Dienstag, 17. September 2013

Ein R e l i - Stündchen

Story 3:
A-ST-R

Donnerstag 10 b. 4. Stunde: Religion


„Okay! Alles klar? Wie denn? Noch Fragen? Ich fasse zusammen: Diese Erfahrung kostete also? Bärbel, gehst du mal an die Tafel? Schreib' bitte untereinander:
1. Einsatz des Notarztwagens: 487 DM
2. Krankenhausrechnung: 656 DM
3. Arztrechnung (privat!): 368 DM."
Aus der Klasse: "Boah, boahey, ist das aber alles teuer!" - "Was die Ärzte da dran verdienen!"
Die Lehrerin bittet: "Zieh mal einen Strich darunter, bitte. Das macht zusammen?"
Bärbel rechnet laut: "1511 DM."

*

Frau Steinberg hatte von einer Studentin erzählt, die eingeladen war bei neuen Freunden, die einen netten Nachmittag, na, seien wir ehrlich: eine kleine Haschparty, organisiert hatten, an der Uni GÖ, wo sie fürs erste Semester Musik und katholische Theologie eingestiegen war.
Es gab dreimal was zu probieren, Hasch als Joint, als Plätzchen und im Tee.
Da war es um die Studentin geschehen. Ob sie zu viel geknabbert hatte, oder ob es ihr aus irgendeinem anderen Grund schlecht erging - ihr wurde schrecklich übel, sie fiel sogar in Ohnmacht; ihr Pulsschlag war ganz schwach, der Kreislauf ging in die Knie, und Krämpfe schüttelten ihren Körper. Sie war nicht mehr ansprechbar, und auch die erfahrenen Hasch-Hasen wußten nicht mehr weiter, als dumm kucken und abwarten.
Eine Freundin verließ sich nicht auf die Ratschläge "Abwarten! Tee trinken! Wird schon!", sondern rief den Notarztwagen an. Und die junge Frau wurde sofort ins Krankenhaus eingeliefert. Nach dem Auspumpen des Magens war sie außer Gefahr, und dann stabilisierte sich ihr Kreislauf, und am übernächsten Tag wurde sie entlassen.
Vor ihren Eltern hielt sie dieses Abenteuer geheim; sie wohnte ja auch in einer anderen Stadt - bis die Rechnungen per Post zu Hause bei den Alten eintrafen, und die Mutter sich ans Telefon hängte und die Tochter darüber befragte...

*

Gedacht war die Stunde so: Die Diskussion war eröffnet: Stichworte genug: Alltagsdrogen, neue Drogen, Drogenmonopol der arrivierten Bürger: Saufen und Rauchen und wieder Saufen, egal auf der Kirchweih, bei der Erstkommunion, am Kolpingsabend oder bei der Ausländerhatz! Kriminalisierung. Und psychische und materielle Verelendung der Drogennutzer. Beschaffungskriminalität. Todesraten bei harten Drogen... Da steht vieles auf der Kippe.

*

Einer formuliert was, da staunen alle: „Frau Steinberg, haben Sie schon je davon gehört, dass einige Haschbrüderlein während oder nach ihrem Drogenkonsum auf die Straßen gezogen sind und dort Ausländer oder Berber aufgeklatscht haben?“
„Was willst du damit sagen, Jens?“
„Ja, schauen Sie doch mal in die Nachrichten: Das sind Idioten, die sich voll saufen und dann durch die Straßen ziehen und vom Pöbelvolk noch Beifall kriegen oder zumindest heimliche Bewunderung.“
Da, ein Finger noch.
"Ja, Anke?" - "Ich würde nichts dafür bezahlen!"
"Wofür?" - "Für alles, den ganzen Aufwand mit den Kosten da im Krankenhaus." - "Ja, weil deine Eltern es ja bezahlen müssen. Übrigens wohl nicht die Krankenkasse! Ich weiß nicht, ob die dafür aufkommt.
"Nein, ich mein es anders: Ich würde einen falschen Namen angeben im Krankenhaus."
(23 mal): “Boah ey!“
"Aber du wärst ja besinnungslos gewesen."
"Die anderen hätten mich eben mit einem falschen Namen ins Krankenhaus einliefern lassen müssen. So viel Solidarität muss sein, beim Haschvölkchen."
Kichern in der Klasse.
"Und du wärst am nächsten Tag von dort aus verschwunden, so mir nichts, dir nichts? Und hättest dich gefreut: Sollen die Mediziner doch selbst für ihre Kosten aufkommen?"
"Na ja, weiß nicht mehr so recht!"
"Und denk mal weiter: Von wo ist der Notarztwagen denn abgefahren, mit dir Schlaumeier auf der Trage?"
"Mhm. Stimmt: Die würden natürlich dort nachfragen, wo der Einsatz erfolgte."
"Und so weiter, Mädchen! So klappt es also nicht."
*
Noch fünf Minuten? Was nun? Na - Ergebnissicherung! "Wer formuliert nun mal, was wir heute in einem besonderen Aufklärungs- und Mathestündchen gelernt haben? Tabea, ja, du, bitte? – Oder? Du hast grade keine Zeit? – Na, dann Selma, und du?"
Selma: "Vier Haschplätzchen kosten 1511 DM."
Markus: "Können kosten!"
"Könner -" (Leise:) "Halt Klappe, Tommy!"
"Und Peter? Was meinst du?"
"Nicht jeder verträgt Hasch."
Pietro: "Man musset es eben probieren!"
Lachen! Querdurch!
"Plus was noch? Ja, Heike? Was kommt noch hinzu?"
"Der Ärger mit den Eltern. Unangenehme Gespräche über Rechnungen!"
"Und in der Religionsstunde: Rechenaufgaben!"
"Ja, du musst mit allem rechnen bei mir, Wolfgang! Aber du kannst mir helfen. - Was soll ich ins Klassenbuch schreiben?"
"Äh, weiß nicht! Das kann der Hans so gut: äh: schleimen!"
„Na, na!“
"Ja, du, Hanni?"
"Geht das: ritueller Konsum von Drogen?"
„Ja doch! Frau Bergstein! Is dattan noch Reli?? Äh. Sach ma mia - woher dat Zeuch kriegen, ohne mit Bullen auffer Matte!“
„Dattat wä doch nomma spannend. Wa! Jungs!“
*
Diskussion in der Mädchentoilette. Zelle dreizehn: Selma und Tabea:
Is doch wie überall: Selbstberuhigung mit einfachen Mitteln: Lebensverlangsamung. Selbststillung. Gebet, Zeremonien, Ausschluß von Wirklichkeit. Ergebenheitssendung. Pharisäer. Pharisäer-in, mein ich! Komm, lass dich knutschen!
Und andere, die ein anderes Tempo drauf haben? - Sei nicht so melancholisch! - Die können gleich vorbeibrettern. Haben doch eh‘ zu viel Tempo drauf. Werd’n schon in die Grube sausen.
Deren Alte selber, von der war das Haschkindchen!
Wieso? Was? Das Mädchen da, mit dem Notarzt? - Das sich da vollstopfen ließ.
Ja, der Reli-Oberstudienrätin die eigene Tochter!
Woher weißt’n dat? - Dann hätte die uns dat nich erzählt! – Glaub ich nich. – Soll ich anrufen! – Quatsch!
Aber weiß ja auch kaum ein Schwein. Was da passiert ist. Die sind da wohl alle auf Suche: Mamamia. Mutter und Tochter!
Und was suchst du? – Dich Selma! Dass du mich tröstet! Kannste so gut. Komm, leih mir deinen Pulli.
Und wir schwänzen den Mathe-Erich!
Und wohin? – Nur raus, hier aus dem Pinkel!
Aber wär doch ma attraktiv für die Besucherzahlen?
Was?
Weihrauch und Wein – dat kannet doch nich sein!
Was noch?
Na, Doping beim Pastor Klinger.
Seine Haushälterin, die würd‘ mitmachen.
Und erst ihr Söhnchen!
Wie geht’s dir eigentlich mittem Thomy?
Betriebsgeheimnis, liebes Mädchen. – Kuck nich so dumm. Auf Hellas Fete, nächsten Dienstag, da musste aufpassn.
Treffen?
Jö. Äh: Bei Sanktenarnold.
Und dein Vatta? Wann wählt der denn?
Watt? Näh!, sacht der, er würd doch genullt.
*
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Montag, 16. September 2013

Kafkas Studien begreffs der M a t u r a


Kafkas M a t u r a - e i n S c h w i n d e l?


Nachzulesesn in Kafkas „Brief an den Vater“


„Mich interessierte der Unterricht - und nicht nur der Unterricht, sondern alles ringsherum in diesem entscheidenden Alter - etwa so wie einen Bankdefraudanten, der noch in Stellung ist und vor der Entdeckung zittert, das kleine laufende Bankgeschäft interessiert, das er noch immer als Beamter zu erledigen hat. So klein, so fern war alles neben der Hauptsache. Es ging dann weiter bis zur Matura, durch die ich wirklich schon zum Teil nur durch Schwindel kam, und dann stockte es, jetzt war ich frei. Hatte ich schon trotz dem Zwang des Gymnasiums mich nur um mich gekümmert, wie erst jetzt, da ich frei war. (…)“
Nachdem ich wiederholt Passagen aus diesem wahren Mentekel zur Vater-Sohn-Problematik als Klausurthema gestellt hatte, machte mich ein Schüler auf die leicht verschwiegene Aussagen von Franz K. aufmerksam: Was oder wie war das mit seinem Abitur, die natürlich „Matura“ heißt.
Keine Ahnung!
Nun, ja, nachlesbar ist: Der Brief ist 1919 verfasster, niemals abgeschickt; blieb aber erhalten; posthum 1952 in der Neuen Rundschau[ - der Literaturzeitschrift des S. Fischer Verlags - veröffentlicht; ein grundlegender Text für psychoanalytische und biographische Studien über Näheres bei Wikipedia:


Die erste Seite der handschriftlichen Fassung des unvergesslichen Briefes.

Kafka?


Das kafkasche Abiturzeugnis vom Juli 1901 ... ist faksimiliert bei Wagenbach und hier, das Maturitäts-Zeugnis.

Weiterhin: keine Ahnung!

Nun lese ich Anderes, mir Willkomenes, Genaueres:

In Reiner Stach, biografischem Datenwerk „Ist das Kafka? 99 Fundstücke")

Ein Beteiligter überlieferte das: Und so verlief – wahrscheinlich – der Weg, sich die Matura, bzw. die Mühen vor und wg. und zur Matura - zu versüßen:

Wer guggeln kann, findet den Text, der von dem Mediziner Hugo Hecht (1883 – 1970), einem langjährigen
Klassenkameraden FK.s, überliefert wurde:


(Dort sind alles Quellen angegeben. Und sie werden sehr schön, d.h. philologisch würdig und kafkasch (nicht etwa: kafkaesk.):


Aus den Texten könnte ich very-fine&lecker eine Abiturarbeit konfigurieren, die FK gefallen könnte - aber den "Probanden" gefallen müsste.…

Sonntag, 15. September 2013

S o n n t a g sfunde

Füßeln, claro: das schönste Verb zu Fuß:


Bei Duden online wird das liebliche Verb-lein (ich möchte fast sagen: das Verbelchen…) umfassender erklärt als im neuen Duden (26. Aufl. 2013, S. 443). Dort wird es „landsch.“ eingeschränkt. Wer kann denn da nicht angesprochen sein, wenn ihm/ihr gefüßelt wird, mit einem verbum frequentativum et intensivum? Oder wer würde in progagandistischer Intention schon vom Verbum Frequentativum et Intensivum sprechen?
Eingestellt auf Seite des Kompetenzteams:



Heute ist Sonnag. Quatsch: Sonntag. Heute lese ich im Goethe-Wörterbuch:

„Jeder rhythmische Vorgang wirkt zuerst aufs Gefühl, sodann auf die Einbildungskraft, zuletzt auf den Verstand und auf ein sittlich-vernünftiges Behagen. Der Rhythmus ist bestechend.“ (In: Schriften zur Literatur. Das Nibelungenlied“. Bd. 14,389)
nachgelesen hier.

Heute habe ich noch mehr gute Laune.

Heute lese ich mal dieser Schulhofgeschichte nach, vom Sheriff.

von Vegesack: De r P f a r r e r i m U r w a l d



Deutsch-baltische Erinnerungen an Autoren und Texte I



Siegfried von Vegesack


Ich stelle hier einige Absätze aus einer Novelle vor, die ein deutscher Schriftstetller für und über den brasilianischen Urwald geschrieben hat ... und über viele tapfere Kolonisten, die dort - im Urwald und mit seiner Hitze und seiner Vielfältigkeit, seiner Bedrohung und seinen Günstigkeiten - gearbeitet, gelebt ... und ihre eigene Religion empfunden haben, müde oder krank überleben und gestorben sind.


Siegfried von Vegesack

D e r P f a r r e r i m U r w a l d


- Eine Erzählung aus Brasilien. Geschrieben im März 1945

*

Das Büchlein erschien im Jahre 1947 im Verlag P. Keppler, in Baden-Baden. (Dieser Verlag ist erloschen; einen Rechte-Inhaber habe ich bei meinen Forschcungen über Siegfried von Vegesacks Werk nichtd gefunden. Ich bin mir im Klaren, dass Enkel oder Urenkel als Erben das offizielle Copyright noch haben; ihren Rechten will ich nicht vorgreifen.)
Ich verfüge über mehrere Exemplare der Erstausgabe, die 1947 in einer Auflage von 10 Tausend erschien. - Es gilt also rechtlich: Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1947 by P. Keppler Verlag. Baden Baden

Meine Absicht ist es, an dieses wichtige erzählerische Werk des Dichters Siegfried von V e g e s a c k aufmerksam zu machen. Seine Rezeption halte ich für eine dringliche Aufgabe im Gespräch der Kulturen und Religionen..

Der bayerische Verlag Morsak in 94481 Grafenau, der sich um einige Titel von SvV verdient gemacht hat, hat bisher kein Interesse an dieser Novelle gezeigt.

Wenn ich mit dieser Textprobe Aufmerksamkeit für einen vergessenen Weltbürger finden könnte, würde es mich sehr freuen. Kontakt über anton@reyntjes.de



S i e g f r i e d v o n V e g e s a c k:

D e r P f a r r e r i m U r w a l d


Ich hatte schon viel von ihm gehört, den die einen „El Santo“, den „Heiligen“, nannten, während die anderen ihn für einen Narren, im besten Fall einen Sonderling hielten. Man hatte mir die seltsamsten Dinge von ihm erzählt: wie er als junger Pfarrer in den Urwald gekommen wäre, um die deutschen Kolonisten zu betreuen, dann aber mit der Zeit selbst den Unglauben und Aberglauben der einheimischen Indios angenommen hätte, in Konflikt mit dem Konsistorium geraten wäre, so daß man ihn seines Amtes habe entheben müssen. Doch man hätte ihn nicht aus seiner Pfarre entfernen können, weil sowohl die Einheimischen als auch die Kolonisten mit kindlicher Verehrung an ihm hingen und sich geweigert hätten, einen anderen Pfarrer in ihrer Gemeinde aufzunehmen. So war es dazu gekommen, daß ausgerechnet hier im Urwalde von Espirito Santo, dem Staate Brasiliens, der den Namen des Heiligen Geistes trägt, und in der Gemeinde San Antonio, die dem heiligen Antonius geweiht ist, ein Pfarrer sich behauptete, den die Kirche ausgestoßen hatte.
Man hatte mich gewarnt, ihn aufzusuchen: er sei besonders den Weißen gegenüber mißtrauisch, streitsüchtig, ja, gewalttätig. Einen Amtsbruder, den das Konsistorium einmal zu ihm entsandt hatte, habe er fast verprügelt und mit dem Stock in der Hand davongejagt. Denn er sei von gewaltigem Wuchs und verfüge selbst jetzt, im hohen Alter, über Bärenkräfte, daß niemand es mit ihm aufnehmen könne.
Nun, in einen Kampf mit diesem seltsamen Gottesstreiter wollte ich mich keinesfalls einlassen. Doch es reizte mich, nachdem ich schon verschiedene Pfarrer Im Urwalde besucht hatte, nun auch diesen kennenzulernen, der ganz auf sich allein angewiesen hier mitten In der Wildnis hauste, sich gegen alle Behörden behauptete und als ungekrönter König herrschte. Das war aber nicht so einfach. Denn um zu ihm zu gelangen, mußte ich über den Rio Doce, einen breiten Strom, in den eigentlichen Urwald, wo es keine Wege, nur schmale Saumpfade gibt, wo man nur auf dem Rücken einer geduldigen Mula Schritt für Schritt vordringen kann wenn es nicht regnet und wo man, überrascht von einem Guß, der hier mit tropischer Heftigkeit niederprasselt, rettungslos im Sumpf stecken bleibt.
Doch ich hatte Glück: das trockene Wetter hielt an. Ich hatte mir eine tüchtige Mula beschafft, meinen Reisesack, durch einen Riemen in zwei Hälften geteilt, hinten quer über den Sattel gehängt, und ein freundlicher Kolonist, der auch über den Rio Doce mußte, wollte mich ein Stück begleiten.
Eine Fähre trug uns über den Strom. Im gelben trüben Wasser zogen Baumstrünke mit hochragendem Wurzelwerk, verschlammte Schlinggewächse und Buschinseln langsam an uns vorüber. Am Oberlauf, In Minas Geraes, müsse es viel geregnet haben, meinte der Kolonist, aber hier unten werde das Wetter wohl noch halten. Wir stießen ans Ufer. Der Urwald nahm uns auf.
Zunächst konnte Ich nicht viel unterscheiden. Eine grau grüne Dämmerung, mehr grau als grün, umfing uns von allen Seiten. Selbst über unseren Köpfen, über dem schmalen Pfad, auf dem wir ritten, kam nur hier und da, und nur in kleinen, durchbrochenen Stücken, etwas vom Himmel zum Vorschein. Und auch dies Wenige war nicht blau, wie bei uns, sondern eher stahlgrau, als hätte der feuchte Urwald mit seinem Dunst sogar den Himmel verfärbt. Zu beiden Seiten zog sich eine undurchdringliche grau grüne Mauer von Dorngebüsch, aus der sich nach und nach, als das Auge sich an die Dämmerung gewöhnt hatte, einzelne Stämme, Zweige, Schlinggewächse und Wurzelknollen herauslösten und schemenhaft vorüberglitten.
Und kein Laut weit und breit, keine Vogelstimmen alles war wie tot und ausgestorben. Wie anders hatte ich mir den Urwald vorgestellt: voll lärmender Papageien, buntschillernder Kolibris und Schmetterlinge, blühender Orchideen! Statt dessen diese farblose, lautlose Dämmerung, diese unheimliche Stille. Es war mir, als ritten wir auf dem Grunde eines Meeres, zwischen wucherndem Tang: so fremd und rätselhaft erschien mir alles.
Dann gelangten wir auf eine gerodete Lichtung, eine sogenannte "Rossa", auf der zwischen schwarzangekohlten Baumstämmen fette, grüne Maisstauden in der Sonne glänzten. Hier trennten wir uns: mein Begleiter mußte nach rechts abbiegen, während ich in derselben Richtung weiterritt: "Immer auf dem gleichen Pfad", erklärte er mir beim Abschied, „bis zu einer Schlucht, und dann sehen Sie schon drüben, auf der Anhöhe, das Pfarrhaus!"
Und so ritt ich weiter. Meine Mula schien den Weg zu kennen: sicher wählte sie immer die richtige feste Stelle, und wenn es sumpfig wurde, setzte sie die kleinen Hufe immer so, daß sie nicht versank. Ich brauchte gar nicht auf den Weg zu achten. Jetzt, wo ich allein war, überkam mich noch stärker das Gefühl, in eine völlig fremde, rätselhafte Welt geraten zu sein. Alles erschien mir unwirklich, wie ein Traum: diese seltsame feucht warme Dämmerung, dieses unentwirrbare Durcheinander fremdartiger Gewächse, diese Totenstille.

(...)
- Textprobe aus der 60-seitigen Novelle. -

Freitag, 13. September 2013

Morgensterns Galgenlieder--Philosophie

Ich konzipiere eine Deutsch-Reifeprüfungsaufgabe für AbiturientInnen:

Aufgabenstellung:

Erarbeiten Sie eine eigenständig gegliederte übergreifende Analyse der beiden Texte:

Texte:


Text I:
Christian Morgenstern (* 6. Mai 1871 † 31. März 1914):

Die Oste

Er ersann zur Weste
eines Nachts die Oste!
sprach: »Was es auch koste!« -
sprach (mit großer Geste):

»Laßt uns auch von hinten
seidne Hyazinthen
samt Karfunkelknöpfen
unsern Rumpf umkröpfen!
Nicht nur auf dem Magen
laßt uns Uhren tragen,
nicht nur überm Herzen
unsre Sparsesterzen!
Fort mit dem betreßten
Privileg der Westen!
Gleichheit allerstücken!
Osten für den Rücken!«

Und sieh da, kein Schneider
sagte hierzu: Leider -!
Hunderttausend Scheren
sah man Stoffe queren...
Ungezählte Posten
wurden schönster Osten
noch vor seinem Tode
»letzter Schrei« der Mode

- Textfassung nach textlog -

Text II:
Jeremias Müller (Pseudonym für Chr. Morgenstern):

"Betrachten wir den „Galgenberg“ als ein Lugaus der Phantasie ins Rings. Im Rings befindet sich noch viel Stummes.
Die Galgenpoesie ist ein Stück Weltanschauung. Es ist die skrupellose Freiheit des Ausgeschalteten, Entmaterialisierten, die sich in ihr ausspricht. Man weiß, was ein mulus ist: Die beneidenswerte Zwischenstufe zwischen Schulbank und Universität. Nun wohl: ein Galgenbruder ist die beneidenswerte Zwischenstufe zwischen Mensch und Universum. Nichts weiter. Man sieht vom Galgen die Welt anders an und man sieht andre Dinge als Andre."
(Aus der 1932 erschienenen Erstausgabe der "Galgenlieder" (im Verlag Bruno Cassirer. Berlin)


P.S.: Ein Scan aus Chr. Morgensterns "Alle Galgenlieder". Fotomechanischer Nachdruck der 1932 erschienenen Erstausgabe. Diogenes Taschenbuch, 1981.

* ~ *

(Zur Vorbereitung auf schriftliche Abiturarbeiten dürfen Sie die für diese Aufgabenstellung relevante Informationen aus dem Netz benutzen. Achten Sie auf präzises Zitieren.)

Allgemeiner Hinweis: Die Aufgabe ist nur „machbar“ für Abiturienten, wenn die Unterrichtsvorbereitung folgende Themen und Autoren und Motive boten: Symbolismus, Nonsensliteratur des Impressionismus, Abgrenzung zum Dadaismus, zur Neuen Sachlichkeit und der Naturlyrik; Texte und „Philosophie“ von Christian Morgenstern und anderen zeitgenössischen Dichtern.)

* * ~ * *

[Korrigierte Fassung aus dem Internet; Textaufgabe von Maria Stephanie Seligmeier. Legitimierter Nachdruck für den Abdruck in diesem BLOG von A.St.Rey]

Mittwoch, 11. September 2013

Mein und Unser-aller- D U D E N

Erstes E x e m p e l:

Die „Feierabendsprache“ ist wie der Begriff „Leihimmunität“ eine hübsch aufgemotzte, vage Verbalität.
„Feierabendsprache“.

>Grüzi allmiteinand, hier ist die „Feierabendsprache“!< Zur Geschichte des Dudens seit 1880.


Gelesen in der Rudolstädter Erklärung vom 16. Juni 2013, die der vds-ev. auf den Weg (… zum Bundespräsidenten) brachte:


„Feierabendsprache“? Eigenartiger Ausdruck, hinter dem ich durchaus Unpräzises, Unformuliertes oder gar Verstecktes vermuten kann.

Ecce homo legendus:
http://www.duden.de/suchen/dudenonline/Feierabendsprache

Duden kennt das Wort nicht - und verweist fragend „feierabendlich“.

Was nicht ausgedrückt wird, ist mehr als das Gemeinte.
Sprache mit der mensch den/seinen/ihren Feierabend verbringen will oder kann? Sprache, die den Feierabend ermöglicht? Mit der die gewohnten Fernsehprogramme abdudeln?

Im Lexikon der Uni Leipzig für den deutschen Wortschatz ist zwar Feierabend, aber nicht „Feierabendsprache“ erfasst.

Soll ich mir nun nach Feierabend, zur Nacht, in meinen Träumen oder in der frühen Morgenstunde, die Gold im Munde trägt, ,einen Sprachen-Feierabend oder den Feierabend der Sprache überdenken, sinnieren…?

Nein, die Rudolstädter Erklärung definiert nicht ihre pro- und reklamierte „Feierabendsprache“.
Es gilt die Unterzeile unter allem Unterfangen:

B ü r g e r f ü r d i e E r h a l t u n g d e r s p r a c h l i c h e n u n d k u l t u r e l l e n V i e l f a l t E u r o p a s



Mein und Unser-aller- D U D E N:

Zweites E x e m p e l:

(Wiederholter) Ausruf des "Sprachpanschers 2013" (in: Sprachnachrichten" Nr. 59 (III/2013). S. 18)

Die Plakatierung des "Sprachpanschers"(oder „Sprachpanscherei“) "2013" ist der größte gedankliche Murks, den der vds je angezettelt hat. Der "Duden", jetzt der in diesem Jahr, 2013, zuletzt davor im Jahre 2009, versammelt und bietet eine Rechtschreibung, eine (wenn nötig) Sinngebung und teilweise eine Einordnung (z.B. "veraltet", "pejorativ," der "gängige" Wörter) und prädestiniert nicht die im deutschen Sprachraum jeweils vorherrschende Macht der Wörter. Hier wird kein Srpach-Kanon betrieben. Dafür, für den Gebrauch, für die Verwertung, für die Nutzbarmachung, die Auswahl... - ist jeder "User", pardon: Nutzer des Gesamt-Wortschatzes zuständig.
Professor Krämer hat da einen Murks hingelegt, als er seine Begründung (zuletzt in "Sprachnachrichten" (Nr. 59. S. 18) formulierte. Dass eine entsprechende, sogar kleine Stimmgruppe der Wahl zugrunde lag, verbessert seine Schlagzeilen, seine MedienKlopper nicht.

Die Konsequenz dieser komischen Ab-Wahl des Dudens?

Alle Deutschsprachigen, das gesamte Sprachvolk der Deutschen, das sehr heterogen ist vom Schwyzerdütsch bis zur Nordkante des Niederdeutschen, von Hochstilisten wie einem Schriftsteller Martin Walser bis zu Ernst Haffner, dem gerade wieder entdeckten SchriftSteller der 30er Jahre (mit dem Romandokument „Blutsbrüder“) werden zu Sprachpanschern erklärt; ein Unsinn, der keine Methode hat, keinerlei Einsichten vermittelt, unsinnig für eine lebende Sprache ist, die vielfältig, frei, variantenreich ist und sich weiterentwickeln wird - eben: von den Usern, ob von Sprachfreunden oder Duden-Verächtern. Alle brauchen ein stimmig erarbeitetes Wörterbuch als Basis, als Corrigendum, als Korrektiv.
Nicht nur Permant-Denglischer, nicht nur Professoren wie Anatol Stefanowitsch sind sprachdumme Imponierhäuptlinge dreister Provenienz, auch SprachNachrichter, die die Beherrschung verloren haben. - "Kritik erwünscht", könnte die Sprache selbst ausrufen; denn "alle Sprachgewalt geht vom Volke aus"?
Ja, bitte, confer meine Erarbeitung, in der ich nachweise, dass dieser zentrale Spruch über Sprachgewalt und ihre Herkunft keine Volksweisheit ist, sondern von Jean Paul stammt:


AStRey., Recklinghausen

Oh, ja: ein Gegensatz zur Weltsprache Englisch soll schon das Schwammwort Feierabendsprache sein. Vielleicht können es die vereinten Feierabendler ausdrücken.
Mensch müsste sie fragen:

Mein und U.-a.-D U D E N:


"E n t-" - Klärungen

Das Präfix „ent-„ hat vielfachen semantischen Verlust ertragen müssen; wohl, weil es nicht eindeutig ist in seinem Wortbildungssinn.
Ich bin den aktuellen wortistischen Erläuterungen zum Verb „entpören“ verpflichtet:

Vgl. die Angaben zum Präfix "ent-" bei duden.de:

Verloren gingen z. B folgende "Ent-Wortungen:

entknüpfen,

entküssen,

entschlafen (wir nur noch ganz leise oder kursiv-klein in Todesanzeigen zu finden, wenn man sucht),

entwehren,

entzwischen (als Adverb; ersetzt durch ‚inzwischen’,

... und gar das Suffix „-enzen“ (Obacht: in faulenzen noch enthalten; ansonsten wg. unschönen Klanges und wenig angenehmen Geruchs getilgt aus der Sprachgemein(d)e: schlammenzen, fischenzen. Aber noch eine Zugabe: „kredenzen“ als schöne, genussreichen Abschied des –Schätzens, äh -enzens.)
‚entlieben’: klar doch, nicht wahr?

Viele „Ent-„Verben mit ihren historischen Erklärungen finden sich in Nabil Osmans „Kleinem Lexikon untergegangener Wörter“. S. 81f.:

Sich erhalten haben aus viele „ent-s“:
‚(sich) entleiben, entleihen’; ‚sich entrüsten’ ist ein solches Wort, das unsere Gegenwartssprache befruchtet hat:

Mir entfällt in puncto et momento ein, was mir fehlt.

Nein, „englisch“ (ob als Nationalbezeichnung oder als Synonym für 'engelhaft') gehört nicht in diese Wörter- oder WortSumme.

Und nochmals nein, „ich entdurste des Alkohols“ - als Aussage eines zu lebenslänglichem Alkoholverzicht Verpflichteten - ist eine mutwillige, fiktionale Verbalität, mit erheblichen realistischen Bezügen.

Freitag, 6. September 2013

Neuwort (m)eines Tages: "c a r n a l" (ein Adjektiv)

„C a r n a l“ -

Jep, ein Neuwort. Ich jage täglich Neuwörter:
Also Wörter, die mir neu“ vorkommen. Die mir begegnet sind. Die mir komisch vorkommen. Von denen ich wissen will, woher sie kommen. Welche Entstehungsgeschichte sie aufzeigen.
Heute also: „carnal“.
Ich kann es nicht ableiten. Ich lese nochmals, das von Klaus Harpprecht Geschriebene, der den Thomas Mann in zwei Bänden bei Rowohlt so gut, anschaulich und analytisch beschrieben hat, dass ich seitdem sogar Thomas Mann zu verstehen versuche und auch des Öfteren kann. (Ein Beispiel? „ (…) Ralf von Maiboom ist ein liebenswürdiger Mann ... aber er ist ein Junker Leichtfuß, ein Daus -“. [Th. Mann Buddenbrooks 1,464] – aber zum „Daus“ später!)

"Carnal" - es klingt so irgendwwie lateinisch...

Nun das Adjektiv?

„(…) carnal {adj}; körperlich; sinnlich; fleischlich; sexuell; geschlechtlich; leiblich
http://www.dict.cc/?s=carnal

Also, in der ZEIT (Nr. 37/2013, S. 46) gelesen: Klaus Harpprecht, in einer Glosse über die neu aufgefundenen Th-Mann-Briefe:

„(...) bei dem unserem Klassiker sozusagen in letzter Stunde auch die carnale Erfüllung der Liebe zuteil wurde (…)“
Eiei, jaja: So weiß ein Mann-Spezi Bescheid über gewöhnliche, immer gleiche oder heftige … „carnale Wünsche“.

Und ich lerne sogar Neues: „carnal knowledge“.
Ich suche es in einem englischen Wörterbuch, natürlich leichthin-lesbar-digital: dict.cc.de

http://www.dict.cc/englisch-deutsch/carnal.html

Geschlechtsverkehr {m} : intercourse, sexual intercourse
Geschlechtsverkehr {m}: sex [sexual intercourse]:nookie [vulg.] [sl.]
venery, nooky [sl.], coition, act of sex, sexual act, sexual congress, carnal knowledge sexual encounter, carnal intercourse, bunk-up [vulg.], act of sexual intercourse [Punkt. Oder: Finis. Oder: Desrection.

Puh: Haben die Engländer mehr Wörter für den anständigen oder unanständigen Sex als wir? (Der Aufgabe stell ich mich heute nimmer.)
Aber Latein zu wiederholen, es macht schrägen Spaß; "carnis, f.". Aber das Wort "carnal" hätte uns mein ewig regierender Latein- und Klassenlehrer auf der quasi humanistischen Penne (das Wort war uns nicht erlaubt. Finis!) nicht zu übersetzen erlaubt. R. i. p.: Herr OStR. Dr. V.!