Sonntag, 12. April 2020

Wenn ein Theologe sich über Euthanasie


                                                           Wappen von Papst Franiscus

Euthanasie?

Ein Theologe wütet gegen das Verfassungsgericht

Darf ich erinnern an das BVerfGericht mit seinem Urteil: 
 
BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020
- 2 BvR 2347/15 -, Rn. (1-343),
a) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. (…)
https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/02/rs20200226_2bvr234715.html

Guten Tag, Herr Lüke:

Ihr Artikel als Wort zum Sonntag, über Euthanasie:
Das BuVerfassGer hat den Beergiff Euthanasie sehr vorischtig geraucht, wenn er andere, z.B. den Bundestag in seinem Gesetz zur Euthanise erwähnt.
Er bekräftigt aussdrücklich das Recht des Individuums: c) Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.

Nach einer Woche kam ein Leserbrief in der RZ, abgedruckt v. 16.03.2020, der leise, zaghaft widerprach. Deshalb noch mein Brief:

Sie schreiben aus einer Warte, eines Theologen, der den Willen Gottes weiß ... oder ihn verkündet und hochheilig hält: So sind alle Suizidanten, die dem Sprachgericht des Herrn anvertraut werden (um es gelinde zu sagen, euphemistisch) ...  von der Euthanasie gepackt? Dem GeRicht unterworfen?

Yeah. Ein Psychoanalytiker konnte zu Ihrem Worten  Angstlust vermuten, und Ihre Es, Ich und Überich ... als sehr stark strukturiert analysieren, nicht an den Fällen der Lebenden, sondern nach Ihrem "Gemüt"; nicht den Gefequälten – sondern an Ihrem GeRicht als der absoluten Instanz.
Etwa 10.000 Suizidanten, vulgo: Selbstmord, begehen in der BRD jährlich den Freitod. Darunter die vielen Sterbewilligen, die ihr Schicksal selber bestimmen wollen.
Kathpäd diktiert: Euthanasie oder Aktive Sterbehilfe ist die schmerzlose Herbeiführung des Todes durch narkotische Mittel, um den hoffnungslos Kranken von den Schmerzen zu befreien oder, in weitem Sinne, um körperlich oder geistig "minderwertige" Personen schmerzlos zu beseitigen. Sie ist als unberechtigter Eingriff in ein Menschenleben niemals gestattet, auch wenn der Kranke selbst darum bittet.
Von der Euthanasie führte ein direkter Weg in die Endlösung.“ (Kwiet, Konrad: Rassenpolitik und Völkermord. In: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, Berlin: 1997. S. 146)
Von Euthanasie zu sprechen, müsste sich historisch oder seelsorgerlich verbieten, wenn man nicht einen höheren Daseinsaufttag erfüllen muss, ja: muss. Eine Litanei für Betschwester und Bischof und .. (Ja, deren Bedürfnisse achte ich freilich!) - Nur Sie erstreben wissenschaftliche Aussagen – irgendwie! Wenn sich ein Individuum, medizinisch und qualifiziert ausspricht für Sterbehilfe, hat kein Seelsorger das Recht dies als Euthanasie zu diffamieren: Fast 10.000 Suizide im Jahr in Deutschland können Sie ohnehin nicht mehr erreichen; das dürfte ein Minus an unereichbarer, seelsorgerlicher Arbeit bedeuten ... (Ja, ich hach auch Suizdanten in der Telefonseelsorge im Gasthaus gesprochen; wobei man nicht weiss, ob ich helfen konnte.)
Das ist ein guter, lyrischer Tipp:
Reiner Kunze:
Selbstmord
Die letzte aller Türen
Doch nie hat man
an alle schon geklopft.
(In: R. K.: Zimmerlautstärke. 1972. S. 21)

Die formal logischen Konsequenzen in der Konstruktion sind nicht besser als Sabbereien von Hitler, Goebbels oder Paulus: Sie verwechseln alles, was menschlich-komunikativ-geschichtlich ist, mit dem GeRede, das den Inhalts- und Beziehungsanspekt der Kommunikation verwelchselt.:
1.Kor 15, 14-26: Wenn Christus nicht auferstanden ist, dann ist all unsere Predigt und euer ganzer Glaube sinnlos. (…) Inhaltloses GeSchwätz, das sich in Corona-Zeiten absolut absurd gebärdet. Wir sind alle Menschlein, die der Teilnahme, der Liebe, der Empathie bedürfen. Auferstehung heißt, das wir andere nicht gefährden.- So gebärdet sich Ideologie! Aller Prunk&Protz, alles Verstecken&Verdecken, alle mobilen& immobilen Reichtümer ... helfen nimmer: Das fehlt die Liebe, die sich als Liebe zeigen muss! - Übrigens ein Mann, wie unser Papsst Francisus kann es verkörpern, er es uns überzeugen (nach meinem Bedürfnis).
Ich habe gerade Ihre Artikelsammlung Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom  verliehen: Haben Sie dabei je für Suizid gesprochen? Ich glaube, Sie haben das Thema Suizid - oder vulgo: Selbstmord – noch nie angesprochen. Da befürchten Sie einen Dammbruch: Aber, Sie sagen sich wohl: Gott soll es richten!
Ein anderer Beispiel, bitte, von einer naheliegenden Disziplin, den Geistes-wissenschaften: Thomas Mann an die Friederike Zweig (Zweigs erster Frau), nach dem Suizid von Lotte und Stefan Zweig (1942): Er sagte nach dem Suizid: Nie sei »mit tieferer Bescheidenheit, feinerer Scham und ungeheuchelterer Demut ein Weltruhm getragen worden … Sein Weltruhm war wohlverdient und es ist tragisch, daß die seelische Widerstandskraft dieses hochbegabten Menschen unter dem schweren Druck der Zeit zusammengebrochen ist ... Niemand weiß, in welchem Maß er seinen überall hinreichenden Einfluß, seine hohen Einkünfte, an denen ihm nichts lag, benutzt hat, zu fördern, zu retten, zu unterstützen. Sein literarischer Ruhm wird zur Sage werden wie der jenes anderen großen Pazifisten, des Rotterdamers*]. Aber Liebe wird dem Andenken dieses Sanften, Grundgütigen bleiben.«

Und wie kann man sich in unserer Gemeinschaft von einer Schuld  befreien, wenn er sich an unseren Rechten wie Liebe oder Freiheit oder die individuellen Werte versündigt hat? 

*] Anspielung auf Zweigs Werk über den Erasmus von Rotterdam.

Anton Stephan Reyntjes, Recklinghausen


                                                          Sigmund Freud, als Montage


Donnerstag, 2. April 2020

Von der Militär-s e e l s o r g e

Von deutscher  Militär-S e e l s o r g e

1. "'Unehelich' - ein Todesopfer: Fedor Baranowski" (Aus: Albrecht Goes: Unruhige Zeit; im Anhang!


2. Josef Perau als katholischer Militärseesorger: seine Beobachtungen am 15.3.1944; er hat ein Massenhaftes Verbrechen bemerkt, das er selbst später als "Verbrechen der deutschen Wehrmacht" benannt hat:
                                             Textilfetzen, der kein Rotes Kreuz mehr ergab




Rudobelka, den 15. 3. 1944 [in den Pripjetsümpfen; Sowjetunion; eigentl. Prypjatsümpfe]
(in Peraus Erinnerungen aufgezeichnet als "Priester im Heere Hitlers". 1961. hier S. 159-161)
Ich hatte geglaubt, ich hätte schon alle Schrecken dieses Krieges gesehen, aber in den letzten Tagen rollte ein Trauerspiel vor uns ab, wie es selbst Dostojewski nicht zu malen wagte. Es werden hier in einem großen stacheldrahtumzäunten Lager unter freiem Himmel die Zivilisten der ganzen Umgebung zusammengepfercht. Die arbeitsfähigen Männer und Frauen kommen nach Deutschland, die andern werden in einen vorspringenden Frontbogen getrieben, der in einer Nacht zurückgenommen wird - und alle sind beim Russen, der dann für sie sorgen muß. So sagt man mir wenigstens. Als Grund wird angegeben, die Dörfer seien Ansteckungsherde des Fleckfiebers und Partisanennester. Wenn man in die Gegend des Lagers kommt, bietet sich ein Bild des Schreckens. Das ganze Feld ist übersät mit dem Hab und Gut dieser Menschen, das sie nicht weiter mitschleppen konnten. Ich wurde ganz unvorbereitet mit dem Furchtbaren konfrontiert. Ich kam ahnungslos von der H.K.L. zurück. Es fiel ein feiner Nieselregen. die Dunkelheit brach ein. Ich spürte die Veränderung zuerst an einem seltsamen erregenden Geräusch, welches ich nicht näher bestimmen konnte, bis ich in der Ferne das Lager entdeckte. Ein ununterbrochenes leises Wehklagen vieler Stimmen stieg daraus zum Himmel auf. Und dann sah ich, wie man gerade vor mir die Leiche eines alten Mannes abschleppte wie ein Stück Vieh. Man hatte einen Strick um sein Bein gebunden. Eine Greisin lag tot am Wege mit frischer Schußwunde in der Stirn. Ein Posten der Feldgendarmerie belehrte mich weiter. Er wies auf ein paar Bündel im Dreck hin: Tote Kinder, über die er ein Kissen gelegt hatte. Frauen haben ihre Kinder, die sie nicht mehr tragen konnten, am Wege liegen lassen. Auch sie wurden erschossen, wie überhaupt alles »umgelegt" wird, was wegen Krankheit, Alter und Schwäche nicht mehr weiter kann. Ein San.Offizier, dem ich erregt davon berichten wollte, wies mich überlegen ab: »Herr Pfarrer, das überlassen Sie nur uns. Im habe selber aus Mitleid ein paar hilflose Kinder erschossen. Deutschland ist schnell wieder ein Kulturvolk, wenn es diesen Krieg gewonnen hat." So reden aber nur sehr wenige aus der ordentlichen Wehrmacht. Die Soldaten, die diese Dinge nicht aus ethischen Gründen ablehnen, tun es wenigstens aus dem Gedanken: Was wird uns geschehen, wenn wir in Gefangenschaft geraten? Was wird Deutschland geschehen, wenn es den Krieg verliert? Man sagt, die Aktion werde vom S.D.1] durchgeführt. Aber die Truppe ist wenigstens am Rande beteiligt. Der Gottesdienst in Portschje mußte ja ausfallen, weil die Truppe zur »Evakuierung" von Zivilisten eingesetzt war. Das klang harmlos, und die Männer werden selber nicht gewußt haben, wem sie die Leute auslieferten.
Ich saß lange wie gelähmt bei meinem Mitbruder. San.Uffz. Staab, der diese Greuel schon mehrere Tage mitansehen mußte. Aus einiger Entfernung sah ich heute einen General das Feld des Elends entlangreiten. Was mag in den hohen Militärs vorgehen angesichts dieser Dinge. Einen Augenblick kam mir der Gedanke, ich müsse vor ihn hintreten und im Namen Gottes Rechenschaft fordern. Aber der Geist reichte nicht zum Propheten. Ich habe lediglich in allen Gesprächen offen meinen Abscheu kundgetan und einige Kameraden abgehalten, sich am umherliegenden Gut dieser armen Menschen zu bereichern. Sie wollten schon gestickte Decken an ihre Frauen schicken.
Dieser Krieg ist eine furchtbare Katastrophe des autonomen Humanismus. Es geschieht, was Dostojewski in den "Dämonen" prophetisch voraussah: "Zurück zu Christus und Rettung des Humanen oder Versinken in Barbarei und Untermenschentum." Es ist nur die Frage, so ungefähr schreibt er, "ob der moderne Mensch noch an Christus glauben kann". An uns ist es nun also, dem modernen Menschen Christus so zu verkünden in unserm Leben und in der Gestalt der Kirche, daß der suchende Mensch den erkennt, den er sucht. Unsere Antwort auf diese Herausforderung der Hölle kann nur vermehrte Hingabe sein.

Anm.:
1]  S.D.:  Von Perau selber im Buch identifiziert als “Sicherheitsdiens (SS-Truppen)“                                                                                                           

Im Urlauberzug Richtung Heimat, den 13. 4. 1944:
Vom 15. bis 20. 3. war ich unterwegs beim I.R. 428. Es war sehr schlimmes Wetter, Schneesturm, aufgeweichte Wege. Wir fanden keine Fahrgelegenheit.
Am ersten Tag legten wir unter diesen Umständen 35 km zu Fuß zurück. Am Ziel hatte ich gleich Beerdigung. Am zweiten Tag vier Gottesdienste auf den Kompaniegefechtsständen eines Bataillons. Wieder mußten 25 km zu Fuß zurückgelegt werden. Der folgende Tag war frei. Sonntag zweimal hl. Messe in einer sehr kalten zugigen Scheune und abends noch eine in einem Bunker der Protzenstellung. Montag ging es 15 km zu Fuß und den Rest des Weges auf einem Pferdewagen zurück. Nachts hatten wir in den ersten Tagen, nur in den Übermantel gehüllt, auf einem Bretterfußboden geschlafen, da weder Stroh noch Decken vorhanden waren. Als ich in unserm Quartier ankam, spürte ich Fieber, welches bald auf 39 Grad stieg. Es hielt sich fast drei Wochen, zuletzt als erhöhte Temperatur.
Am Gründonnerstag trat eine gewisse Wendung zum Besseren ein. Ostersonntag konnte ich wieder zelebrieren und durfte Ostermontag den Urlauberzug besteigen. Die Division gab mir 4 Wochen zur Wiederherstellung der Gesundheit. Zu Beginn der Fahrt war ich noch sehr hinfällig. Jetzt bin ich schon kräftiger, da ich unterwegs viel liegen konnte. Wir fahren in den herrlichsten Frühling hinein. Hier in Pommern schon bekommen die Trauerweiden zarte grüne Schleier und der Flieder dicke Knospen. In den Gärten arbeiten zwischen blühenden Krokus die Menschen in milder Sonne. Wie wird es erst zu Hause sein!

* *

Die Novelle von Albrecht Goes ist wohl bekannt; auch als Druck in der RECLAM-Ausgabe (RUB # 8458) vorrätig in Buchhandlungen.

Die Erinnerungen vovn Josef Perau  sind völlig vom Buchmarkt verschwunden und theologisch unbeachtet geblieben:

 
Albrecht Goes, in der Novelle Unruhie Nacht:

„Unehelich“? Analog zu Ihren Beitrag in der RZ vom (letzten Juli)...

Ich erinnerte mich an einen anderen Fall von „unehelich“; ja, ich weiß - einen fiktiven Fall, der so viel Erfahrung hat, wie nur ein Armeepfarrer aufbieten kann: Von Albrecht Goes, aus der Novelle „Unruhige Nacht“:
„Hier der Tatbestand“, so leitet der Armeepfarrer als Ich-Erzähler das 7. Kapitel ein, der sich einem Totenkandidaten lt. Kriegsgerichtsurteil gegenüber sieht, mit dem er sich frühmorgens, vor Morgengrauen, zu befassen hat (in der Ukraine, Dezember 1942; erzählt 1950):
Fedor Baranowski, geboren 19 November 1920 in Küstrin, als uneheliches Kind einer Kontoristin.
Der Vater ein verheirateter, polnisch sprechender Schreiner deutscher Staatsangehörigkeit. Von ihm fehlt jede Notiz, es gibt weder eine Anerkennung der Vaterschaft noch Beurkundungen einer Unterhaltspflicht. Aber auch die Mutter, die sich bald nach der Geburt dieses Kindes mit einem Textilhändler namens Hoffmann verheiratet hat, hielt zu ihrem Kind nur eine ganz lose Verbindung aufrecht. Fedor kam in eine Gärtnerei, dann zu einem Altwarenhändler nach Danzig, dann wieder zurück nach Küstrin.Von regelmäßigem Schulbesuch scheint keine Rede gewesen zu sein, auch von Berufsausbildung war nichts zu erfahren. Bei Kriegsausbruch wird Baranowski Soldat. Zu denken, daß ihm in irgendeiner Kaserne zum erstenmal im Leben das zuteil wird, was für andere zur Kindheit gehört: ein geordneter Mittags- und Abendtisch. ein eigenes Bett, regelmäßige Nachtruhe. Die Kaserne als Heimat. Wie sehr das in diesem Falle galt, mit allen Konsequenzen, macht eine Bemerkung deutlich, die sich in einer übrigens ausgesprochen günstigen - Beurteilung findet: - 'erhielt nie Post und keine Weihnachtsgeschenke'. (Ein anscheinend besonders schneidiger Regimentskommandeur, der diesen Bericht seines Kompaniechefs vorzulegen hatte, sah sich veranlaßt, an dieser Stelle an den Rand zu schreiben: Berichte sind keine Gedichte.)
Nicht weniger nachdenklich aber stimmt die Notiz: 'geht nie zu Mädchen.' Sie steht im Zeugnis des Truppenführers aus der Heimat.
'B.'- heißt es dort - 'ein stiller, ordentlicher Soldat, der nirgends besonders hervortritt. Lebt mäßig, keine auffallenden Interessen, geht nie zu Mädchen.' Es folgen Berichte über den Fronteinsatz, über zweimalige Verwundung, Verleihung des Eisernen Kreuzes zweiter Klasse, Beförderung zum Gefreiten und zum Obergefreiten; nach der zweiten Verwundung, einem Schuß durch die Kniescheibe, kommt die Versetzung ins rückwärtige Heeresgebiet, der Einsatz in einer Bautruppe. Dort wird Baranowski mit Rücksicht auf seine Gesundheit in der Küche beschäftigt, und hier werden zum erstenmal die polnischen und russischen Sprachkenntnisse erwähnt. Woher diese Sprachkenntnisse stammen ist nicht ganz aufgehellt, vermutlich aus Baranowskis Danziger Kinderjahren. Jedenfalls sind sie der Grund dafür, daß Baranowski vom Zahlmeister seiner neuen Einheit dann und wann zu Einkäufen in die Umgebung geschickt wird. Die Truppe selbst, die einen, wie es scheint, besonders geheimen Bauauftrag durchzuführen hatte, war um .der Geheimhaltung willen sehr streng von der Zivilbevölkerung geschieden. Nirgends waren, wie sonst üblich, Ukrainer und Ukrainerinnen mit eingesetzt, es gab besondere Sperrkreise und Ausgehverbote. Baranowski aber, der Sprachkundige, geht in die Dörfer als Eier- und Gemüseeinkäufer.
Nun Ljuba. Wenig genug war in Erfahrung zu bringen über die Ukrainerin, die so tief mit ins Netz verstrickt ist. Man wird sich den Vorgang etwa folgendermaßen zu denken haben: Baranowski lernt in einem von diesen Dörfern die Ljuba kennen, eine wahrscheinlich ganz junge, ukrainische Witwe, deren Mann in den Julikämpfen gefallen war, Mutter eines Kindes, das zu dieser Zeit etwa zwei Jahre alt gewesen sein muß. Es gibt Grunde für die Vermutung, daß es zunächst mehr dieses Kind gewesen ist, das in Baranowskis Soldatendasein eine besondere Bedeutung gewann. Der Gruß eines Kindes, die Quelle in der Wüste: man versteht, daß er festhalten wollte, was ihm da das Leben bereitete. Nun hing es mit den Bauarbeiten der Truppe zusammen, daß der Standort mehr als einmal wechselte. Von diesen Verlegungen pflegte Baranowski die Ljuba zu unterrichten, vielleicht hatten auch Zusammenkünfte am dritten Ort stattgefunden, genug: es gab Briefe, und die Briefe wurden ihm zum Verhängnis. Bei einer Razzia der SS fielen eine Anzahl dieser kleinen Briefe dem Suchkommando in die Hand, und unseligerweise war ein Teil dieser Briefe auf die leere Rückseite von Verpflegungsformularen geschrieben. Jede Truppeneinheit führte solche Blocks mit sich, gut möglich, daß sie Baranowski weitgehend überantwortet waren, genug: das Kriegsgericht hatte leichtes Spiel, der Schreiber war bald festgestellt, und Ausflüchte gab es nicht. Die Mitteilungen waren an sich völlig harmlos, immerhin hatten sie die Standorte einer Wehrmachteinheit Zur Kenntnis der Ukrainer gebracht; das Partisanenwesen war auch in diesem Abschnitt eine ständige Bedrohung - kurz: die Anklage lautete auf 'Verrat militärischer Geheimnisse' der Strafantrag auf fünf Jahre Zuchthaus, die Strafe selbst fiel etwas milder aus; die Bemühungen einiger Dienststellen, dem Obergefreiten Baranowski zu helfen, waren offenkundig, im Grunde freilich war ihm, so wie die Gesetze formuliert waren, auf keine Weise zu helfen.
In Rowno hatte die Hauptverhandlung stattgefunden, in Dubno befand sich zu jener Zeit das größte Wehrmachtgefängnis. Dorthin sollte der Verurteilte gebracht werden, um von dort aus wahrscheinlich in eine Strafkompanie oder em sogenanntes Bewährungsbataillon zu kommen. Die Strafe selbst durfte nach Hitlers Anordnungen erst 'nach Kriegsende' verbüßt werden; aber wer in einer Strafkompanie das Kriegsende erleben wollte, der mußte schon einen sonderlichen Engel zur Seite haben ... Auf der Fahrt nach Dubno gelang es dem Häftling, aus dem fahrenden Zug zu springen. Er blieb, ein wahres Wunder, fast unverletzt und war dann, dank seiner Sprachkenntnisse und bald genug wohl auch mit Hilfe einiger Verkleidung im ukrainischen Zivilleben untergetaucht. Man fahndete nach ihm, aber er blieb verschwunden.
Drei Wochen später ereignete sich Folgendes: ein Waldstück, in dem Partisanengruppen sich aufhalten sollten, wurde durchgekämmt und mit zahlreichen anderen Männern, Frauen und Kindern, die da im Wald gelebt hatten, wurde auch Baranowski gestellt. Man trieb sie zusammen, und der Zufall wollte es, daß gerade in dem Dorf, in dem man sie zum Verhör sammelte, Baranowskis ehemalige Truppe im Augenblick stationiert war. Die Partisanen standen mit erhobenen Händen auf einem Platz, man suchte eben nach einem Dolmetscher, um mit dem Verhör zu beginnen, da ging ein Feldwebel von Baranowskis Einheit eilig vorüber, warf einen flüchtigen Blick auf die Zivilisten, stutzte, trat näher, erkannte seinen ehemaligen Küchenchef und rief in lauter Überraschung: »Mensch, Baranowski, was tun Sie denn hier?«
Dies war das Ende. Was mit den Zusammengetriebenen (unter denen sich übrigens Ljuba und ihr Kind nicht befanden) an diesem Tage geschah, ist nicht bekannt geworden; Baranowski selbst aber wurde auf der Stelle verhaftet und in Fesseln nach Proskurow gebracht. Hier fand dann 5. September die zweite Verhandlung statt. Sie schien sehr kurz gewesen zu sein. Die Frage, ob zu allem anderen hin auch noch auf Feindbegünstigung Anklage erhoben werden solle, wurde kaum geprüft, der Tatbestand der Fahnenflucht war so eindeutig, daß nicht einmal der Offizialverteidiger den Versuch unternehmen mochte, auf 'unerlaubte Entfernung von der Truppe' zu plädieren.

Ich schloß die Akten und dachte nach. So also schreibt sich die äußere Geschichte eines solchen Lebens. Wie aber sieht die innere Geschichte aus?
*
Soweit der Ich-Erzähler im Verlauf der Akten des Kriegsgericht:

* *
Ich habe seinerzeit den Text zu einem Bericht genutzt zum schriftlichen Thema (bevor ich die ganze Novelle gelesen hatte):

Setzen Sie sich mit diesem Thema auseinander: Wie aber sieht die innere Geschichte des Todenkanditaten Fedor Baranowski - aus?

Aus Petter Moens T a g e b u c h

Petter Moen (14.02.1901 - 8.09.1944): Sein differenziertes Credo

Aus Moens Gefängnistagebuch, 1944, in der Gestapohaft in Oslo geschrieben

Von der Menschenfeindlichkeit des Faschismus
Ein fortwährend lebendiges Tagebuch: Die Gefängnisaufzeichnungen des Norwegers Petter Moen


Die Umstände, die dieses Gefängnistagebuch gebaren, sind - auch ungefähr 60 Jahr nach seiner Entstehung - schockierend und beispielhaft für die Schulbuchverwendung:

Im Jahre 1944 wurde ein norwegischer Widerstandskämpfer, der Versicherung-smathematiker Petter Moen, der die widerständige, von den siegreichen Nazis „illegal“ genannte Presse zu organisieren suchte, verhaftet, verhört, gequält und gefangengesetzt.
Er unterlag - unter großen Gewissenskonflikten - der Folter der Gestapo, verriet Kameraden. Darüber legte er Rechenschaft ab, indem sich in seiner Einzelzelle eine Gelegenheit verschaffte, auf Toilettenpapierseiten ein fortlaufendes Tagebuch zu verfertigen, das er in einem Belüftungsschacht unter dem Fußboden verstecken konnte, ohne dass er selber je eine dieser in Papierrollen geschützten Seiten wieder einsehen konnte.
Von diesem geheimen Versteck berichtete er - auf einem Gefangenentransport auf der Überfahrt nach Deutschland - einem Mithäftling. Das Schiff ging unter, bis auf fünf Norweger, darunter der Mitwisser, ertranken alle; die Nachricht von diesem Gefängnistagebuch wurde nach der Befreiung Norwegens gesichert, das Tagebuch gerettet, die Umstände geklärt.

Neben dem Tagebuch der Anne Frank und vielen wichtigen Holocaust-Berichten, ist dieses „Über-Lebenswerk“ des Petter Moen eine Menschheitsquelle - von biblischem Range, ein Bericht von prophetischen Dimensionen, ein hochqualifiziertes „Buch Hiob“ in unseren Zeiten; ein Werk, in dem ein Mensch mit seinen Mitgefangenen, mit den deutschen Besatzern (Folterern und Gestapobeamten) - und mit Gott spricht, rechtet, ihn - in der sprachlich-mentalen Gewissheit der erlebbaren Hoffnung - anruft, seiner Mit- oder Gegen-Menschen Taten und Untaten anklagt - und einen - leider nur für Minuten und Stunden erreichbaren – Frieden erreicht, eine äußerst - von den deutschen NS-Gewalttätern immer wieder bedrängte - innere Freiheit des Geistes und Willens erlebt. Und Reflexionen auf politischem, psychologischem und theologischen Niveau des gesamten 20. Jahrhunderts niederschreibt.

In unseren Tagen, wo Neonazis ähnliche Untaten wie von 1933 bis 45 begehen - und in großem Maßstab wieder Mißhandlungen, Verfolgungen, Völkermord begehen würden, sind des Märtyrers und Philosophen Moens Einsichten - Fragen, Hoffnungen, Gewissheiten - über Menschenmögliches und politisch Aktuelles und Immerwiederkehrendes.

Mit einem Vorwort, in dem er die Umstände und die - für die Nachkriegszeit schockierenden, theologisch-freizügigen Reflexionen darstellt, hat der baltendeutsche Dichter Edzard Schaper den Text - nach dem norwegischen Original - für deutschsprachige Länder übersetzt und herausgegeben.

Zu Moens Biografie: Infolge der pietistisch-frömmelnd-ungerechten Erziehung der Eltern hat sich Petter Moen als Erwachsener nicht mehr mit Gott, schon gar nicht mehr mit Kirche (oder Kirchen) auseinandergesetzt. So bleibt in den gesamten Aufzeichnungen die konfessionelle Frage ausgeklammert.

Auszüge:

Textauszug vom 10.08.1944:

Donnerstag nachmittag

Ich muß in der Erinnerung besonders häufig zur Einzelzelle und der Zeit der Victoria Terrasse zurückkehren. Mit unbeschreiblicher Wehmut gedenke ich der Angst und der Trä­nen und der beinahe wilden Entschlossenheit, zu einer geistlichen Wiedergeburt zu gelangen. Von dieser Wiedergeburt - oder Bekehrung, wenn man so will - träumte ich, und nach ihr sehnte ich mich als nach einer großen Erneuerung meiner seelischen und leiblichen Kräfte zu Wachstum und Wohlergehen. »Jetzt oder nie! « sagte ich und schrieb ich und betete ich. »Der große Gewinn« glitt mir aus den Händen. Was dieser Spannung folgte, wirkt unheimlich banal und niederschmetternd. Ich sage zu mir selber: Du hast Fiasko gemacht. Was ich damit meine, ist wohl nichts anderes, als dass ich enttäuscht bin. Diese Enttäuschung betrifft am stärksten mich selbst und meine Eigenschaften und Fähigkeiten. Aus Schlacken wird kein Gold geschmolzen. Alles endet in diesem alten, verbrauchten, menschlichen »man muß sich durchschlagen, so gut man kann«. Pfui Teufel! Man gebe mir ein echtes Strindbergsches Inferno!

Ich habe hier im Gefängnis häufig in Rede und »Schrift« darauf hingewiesen, der ganze psychologische und historische Hintergrund zeige, dass Religion Menschenwerk und nichts anderes ist. Ihre »Wahrheiten« entbehren aller Kennzeichen der Objektivität: Kausalität, Meßbarkeit und Wiederholungsfreiheit.
Genau so verhält es sich mit der »Wahrheit« in dem eigentlichen religiösen Grundphänomen: Gottes Wirken im Menschen. Das vollzieht sich nicht nach einem Gesetz, dessen Wirkungen können nicht gemessen, und es kann nicht zum Gegenstand verifizierender Experimente gemacht werden.
Die Behauptung der Religion: es existiere ein »Gott« außerhalb des Menschen, und dieser Gott sei mächtig, ja allmäch­tig, in seinem Wirken im Menschen und in der Natur - diese Behauptung kann also mit keiner der uns bekannten Beweismethoden bewiesen werden. Der Intellekt hat hier eine un­geheuer starke Ausgangsposition. Er legt seine Grundregel vor: der Beweis obliegt dem, der die Behauptung aufstellt. Bis jetzt ist der Beweis ausgeblieben.
Den Gegenbeweis erbringt unsere ganze Natur- und Menschenkenntnis. Klarer als irgendeine Zeit vor uns sehen wir, dass der alte Jehovah nicht der Meister des großen Werkes ist, und ebensowenig irgendeiner seiner Nachfolger.
Die Geschichte Gottes zeigt uns vielmehr, dass er in vielen Formen vom Menschen erschaffen worden ist. Er hat viele Namen, aber nur eine Aufgabe: Träger des menschlichen Schuldbewußtseins, der Angst und der Wünsche zu sein.
Er gehört der magischen Welt an. Noch einmal: Gott ist ein Produkt der Wunschträume des Menschen. Das ist die ultima ratio in den Diskussionen um Gottes Existenz und Wesen.
Warum beschäftige ich mich hier so weitläufig mit dieser ab­genutzten Frage? Ich habe sehr gute Gründe dafür. Ich muß mit der Möglichkeit rechnen, dass mein Leben auf dem Spiel steht. Auf jeden Fall gehen mir viele bange Ahnungen durch den Sinn, wenn ich an die Unbarmherzigkeit des Gegners und die Raserei denke, welche die letzte Phase des Krieges prägt. Da muß auch ich »mein Haus bestellen«. Aber wenn auch das Exekutionskommando auf mich wartet - ich kann mir kein „Credo“ abzwingen. Ich versuchte das in der äußersten Not in der Einzelzelle.
Es war vergebens!


190. Tag Freitag, den 11. August

Nichts Böses wird mir widerfahren!
Dieses Wort hat Macht!!

Wenn über Religion diskutiert wird, kehrt beständig dieses »Argument« wieder: Es ist klar, dass derjenige, der an Gott glaubt, es gut hat. - Von den Einfältigen wird dieser Es-gut-haben-Zustand als Beweis für die Wahrheit der Religion genommen. Der »klügere Kopf« stellt die Sache häufig so dar. Wir können die Behauptungen von der Existenz Gottes weder beweisen, noch den Gegenbeweis führen. Für den Gläu­bigen existiert er. Wir können die Behauptung des Gläubi­gen, dass Gott ihn tröstet und ihm hilft, nicht bezweifeln.
(Aus: P.M.: Tagebuch. Übersetzt und herausgegeben von Edzard Schaper. (Deutsch zuerst 1950); Fi-TB Nr. 306; 1959., S. 104f.)

Was der einsame Held erreichte, war individuell eine psychische Leistung, eine Errungenschaft in barbarischen Zeiten.
Für die Leser der 50er Jahre war als Information und für Bildungszwecke eine Sensation, die sich aber in den allgemeinen politischen Bereich nicht fortsetzte.1959 publizierte der Fischer-Taschenbuchverlag eine Ausgabe (Fi-Tabu 306). Das Wissen dun die damaligen Bücher sind verschwunden.
In der Wikipedia-Auflistung zu Edzard Schapers Leben und Werk findet sich die Angabe zu der „Peter Moen“, ohne weitere Würdigung:

Peter Moen selber hatte, als Abschluss seines Gefängnisleben in der Manier eines auktorialen Erzählers notiert:
Petter Moen fuhr heute nach Deutschland. Um 3 Uhr kamen sie und holten ihn, es war traurig, jetzt dorthin geschickt zu werden. Heute ist der 6.9. O.B.R.“

Moen verstarb bei dem Untergang des Dampfers „Westfalen“, der in der Nacht vom 7. zum 8. September im Skagerrak auf eine Mine lief; ein Schiff, das 423 Norweger als Zwangsarbeiter in die Rüstungsindustrie des Deutsche Reiches in Hitlerscher Montur verbringen sollte.
1959 hieß es in der Taschenbuch-Werbung: „Die erschütternden Aufzeichnungen sind nicht nur ein Dokument der Vergangenheit, sondern auch ein Zeugnis der immerwährenden Frage des Menschen nach Gott.“ Von der politischen Dimension des Schicksals eines Individuum namens Petter Moen kein Wort!

Angekommen in Deutschland ist er nicht.

[Angabe für eine Publikation: Sechs Bilder - in der Taschenbuch-Ausgabe zwischen 96 und 97 – geben einen Eindruck der Zelle des Gefängnisses MØllergate in Oslo, des Autors Petter Moen, der räumlichen Situationen, der Papierrollen und einer Tagbuchseite.

Lesenswert: 
Gisela Schneemann hat das Tagebuch in einer neuen Übersetzung als pdf-Datei eingestellt:
Dort findet sich der erste Eintrag vom 10. Februar 1944:

DER 7. TAG MEINES GEFÄNGNISAUF ENTHALTS IN DER MØLLERGATE 19
(Donnerstag, 10. Februar)
Bin zweimal verhört worden. Wurde ausgepeitscht. Verriet Vic*. Bin schwach. Verdiene Verachtung. Habe furchtbare Angst vor Schmerzen. Aber keine Angst vor dem Sterben.
Ich denke heute abend an Bella. Weinen, weil ich Bella so viel Böses getan habe. Wenn ich am Leben bleibe, müssen Bella und ich ein Kind haben.
(Der Name „Vic“ war nicht mehr zu rekonstuieren.)

Aus: Petter Moens Tagebuch. Hrsg. v. Edzad Schaper. Frankfurt/M. 1959.
Hier das Fischer-Tagebuch im Bild:

Ergänzung.
Ich habe für eine religionskundliche Fachzeitschrift einen Artikel über Petter Moen publiziert:
Reyntjes, Anton Stephan: Petter Moens Aufzeichnungen aus der Haft.
- In: Religion heute, (2001) 48, S. 266-269 - Illustrationen - ISSN: 0722-9151 - deutsch