prophetischen Hinweis verstehen auf die massiv organisierte, industriell technisch betriebene Vernichtung der jüdischen Religion in Mitteleuropa betrachten, den der Faschismus ab 1940 betrieb. Die antisemitisch-mörderische Einstellung, Menschen, meist deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens, zu verfolgen, zu vertreiben und zu vernichten - diese Ideologie hat SvV schon sehr früh gesehen und dagegen protestiert.
Vgl. seinen öffentlichen Protest gegen den Antisemitismus, als er noch eine kleine, böse Flamme des Hasses und der Gewalt war, die die Deutschen hätten austreten können, wenn sie es religiös und demokratisch und nachbarschaftlich gewollt hätten: „Schlag sie tot, Patriot!“ (Weltbühne. 15.04.1920. (Hagengruber. S. 66f.)
SvV endet in seinem Manifest mit einem handfesten Appell: „’Schlag sie tot, Patriot!’ - nicht die Juden, sondern die für jeden Deutschen schmachvolle Judenhetze.“
Man könnte den Text (mit Ausnahme der Anspielung auf Niederschönenfeld) als eine heutige, satirische Replik auf Reaktionen zum Kruzifix-Urteil des Verfassungsgerichtes aus dem Jahre 1995 lesen - aber es wurde schon im Mai 1923 in der Berliner Zeitschrift „Die Weltbühne“ gedruckt.-
Die Gottesanrede, die Anrufungen, nicht so fein und kunstsinnig, musikalisch verschönert wie in den Kirchen die Psalmen, setzt sich durch die Literatur der 30er Jahre fort; paradoxerweise bei denen, die den Kirchen nahe standen oder gar sich atheistisch verstanden.
Kurt Tucholsky:
Die Gefangenen.
Hörst du sie schlucken, Herrgott?
Sie sitzen muffig riechend und essen ein muffiges Essen,
holen es mit dem Blechlöffel aus den amtlichen Gefäßen
und führen es in ihren privaten Mund.
Der Körper verdaut es,
und es ist ganz sinnlos, was sie da tun.
Hörst du sie schlucken, Herrgott?
(Zuerst 1931. In: K.T.: Gesammelte Werke. Bd. 9. S. 179f.)
Dazu noch einmal Kurt Tucholsky:
„Greift einer den Militarismus, eine große Zeitung oder Moskau an, dann wird unter den Schlägen der Verteidigung ein Stöhnen hörbar: ‘Er hat Gott gelästert!’ Vorwurfsvolle Augen klappen zum Himmel auf: Eigentlich brauchten wir uns ja gar nicht zu wehren... denn er hat Gott gelästert. (Schnipsel. 1931. (In: K.T.: Werke Bd. 9. S. 290)
Die Katholiken sitzen vor ihrer Hütte. Ein Heide geht vorbei und pfeift sich ein. Die Katholiken tuscheln: „Der wird sich schön wundern, wenn er mal stirbt!“ Sie klopfen sich auf den Bauch ihrer Frömmigkeit, denn sie haben einen Fahrschein, der Heide aber hat keinen, und er weiß es nicht einmal. Wie hochmütig kann Demut sein!
(K.T. Schnipsel. 1931. (Werke Bd. 9. S. 124)
SvV.:
Legende von der Vorstadtdirne
Einer hochbetagten Vorstadtdirne
Kam das Leben nicht geheuer vor,
Und so hing sie sich mit einem Zwirne
Vor das erste beste Tor.
Kam ein Oberlehrer steif geschritten,
Tief versunken in sein kluges Buch,
Bis das Bein der Vorstadtdirne mitten
Ihm auf seine Brillengläser schlug.
Stehen blieb er, fassungslos entrüstet:
„Hängt das Laster schon an jedem Tor?
Dass es sich sogar im Tode brüstet
Mit dem Seidenstrumpf aus grünem Flor!“
Und er rückte sich zurecht die Brille,
Starrte aufwärts, scharf und unverwandt:
„Augenscheinlich war es Gottes Wille!
Gott sei Dank - ich hab sie nicht gekannt!“
Kam der Heiland, ein versöhnter Jude,
Und blieb sinnend vor dem Tore stehn.
Sage sanft und leise: „Trude -
Komm, du sollt jetzt auferstehn!“
Und Er löste sie von ihrem Zwirne,
Zog sie an sich, brüderlich und warm.
Und es schmiegte sich die Vorstadtdirne
Liebevoll in seinen Arm.
Lächelnd sprach sie: „Ach, ich gab mich Vielen -
Aber Keinem gab ich mich so gern!“
Und die ersten Morgenstrahlen fielen
Auf die Vorstadtdirne und den Herrn.7
(Die Weltbühne. 1923 - 19. Jg. Heft 38. 20. September 1923. S. 292)
Auch SvV.s Neffe Thomas von Vegesack hat den Inhalt eines „anrüchigen“, eines satirischen Dokuments überliefert:
Die Nazis hatten Menschen in Deutschland im Griff, ob Nazis, ob Widerständler - ob Dichter, ob Leser; so auch SvV.
Eine Einzelheit: Ein Beauftragter des Führers für die „Überwachung der geistigen und weltanschaulichen Schulungen“ im „Amt Rosenberg“ informierte die „Abteilung Vortragswesen“ - im Oktober 1935:
„Vom Ortsverband Danzig erfahren wir, dass auf Ihre Veranlassung Siegfried von Vegesack einen Vortragsabend in Danzig durchgeführt hat. Der Erfolg soll bescheiden gewesen sein, da die Leistung Vegesacks nicht sonderlich hochstand. Es wäre besser, dass die NS-Kulturgemeinde Vegesack nicht empfiehlt. Er ist durch seine frühere Tätigkeit schwer genug belastet, u.a. erschienen seine Beiträge in der Vossischen Zeitung. Es handelte sich teilweise um schmutziges, pornographisches Schrifttum.“
http://www.von-vegesack.de/pdf/vortr-thomas-ueber-siegfried.pdf
Was für Autoren oder Soziologen oder Mediziner als reale oder soziale oder Arbeitsmarkt-Probleme galten, waren für die Ideologen und Realitätsverächter, Rassisten und Gewaltstrategen „Schmutz“ oder „Pornographie“ – oder Vaterlandsverrat.
Fr. Hagengruber zeilt uns dieses scharfe, aber auch versöhnliche Dramulett mit (S.
~ * ~
SvV.:
Deutscher Okkultismus
Wir sind das Volk der wunderbaren Kulte
für alle Herrlichkeiten, die gewesen.
Wir schwärmen sehr für das Okkulte
und haben unsern Steiner8 brav gelesen.
Wir lieben unsre greisen Generäle,
besonders, wenn sie einen Krieg verloren.
Wir haben eine sehr okkulte Seele
und weniger okkulte Eselsohren.
Geduld, Geduld -
uns trifft gar keine Schuld:
Die deutsche Seele ist nun mal okkult!
Wir haben zwar kein Pulver, keine Waffen,
doch rüsten wir uns frisch zu neuen Taten:
Ein großes Volk hat immer was zu schaffen -
für neue Kriege gibt es neue Staaten.
Zwar ist der Westen leider uns verrammelt,
doch gibt’s im Osten frei Bahn dem Tüchtigen.
Was Gott in seiner Dämlichkeit verdammelt -
wir Deutsche werden unsre Feinde züchtigen!
Geduld, Geduld -
uns trifft gar keine Schuld:
Wir rüsten zwar - doch immer nur okkult!
Wir sind da Volk der freisten Demokraten,
der herrlichen und schönsten Republike:
sie füttert ihre alten Potentaten
und feiert ihr Prinzen mit Musike.
Ihr eignes Haupt nennt sie zwar „Landsverräter“
und wühlt in jedem Schmutz mit Wohlgefallen,
doch schützt und hätschelt sie die Attentäter,
die ihre besten Söhne niederknallen!
Geduld, Geduld -
uns trifft gar keine Schuld:
Die deutsche Republik ist noch etwas okkult! 9]
Natur – oder Gesellschaftsausdruck?
Von Blümchen und den Toten:
Eigenartige Szenen, Formen und Intentionen liegen für ein Motiv vor, das einzigartig in der modernen Lyrik ist: dem Gegensatz zwischen dem Vegetativ-Natürlich-Kreatürlichen und dem toten Menschlichen:
SvV:
Stiller Wunsch
Ich wollt', ich wäre eine Leiche,
Von der ihr in der Zeitung lest:
Man fand sie irgendwo in einem Teiche,
Ziemlich verwest.
Man wußte nicht, wie ich dorthin gekommen,
Und wer ich sei.
Als man mit Stangen mich herausgenommen,
Zerfiel der Brei.
Man wußte nicht, was nun mit mir beginnen:
Ich roch ganz toll.
Und schrieb darauf, nach einigem Besinnen,
Ein Protokoll.
Dann scharrte man mich ein an einer Kirchhofsmauer,
Denn keiner wußte, ob ein Christ ich bin.
Und nur ein Kind, im frommen Schauer,
Pflanzte ein Gänseblümchen heimlich hin! 10]
Mit dem Motiv der durch eine Blume geschmückten Leiche wird literarisch natürlich die Erinnerung an die großen Shakespeare-Vorlage der sich tötenden Hamlet-Geliebten Ophelia, aber auch an zeitgenössische Vergleichstexte wach, den weltliterarisches Format ausmacht: Gottfried Benns „Kleine Aster“. Ein weiteres Beispiel ist Friedrich Freiherr von Liliencrons (d. i. D. von L.) Text „Durchs Telephon“
*
Gottfried Benn:
Kleine Aster
Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt.
Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhelllila Aster
zwischen die Zähne geklemmt.
Als ich von der Brust aus
unter die Haut
mit einem langen Messer Zunge und Gaumen herausschnitt,
muß ich sie angestoßen haben, denn sie glitt
in das nebenliegende Gehirn.
Ich packte sie ihm in die Bauchhöhle
zwischen die Holzwolle,
als man zunähte.
Trinke dich satt in deiner Vase!
Ruhe sanft,
kleine Aster! 11]
*
Detlev von Liliencron:
Durchs Telephon
Die Rose, die du mir heut Morgen beim Abschied
In unserem Garten brachst
Und ins Knopfloch stecktest,
Damit ich im Gebrüll des Tages
Immer an dich erinnert sei,
Hat eine sonderbare Verwendung erfunden:
Ein Zufall führte mich
An den Sarg eines armen Knaben.
Weil der Sarg ohne jeden Schmuck war,
Legte ich deine frische Rose
auf die welken Hände des Bettlerkindes.
Ob nun beiden, ihm und der Rose,
Noch einmal ein neues Leben erblühen wird?
Vielleicht, dass Engel seiner schon harren,
Um ihm die Arme entgegen zu breiten,
Weil er entschwebte mit deiner Rose,
Die deine Liebe mir gebrochen hat.
: Schluss! 12]
Die Themen:
Suizid, Christentum nach dem urkommunistischen Verständnis, Großstadtleben, Prostitution, Armut, Elend, Arbeitslosigkeit, sozialistisches Politikverständnis...
Die in den sozialistisch-humanistischen Köpfen virulenten Ideen der jungen Autoren und Autorinnen der 30er Jahre sind einfach zu benennen, und kein Geheimnis in deren Werk:
Chancen zur Arbeit und sozialen Teilhabe, Menschlichkeit, Zugehörigkeit, Aufmerksamkeit, Gerechtigkeit, Ausgleich oder Anerkennung für Leiden, Beschaffung von Lebensnotwendigem, Solidarität...
*
SvV.:
Einzelhaft
Gefangen bist du ewiglich
In Einzelhaft, im harten Ich.
O Auge, das zum andern drängt
Und dennoch nie den Kerker sprengt.
O Hand, die stumm die andre preßt
Und dennoch nie sich selber läßt.
Mund, der sich dem Andern gib
Und dennoch lügt, auch wenn er leibt.
O Herz, das heiß am Andern klopft,
Doch nie sein Blut ins andre tropft.
In Einzelhaft, im harten Ich
Gefangen bist du ewiglich. 13]
**
Ein Zeugnis der persönlich realen, aber historisch irrealen Hoffnungen und seiner politischen Idealsetzungen:
SvV. beschrieb Weihnachten 1938 ein betrügerisches, national und sozial, insbesondere materiell-fiskalisch ersehntes "Faszinosum", ein national-deutsches, religiös unterlegtes Hoffnungsphänomen, nachdem Hitler den Frieden von Bad Godesberg versprochen hatte und öffentlich lügnerisch bekannte, er habe keine territorialen Ansprüche mehr:
Was Jahrhunderte versäumten
und den Größten nicht gelang -
was Millionen nur erträumten,
Einer ohne Blut erzwang:
Aus Zerrissenheit und Kleinheit,
Kleinmut Ohnmacht, Zwist und Zank:
die Geburt der deutschen Einheit, -
ihm, dem Einen, unser Dank."
Gedruckt wurde das Gedicht in dieser Form, abgeändert ohne Einwilligung des Autors:
Was Jahrhunderte versäumten
und den Größten nicht gelang -
was Millionen nur erträumten,
Einer ohne Blut bezwang:
Aus Erniedrigung und Kleinheit
Kleinmut, Ohnmacht, Zwist und Zank
die Geburt der deutschen Einheit, -
Dir, dem Einen, unser Dank!“
(Gedruckt in "Dem Führer. Worte Deutscher Dichter". Ein Tornisterheft des Oberkommandos der Wehrmacht. Heft 37.) - Von Vegesack hat diesen Text nach dem Scheitern des Faschismus selbst veröffentlicht und kritisch kommentiert. Vgl. in der Briefausgabe, ??)
Und an Prof. Marcel Beaufils, Paris, am 3.07.1935: „...Ich bin kein National-Sozialist, muss aber gestehen, dass ich vom ehrlichen Friedenswillen unseres Führers fest überzeugt bin.“ (Hagengruber, S. 159)
~ * * ~
Der Mensch und Dichter von Vegesack ist im politischen und sozialen Mitleiden, in seinen Hoffnungen und Träumen und – ja, auch: Fehleinschätzungen - ein markantes Beispiel für die Erwartungen und das konsequente Desaster der gesamten Nazi-Politik in den deutschen Staaten bis 1945.
SvV.s humanistische Gesinnung steht außer Zweifel; sein literarisches Bemühen ist im Nachvollzug etlicher stilistischer und formaler Zeitströmungen zu fassen. Originäres hat er hier nicht hervorgebracht. Er war ein Mittler der hohen, weltliterarischen und hauptstädtischen Themen Berlins ins die Provinz. Dort aber ist jegliche gewünschte Wirkung oder Rezeption eine vergebliche Liebesmühe geblieben.
Einzig in den Aspekten, die wir heute ökologisch nennen, im Tier- und Naturschutzgedanken - ist ihm ein bescheidener Erfolg gelungen; und in seinen fortschrittlich-liberalen religiösen Auffassungen, die einen der Weltoffenheit, der ökumenischen Toleranz verpflichteten Gottesbegriff als eines sprachlichen, universellen Zeichensymbol der christlich-menschenfreundlich-pazifistischen Humanität.
*
Hier aber soll der Dichter die letzten Worte behalten, mit zwei höchst unterschiedlichen Gedichten, die von den Inhalte und den verfügten Sprachmitteln her sehr unterschiedlich sind.
Eine solche große Brandbreite hat das Werk von Vegesacks, der in einigen entsetzlich umfassenden und politisch und sozial und ethisch furchtbar herausfordernden Jahrzehnten des mörderischen und im Neuanfang wunderbaren 20. Jahrhunderts lebte, schrieb, litt und für Menschen und Menschlichkeit stritt.
Deshalb hier die Momente zum Gedenken, Nach-, Mit- und Vor-Denken:
Siegfried von Vegesack:
Deutschland
Nicht laut rühmen will ich dich, mit
Schmerzen geliebtes Land,
wie wir auch unsere Mutter nicht rühmen
und uns mit ihr brüsten
Leise nur will ich streicheln deine
zerfurchte Hand, Deutschland!
Wenn wir Deutschen doch mehr um dein
wahres Wesen wüssten!
Zerrissen in Nord und Süd, in Ost
und West,
selbst in deinem Gott, zu dem du betest,
gespalten,
zwischen Meer und Gebirge und fremde Völker
gepresst,
und nur durch bittere Not zusammengehalten,
Steiniger, karger Boden, mühselig
bestellt,
zu arm, um all deine Kinder zu nähren.
Immer düngt
dein Blut fremdes Ackerfeld,
und deine Ströme münden in fremden
Meeren.
Immer ist deine Erde hart und dein
Himmel grau.
Kein Gott hat sich bei deiner Schöpfung
verschwendet.
Immer bist du im Aufbruch, im Umbruch, im Bau.
Ewig
bleibst du, wie deine Dome, unvollendet.
Und doch will ich tauschen mit keinem
Land der Welt.
Neidlos gönn' ich den andern ihr Glück und sattes
Behagen.
Mit Schmerzen geliebtes Land, aufgerissenes, aufgewühltes
Feld,
immer tiefer nur will ich in deine Erde die Wurzeln
schlagen!
(Ein Papierfund: Entstehung unbestimmt; unbekannte Quelle; wohl ungedruckter Text)
**
Der Zopfabschneider
Ihr sammelt Briefmarken, Käfer und Schmetterlinge,
Lauter törichte Dinge,
An denen nichts ist.
Was wißt
Ihr von meinen heimlichen Seligkeiten,
Wen die kleinen Mädchen vor mir her schreiten,
Und ich ihnen folge, wie der Jäger dem edlen Wild,
Bis meine Raubgier gestillt?
Ich tu ihnen ja nichts zu Leide:
Sie fühlen es nicht,
Wenn ich dicht
Unterm Hals das Zöpfchen vom Köpfchen schneide.
Ihr habt eure Mädchen und eure Weiber,
Laute rohe Leiber,
An denen nicht ist.
Was wißt
Ihr von meinen heimlichen Seligkeiten,
Wenn die Zöpfe knisternd durch meine Finger gleiten
Weich und schwer?
Und wie ein Meer
Sich die duftenden Haaren um mich breiten?
Oh, ich hab Zöpfe, die wie aus Golde sind,
Licht und blond,
Wie Korn; das von Sommersonne durchsonnt
Leuchtend durch meine Finger rinnt.
Andre sind blauschwarz wie die Nacht.
Und einen hab ich heimgebracht,
Den berühr ich nur ganz selten, Jahr für Jahr,
Ganz leise in knabenscheuer
Sehnsucht: es brennt wie Feuer
Das rotte, rote, lodernde Haar.
Manche sind wie gefährliche Schlangen,
Die weich und kühl
Im zärtlichen Spiel
Sich schmiegen an meine blassen Wangen.
Und andre, die so keusch und voller Unschuld sind,
Daß ich sie nur bebend, wie eine Kind,
Berühren kann mit scheuem Verlangen.
Welche Fülle! Und welche Glätte!
Wie himmlisch gewellt!
Oh, wen ich doch alle Zöpfe dieser Welt
In meinen behutsamen Händen hätte!
Ach, wann finde ich ihn, den schönsten von allen,
Schwer wie Gold,
Wie eine Kupferschlange zusammengerollt,
Wie aus Sonnenstrahlen ein schimmernder Ballen?
Ihn will ich mit meinen Lippen berühren,
Liebkosend um meinen Nacken führen,
Daß ich in seinen Düften versinke,
Bis er fest
Um den Hals sich mir presst, -
Und ich lächelnd in seiner süßen Schlinge ertrinke.
*
(1922 verfasst; zuerst veröffentlicht in: „Lieder der Gosse“.
Hrsg. v. Willy Stiewe und Hans Philipp Weitz. Berlin Guido Hackebeil 1922.42ff.)
In diesem Büchlein finden sich Lieder- und Satire-Autoren wie Klabund, Arno Holz und Hans Philipp Weit. Motive, Titel und Themen sind ähnlich dem Vegesackschen: Vagaaenlied, Dirnelied (Hans Philipp Weit) und „Ludenlied“ (von Hans Hyan).
Im Vorwort führen Weitz und Stiewe aus:
*
Ach, herrjeminee: Es gibt auch (wieder) in unserer westlich zivilierten Kultur Zopfabschneider:
*
Siegfried von Vegesack: Mutterwort
Muttersprache, Mutterwort -
Wunderbau, gefügt aus: Lauf und Klang -
wie viel längst verstummte Stimmen bauten fort und fort,
Jahr um. Jahr, Jahrtausend lang,
an dem Bau, der unser eigen ist,
wo du wie ein Kind zu Hause bist,
altererbtes, altvertrautes Haus,
wo schon Ahn und Urahn gingen ein und aus,
wo noch wohnen werden Kind und Kindeskind
und wir alle unter einem Dach geboren sind…
Heimat, die - und wenn auch alles stürzt - uns bleib
Heim. aus dem uns keine Macht vertreibt.
unser aller Zuflucht. Trost und Hort:
Muttersprache, Mutterwort!
*
(Mir sind keine Daten zur
Entstehung bekannt. – Erstdruck nach Angaben auf dem Ausriss: in
den „Baltischen Briefen“; unbekannten Datums.)
Von Vegesacks Themen sind mit denen der großen Lyriker der 30er Jahre teils identisch, teils verwandt, mit Klabund, Erich Kästner, Kurt Tucholsky, Mascha Kaléko, Bertolt Brecht, Walther Mehring: Großstadtleben, Prostitution, Armut, Elend, Suizid, Arbeitslosigkeit, Christentum nach dem urkommunistischen Verständnis, sozialistisches Politikverständnis...
Die in den sozialistisch-humanistischen Köpfen virulenten Ideen sind einfach zu benennen und kein Geheimnis in deren Werken (sie bedürfen allerdings auch im 22. Jh. der Grundierung, der farbigen Darstellung und des Interesses der Idealisten und Mediatoren):
Mitleid, Appelle, Empathie, Aufrufe für soziale Chancen:
für Recht auf Arbeit und Möglichkeit zur sozialen Teilhabe; Mitmenschlichkeit, sozial gerechte und stabile Zugehörigkeit, emotionale und gedankliche Aufmerksamkeit, politische Gerechtigkeit, Ausgleich oder Anerkennung für Leiden, demokratische Defizite, Beschaffung von Lebensnotwendigem, Chancen auf Solidarität...!
Nur noch dieser Nach-Gedanke: Ich habe zu danken – und wir als Siegfried-von-Vegesack-Leser haben zu gedenken.
Er hat uns ein Stück Zukunft hinterlassen, in Deutschland, in Europa, in der Welt, im Sternall – über diese einmalige, kleine Welt hinaus: von seinem Turm aus sind wird losgegangen – und konnten seiner Sprache und seinem humanen Sinn vertrauen. Jeder der will und sich sprachlich-literarisch führen mag – kann ankommen, woher er uns noch verfügbar ist, nahe bleiben wird.
Politisch galten vielen dieser Autoren die Idee und der Ruf nach 'Paneuropa' für wichtig; er ist in Aktionen, Briefen, Texten formuliert.
Historisch nachgeforscht mit der Wikipedia: „Die Paneuropa-Union (alternative Schreibweise Paneuropaunion) wurde 1922 gegründet und ist damit die älteste noch bestehende europäische Einigungsbewegung. Sie hatte den historischen Sitz in ihrem Zentralbüro in der Wiener Hofburg und gilt als Panbewegung. Die Paneuropa-Union tritt im Sinne des europäischen Föderalismus für ein politisch und wirtschaftlich geeintes, demokratisches und friedliches Europa auf Grundlage des christlich-abendländischen Wertefundaments ein. (…)
https://de.wikipedia.org/wiki/Paneuropa-Union
Wichtige, Vorkriegs-Verteter der Paneuropa-Union:
https://de.wikipedia.org/wiki/Paneuropa-Union#Prominente_Mitglieder
SvV: Wie ich die zwölf Jahre erlebte. Eine Rechenschaft.1966
1 Veröffentlichung am 5. 3. 1926. Abdruck nach Lesebuch Weimarer Republik. Hrsg. V. Stephan Reinhardt. Berlin 1982: Klaus Wagenbach Verlag. S. 140.
2 Hagengruber S. 106f. Indirekt zu erschließen: Erstdruck im Simplizissimus“. Zum Zusammenhang: V.s Brief an den Livonen-Philister-Verein. 26.07.26. Hagengruber S. 107f.
3 Zuerst in "Weltbühne". 1923. Hier zitiert nach der Ausgabe der Briefe von Vegesacks: Briefe 1914 - 1971. Hrsg. v. Marianne Hagengruber. Grafenau: Morsak Verlag. 1988. S. 74f. - In Niederschönenfeld waren Protagonisten (sog. Rädelsführer) der Bayerischen Räterepublik gefangen, z.B. auch von Vegesacks Freund Erich Mühsam. -
4 In: „Die Weltbühne“. 15.04.1920. (Hagengruber, S. 66f.)
5 Mitgeteilt als „Beilage II“, in: SvV.: Wie ich die zwölf Jahre erlebte. 1933 – 1945. Eine Rechenschaft. (Zitiert aus dem Typoskript.) Weißenstein o. J. [1963].
6] Anmerkungen zum Text: Herbert Clark Hoover (10. 08.1874 - 20.10.1964 war der 31. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika zwischen 1929 und 1933.
Die Erwartungen an ihn waren sehr groß. Von den Menschen und den Medien wurde er als genialer Technokrat angesehen, der die Wirtschaft effizient handhaben und dem gesamten Land zu Wohlstand verhelfen würde. Die einsetzende Weltwirtschaftskrise machte der erfolgreichen Hoover-Show ein Ende.
Er unterschätzte die Auswirkungen der Großen Depression. Er forderte die Bürger auf, in den blauen Himmel der wirtschaftlichen Zukunft gerne und gut verdienend zu sehen. Hoover fürchtete, dass zu viel politische und finanzielle Unterstützung durch Regierungs-Programme schädlich für den amerikanischen Individualismus wäre und die Moral der am eigenn Erfolg orientierten Bürger schwächen würde.
Vgl.:
http://de.wikipedia.org/wiki/Herbert_C._Hoover
*
„Bushel“ (in biblischer Sprache ‚Scheffel’; er umfasst 36,35 Liter): Maßeinheit für Weizen.
„So hat der Weizenpreis in den vergangenen Monaten deutlich angezogen, da der Markt eine Minderernte in den amerikanischen Bundesstaaten Kansas bis Montana aufgrund zu trockenen Wetters befürchtete. Kostete das Bushel Weizen an der Terminbörse in Chicago im November des vergangenen Jahres noch 297 Cents, so war es zu Beginn der Woche 426 Cents oder etwa 44 Prozent mehr wert. Diese Entwicklung ist bemerkenswert, da die Vereinigten Staaten hinter China und Indien die drittgrößten Weizenanbauer und der größte Exporteur weltweit sind. (FAZ vom 26. Mai 2006):
Vgl.:
7] Zuerst in: Die Schaubühne. 19. Jg. 1923. S. 292. - Nachgedruckt in: Killy, Walther (Hrsg.): Epochen der deutschen Lyrik. Bd. 9. 1900 - 1960. dtv 4023. S. 206
8] „teiner“: Gemeint ist der Anthroposoph Rudolf Steiner, der SvV sehr gut bekannt war durch die Mystifikationen und den politischen Irrgang, den er am Lebensbeispiel seiner Frau Clara Nordström lebensnah verfolgen konnte, ja ihn erleidend als Ausdruck seines Widerstands bewältigen musste.
9] Zuerst in: Die Schaubühne. 21. Jg. 1925. S. 292. Nachgedruckt in: Killy, Walther (Hrsg.): Epochen der deutschen Lyrik. Bd. 9. 1900 - 1960. dtv 4023. S. 218.
10] Zuerst gedruckt in: Die Weltbühne. 23. Jg. 1927. S. 139. - Vgl. Walter Killy (Hrsg.): Epochen der deutschen Lyrik. Bd. 9. Erster Teil. Hrsg. v. Gisela Lindemann. München 1974: dtv 4023. S. 231f. - Literarisch betrachtet liegt auf diesem Sterbe- und Totsein-Wunsch ein leichter Abglanz von anderen, frühere Versen: Gottfried Benns Todes-Drama „Rue Morgue“:
Kleine Aster
Ein
ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt.
Irgendeiner
hatte ihm eine dunkelhellila Aster
zwischen die Zähne
geklemmt.
Als ich von der Brust aus
unter der Haut
mit
einem langen Messer
Zunge und Gaumen herausschnitt,
muß ich
sie angestoßen haben, denn sie glitt
in das nebenliegende
Gehirn.
Ich packte sie ihm in die Brusthöhle
zwischen die
Holzwolle,
als man zunähte.
Trinke dich satt in deiner
Vase!
Ruhe sanft,
kleine Aster!
11] Erstdruck: G.B.: Morgue und andere Gedichte von Gottfried Benn. Berlin-Wilmersdorf 1912. [unpaginierte Ausgabe] - Vgl. Walter Killy (Hrsg.): Epochen der deutschen Lyrik. Bd. 9. Erster Teil. Hrsg. v. Gisela Lindemann. München 1974: dtv 4023. S. 107.
12] Zuerst in: Die Insel. 2. Jg. 1900. S. 84. - Vgl. Walter Killy (Hrsg.): Epochen der deutschen Lyrik. Bd. 9. Erster Teil. Hrsg. v. Gisela Lindemann. München 1974: dtv 4023. S. 30.
13 In: Die Weltbühne. 22.I.1926. 14. Jg. S. 546
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