IV. Buch
Hans
Fallada: Gute Krüseliner Wiese, rechts. Und 55 andere Geschichten.
Aufbau Verlag. Berlin 1991.
Hans
Fallada, nicht seine bewunderungswürdigen Weihnachtsgeschichten
(Lüttenweihnachten), aber:
Aber,
eine Geschichte, die auf unserem Pannofen hätte spielen
könne: auf dem Bauernhof, auf dem ich als siebtes von acht Kindern
aufwuchs; und den Umgang mit Sand, Steinen; Tier und Pflanzen; mit
Erwachsen&Kinder; mit Zeugen Jehovas; mit Dorfpolizisten und mit
den Geschichten meiner Mutter lernte: Wie sie einmal erschossen
werden sollte, von zwei versprengten SS-Leuten, die ihren Panzer, den
Tiger (dem letzten Modell deutscher Panzerei) verlassen mussten, einige Bauernhäuser
weiter; die von meiner Mutter verlangten Hilfe und Versteck verlangen
(wohl in der Feldscheune, im Heu): Und Mutter zum Keller (mit Kindern
und Kartoffeln und Rüben) hinunter schrie: Kinder, kommt: Hier
sind Soldaten, die eure Mutter erschießen wollen; und die
verschüchterten Mörder verschwanden ...):
Hans Fallada:
Blanka,
eine geraubte Prinzessin
(In:
H. F.: Gute Krüseliner Wiese, rechts. Und 55 andere Geschichten.
Aufbau Verlag. Berlin 1991. S.
Mitten
im Trubel der Silvesternacht sagte der Vater: „Nun komm.“ Der
Sohn schlich hinter dem Alten aus dem lärmenden Haus über die
Hofstatt zum Kuhstall.
Es
fror leicht, die Sterne funkelten. Der Vater zog die Tür auf, und
sie kamen in warmes Dunkel. Überall knisterte Stroh, eine Kuh käute
wieder, Halfterketten rasselten. Die Stallaterne wurde angebrannt,
ein Fenster geöffnet. Die kalte Winterluft drang ein, kämpfte
mit der Wärme und war plötzlich überall. Der Junge stand im
Schatten beim Rübenschneider und schwieg. Da deutete der Vater zum
offenen Fenster: Die Glocken begannen zu läuten, Silvester vorbei,
das neue Jahr hatte begonnen.
Der
Vater ging zur ersten Kuh, er sagte kein Wort, aber er verbeugte sich
vor ihr und bekreuzte sie dreimal. So tat er bei der nächsten,
bei der dritten, bei der vierten. Bei der fünften, der einzigen, die
stand, stutzte er einen Augenblick, der Knabe sah es wohl. Aber dann
ging er weiter, reihauf, reihab, zweiundzwanzigmal. Das Jungvieh
beachtete Vater nicht, auch nicht die Pferde. Er ging wieder ans
Fenster und schloß es.
„So,
nun darfst du wieder reden, Alwert*)“, sagte der Vater und nahm den
Jungen bei der Hand. „Jetzt will ich dir etwas zeigen.“
Die
beiden kletterten über die Krippen weg, gingen zwischen zwei
Kühen durch und zu jener fünften, die gestanden hatte und noch
stand. Da sah Alwert freilich gleich, um was es ging: Die Kuh bekam
ein Kalb. Die Vorderpfoten und der Kopf schauten schon heraus, der
Vater faßte die Pfoten, zog leicht, und nun war es, als schlenkere
er etwas unendlich Langes, Schwarzweißes auf die Erde. Da lag das
Kälbchen, auf der Seite, den Kopf von sich gestreckt und atmete
hastig. „Lauf und hole Schrot", sagte der Vater, und Alwert
lief und holte Schrot. Damit wurde das Kalb bestreut und der Kuh
zum Ablecken hingelegt. Der Vater sprach: „Grade zur zwölften
Stunde in der Silvesternacht hat es das Licht erschaut, das wird kein
gewöhnliches Kalb.“ Und nun zeigte er dem Sohn, daß es auch nicht
wie die andern einen weißen Fleck, einen Stern, auf der Stirn trug,
sondern eine Krone. Man konnte es ganz leicht erkennen, daß es
eine Krone war, und jetzt wurde es noch sicherer, daß dies kein
gewöhnliches Kalb war.
„Es
ist ein Kuhkalb“, sagte der Vater, und beide gingen wieder in
das Haus hinüber. Die Magd wurde in dem Stall zum Ausmelken und
Tränken geschickt. Sie aber traten wieder in das Wohnzimmer, wo
der Besuch war.
Viel
Geschrei und Gelächter, der dicke Gemeindevorsteher rief: „Du
alter Heide, kannst du gar nicht von deinen Heidentücken*) lassen?!"
Es
war wohl gar nicht so sicher, daß er selbst erhaben über Heidentum
war, wer weiß, vielleicht hatten sein Sohn oder seine Frau daheim
zur gleichen Stunde das gleiche getrieben, vielleicht hatten sie sich
gar unter eine aufgestellte Egge gesetzt und versucht, in die Zukunft
zu schauen. Aber zugegeben durfte dies keinesfalls werden, und
Alwert war ganz glücklich, als der Vater antwortete: „Heidentücken?
Was meinst du denn, Adolf? Meine Klio*) hat eben gekalbt, darum bin
ich mit dem Jungen in den Stall gegangen. Sind das
Heidentücken?“
Welches
Geschrei, welcher Unglaube! Sie zogen alle in den Kuhstall, und da
sahen sie nun freilich das Kalb und mußten still sein. Sie
taxierten es auf achtzig Pfund und fanden, es sei ein strammes Kalb,
das war alles.
Alwert
verachtete sie tief, sie hatten die Krone nicht gesehen, das
Geheimnis nicht erraten. Das Geheimnis war geheim geblieben, es
war nicht verlorengegangen.
Alwert
brauchte sich nur in den frühen Dämmerstunden, wenn die Kühe satt
und still waren, in dem Stall zu setzen und sein Kalb anzuschauen,
dann war das Geheimnis wieder da. Das war keine Kunst, dachte
Alwert,, zu entdecken, daß hinter den Augen einer Kröte eine
verzauberte Prinzessin wohnt, jeder, der diese schönen, traurigen
Augen in dem häßlichen Leibe sah, mußte es gleich erraten.
Aber die Verzauberung seines Kalbes, das Wunderland, aus dem
seine Seele sicher kam, war viel schwerer zu erraten. Daß sie mit
Menschen nichts zu tun hatte, war sicher. Mit menschlichen
Wundern hatte sie nichts gemein. Da war nun die Wanderung der Kinder
Israel durch das Rote Meer, von der sie solches Geschwätz in der
Schule machten. Das war doch nur ein menschliches, ein ausgerechnetes
Wunder. Diese Mauern, die das Wasser bildete, und sie gingen
trockenen Fußes über den Sand, Gott ja, aber ein Tunnel war
ebensolch ein Wunder. Es war alles einfach, es war gar nicht
rätselhaft und geheimnisvoll.
Nimm
nun einmal ein Kalb, das ist es, was ich ein Wunder nenne! Kann
man sich etwa einbilden, es hätte je schon auf einer Graswiese, über
die Menschen hingehen können, geweidet? Das war einfach lachhaft.
Man nehme die feinste, zarteste Prinzessin, die Krötenprinzessin
etwa: Schon aus der Art, wie eine Kröte hüpft, sich hinsetzt, das
Maul auftut, sieht man, sie weiß auf der Erde Bescheid, sie ist
immer hier gewesen. Aber sieh nur ein Kalb aufstehen, die ersten
Torkelschritte machen, nach einem Euter tasten, und du begreifst
sofort, daß es ganz neu auf der Erde ist, daß es alles von Anfang
an erlernen muß. Es ist eben einfach nicht auszudenken, wie es
früher war. Vorstellen läßt sich da nichts, man muß das träumen.
Selbstverständlich
kamen auch sehr schwere Zeiten für Alwert und das Kuhkalb. Es kam
die Zeit, wo es nicht mehr saugen durfte, wo es Milch aus dem Eimer
zu trinken bekam, und da trieb es natürlich Unfug mit allem,
was es von Alwert zu fassen bekam. Es saugte an Händen, Haaren und
dem Rock, es leckte die Wichse von den Stiefeln ab, von oben bis
unten machte es ihn mit seinem Speichel naß. Es wäre ganz zwecklos
gewesen, darüber böse zu werden und nach ihm zu schlagen, alles kam
daher, daß es noch nie auf dieser Welt gewesen war. Langsam mußte
es sich an sie gewöhnen, und vielleicht würde es sich nie ganz
an sie gewöhnen können, keine Möglichkeit lag zu solcher
Veränderung seiner Augen vor.
Dann
kam die Zeit, wo der Vater den Entschluß fassen mußte, ob das Kalb
angebunden werden sollte oder ob es der Fleischer bekam. Alwert wurde
weiß vor Angst, aber er verbarg es und wurde dafür belohnt: Das
Kalb sollte hierbleiben. Die Mutter schalt zwar darüber, über
das viele unnütze Jungvieh, diese Fresser, aber der Vater
nickte Alwert zu. Nun wurde er glühend rot, er verkroch sich mit
seinem Kopf unter den Tisch: Hatte der Vater etwas von seinen
Besuchen im Kuhstall gemerkt? Aber er beruhigte sich wieder, der
Vater sprach davon, daß dies Kalb in der Neujahrsnacht geboren
sei und daß er es deshalb behalten wolle. Nichts wußte man von
seinen Besuchen, er konnte sich weiter In den Stall schleichen zur
stillen Stunde und mit ihm sprechen und bei ihm träumen und mit ihm
spielen. Ganz ruhig konnte er den Vater fragen, wie denn dies
Kalb heißen solle, und der Vater war einverstanden, daß es einen
Namen bekam, da es doch nun unter den Nachwuchs des Stalles
aufgenommen sei. Und als Alwert den Namen Blanka vorschlug, war er
auch damit einverstanden. Es war ein sehr vornehmen: Name für
ein Dreimonatskalb, nun mußte es sich zeigen, ob es dieses
Namens auch wert sei.
Jetzt
vergingen zwei glückliche Jahre für Alwert und Blanka. Alwert wurde
vierzehn Jahre alt und konfirmiert, aber das war gar nichts, wenn man
bedachte, wie Blanka wuchs und gedieh. Sie wurde eine starke und
schöne Quene*), eine wahre Pracht. Den ganzen Sommer, solange sie
auf der Weide getüdert wurde, lag er bei ihr mit seinen Büchern,
und sie lernten alles sozusagen gemeinsam. „Nun höre einmal zu,
Blanka, was das wieder ist“, konnte Alwert sagen, und dann kam ein
schreckliches Wort aus seinem Chemiebuch. Blanka hörte zu, sie hob
den Kopf hoch und sah ihn an, sie stieß den warmen Laut aus, den sie
nur für ihn hatte, sie hörte das Wort an, und auch ihr erschien es
ganz ungeheuer, was sich diese Menschen da wieder ausgedacht hatten.
Dann senkte sie den Kopf und fraß weiter. Blanka mußte alles hören
über die Perser- und Griechenkriege, sie wußte, was der Kleine und
der Große Katechismus war, sie ertrug auch eine Rechnung mit drei
Unbekannten. Und das Schönste war, daß dies beider Geheimnis blieb,
kein Mensch ahnte, daß Blanka und Alwert überhaupt etwas
miteinander zu tun hatten. Wer weiß, wie der Junge es
fertigbrachte, wieviel hundert Lügen er ersann, um sein ewiges
Fortsein, sein Nie-Zeit-Haben zu erklären, er brachte es fertig, und
es sollte sich ja dann zeigen, daß er später noch viel Schwereres
für Blanka fertigbrachte. Aber dies waren doch die glücklichsten
Jahre.
Für
seinen Vater waren sie nicht so glücklich. Er hatte Pech gehabt auf
den Feldern, ein Pferd war ihm gefallen, das Geld ging aus. Eines
Tages hieß es beim Mittagessen, daß es nun nichts mehr hülfe,
morgen käme der Händler, alles Jungvieh, das bloß fresse, sollte
verkauft werden. Der Junge neigte die Stirn, er verbarg sein Gesicht
im Schatten. Blanka fort! Blanka verkauft! Es war unmöglich. Er
fühlte, wie stark sein Herz pochte, und auch dieses Pochen sagte
ihm, daß es unmöglich sei. Blanka war nicht zu verkaufen. Den
ganzen Nachmittag lag er bei ihr und weinte. „Da gehst du, Blanka“,
schluchzte er, „und frißt. Du weißt nichts von dieser Welt, dein
Herz sehnt sich erst, wenn wir getrennt sind."
Er
zerbrach sich den Kopf, hundert Pläne waren da, aber keiner
ausführbar. Wie, wenn man zum Vater ginge und alles gestände,
daß er Blanka liebte? Aber der Vater würde ihn nur auslachen. Und
selbst wenn er ihn verstehen würde, da war die Geldnot, sie war
ja nur eine Fresserin, die nichts brachte. „Blanka! Blanka!“
schluchzte er und legte die Arme um ihren Hals. Und da wußte er es,
plötzlich wußte er es. Nun hatte er immer diese Bücher gelesen,
den Robinson, den Karl May, den Stevenson, große Abenteuer
geschahen, und er hatte gemeint, daß sie draußen seien, auf
den Meeren, an fremden Küsten, unter wilden Völkern. Aber
nein, das Abenteuer war hier wie dort, es war auf jedem Hof und in
jedem Wald, am Grugenteich war’s und in Vaters Kuhstall. War nicht
Abenteuer genug, was ihm schon geschehen? Er liebte eine verzauberte
Prinzessin aus fernen Landen, er allein wußte um sie, und sie stand
als Kalb in seines Vaters Stall. Welchem andern Jungen geschah
dies? Und darauf kam es nun an, sich dies Abenteuer nicht fortnehmen
zu lassen, nicht zu werden wie die andern. Alle Abenteuer kamen zu
uns. Robinson hätte auch zu Haus bleiben und Kaufmann werden können,
nichts zwang den Arzt Gulliver, sich immer von neuem einzuschiffen:
Sie wollten das Abenteuer! Auch er wollte es! Seine Blanka, seine ...
Auch er wollte es.
Am
nächsten Morgen war der Kuhstall erbrochen und Blanka gestohlen. Es
war eine Sache, von der das Land noch nach Monaten redete. Der dicke
Landjäger kam jeden Tag auf den Hof und sprach mit dem Vater. Dann
betrachteten sie das Vorhängeschloß, das so seltsam
zerschlagen war, so unsinnig zerwütet mit einer Axt, und kamen
wieder zu dem Schluß: „Ein Neuling hat das getan.“ Aber diese
Kalbe*) war ja nicht zu verkennen, sie mußte wieder auftauchen,
hatte Alwert nicht den Vater daran erinnert, daß sie eine Krone auf
der Stirn trug, eine weiße, etwas verwischt gezeichnete Krone? Nun,
an dieser Krone würde man sie wiedererkennen. Und in der Folge
machte der Vater manche lange Reise über das Land, wenn ihn das
Gerücht über ein Auftauchen seiner Blanka irgendwohin rief.
Unterdes
lag der Knabe im Wald, und Blanka graste bei ihm. Dar Wald war groß
und dicht, hier fand sie keiner. Nur der Großvater hatte gewußt,
daß sich durch dieses Tannendickicht ein Wildwechsel schlängelte,
der zum Grugenloch führte. Das war ein Teich, ein kleiner Teich,
mitten in den Tannen. Hierher war Alwen mit dem Großvater
gekommen, und die beiden hatten sich auf den Grugenstuhl gesetzt,
eine abgehauene Tanne. Und der Großvater, dieser seltsame Mann, mit
dem langen weißen Bart, dieser Mann, der nie Hosen trug, sondern die
Enden seines unmäßig langen Leibrocks in die Schäfte seiner
Stiefel steckte, der Großvater hatte ihm von den Grugen und Quacken
erzählt, die an diesem Teich ihre Wunder trieben.
Nun
waren die andern Wunder gekommen. Der Großvater war gestorben,
und mit ihm waren die ein wenig künstlichen Wunder der Quacken- und
Grugengeister vergangen, nun hatte Alwert sich seine echten
Wunder selbst geholt.
Da
graste Blanka, schon hatte sie sich an das härtere, spärliche
Waldgras gewöhnt. Sie sah prall und voll aus, ihr ging nichts ab,
das sah man. Und neben ihr liegend, in der Sonne, unter dem leisen
Rauschen der Tannenzweige, durch die raschelnd die Vögel schlüpften,
träumte Alwert davon, wie er jahraus, jahrein zu seiner Blanka
kommen würde, zu diesem blauen Geheimnis, an dem niemand teilhatte.
Er begriff nicht, daß man anderes lieben könnte als dieses Tier.
Das war ein Wunder. Menschen lieben? Menschen sind der Alltag,
sie sagen etwas, sie tun etwas, und man konnte sie erraten, man
konnte hinter sie kommen, und plötzlich scheint die Sonne klar durch
sie hindurch: Menschen sind nichts. Wer aber kam hinter Blanka? Da
lag sie und käute wieder, aber das war nur ihr Vorwand, den man
nicht beachten durfte. Wenn man in ihre Augen sah, begriff man, daß
sie dies alles, Bäume, Sonne, Wasser und Alwert dazu nur obenauf
sah, was aber sah sie tiefer drin, was sah sie wirklich?
Nicht,
daß alles leicht war. Gewiß, dort war Blanka, und hier im Bett lag
Alwert. Aber diese Blanka war so unvernünftig, da lag sie nun
in der dunklen Nacht allein im Walde, konnte nicht die Sehnsucht nach
den andern, nach Alwert, sie überkommen? Konnte sie sich nicht
losreißen und auf den Hof laufen? Das war es, daß man ihr nicht
erzählen konnte, sie wurde verkauft. Sie war eben eine
Prinzessin, sie begriff nichts von diesem Leben, alles mußte
man für sie tun. Und indes der Regen gegen die Fensterscheiben
strich, sagte er immer wieder zu sich: „Da liegt sie draußen, die
Blanka, und ich hier.“ Auch das war ein Rätsel, daß man eines
liebt, an es dachte und getrennt war von ihm. Es war so eine dicke
greifbare Sache, die die andern sich ausgedacht hatten. Gewiß, nach
den Augen, mit dem Verstande war es wahr, daß sie dort war und er
hier. Aber war es nicht vielleicht doch unwahr? Lag er nicht etwa
auch neben ihr in der Mulde, die er für sie gegraben, unter dem
Tannendach, das er für sie geflochten? Er war hier und war dort, das
war die eigentliche Wahrheit, ebenso wie Blanka hier und in einer
andern Welt war. So ging das zu.
Es
war ein glücklicher Sommer! Es war ein seliger Sommer! Endlose
Träumereien des Knaben auf dem Grugenstuhl, indes oben langsam
Wolken dahinzogen, sich ballten, zergingen. Dann schien die Sonne.
Sie waren wunderbar, diese Wolken, aber sein größeres Wunder hatte
er sich aus seines Vaters Kuhstall geholt. Er hatte es gezwungen,
wahr zu sein, und gegen sie alle hatte er es behauptet. Die kleinen
Grashalme um ihn, die Tannenzweige um ihn, das Wasser vor ihm, der
Himmel über ihm, sie bestätigten es. Da graste sie, sie war
schwarzweiß, in einer Neujahrsnacht war sie geboren, sie trug eine
Krone auf ihrer Stirn. Sie hätte ein Kalb wie alle Kälber werden
können. Er hatte sie vereinzelt. Er hatte ein Schicksal geschaffen,
abseits von allen andern. Da saß er auf seinem Grugenstuhl, mit
seinem langen braunen Jungengesicht voller Sommersprossen, ein
Bauernjunge wie alle andern, der in die Dorfschule bis zu seinem
sechzehnten Jahr lief und sommertags barfuß ging: ein Junge wie
keiner. Solch endloser Sommer! Die kleinen Fliegen schwirrten und die
kleinen Mücken sangen: Ji-ji, und die Zeit rauschte ganz fern. Oh,
meine Blanka!
Dann
kam. der Herbst mit seinen langen sonnigen Tagen, und das Futter
wurde knapp. Er hatte daran gedacht, für den Winter Heu
zusammenzutragen, aber das wenige, was er herbeigeschafft hatte, war
im Umsehen zu Ende. Was Blanka auch fraß! Und es war natürlich
ausgeschlossen, daß man ihr etwas abgehen ließ, nun mußte man eben
jede Nacht mit einer Traglast Heu zu ihr. Dann war er den ganzen
Tag müde, er wurde blaß, er wurde mager, er schlief ewig, wenn er
zu Haus war. Und sie paßten so auf, nun! Eines Nachts war der Vater
im seinem Zimmer gewesen und hatte sein Bett leer gefunden, da mußte
er nun endlose Lügengeschichten erfinden, um sich zu retten. Nun
blieb nichts, als ein paar Nächte zu Haus zu bleiben, aber dann das
Muhen, mit dem ihn Blanka empfing! Er zitterte, er kroch zu ihr, er
sprach sanft zu ihr. Es quälte ihn namenlos, daß sie leiden mußte
um seinetwillen. Wo waren die sorgenfreien Sommertage hin? Und
dies war erst der Herbst.
Aber
noch gab er den Kampf nicht auf, noch gab er sich nicht zu, daß er
sich zuviel vorgenommen hatte. Dies war zu sehr Teil seines Lebens,
als daß er es hätte aufgeben können. Nun blieb eben nichts
anderes, als wach zu liegen, bis der Vater gekommen war, und dann zu
gehen. Aber das hieß die ganze Nacht opfern, überhaupt nicht mehr
schlafen. Und doch führte er es durch. Er gewöhnte sich auch
daran, er stahl sich am Tage die Stunden, er war ein Nachttier
geworden. Und alles war belohnt, und alles war gut, wenn er bei
Blanka war, Blanka war nicht mehr Blanka, Blanka war der Weg, aber
Blanka war auch das Ziel, Blanka war seine Stellung zu den Menschen,
gab er Blanka auf, gab er sich auf.
Dann
fiel der erste Schnee. An ihn hatte er nicht gedacht. Nun waren
Spuren da, jeder konnte ihm nachgehen, jeder konnte Blanka finden. Er
wurde eiskalt, als er dies dachte. „Nun ist das Ende da“, sagte
er, aber er glaubte es noch nicht. „Ich werde etwas finden“,
beharrte er. „Ich habe jedesmal etwas gefunden. Auch diesmal muß
es mir glücken.“
Der
einzige Ausweg, auf den er geriet, war der, Blanka vorläufig im
hintersten Keller des Hauses zu verstecken. Dorthin kam niemand. Es
war ein schlechter Ausweg, das wußte er, ein besserer würde ihm
später einfallen.
In
der Nacht nahm er Blanka am Strick, er führte sie auf den Hof, er
führte sie die Treppe hinauf ins Haus, die Treppe hinab in den
Keller. Auf dieser Treppe glitt Blanka aus und fiel. Es gab einen
ungeheuren Lärm. Mit der Lampe stand der Vater da und fragte: „Was
machst du in aller Welt da mit der Kuh?“ Der Junge starrte ihn
totenbleich an. Der Schein der Lampe fiel auf Blankas Stirn. „Aber
das ist ja Blanka! Das ist ja Blanka!“
Es
war eine Katastrophe. Es war ein maßloser Skandal. Niemand glaubte
dem Jungen, daß er das Tier „nur so" geliebt habe.
Zuerst begriff er nicht, was sie meinten, was sie alle meinten, aber
sie sorgten schon dafür, daß er begriff.
Blanka,
seine Blanka, und er! Von da an war ihm alles gleich. Er wurde von
der Schule gejagt, am liebsten hätte man die Konfirmation rückgängig
gemacht. Und dann war natürlich kein Gedanke daran, daß er je den
Hof bekam, ein Mensch, der sich in so jungen Jahren schon so schwer
verging. Man gab ihn auf ein Schiff und schickte ihn auf fremde
Meere, daß die Schande nur aus den Augen kam. Oh, meine Blanka!
* * *
(Aus: Hans Fallada: Gute Krüseliner Wiese rechts… und 55 andere
Geschichten. Berlin 1991. Aufbau Verlag. S. 95 -104)
*)
Zum Tiernamen „Blanka“: Blanka von Kastlien war eine spanische
Prinzessin. Im Jahre 1200 - als sie gerade 12 Jahre alt war - wurde
sie mit dem späteren König Ludwig VIII. von Frankreich verheiratet.
Als der König 1226 starb, musste sie für den erst 11-jährigen Sohn
die Regentschaft übernehmen, die sie während der folgenden zehn
Jahre mit Besonnenheit, Klugheit und großem Verständnis für
politische Vorgänge wahrnahm. Dabei achtete sie auch darauf, ihren
Sohn, den späteren König Ludwig IX., den Heiligen, im christlichen
Glauben zu einem verantwortungsbewussten, vorbildlichen Herrscher zu
erziehen. Während ihrer Regentschaft sorgte sie dafür, dass
zahlreiche Hilfseinrichtungen für Arme und Bedürftige geschaffen
wurden. Außerdem kümmerte sie sich um Hospize und Spitäler und
setzte sich großzügig für die Unterstützung von Kirchen und
Klöstern ein. - Die
vom Volk geliebte und hoch verehrte gütige Landesmutter starb im
Jahre 1252.
(Es
ist zwar unwahrscheinlich, dass der Junge und der Vater den
Königinnen-Namen Blanka kennen; aber Fallada selber mag dafür
bürgen.)
*)
Alwert = seltener Vorname in Deutschland (mit Albert verwandt)
*)
Heidentücken = eigentümliche Verhaltensweise (wie „Tücke“),
die man abwehrend heidnisch nannte, wegen des unnormalen, soz.
quacksalberischen Gehabes; die man aber in der Landschaft, in der
Fallada aufwuchs (im Mecklenburgischen) noch pflegte, um wertvollen
Tieren gegenüber eine quasi religiöse Achtung zu erweisen.
*)
Klio = Seltener Name für eine Kuh: Klio oder Kleio (gr. Κλειώ:
„die Rühmerin“, aus κλεῖν: rühmen, preisen) ist in der
griechischen Mythologie eine der neun Musen. Sie war die Muse der
Heldendichtung und Geschichtsschreibung. – Fallada verweist hier
also auf die mythische Besonderheit des Muttertiers.
*)
Kalbe und Quene = eine junge Kuh, welche noch nicht gekalbt hat, aber
zum Stier gelassen werden soll.
Ein
Hörspiel:
http://www.dradio.de/dlr/sendungen/kinderhoerspiel/332510