Deutsch-baltische
Erinnerungen an Autoren und Texte II:
Fritz
Reck-Malleczewen (*11. August 1884 auf dem Gut Malleczewen
(Kreis Lyck) in Ostpreußen; † 16./17. Februar 1945 im KZ Dachau)
R.-M., ein Irrläufer der
Geschichte? Ein zu Unrecht Vergessener? Ein Sonderling eigenster
Prägung (wenn denn überhaupt ein Superlativ ausreicht...)?
Hier möchte ich den
Erzählband „Phrygische Mützen“ vorstellen, für den die Rechte
1922 beim Drei Masken Verlag. München liegen (heute sicherlich bei
R.-M.s Erben, die ich nicht kenne).
Ich biete hier die
Exposition einer Kurznovelle, die sich in einer Stadt an der Düna
erzählerisch ausbreitet, wo eine Kautschukfabrik von streikenden
Proletariern besetzt wird, in den Wirren der Revolution der Jahre um
1905 im baltisch-russischen Raum…
>> Auch hier:
https://www.projekt-gutenberg.org/reck/muetzen/chap004.html
https://www.projekt-gutenberg.org/reck/muetzen/chap004.html(Kurznovelle)
Im Osten verdämmerte über
Sand, Sumpf und gelben Birkenwäldern die weite Ebene, verlor sich
dort weit, weit hinter den gewaltigen, den menschenleeren Forsten in
das große gärende Rußland der aufbrüllenden Großstädte, der
zaristischen Manifeste, der meuternden Garderegimenter und der
fabelhaften Straßenkämpfe.
Hier an der westlichen
Peripherie des Reiches, an der baltischen Küste, fraß die große
Industriestadt sich mit den barbarischen Ausläufern ihrer
Proletariersiedlungen hinaus ins Vorgelände, versammelte täglich in
riesigen Meetings fünfzigtausend gegen den Zaren, gegen die
Oberschicht, gegen das Kapital aufheulende lettische Arbeiter,
mordete im Dunkeln, in den mittelalterlichen Schlupfwinkeln, schickte
Strafexpeditionen hinaus zu den Adelssitzen, brannte, schändete und
wütete gegen die aristokratische stille Kultur des Landes: "Wärest
Du nur ein Sklavenhalter, wie die Fabrikherren der Stadt, wir
sprengten nur Deine Schatzkammer und ließen Dich doch sonst
ungeschoren! Wehe Dir aber, wenn Du ein Ritter, wenn Du ein
wirklicher Herr bist mit einem anderen Hirn, als das unsere ist; so
werden wir Dich auf heißen Ziegeln tanzen lehren und Dich zwingen,
Deines geschlachteten Weibes Blut in saufen!"
In der weiten ebene im
Osten der Stadt, wo die Düna seit Jahrhunderten ungeheure Kiesbänke
ablagert, lag, eigentlich eine ganze Stadt für sich riesige
Kautschoukfabrik: Bestien rotverblendeter Verwaltungsgebäude aus
kanariengelben Ziegeln, Irrgänge verräucherter Höfe,
atembeklemmende Lichtschächte, ein Gewirr von Benzintanks,
Kesselhäusern .... fünf langgestreckte radienförmig
ausstrahlende Hallen mit schiefen Pultdächern. . . . das Ganze
umgeben den trostlosen Eisenzäunen .... eine Ausgeburt des
Maschinenwahnsinns, eine häßliche Spinne, die sich gierig
hineinfraß in das weite Bauernland. In dieser Fabrik nun hatte man
vor vierzehn Tagen die Direktoren ermordet, die zweitausend Arbeiter
hatten sich, die drohende Strafexpedition witternd, mit Weibern und
Kindern in einem Teil der Anlagen verbarrikadiert, hausten dort wie
in einer Festung und sahen im Besitze ihrer Waffen den Dingen mit
wildem Trotz entgegen.
Gegen das Novemberende
schickte die Regierung, die die große Stadt allmählich einschloß,
die ersten Truppen: es war Spätnachmittag und das Licht schon in
völligem Schwinden, als die dritte Schwadron der kaiserlichen
Chevaliergarde in die zur Fabrik gehörige Siedelung Schreyenbusch
einritt. Zuerst ritt der Vorsänger mit dem Schellenbaum )
und dahinter trottete der Schwadronsziegenbock Iwan Pawlowitsch, und
dann fielen
hinter diesen eleganten
und stark parfümierten Offizieren die Soldaten ein mit einem jener
sechzehnstimmigen höchst kunstvollen Lieder des russischen Heeres,
die wie gothische Hymnen klingen, bei deren Text sich aber doch jeder
Hamburger Leichtmatrose schamrot bei Seite schleichen würde …
Der Ort selbst... mehrere
kilometerlange Prospekte direkt auf den Sand gebauter Holzhäuser...
lag absolut verlassen da, die häßliche Silhouette der Fabrik bohrte
sich spukhaft in das nasse Grau. Haufen von Müll, von verrosteten
Sprungfedern, Konservenbüchsen und defekten Emailgefäßen bedeckten
die Straße... Exkremente der Maschinen ... das Symbol des
Proletariats. In der ungeheuren Stille klang der Gesang der Soldaten
seltsam, er wurde gleichsam aufgesogen von dem grauen Chaos ... die
Gestalten der gewaltigen Cuirassiere, eingehüllt in die nassen
Mäntel, glitten wie Gespenster durch den Nebel. Ein zwergenhaftes
menschliches Wesen, nur mit zu groß geratenem Kopf, ein
zurückgelassener Kretin offenbar, lief auf den Bretterstegen neben
den Panzerreitern her, machte mit seinen kreischenden Vogelschreien
die Pferde scheu und war plötzlich vom Nebel verschwunden, als einer
der Unteroffiziere ihn vom Sattel aus am Kragen fassen wollte.
Der Schwadronschef Graf
Sergej Julitsch Oronzow, der Liao Yang und Mugden hinter sich hatte,
war in einiger Verlegenheit: Verstärkungen hatte er erst nach
einigen Tagen zu erwarten, für den Augenblick stand ihm hier,
zwischen der unbezwungenen Stadt und dieser Zitadelle des Pöbels nur
dies eine Schwadron zur Verfügung, und stündlich konnten diese in
de Fabrik versteckten zweitausend desperaten Menschen seine schwache
Truppe überfallen. Auf dem großen Platz, wo ein altes, auf rund
Holzsäulen gestütztes Herrenhaus von verschollenen Tagen
patrizischer Behäbigkeit träumte, ließ es absitzen. Ehe die
Schwadron auseinanderging, gab er seine Befehle für die Nacht: die
Leute hatten sich mit umgehängtem Pallasch und schußbereitem
Karabiner niederzulegen, jedes Haus hatte einen Doppelposten zu
stellen, die Wachen bei den Pferden waren zu verdoppeln. Er selbst
beschloß, da die Fabrik auffälliger Weise auch nicht die geringste
Spur von Leben zeigte, die Dunkelheit zu benützen, um mit der
Abteilung des Unteroffiziers Nikiforoff II wenigstens das vordere
Verwaltungsgebäude auszukundschaften.
Die Cuirassiere, vierzehn
Mann nebst den drei Schwadronsoffizieren, gaben sich alles Mühe,
leise zu sein auf den steinern Treppen, durchschlichen die
unverschlossenen Räume des obersten Stock, tasteten sich mit
schußbereiten Waffen an den langen Bureautischen vorwärts,
unterdrückten abgründige und für europäische Begriffe
unausdenkliche Flüche, wenn einer der ungefügen Pallasche auf dem
Boden klirrte. Die Fliesen waren mit einem undefinierbaren Chaos aus
zerrissener Briefe, von Trümmern zerstörter Schreibmaschinen und
unsäglich verschmutzten Lumpen bedeckt, in der Privatkabine, wo sich
das Drama mit den Direktoren abgespielt haben mochte, zeigte sich,
als Oronzow für Sekunden das Taschenlicht aufblitzen ließ,
Kugelspuren in dem pompejanischen Rot der Wände, unter den Trümmern
einer Theemaschine war eine blutbesudelte Sammlung obszöner
Photographieen zu entdecken. Da die Fensterscheiben zerbrochen waren,
hatte die eingedrungene Feuchtigkeit alles zu einem kadaverhaften
Brei gemacht, der Wind, der draußen zu gehen begann, pfiff mit
seltsamen Stimmen in diesen verlassenen, auf hunderte von
geschäftigen Menschen berechneten Räumen, daß die Leicht sich
bekreuzigten. Von der sagenhaften Besatzung der Fabrik war nicht zu
merken.
Oronzow, in dem die
Abenteuerlust des alten Reiters erwachte, öffnete die
eisenbeschlagene Tür in der Hinterwand des letzten Raumes. Ein
unendliche langer Ganz, die Überleitung wohl zu den Fabrikräumen,
klaffte ihm entgegen; schmale Tische dehnten sich an der unabsehbaren
Fensterreihe, im aufblitzenden Lichtschein las Oronzow die Etikette
einer der herumliegenden Pappschachteln und erkannte, daß hier ein
paar hundert anämischer Weiber "Gummigötzen für den Export
nach Zentralafrika" gepackt hatten; ah, wie sie doch keine Seele
hatten, diese fremdblütigen Wurstmacher )
... wie sie doch keine Seele hatten!
Sich weiterschleichend
erreichte er am Ende des Ganges eine zweite Eisentür, aus der eine
kurze Treppe direkt in eine der Maschinenhallen führte.
Hinunterspähend von der Galerie in den mächtigen Raum, sah der
Offizier die phantastischen Schatten dieser eisernen Leviathane gegen
den Abendhimmel sich abheben, sah die unentwirrbaren Linien
unzähliger Riementransmissionen, sah hinab in dieses Labyrinth von
Schlupfwinkeln, aus denen jederzeit kleine graue Nachtalben mit
blutgierigen Lettengesichtern sich auf seine ehrlichen russischen
Bauern stürzen konnten. Wo in aller Welt steckte diese Besatzung?
Nun ja, Gott mochte wissen, wieviel solcher Hallen es hier gab, was
alles sich in den Kesselhäusern, in den Kohlräumen, in den Kellern
und Tunneln verbergen mochte! Er lauschte angespannt in den Saal
hinab. In den Transmissionen heute der Wind, verfing sich in den
eisernen Schlünden der Maschinen. Im Begriff, endlich die Tür zu
schließen, zuckt Oronzow zusammen: der Wind hatte etwas Seltsamen...
Lachen... Worte... nein nur den Schatten, die Geister menschlicher
Stimmen herübergeweht.
Er wandte sich an den
hinter ihm stehenden Unteroffizier: Hörst Du nichts?"
Der Andere lauschte mit
gerunzelter Stirn: "Nein, Ew. Hochwohlgeborn!" Aber er
bekreuzigte sich.
Der Rittmeister schloß
leise die Tür und ließ die Lampe aufleuchten. "Was hast Du
da?" Er zeigte auf ein undefinierbares Etwas, das aus dem Rock
des Unteroffiziers hervorlugte, erkannte dann bei näherem Zusehn das
altkluge Gesicht eines Igels, der im Lichtschein blitzschnell sich zu
einer stacheligen Kugel zusammenrollte.
Der Unteroffizier lachte
über sein ganzes pockenarbiges Gesicht: "Petruschka, mit
Verlaub, Ew. Erlaucht... es ist Petruschka. Wir haben ihn im fernen
Osten gefangen und führen ihn mit uns, weil sich an seinen Stacheln
mit Verlaub zu sagen die Krankheiten der Pferde verfangen."
Oronzow wandte sich
nickend ab, ging den Weg zurück, den sie gekommen
waren, in den letzten der
Bureausäle. "Nun, Du wirst also hier wachen mit den Leuten
diese Nacht."
Der Andere lachte wiederum
in seiner fröhlichen Zuversicht, wies über den Rücken hinweg nach
den Maschinenräumen zurück, wo der unsichtbare Feind stehn mochte:
"Es soll ihnen nicht gelingen!"
Oronzow faßte nach dem
Kettchen, das Nikiforoff bei der Bewegung aus dem Koller geglitten
war. "Du trägst die Iberische
bei Dir?"
"Jawohl, Ew.
Erlaucht, die Iberische und auch das Mütterchen von Moskau. Aber die
Iberische ist besser."
"Nun gut. Gib also
gut acht auf die Eisentür. Christus sei mit Dir." Und er wies
auf jenes Gatter, hinter dem vor einigen Wochen noch ein paar hundert
anämische Weiber Gummigötzen für den Export nach Südafrika in
etikettierte Pappschachteln gepackt hatten. Dann überließ er den
Unteroffizier Nikiforoff II nebst seinen Leuten seinem Schicksal.
***
Der Cuirassier
Ilja Fomitsch Gontscharow, der auf dem Alarmplatz vor der Fabrik von
zwei bis vier Uhr Nachts die "verfluchte Wache" hatte,
dachte an die Schlacht bei Mugden, die er mitgemacht hatte und dachte
wieder einmal daran, wie sie irgendwo in einer der öden Schluchten
einer der schlecht berittenen japanischen Offizierspatrouillen
niedergemacht hatten und erwog wieder einmal die Frage, ob es
wirklich gerecht vor Gott gewesen sei, auf diese Japaner zu schießen.
Gut, es war von den Vorgesetzten befohlen worden, auf die Japaner zu
schießen, aber sieh mal, Iljutschetschka, führten denn die Japaner
nicht auch nur die Befehle ihrer eigenen Vorgesetzten aus, wenn sie
ihrerseits auf die Russen schossen? Und mußte man sie denn da nicht
nach Gottes Willen verschonen?
In diesem Sinnieren, wie
man in solchen Fällen Gottes Willen am besten erfüllen könnte,
wurde der Posten durch drei... vier aus dem Fabrikgebäude kommenden
Schüssen aufgestört, denen dann nach einer kurzen Pause ein
einzelner langgezogener Schrei folgte... ach ja, ein ganz
schrecklicher Schrei folgte, und genau so hatte es geklungen, wenn
längst der mandschurischen Bahndämme die Tungusen)
ihre Schafe geschlachtet hatten: diese Teufel, die den Tieren die
Eingeweide aus dem Leibe rissen, ohne sie vorher getötet zu haben...
Im Gedenken an dieses oft
gesehene Bild schoß der Cuirassier seien Karabiner in die Luft, der
Posten vor dem Quartier des Rittmeisters, alle übrigen auf den
Gassen antworteten ... drüben jenseits des Platzes schmetterte der
aufgeschreckte Stabstrompeter das Signal "Katji letji streloi")
in die Nacht ... dieser Teufel, der zuviel Schnaps getrunken hatte
und sich auf dem hohen Ton mit "streloi" überschlug.
Im Augenblick war die
Schwadron, die Pallaschgurte umwerfend, auf den Beinen mit
verschlafenen Gesichtern und schief sitzenden Feldmützen, und nur
der Leutnant Dochturow war noch nicht ganz mit seinen Tragbändern
fertig, als er auf die schon in Reih und Glied stehende Truppe
zugelaufen kam: "Nun, Du ... Freundchen, was ist los?"
Der Flügelmann wies in
die Fabrik und die ihm zunächst stehenden Cuirassiere antworteten,
beinahe im Chore: "Der Teufel, Ew. Hochwohlgeborn, ist los. Aber
wir werden ihn mit Gottes Hilfe wieder an die Kette legen."
Vor dem Verwaltungsgebäude
ließ Oronzow, der beinahe als Erster auf dem Alarmplatze gewesen
war, ausschwärmen. Er selbst betrat mit einem ganzen Zug die Räume,
in denen er gestern den Unteroffizier Nikiforoff II zurückgelassen
hatte. Irgendwo hinter ihm zündete ein Voreiliger Licht an. "He,
Du Teufel, willst Du wohl das Licht..." Ein Schuß pfiff
gleichwohl an seinem Gesicht vorüber, zehn, zwölf weitere fuhren,
als das Licht erloschen war, mit scharfem Peitschenknall in die
Decke, fernes Gelächter kam aus dem Dunkeln, flüchtige Schritte
trappelten über den Strich, ganz weit dort in dem Gang, wo die
Fabrikmädchen die Götzenbilder verpackt hatten. Dann war es stille.
In dem Raum, in dem der
Unteroffiziersposten gelegen hatte, roch es widerlich stark nach
frischem Blut. In dem grauen Licht der Dämmerung - es wollte zum
ersten Male seit Wochen ein heller Tag werden - erwies es ich, daß
von den am Vortage hier zurückgelassenen Leuten auch nicht ein
Einziger am Leben war. Die beiden Posten vor Gewehr waren erschossen,
sie lagen an der eisenbeschlagenen Tür und waren übereinander
gestürzt, die Anderen hatte man mit Messern ermordet, ehe sie wach
geworden waren... ja, sie hatten elendige Knebel im Munde, und diese
lettischen Teufel hatten ihnen die Kehlen durchschnitten. Der
Unteroffizier stand zwar als einziger aufrecht, aber er stand auf dem
Kopfe....ja, diese gottlosen Räuber hatten ihn an die Holzwand
genagelt... durch die Hände und mitten durch das Stiefelleder gingen
große neue Nägel, und er hatte sich wie die Anderen verblutet durch
die Winde im Hals. Neben ihm, mit einem finnischen Messer an die
gleich Wand gespießt, verzappelte der Igel Petruschka, der von den
Pferdeställen die bösen Geister hatte fernhalten sollen, und nun
rollte er sich nicht mehr zu einer Stachelkugel zusammen, und in
seinen Augen standen, als Oronzow ihn beleuchtete, wahr und
wahrhaftig zwei dicke Tränen. Das Abscheulichste - man hatte den
Toten die Kleide vom Leibe gezogen, sie streckten den Soldaten die
Blöße entgegen, und in das dicke des Gesäßes hatte man mit
Messern das Regimentsmonogramm eingeschnitten... ach, Jesus ja, ach
großes Erbarmen...
Oronzow, der in seinem
Leben Mancherlei gesehn hatte, betrachtete alles mit sachlicher Ruhe.
"Nun sieh mal", dachte er, "das haben sie ganz
ordentlich besorgt, diese Teufel, das haben sie wirklich ordentlich
besorgt. Aber wir werden es Ihnen..." Er wußte, wie man sie
bestrafen werde, ja, mit einer guten großrussischen Strafe, diese
fremdblütigen Teufel. Die Cuirassiere um ihn traten mit den schweren
Reiterstiefeln verlegen auf der Stelle. Der Leutnant Dochturow, sehr
stark nach Eau d' Espagne duftend, war totenblaß geworden und
zitterte und führte ein spitzenbesetztes Taschentuch vor die Nase.
"Wenn Sie das nicht ansehn können, Alejef Fjodorowisch",
fuhr Oronzow ihn an, „so hätten Sie Advokat werden sollen!"
Er schrie den Offizier an,
ohne Rücksicht auf die Anwesenheit der Soldaten zu nehmen. Dann ließ
er die Toten vor das Gebäude tragen.
***
Am nächsten Tage war
wirklich der Frost da, man konnte übe die Ebene weit nach Osten bis
zu dem Gebirgszug sehn, dorthin, wo die Düna durch den Granit
bricht. Über die glashart gefrorenen Wege kam die Verstärkung...
zwei weitere Schwadronen mit schweigender Musik... der Kommandeur
hatte mitten im Marsch, als ihn die Nachricht von den Ereignissen der
Nacht erreicht hatte, abbrechen lassen. Die Cuirassiere, wohlhabende,
freiwillig dienende Bauernsöhne aus den weizenreichen
Wolgagouvernements, blickten finster vor sich her, in ihrer
Regimentsehre getroffen. Dann kam der Stab und die Burschen des
Kommandeurs, berittene Infanteristen, ziemlich verunglückt auf den
hochbeinigen Handpferden ihres Herrn sitzend. "Hund auf dem
Zaun"...
seht Freunde die Hunde auf dem Zaun!" schrien die Cuirassiere
Oronzows, die auf der Dorfstraße vor ihren Quartieren stehende das
Lederzeug künzelten).
Aber die Infanteristen waren zu einer Antwort nicht zu bewegen und
ritten stolz vorüber. Dann rasselten auf ihren Karren die
Maschinengewehre mit schlitzäugigen und pockennarbigen Kaukasiern
auf den Sitzen heran. Die Oronzowschen kritisierten die kleinen
Pferde: "Nun sieh doch nur, sie haben Mäuse vor den Lafetten
statt der Pferde."
"Ja... ja",
schrie es im Chorus, "sie haben ihre Pferde in Mausefallen
gefangen, diese Teufel. Man lachte und dachte augenblicklich nicht an
die zerfetzten Kameraden aus der Fabrik. "He!" schrie es
von den Lafetten fröhlich zurück: "He, ihr Klempnerburschen
),
wir hören, daß der Teufel über Euch gekommen ist in dieser Nacht?"
"Ja, aber wir werden
ihn wieder in die Hölle schicken mit Gottes und mit Eurer Hilfe!"
antworteten die Cuirassiere und polierten die Kinnketten in den
bloßen Händen. -
Der Kommandeur hatte eine
Unterredung mit dem Rittmeister Oronzow, die dieser mit hochrotem
Kopfe verließ. Wie, man sollte systematisch belagern? Man sollte es
in den Kauf nehmen, noch mehr gute Leute dabei zu verlieren, weil die
in Petersburg befohlen hatten, keine Werte zu zerstören? Man konnte
das Nest in Einem ausheben... aber die in Petersburg würden schon
sehn, wohin sie selbst kommen müßten, wenn sie die Revolution mit
Cremechocolade bekämpfen wollten! Er wiederholte wütend
"Cremeschocolade" und ließ mißlaunig den Pallasch auf dem
frostharten Boden klirren und begab sich dann an die Stelle, wo man
den gestern Gemordeten das Grab gegraben hatte.
Das war in den Sandbergen,
dort, wo vor Jahrtausenden der durchbrechende Strom den Humus der
Ebene unter gewaltigen Kiesbänken begraben hatte... ein unheiliger
Ort, eine alte Richtstätte der großen Stadt in ihren hansischen
Zeiten, durch Spukgeschichten übel beleumundet. Da war nun also ein
sehr tiefes, mit Tannenzweigen ausgestecktes Grab, und zuerst
umschritt es der Regimentspope in weitem Geviert und segnete die
Toten, den Himmel darüber und in Christi Namen die Erde und das
Wasser, die ihren Leib auflösen würden; und da waren sie nun selbst
diese armen Puppen mit ihren Glasaugen und den Leinentüchern, die
ihnen die Todeswunden verhüllten... Ja, da waren sie und die langen,
schweigsamen Züge ihrer Kameraden, die mit schwerfälligem
Reiterschritt an ihnen vorüberzogen. Da waren Rauchfässerdunst und
Chorknaben, und dann im jungen Kiefernholz die weite Schar knieender,
barhäuptiger Soldaten mit ihren aristokratischen Offizieren, und
wiederum in der Mitte dort der Priester mit dem unendlich langen,
weißen Bart und die altslawonischen Gesänge und die Worte des
Totenzeremoniells ... Gospodji pomiluj... Herr erbarme Dich... Ja
irgendwo mochte der große Gott, der das Geheimnis und die Ursache
aller menschliche Roheit und alles Leides der Kreatur kennt, sitzen
und sich über den geschlachteten Unteroffizier Nikiforoff II
erbarmen und über die vierzehn Cuirassiere vom Regiment
Chevaliergarde und den Igel Petruschka mit den Tränen in seinem Auge
... ja, ja, auch über das Igeltier und Gottesgeschöpf Petruschka.
Hier aber geschah es, daß am Schluß der Totengebete, als der
priesterliche Mund schon verstummen sollte, aus eben diesem Munde
sein Wort kam, blitzschnell wie ein Peitschenhieb zuckendes Wort, das
nichts von Erbarmen wußte, sondern nur von Rache ... ah, von einer
befreienden, großrussischen Rache an den fremden Mördern. Da
geschah es weiter, daß sich plötzlich ein einzelner Soldat von der
Leibschwadron, ein baumlanger, blonder Mensch aus dem tambowschen
Gouvernement aufstand und vor dem vorgehaltenen Kreuze des Popen
kniete und mit weithin schallender Stimme auf den Crucifixus schwor:
wie er nicht ruhen werden, bis er den Tod der Kameraden an den
Mördern gerächt habe, an den Mördern und ihren Weibern und ihren
Kindern, und sie ausgerottet habe bis zum Allerletzten. Und wie er,
so kamen sie alle, einer nach dem andern ... kamen Cuirassiere und
kubansche Kosaken und kaukasische Schützen ... kamen diese
Gardeoffiziere mit Rußlands großen Namen... kamen sie und schwuren
auf das Zeichen der Liebe blutige Rache, schwuren es in Scharen,
schwuren es einstimmig in ganzen Chören, daß die tiefen
Männerstimmen weit hinschallten in den hellen Tag. Und so lag das
ganze klirrende Reiterregiment auf den Knieen und schwur und betete
zu dem großen russische, dem langbärtigen Gott, der ist nicht wie
andere Götter. Sondern er sitzt unter herbstgelbem, mächtigem Ahorn
auf einem Thron von poliertem Birkenholz, und um ihn ist weites,
fruchtbares Land und das gewaltige russische Volke, vor dem dereinst
die Völker des Westens allesammt vergehn werden. Amen.
***
Sieh, diese waren nun die
winterhellen Tage vor Weihnachten mit grimmig klirrendem Frost und
eisigen Winden und dunklen Nächten und pechschwarzem Himmel und
übergroße, bösen Sternen. Chevaliergarde und kubansche Kosaken
hatten denen in der Fabrik das Wasser, das Licht und jedwede Zufuhr
abgesperrt und hielten den gewaltigen Komplex mit seinen zweitausend
und noch mehr Insassen, nebst Proletarierweibern und hungernden
Kindern umspannt mit ihren Ketten, daß keine Maus hätte
hindurchschlüpfen können. Ja, zunächst war es wohl sie, daß die
Besatzung im Bewußtsein ihrer größeren Menschenzahl die Belagerer
verspottete, daß sie ausgestopfte Puppen in russischen Uniformen an
den Fenstern erscheinen ließ und die wirkungslos im Mauerwerk
verprasselnden Salven der Soldaten mit höhnendem Lachen
beantwortete, auch vom Uhrturm die rote Fahne im eisigen Ost flattern
und durch die Nacht die wilden lettischen Haßgesänge hören ließ,
daß es schaurig zu den Posten herüberklang. Aber dann war die
schreckliche Kälte gekommen ... und kein Wasser ... und Hunger ...
Hunger ... Hunger von zweitausend verzweifelten Menschen. Es war
ihnen zu nichts nütze, daß ihre Kugeln ab und zu einen von den
Belagerern erwischten, wenn die draußen sich aus ihren Erdlöchern
wagten, es nützte zu nichts, daß diese rasenden Arbeiter eine oder
die andere Wache nächtlings überfielen und ihre das Schicksal des
Unteroffiziers Nikiforoff II bereiteten. Die Erbitterung wuchs, die
Kette hielt, der Hunger quälte mit wütender Marter, man hörte
draußen im Dunkel die frierenden Kinder heulen und wachte gut und
unerbittlich.
Am zwölften Tag dieser
Belagerung geschah es, daß vor dem Cuirassier Jlja Fomitsch
Gontscharow, der mit dem Maschinenschützen Gregoraschwili auf der
nach der Stadt zugelegenen Seite stand und zur Stunde wieder daran
dachte, daß die bei Mugden niedergeknallten Japaner nur die Befehle
ihrer vorgesetzten ausgeführt hätten ... ja, da geschah es also,
daß hier, wo die verlassenen Kleingärten der Proletarier an das
Fabrikgebäude stießen, auf dreihundert Meter Entfernung eine graue
Weibergestalt erschien, sich scheu nach allen Seiten umsah und dann
die mitgebrachte Hacke in den vereisten Boden sausen ließ: versteht
sich, um die letzten noch in der Erde steckenden erfrorenen
Kartoffeln zu bergen. Gleich darauf geschah es, daß ein zweites,
drittes und ein viertes Weib erschien, daß andere mit zerlumpten
Kindern folgten und allesammt gierig an sich rissen, was da zu finden
war.
"Heda! Freundchen! Es
ist in diesem Falle nicht erlaubt, zu schießen!" Und der
Cuirassier Gontscharow riß dem schlitzäugigen Kaukasier neben sich
die Hand noch gerade im letzten Augenblick vom Abzug fort.
Der Andere sah ihn
erstaunt von der Seite an: "Und warum nicht, wenn es Dir zu
antworten beliebt?"
"Nun, Du magst ruhig
auf diese Teufel, ich meine auf die Männer schießen, aber es ist
vor Gott ganz und gar nicht erlaubt, auf die Kinderchen zu schießen."
Da der Streit der beiden
des Weiteren heftiger und mit lauten Stimmen geführt wurde, so kam
es, daß ohngeachtet aller Gefahr die benachbarten Posten auf die
Beiden zukrochen und die Auseinandersetzung mit anhörten. Und da
inzwischen die Weiber ungestört weitergruben und die Besatzung der
Fabrik ihrerseits zu feuern sich wohlweislich hütete, so bildete
sich an Ort und Stelle ein richtiger Debattierclub, ob man angesichts
der Kinderchen feuern dürfe oder nicht. Man sprach sich also gegen
das Schießen auf die Kinder aus oder bekannte sich dazu, und
schließlich erschienen an den Fabrikfenstern sogar die Verteidiger,
die einen Streit witterten und etwas von den Worten erhaschen
suchten. Bis die Frage dann von einem schmächtigen Unteroffizier der
kubanschen Kosaken entschieden wurde: "Du, gibst doch wohl zu,
mein Lieber, daß die Väter dieser Kinder, nämlich diese lettischen
Teufel, keine Seele haben?"
Der Cuirassier Ilja
Fomitsch Gontscharow nickte.
"Nun, und von den
Weibern, da sie sich an der Schlachtung der Euren beteiligt haben,
gibst Du es auch zu? Gut: also wenn die Väter keine Seele haben und
die Mütter haben sich auch nicht, wie sollten die Kinderchen dann
eine haben?"
"Nun, nein, es ist
wahr, daß sie keine Seele haben. Diese Fremden haben ganz und gar
keine Seele." Damit lief die Versammlung wieder auseinander. Der
Cuirassier Gontscharow hob den Karabiner und zielte sorgfältig auf
das zuerst erschienene Weib, das den auch prompt mit Blitz und Knall
umkugelte. Sofort fing die ganze Postenlinie auf die Weiber zu feuern
an, die mit kreischendem Schrien unter Zurücklassung ihrer
Kartoffelkörbe auf das Tor zuliefen, in der Todesangst ihre eigenen
Kinder niedertraten, zum größten Teil aber auf dem gefrorenen Boden
liegen blieben. Zugleich fing die erbitterte Besatzung zu schießen
an, und es begann ein Gefecht, das die ganze Nacht hindurch währte
und bei dem die Truppen erhebliche Verluste hatten. Man sah in der
Frühdämmerung bei eingeschrumpften, weiß bereiften Leiber der
Toten auf der steinharten Erde liegen.
In diesen frühen
Morgenstunden war es merkwürdig still. Dann aber hörten die
frierend in ihren Löchern hockenden, die erbitterten Soldaten von
der Fabrik her erregtes Schreien, eine wütende Auseinandersetzung
zwischen irgendwelchen Parteien in dieser verzweifelten Besatzung,
klägliches Geheul der hungernden Kinder und das Keifen rasender
Weiber, die mit kreischender Fistel in den Streit sich einmischten.
Dann ward es wieder stille.
Um neun Uhr morgens nach
der ersten Ablösung öffnete sich auf der Nordseite das große
Fabrikportal, und heraus drängte mit roten Fahnen und mit Schreien,
die nichts mehr Menschliches hatten, diese rasende Besatzung: Männer
und Weiber durcheinander, halbwüchsige Burschen mit exkrementalen
Gesichtern ... nicht Letten allein ... die ganze vielfarbige Palette
des russischen Proletariats ... Polen, ausgemergelte Sachsen,
französische Metallarbeiter, rasende chinesische Kesselheizer...
alle mit glühenden Augen, alle mit dem wütenden Haß der
Unterirdischen gegen das singende Leben ... Weiber mit finnischen
Dolchen zwischen den Zähnen ... einzelne Schüsse knallten ...
irgend ein Bursche begann mit gebrochener und sich überschlagender
Stimme die Arbeitermarseillaise zu kreischen, mit diesen rostigen
lettischen Lauten ... Weiber fielen singend ein ... die ganz
verzweifelte Schar sang und stürzte singend vorwärts.
Die überraschten
Soldaten, kaum dreihundert Meter von diesem Haufen entfernt,
stutzten, rissen dann die Gewehre, die in den Schnee eingegrabenen
Kugelspritzen hoch.. "Sie haben keine Seele ... ah, seht Ihr,
wie sie keine Seele haben?"
Der Schrei stob die ganze
feuerspeiende Linie entlang, der Tod fuhr unsichtbar aus den heiß
werdenden Läufen, er fraß an dieser dicht sich zusammendrängenden
Kolonne dort drüben, er preßte diese Schreie folternder Grabenangst
aus den Kehlen, unterwühlte den Haufen der Überlebenden, schmolz
ihn vollends ein, daß schließlich die rote Fahne in einem
Leichenknäuel stecken blieb.
Dann sah man Verwundete
die Arme hoch werden und hörte sie, wie sie schrien: "Gebt und
Gnade!"
Da sprengten kubansche
Kosaken heran über das Feld und stachen sie mit Lanzen tot.
Es ist zu bemerken, daß
von allen diesen Belagerten auch nicht Einer mit dem Leben davonkam.
***
Am nächsten Tage, als
auch die große Stadt zur Ruhe gebracht worden war, zog das Regiment
Chevaliergarde mit schmetternder Musik vom Osten her ein. Ma Abend
trafen sich die Offizierskorps sämmtlicher anwesender Regimenter in
dem bekannten Haus der Witwe Tritten in der Grünstraße, welches
Etablissement genau so wie die Filialen in San Franzisko, Antwerpen,
in Singapoore und in Buenos Aires auch nur eine Zweigstelle des
großen Hamburger Haupthauses war. Der große Salon, in dem man Thee
trinken und sogar soupieren konnte, ohne sich um den eigentlichen
Zweck des Hauses zu kümmern, war überfüllt. Man sah, durchaus
getrennt von der russischen Gesellschaft, die schlanke livländische
Aristokratie... Väter und Sohne, die sich gegenseitig nicht zu
kennen vorgaben ... dann die Polytechniker, jüdische Rechtsanwälte
und selbst Gymnasiasten. Man saß gerade beim Abendessen oder auch
vor kleinen Brandy-Karaffen, ein Klavierspieler mit einer
Porzellannase schlug ein Pianino ...im Hintergrunde tanzte man mit
den Mädchen, zu denen alle Nationen der Welt ihr Kontingent hatten
beisteuern müssen: Lettinnen mit kaffeebraunen, spröden Haaren,
Französinnen, die auf dem jährlichen Wege von der Riviera nach
Petersburg hier Station machten, ältliche breithüftige Sächsinnen,
die für die westlichen Märkte schon untauglich geworden waren und
endlich ruthenische, galizische, polnische Jüdinnen in prachtvollem
Blütenalter. Es roch nach Schminke und Weiberfleisch... der Manager
der Witwe Tritten saß unter den Glasstufen der großen, nach oben,
zu den Separatkabinen führenden Treppe und machte für jedes
Mädchen, das mit einem Kavalier sich nach oben begab, einen Strich
ins Notizbuch.
Vorn, wo die Offiziere der
Okkupationsregimenter saßen, führte ein alter General im Format
eines russischem Bauernofens den Offizieren seines Stabes das erste
von ihnen gesehene Benzinfeuerzeug vor, sah jeden beglückt und
triumphierend wie ein Zauberkünstler nach einem gelungenen
Kunststück an, wenn die kleine Flamme aufzuckte. Noch weiter vorn
erzählten sich fünf Dragonerleutnants unanständige Geschichten von
der Tänzerin Pawlowa, zwei Hauptleute von der provinzialen
Linieninfanterie debattierten erregt über die Frage, ob ein
kaiserlicher Ukas wohl zweckmäßig sein würde, der den Popen das
Abschneiden der langen Haare auferlegte.
Distinguierte
Gardefeldartilleristen unterhielten sich leise über die politische
Lage in Moskau ... irgendwo sah man die Spitzel der politischen
Polizei ... in der Mitte, wo mit dem Fahnenjunker Fürsten
Bolkonski,
dem Leutnant Dochturow und dem Regimentsarzt Michailow der
Rittmeister Graf Oronzow saß, wurde das Meutern des
Preobraschensk-Regimentes und der Eisenbahnerstrike
ziemlich erregt erörtert. Der Regimentsarzt, aus der freisinnigen
Bourgeoisie stammend, ereiferte sich über die Brutalität, mit der
die Regierung die Revolution niederschlug, der Fähnrich opponierte
ihm, um seine Loyalität zu bekunden, überlaut, der Arzt überbot
ihn, die Debatte wurde fast schreiend geführt, es war nicht zu
verhindern, daß, während der nasenlose Klavierspieler die Melodien
aus Eugen Onegin herunterpaukte, sich ein Kreis uniformierter Zuhörer
um den Tisch bildete. Oronzow saß schweigend dabei und trank
ungeheure Mengen Alkohol. Der Leutnant Dochturow, mit einem
kristallenen Parfümfläschchen spielend, pflichtete dem Fähnrich
bei: eine Regierung, die sich halten wolle, müsse von Anfang an
scharf zugreifen... die französische von 1789 sei nur über die
eigene Sentimentalität gefallen...
Der Regimentsarzt, ein
wohlbeleibter Mensch mit bartlosem Gesicht und randlosem Kneifer,
schlug sich auf die fetten Schenkel: "Aber, mein Lieber, man
tötet bei uns nicht nur die Menschlichkeit ... bitte, man tötet
zugleich die Intelligenz der Arbeiter, man tötet den Fortschritt
Rußlands, man blamiert sich vor Europa!"
Ein Hauptmann vom
Jsmailowschen Regiment fuhr, stark angetrunken wie er war,
dazwischen: "Nun sieh ihn einmal, er wird selbst wohl Aktien
besitzen, daß er sich so ereifert."
Eine Pause entstand, in
der nur von der Saalmitte her die höllische Zote eines ebenfalls
stark angetrunkenen polnischen Gutsbesitzers laut wurde. Der
Regimentsarzt bekam einen roten Kopf, seine fette Stimme überschlug
sich: "Nun, was sagen Sie da? Das soll eine Schande sein? Wie?
Se. Kaiserliche Hoheit besitzt auch Aktien!"
Auf dieses Wort wollte man
nicht erwidern. Man schwieg verlegen und spielte mit den goldenen
Armbändern, die man nach europäischer Mode am Handgelenk trug. Die
politischen Geheimagenten, die irgendwo Thee tranken, rückten näher,
nur die Linieninfantristen stritten unentwegt weiter über die frage
der Popenbärte. Schließlich sucht der alte General zu vermitteln,
indem er betonte, daß, wenn Se. Kaiserliche Hoheit wirklich Aktien
besäße, er sie eben zum Heile des gemeinsamen Vaterlandes Rußlandes
besäße. Die Gardeartilleristen, reiche moskauer Kaufmannssöhne,
Parvenues unter den hier versammelten großen Namen Rußlands,
hielten sich aus Gründen der gemeinsamen Intelligenz zum Stabarzt.
Schließlich sah man auf Oronzow, der schweigend zugehört hatte.
"Nun, Sergej Julitsch ... Ew. Erlaucht... seht, er hat gestern
in Schreyenbusch
zweitausend Arbeiter erschossen und will sich zu keiner Meinung
bekennen!"
Oronzow erhob sich
schwerfällig und stand plump und massig wie ein abgehackter Riese
da: "Wenn ich mich zu einer Meinung bekennen soll, so ist es
die, daß man Euch Intelligenten, Euch, die Fabrikbesitzer, ebenso
erschießen sollte, wie die Arbeiter!"
Es entstand ein
allgemeines Halloh. Die Gesellschaft, zum einen Teil der
hauptstädtischen Hochfinanz entstammend, drängte sich erregt heran.
Oronzow sah sie eiskalt an: "Wenn Se. Kaiserliche Hoheit Aktien
besitzt, so kann ich das nicht hindern. Aber Sie da ,... wenn Sie
Aktien besitzen und bekennen sich zu Aufklärung und Fortschritt und
nennen sich zur gleichen Zeit russische Männer, dann sage ich Ihnen,
daß Sie lügen."
Man hatte vor dem riesigen
Menschen, der plötzlich einen roten Kopf bekommen hatte und die
letzten Worte in einem unmotiviert erscheinenden Zorn herausschrie,
zuviel Distanz, um ihn in aller Form zu stellen. Man begnügte sich
also, mit überlegenem Lächeln sich auf die polierten Nägel
zuzuschauen und mokante Zwischenrufe zu machen. Oronzow, einmal aus
seinem Schweigen aufgescheucht, redete inzwischen in einem an ihm
unbekannten Pathos weiter.
"Wie ich Euch doch
allesamt erschießen lassen wollte, wenn ich es nur könnte.... Ihr
Petersburger mit Euerm Geld und Euerm Fortschritt und Eurer Pariser
Weisheit! Den Arbeiter ... nun gut, man tötet ihn, wenn er sich
zusammenrottet. Aber weshalb läßt man eigentlich Euch am Leben, die
Ihr doch nichts anderes seid, als die geheimen Bruder dieser
Revolutionäre?"
Das war denn offenbar doch
zuviel. Die ganze Gesellschaft fuhr auf, wie ein gestörter
Bienenschwarm. Die Artilleristen, als Sprösslinge des reichen
hauptstädtischen Kadettentums sich am meisten getroffen fühlend,
drängten heran: "Nun, wenn er sich zu dieser Meinung bekennt,
so wird er sie wohl beweisen müssen ... ja, er wird wohl sagen
müssen, warum wir die geheimen Brüder der Revolutionäre sind!"
Ein Warschauer
Fabrikmagnat, an das Übergewicht seiner Millionen gewöhnt, die
wulstigen Lippen blau geschwellt, preschte heran: "Ja, den
Beweis, bitte! Den Beweis, warum wir, die Industriellen, die Brüder
dieser Revolutionäre sein sollen?"
Oronzow steig mit dem
Alkohol eine ungewöhnliche Beredsamkeit ins Hirn: "Was Sie
anbetrifft, Herr Starschewski oder Starschinski oder wie Sie sonst
heißen mögen, so rede ich zu Ihnen nicht. Bitte ja, da Sie ein Pole
sind und kein russischer Mann, so könnte ich über Rußland
ebensogut mit einem Amerikaner, mit meinen Handpferden oder gar mit
einem dieser Franzosen sprechen, mit denen wir ja wohl verbündet
sind und die schon das allerletzte Volk sind. Aber Ihr da", er
wandte sich wieder zu den Artilleristen, "was Euch anbetrifft,
Ihr Jüngelchen mit den Armbändern... Ihr wollt wissen, warum Ihr
die geheimen Brüder dieser Revolutionäre seid? Nun also, was die
Arbeiter anbetrifft, so sind wir ja wohl einer Meinung, nicht wahr?
Was soll man tun mit diesen Menschen ohne Hoffnung, die täglich in
Reih und Glied antreten wollen, um von ihrem Staat eine Portion
Wohlergehn zu empfangen?
Nun, sie haben sich ein
anderes, sie haben ein Maschinengehirn, und man muß sich ihnen
entweder unterwerfen und auch zum Empfang einer Ration Wohlergehn
antreten, oder man muß sie eben totschießen. Und etwas anderes gibt
es nicht.
Aber Ihr! Weshalb
verwandelt Ihr die Menschen überhaupt in solche Maschinisten? Nun,
gab es vielleicht solch graue Menschen ohne Seele, ehe Ihr mit euern
Maschinen gekommen seid? Sind diese Maschinisten, diese Proletarier
nicht in der gleichen stunde geboren, wie Ihr, die Fabrikherren? Und
was sage ich, 'geboren'? Aus dem Schoße einer Maschine gekrochen und
von einem Blechkolben geprägt, genau so wie Ihr selbst und Eure
Ingenieure ... alle mit dem gleichen Maschinistengehirn? Nun ja, da
es zwischen uns, die wir von Weibern geboren, und Euch, die Ihr aus
der Maschinen hervorgekrochen seid, keine Versöhnung gibt, so muß
man Euch ebenfalls totschießen?"
Die Gesellschaft, zu einem
riesigen Halbkreis angewachsen, stand stur und starr um den
Orozowschen Tisch herum. Ein Artilleriehauptmann, Sohn eines kürzlich
erst von Se. Kaiserlichen Hoheit ausgezeichneten Petroleumkönigs,
begehrte als Einziger auf: Und warum, wenn ich bitten darf, wagen es
Ew. Erlaucht, uns die wahrhaften Gefühle für Rußland
abzusprechen?"
Oronzow sah an ihm vorbei
in irgend eine unsichtbare Ferne: "Wo Ihr nun Eure Fabriken
baut, waren einmal wahrhaft russische Menschen und pflügten den
Boden und glaubten an Gott. Wo einmal Rußland war, da habt Ihr Eure
Maschinen hingestellt und habt die russische Erde gefressen und habt
lauter solch graue Maschinenmenschen herstellen lassen, die den Boden
nicht mehr bebauen können und verhungern, wenn die Maschinen nicht
mehr da sind und sich weder zu Gott noch zu Rußland bekennen....
ganz wie Ihr!"
Der Artillerist schlug
hart mit der Faust auf den Tisch: "Wir bekennen uns zum
menschlichen Geist und zur Wirtschaft der Welt!"
"Zum Teufel bekennt
Ihr Euch und zu den Fremden! Ja, einen Zaren hatte Rußland, dessen
Nachfolger seid Ihr ... sind Sie, Fjodor Fomitsch und Sie da, mein
Herr, und Ihr alle mit Eurer europäischen Weisheit! Peter rief die
fremden, diese Holländer und diese von Gott gestraften Franzosen und
diese genauen Deutschen ins Land, und man nennt ihn den 'Großen'
deswegen. Ja, er rief die Fremden gegen unseren, gegen der russischen
Leute Willen! Was hat er hinterlassen? Nun? Einen Haufen von
Scherben... ein Land, das nicht Westen sein kann und Rußland nicht
sein will! Aber ich, wenn ich schießen lasse, so schieße ich auf
den Westen, auf den Fortschritt und die Wirtschaft der Welt, auf Euch
und auf alle, die keine Seele haben!"
Er schrie die letzten
Worte mit seiner vollen Bärenstimme. Der Manager, einen Skandal
befürchtend, war unter der Treppe hervorgekommen und vernachlässigte
es, die sich nach oben in die Separatzimmer begebenden Paare zu
kontrollieren. Auch die Gäste der hinteren Räume hatten sich um den
Oronzowschen Tisch gedrängt, und in den einsam gewordenen Räumen
waren nur die beiden Linieninfanteristen geblieben und waren in ihrem
Streit um die Länge der Popenhaare so weit gekommen, daß sie sich
in die eigenen Haare zu geraten drohten. Ein Geniehauptmann war auf
den Tisch gesprungen: "Was Oronzow anbetrifft", schrie er
und war des Beifalls sicher, "was Oronzow anbetrifft, so wird er
an der Spitze der Chevaliergarde gegen die Feinde Rußlandes ziehn
... aber nicht mit Gewehren, da die Gewehre von Maschinen gemacht
sind, sondern mit Pfeil und Bogen und mit Knüppeln!"
Oronzow ließ sich durch
das wiehernde Lachen durchaus nicht beeinflussen. "Was Rußland
anbetrifft ... ich sage Euch, es wird seinen Kampf mit sich selbst
erleben... zwischen denen, die an die Maschinen und denen die an Gott
glauben. Und in diesem Kampf werdet als Erste Ihr fallen, Ihr sammt
Euern Pariser Ideen und Eurer Aufklärung, sammt Euerm Reichtum und
Euern Fabriken. Und da die Arbeiter den Boden nicht mehr bestellen
können, so werden sie sich selbst auffressen. Und übrig bleiben
wird der russische Mann, aus der Erde gekommen und wieder
zurückkehrend in die Werde, so wie Gott es befohlen hat.
Was aber die Feinde
Rußlands anbetrifft ... alle diese da im Westen: laßt sie es nur so
weitertreiben! Mögen sie nur weiterhin verlernen, die Erde zu
bestellen und Ihren Reis aus Indien und Ihren Weizen aus Australien
und weiß Gott woher zu nehmen... ja, mögen Sie nur ihrer immer mehr
werden: am Ende werden sie nicht wissen, wo sie ihr Brot hernehmen
werden und werden sich gegenseitig totschlagen. Und dann werden wir,
die russischen Menschen, über sie kommen und sie lehren, an andere
Götter zu glauben, als an ihre Aktien und ihre Maschinen. Ja, so
wird es sein!"
Man schwieg, ein wenig
betreten. Ein Leutnant vom Regiment 'Kexholm', auch so Petersburger,
lispelte spöttisch: "Und was Sie anbetrifft, Sergej Julitsch,
so bekennen Sie sich, wenn ich Sie darauf aufmerksam machen darf, zu
Gott, indem Sie hier zwischen den Huren sitzen und sich betrinken?"
"Indem ich mich
betrinke und weiß, wie ich ein Vieh bin, bekenne ich mich zu Gott.
Indem Ihr Gott absetzt und die Aufklärung und die Wirtschaft und den
Fortschritt und die Chemie und die Psychologie und die Hygiene und
weiß der Teufel was noch an seine Stelle setzt, werdet Ihr sterben.
Denn man kann ohne Götter nicht leben. Ja, es lebe Gott! Wer sich zu
ihm bekennt und zu der allrussischen Erde, der wird leben!"
Und nun dachte auch er an
jenen silberbärtigen Bauerngott, der saß unter dem herbstgelben,
dem mächtigen Ahorn auf einem birkenen Thron und weit in der Ferne
ringsum pflügten bärtige Bauern die dampfende russische Erde.
Irgend einer aus dieser seltsamen Gesellschaft wollte etwas erwidern.
Aber da kam wieder der Manager herangelaufen, und auch die von der
Witwe Tritten bestellte ältliche Verwalterin des Hauses hielt ihre
Perücke fest und hinkte heran. "Ew. Hochwohlgeborn ... meine
Herren" und beide stotterten ihr papageihaftes Russisch, "sehn
Sie dorthin ... man wird schießen, und wir können es nicht
verhindern."
Die Gruppe fuhr auf. Im
Mittelpunkte des durch die Debatte der kaiserlichen Garde
vereinsamten hinteren Saales hatten die Linienhauptleute beschlossen,
ihrem Streit um die Popenhaare durch ein Duell ein Ende zu machen ...
jetzt, sofort, hier. Sie hatten sich zu diesem Zweck, die Rücken
gegeneinander gewendet, und die Pistolen in der Hand, aufgestellt,
indem sie sich vornüberbeugten und zwischen den eigenen Beinen
hindurch auf ihre vorgestreckten Gesäße war an dessen geeignetster
Stelle als Ziel ein rotes Sherry-Brandy-Etikett befestigt, und wer
den Anderen zuerst in jenes Etikett treffen würde, der sollte Sieger
sein und mit seiner Meinung über die Länge der Popenhaare recht
behalten.
Da beide Herren sehr stark
betrunken waren und man die geplante Auseinandersetzung sehr
ernsthaft auffassen mußte, so fuhr man unverzüglich dazwischen und
nahm ihnen die Pistolen fort. Der alte General stellte den Frieden
wieder her, indem er versprach, er werde ein Gutachten vom Erzbischof
einholen ... ja, gewiß er verbürge sich dafür. Die Gegner fielen
sich plötzlich mit jäh hervorbrechender Herzlichkeit in die Arme,
die ganze schwüle Atmosphäre der unterschiedlichen
Auseinandersetzungen schien in dieser Orgie von Küssen und
Versicherungen gegenseitiger Wertschätzung sich auszutoben. Von
allen Seiten ergoß sich plötzlich ein Schwall von Alkohol, von
roten, grünen und selbst violetten Schnäpsen über die ganze
Versammlung. Der alte General trat mit dem Fahnenjunker zu einem
wilden Tanz an, ein Dragonerrittmeister beschädigte versehentlich
den Klavierspieler, indem er ihm, als der Mann ihm nicht schnell
genug spielte, die Porzellannase aus dem Gesicht hieb, daß wie bei
einem Totenschädel ein leeres Loch greulich klaffte und der Offizier
ihm eine nagelneue, eine aus massivem Gold versprach. Aus den
Separatkabinen fluteten nun auch die weiblichen Insassen des Hauses
in diese ungeheure Orgie hinein, Oronzow lag, ein gewaltiger Koloß,
am Boden, während winzige Polinnen auf ihm wie auf einem gefällten
Baumstamm saßen und ihn mit einer Pfauenfeder zu einem ungeheueren,
zu einem cyklopischen
Lachen brachten. Dann wieder lag der alte General ihm in den Armen:
"Sergej Julitsch, wie Sie vorhin gesprochen haben... wie Sie
doch als wahrhaft russischer Mann gesprochen haben!" Und der
ganze Saal schwamm in einem Ocean von slawischer Herzlichkeit und
Bruderküssen und Weiberlachen.
Wie diese Orgie für
Oronzow endete wußte er selbst nicht. Eine Patrouille fand ihn in
später Nacht am Thronfolgerboulevard )
schlafend auf einer Bank, und da er absolut vergessen hatte, wer er
war und auch, wie er hieß, so fand er sich am nächsten Morgen auf
einer nicht sehr sauberen Polizeiwache, deren Pristaw )
erstaunt und erfreut war, ihn wieder bei Bewußtsein zu finden.
"Es gibt, müssen Ew.
Erlaucht wissen, sehr gewissenlose Leute, die schlechten Schnaps
verkaufen ... wirklich sehr gewissenlose Leute."
Oronzow, der nun wieder
ganz frische geworden war, erinnerte sich, daß er seine Truppe, die
nun weit draußen an der "roten Düna" lag, auf neun Uhr
bestellt hatte. Er warf sich also fröhlich pfeifend in eine Droschke
und fuhr hinaus in den klaren Morgen. Unterwegs allerdings
verfinsterte sich sein Gesicht wieder, als er des gestrigen
Gespräches mit den Artilleristen erinnerte. Ah, diese Intelligenten,
diese Aufgeklärten, wie sie Rußland verdarben! Dann, als er vor die
zu Fuß angetretene Truppe kam, geschah es, daß er, ehe er noch ein
Wort gesprochen hatte, von hinten einen starken Stoß erhielt, der
ihn der Länge nach lang in den Sand streckte. Aufstehend bemerkte er
den Schwadronsziegenbock, der, ihn erkennend, herangeschossen war und
ihn im frischen Galopp mit den Hörnern in den Sand geworfen hatte.
Die Leute lachten und
Oronzow lachte auch. "Nun sieh mal", sagte er, das
schnobernd an ihm hochsteigende Tier klopfend, "sieh Du
Gottesknecht, ich werde Dich einsperren, lassen, daß Du nicht Sonne
noch Mond siehst! Nicht Sonne noch Mond, sage ich Dir!"
Dann beschloß er, den
Fahnenjunker Fürst Bolkonski wirklich einzusperren, weil er,
offenbar seinen Katzenjammer von gestern ausschlafend, nicht zum
Dienst erschienen war.
Als er dann nach dem
Appell die übliche Frag an die Truppe nach außergewöhnlichen
Vorfällen tat, trat ein Unteroffizier, ein großer blonder Mensch
auf ihn zu. "Ew. Erlaucht, man hat bei uns in der Düna eine
Leiche gefunden."
Oronzow, über den nun
doch die Müdigkeit gekommen war, gähnte zerstreut. "Ein
Leiche? Nun, also einen Mann oder eine Frau?"
"Weiß nicht, Ew.
Erlaucht, kann es nicht sagen."
"Nun, Du hast sie
doch aber gesehn."
"Ich habe sie
gesehn."
"He, Du, Freundchen,
willst Du Witze machen? Weißt Du zwischen einem Mann und einer Frau
den Unterschied nicht?"
Da antwortete der Andere
mit jener ehrlichen, überlauten Stimme, die den russischen Soldaten
auszeichnet: "Raki, asche sijatelstow, s'jeli rasnizu!"
Das ist verdeutscht: "Die
Krebse, Ew. Erlaucht, haben den Unterschied aufgefressen!"
Und angesichts dieses
zuversichtlichen und fröhlichen Gesichtes und dieser knappen und
verständigen und übrigens ohne jeden Zynismus gegebenen Auskunft
beschloß Oronzow, nie mehr an dem russischen Manne zu zweifeln, der
einmal, trotz Allem, die Welt beherrschen würde.
(Aus: Phrygische Mützen.
[Novellen]. München 1922: Drei Masken Verlag. S. 135 - 167)
Auch:
https://www.projekt-gutenberg.org/reck/muetzen/chap004.html
**
Anmerkungen:
Liao Yang und Mugden -
Schlachtorte in Fernost; aus dem russisch-japanische Krieg
(vorläufiger Stand meines Wissens).
Riga: Kenntlich an vielen
Angaben zur Düna; ebenso an Straßenbezeichnungen wie
„Thronfolgerboulevard“.#
Großes und kleines Wappen
von Riga:
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Coat_of_Arms_of_Riga.svg
Charakterisierungen:
Der Sündenbock: (AT) Lev
16,5-10 und 20-22:
An einem Fest, dem
sogenannten Versöhnungstag, wurde ein Ziegenbock in die Wüste
gejagt, um dort zu sterben, nachdem ihm der Hohepriester mit einem
Sündenbekenntnis die Hand aufgelegt und so die Sünden des Volks auf
ihn übertragen hat.
Daraus ergibt sich in
abendländischen Kultur, als Loslösung aus dem religiösen Funktion,
der als Unrecht kritisierte Vorgang, dass ein ganz oder teilweise
Unbeteiligter, dem die Schuld an Mißglücken zugeschrieben wird, der
dafür bestraft wird. Unsere heutige Verwendung selbst ist nicht
biblisch, sie geht aber auf den alten Vorgang der Entsöhnung
zurück..
Die Verurteilung durch
Oronzow ist ironisch gemeint - die Ausdrucksweise seiner Strafe ist
aber alt-ehrwürdig. Einen realen Bestrafungsvorgang nimmt er
gegenüber dem Untergebenen vor; ein typisches widersprüchliches
Verhalten eines Imperators... Wie überhaupt sich die
Figurenperspektive des Rittermeister in seinem Gerede und in seinem
Verhalten konträr zur Autorenintention des von Reck gesehen werden
müssen: Das als "Russisch" mit Gewehren, mit Saufen, mit
Geschwätz Reklamierte ist aus dieser kritischen Distanz zu sehen, so
sehr der Erzähler auch eine gefühlig-interessante Handlung aus der
Perspektive der "Russen" (einem, s. Text, grotesken Gemisch
und in unterschiedlichen Interessen agierenden "Gemeinsamen")
aufzubauen weiß. Die vielen tausend Opfer werden nur aus der
Perspektive der Herrschend-Gewalttätigen wahrnehmbar... Ihnen muß
das Geschichts- und Literaturinteresse des Lesers gelten!
Zur Intention: Adel,
Militär, Kirchlichkeit, Proletariat
*
Die Weltrevolutions-
Ideale und Weltbeherrschungsziele der russischen Akteure, ob hell,
ideal beleuchtet oder grell, grotesk illustriert durchleuchten das
Geschehen in unterschiedlichen Blitzlichtern.
Für den Autor R.-M.
bedeuten diese empathischen Ideen- und Personencharakterisierungen,
aus unterschiedlichen, wechselnden Erzählerperspektiven geboten,
eine noch unentschiedene Ideengeschichte des 20. Jh.
Erzählerisch gesehen,
liegen hier auktoriale Aspekte eines teils kurios, teils genial
gebotenen montageartigen Komposition – wie filmisch in schnellen
Bildschnitten kommod. Das Thema „Revolution“ wird hier zu
revolutionärem, hinreißendem Gestus des unmittelbaren Ausdrucks von
Bestialität und der sekundären Mitteilung über Fakten.
Die zentrale Szene des
religiös überladenen Rache-Schwörens der Soldaten auf den
„Crucifixus“, den Corpus Christi, wird zu einem Höhepunkt des
dichterisch erzählerischen Gebots der Nächstenliebe und der ex
negativo geforderten Konsequenzen aus solch barbarischem Militarismus
und der Befehlsstruktur zum Töten, ohne Ehre, ohne Gewissen. In
Partien ähnelte die kleine, gewichtige Novelle einer Satire der zu
Soldaten, die zu Mördern werden wollen und den kollektiven Mord an
Frauen, Kindern und Aufständischen auch (erfolgreich) exerzieren.
„Die Fabrik“, eine
exemplarische, literarisch exquisit gestaltete Novelle, ist in keiner
der als exemplarisch firmierenden Anthologie, sei es von
Reich-Ranicki, sei es von Rolf Och-, pardon: Hochhuth, zu finden. Nie
hat sich ein literarischer Verlag – außer Kurt Wolf, Leipzig –
für den Autoren R.-M. interessiert, ihn gefördert.
Zur Entstehung des Textes
und Stoffsammlung der Thematik vermag ich nur folgende Hypothese
äußern. Biografisch ist nachgewiesen, dass R.-M. „noch während
des Studiums heiratete (…)1908 Anna Louise Büttner, Musikstudentin
und Tochter eines kaiserlich russischen Staatsrats“.
Vgl.:
http://de.wikipedia.org/wiki/Fritz_Reck-Malleczewen
*
Unmaßgebliche, private
Nachsätze:
E-Brief eines Freundes,
nach der Lektüre der Novelle:
Tach oder Naaahmmd,
Anton
Danke für die 'Fabrik'.
Vieles von der Thematik ist
mir schon mal begegnet.
Nur der Ziegenbock in seiner für die
Denke
des Schwadrons-Chefs euphorisierenden Rolle
hat mich so
noch nicht umgerannt.
Mir fällt aber eine andere Schwadron und
ein anderer
Ziegenbock ein.
Ich habe bei den
Panzergrenadieren gedient und
unsere Kompanie hatte als
Maskottchen einen =
real existierenden Ziegenbock.
Die erste
Hälfte meiner Dienstzeit (ergo 7-8 Monate)
habe ich mich
hygienisch recht gut gepflegt.
Glaub ich jedenfalls.
Dann sah
ich (musste ich sehen) eines Vormittags
den Spiess (für
Ungediente : der Hauptfeldwebel)
zusammen mit dem Ziegenbock auf
dem Flur
im Erdgeschoss unseres Kompanieblocks.
Sie kamen
gerade aus der Mannschaftsdusche,
beide ziemlich
nassgemacht.
Längergediente Kameraden erzählten auf Befragen
:
"Jo, dat macht der Spiess alle paar Monate mal,
den Bock
von seinen Wanzen befreien, in der Dusche."
Die zweite
Hälfte seiner Dienstzeit soll der Gefreite W.B.S.
durch starken Körpergeruch
aufgefallen sein,
besonders bei den Alarmübungen, wo alle
Soldaten die
Kaserne mehrere Tage lang nicht verlassen
dürfen.
Ich weiss im Moment nicht, für welche Kopien Du
Deinen
Wendehals betätigen musst.
Hab in letzter Zeit etliche
Kopien an einige Leute geschickt,
weiss jetzt nicht, was Du da
bekommen hast.
Dein Weiss
Nicht-Werner
**
Nein, keine weiteren
Aktualisierungen mehr, bittä, sär!
*
Zwei Romane, ein
Tagebuch...
Tagebuch eines
Verzweifelten (1947)
*
Reck-Malleczewen, Fritz,
eigentl.: F. Reck, * 11. 8.1884 Malleczewen bei Neuendorf/Ostpreußen,
ermordet 16.2. 1945 Dachau. - Romancier, Journalist u. Arzt.
R. stammte aus einem
ostpreuß. Bauerngeschlecht.
Die nach dem Abitur 1904
eingeschlagene Offizierslaufbahn brach er nach einem halben Jahr ab
u. studierte Medizin (1904 bis 1910). Nachdem er 1911 in Königsberg
zum Dr. med. promoviert worden war,
machte er eine
viermonatige Schiffsreise nach Süd- u.
Nordamerika (1912), über
die er in der »Ostpreußischen Zeitung« erfolgreich berichtete. Ab
1913 lebte er - von einem kurzen Zwischenspiel bei der »Süddeutschen
Zeitung« in Stuttgart u. am Königlichen Hof- u. Nationaltheater in
München abgesehen - als freier Schriftsteller in Pasing bei München,
später auf Poing bei Truchtlaching/Chiemgau.
R. trat als Journalist
mit Beiträgen für namhafte Zeitungen u. als Bestsellerautor hervor.
Der gehobene Unterhaltungsroman Frau Übersee (Bln. 1918) verriet
bereits die ihm eigene Vorliebe für die überdimensionierte Figur
einer verführerisch-zerstörerischen femme fatale. Ähnlichen Erfolg
wie der Erstlingsroman hatte sein mit Hans Albers u. Heinz Rühmann
1931 verfilmtes Buch "Bomben auf Monte Carlo" (Bln. 1930).
Da R. an einer »Pseudologia phantastica« (= krankhaftes Lügen)
litt (Alphons Kappeler), schmückte er im Laufe der Zeit seine
Biographie mit vielen großartigen, aber erfundenen Zügen aus.
Im Dritten Reich, das
er von einem monarchistisch-feudalistischen Standpunkt aus ablehnte,
blieb R. lange ein Erfolgsautor. Er artikulierte seine Opposition
unmißverständlich in dem zwischen 1936 u. 1944 geschriebenen, auf
Poing vergrabenen u. postum publizierten Tagebuch eines Verzweifelten
(Lorch/Stgt. 1947. Mit Vorwort von Bernt Engelmann. Bln./Bonn 1981).
1937 brachte er seinen
verschlüsselten satirisch-antifaschistischen Roman über das
Münsterische Wiedertäuferreich des 16. Jh. u. d. T. Bockelson.
Geschichte eines Massenwahns (Bln. 1937) heraus. Das mutige Werk
erregte ebensowenig den Verdacht der nationalsozialistischen
Kontrollinstanzen wie der 1938 in Berlin erschienene Roman über die
Französische Revolution, Charlotte Corday. Geschichte eines
Attentates. Ende 1944 wurde R. von der Geheimen Staatspolizei
aufgrund einer Denunziation wegen Kritik am NS-Regime verhaftet. Er
starb im Konzentrationslager Dachau an Fleckfieber.
WEITERE WERKE:
Die Dame aus New York.
Bln. 1921 (R.).
Phrygische Mützen. Mchn.
1922 (N.n).
Von Räubern, Henkern u.
Soldaten. Als Stabsoffizier in Rußland von 1917 bis 1919. Bln. 1924.
Die Siedlung Unitrusttown.
Bln. 1925 (R.).
Acht Kapitel für die
Deutschen. Großschönau 1934 (Ess.s).
Ein Mannsbild namens
Prack. Bln. 1935 (R.).
Das Ende der Termiten. Ein
Versuch über die Biologie des Massenmenschen. Fragment. Lorch/Stgt.
1946.
LITERATUR:
* Alphons Kappeler: Ein
Fall v. Pseudologia phantastica‹ in der dt. Lit.: F. R.-M. Mit
Totalbibliogr. 2 Bde., Göpp. 1975.
* Ralf Schnell: Literar.
Innere Emigration 1933-45. Stgt. 1976.
Heidrun Ehrke-Rotermund
[Autoren- und Werklexikon:
Reck-Malleczewen, Fritz, S. 1 ff. Digitale Bibliothek Band 9: Killy
Literaturlexikon, S. 16591 (vgl. Killy Bd. 9, S. 323 ff.)]
*
RECK MALLECZEWEN,
Friedrich Percyval *11. 8.1884 Malleczewen bei Neuendorf/Ostpreußen;
ermordet am16.2.1945 Konzentrationslager Dachau
Das jüngste Kind eines
masurischen Gutsbesitzers und Landtags- und
Reichstagsabgeordneten der Konservativen Partei wollte zunächst
Offizier werden, ließ sich aber nach einem halben Jahr Waffendienst
beurlauben und studierte von 1904 bis 1909 Medizin in Königsberg,
Innsbruck, Rostock und Jena. Nach der Approbation und Promotion
arbeitete Reck Malleczewen kurzzeitig als Vertretungsarzt,
schrieb aber nebenbei Reiseberichte für die Ostpreußische
Zeitung und lebte von 1913 an als freier Journalist in München sowie
auf Gut Poing in Oberbayern. Er debütierte als Schriftsteller mit
dem Unterhaltungsroman "Frau Übersee" (Berlin 1918) und
landete mit "Bomben auf Monte Carlo" (Berlin 1930) einen
Bestseller. Der Roman wurde 1931 mit Hans Albers und Heinz Rühmann
verfilmt. 1933 konvertierte Reck-Malleczewen zum Katholizismus, der
»ihm als letztes Bollwerk gegen die zunehmende Verrohung und
Vermassung erschien« (Irmgard Reck-Malleczewen).
Während des 'Dritten
Reichs', das dieser »stockkonservative, weißblaue und schwarzgelbe
Monarchist« (Carl Amery) als plebeJisch und amoralisch
ablehnte, konnte Reck-Malleczewen weitgehend ungehindert
publizieren. Seine Reichsschriftumskammerakte weist für die Jahre
194o bis 1943 jährliche Einnahmen von ca. 2o ooo RM aus. Die
Einkünfte der vorangegangenen Jahre dürften nicht geringer gewesen
sein. Reck-Malleczewen veröffentlichte Unterhaltungsromane und
Essays, er schrieb für Zeitungen und Zeitschriften und war für
Rundfunk und Film tätig: 1934 verfaßte er zusammen mit -
Richard Billinger das Drehbuch zu einer Peer-Gynt-Verfilmung, und
noch im August 1939 bot ihm die Ufa auf Initiative Goebbels an, das
Drehbuch für einen antisemitischen Film zu verfassen -
Reck-Malleczewen lehnte ab und begründete dies damit, daß er
jüdische Freunde habe, denen er verpflichtet sei (vgl.
Kappeler, S. 452).
Reck Malleczewens
publizistische Freiräume sind insofern erstaunlich, als während
des 'Dritten Reichs' auch Texte von ihm erschienen, die als
Widerstandsbücher intendiert waren und als solche gelesen werden
konnten: 1937 erschien „Bockelson - Geschichte eines Massenwahns“
(Berlin), ein Roman über das Münsteraner Wiedertäuferreich von
1534/35, das von ihm mit allen Zügen des Hitlerstaats ausgestattet
wurde. In seinem Tagebuch notierte Reck Malleczewen: »Wie das
heutige Deutschland, so löst für Jahre sich auch jener Münstersche
Stadtstaat völlig aus der zivilisierten Welt ... Wie bei uns,
so ist auch dort ein Mißratener, ein sozusagen im Rinnstein
gezeugter Bastard der große Prophet, wie bei uns kapituliert vor
ihm, unbegreiflich für die staunende Umwelt, jeder Widerstand ... «
(Tagebuch eines Verzweifelten (Lorch 1947), S. 19). Das Buch wurde
entgegen der nach dem Krieg vielfach wiederholten Behauptung
nicht verboten (»Es gab keine 'Ächtung' Reck-Malleczewens!«
Kappeler, S. 433). Ebensowenig gab Rosenbergs Amt
Schrifttumspflege negative Gutachten über Reck Malleczewen
ab (vgl. Strothmann, S.444ff). Der Folgeroman, Charlotte Corday.
Geschichte eines Attentats (Berlin 1937), der als camouflierter
Aufruf zum Tyrannenmord verstanden werden konnte, fand sogar den
Beifall der Zensurbürokratie. Die Mörderin Jean Paul Marats, des
französischen Revolutionsführers, den Reck-Malleczewen mit
Zügen Hitlers versah, wurde von der Reichsstelle zur Förderung des
deutschen Schrifttums am i. März 1938 »als Symbol völkischen
Ehrbewußtseins und nationaler Tradition« bewertet, während
Marat als »französischer Anarchist und Psychopath« galt (zitiert
nach: Kappeler, S. 443). Sichtbar wird hier ein wiederholt zu
beobachtender blinder Fleck der NS Zensur, die die historisch
verdeckte Darstellung politischer Verbrechen nicht auf das eigene
Regime beziehen konnte, ohne sich selbst zu bezichtigen.
Erst am 9. August 1944
verfügte Goebbels einen Boykott über Reck-Malleczewens Schriften:
»Jegliche Veröffentlichung von Romanen, Aufsätzen und
sonstigen Arbeiten von Friedrich Reck-Malleczewen ist gesperrt«
(zitiert nach: Kappeler, S.449). Bis zu diesem Zeitpunkt hatte
Reck-Malleczewen als entschiedener Gegner der Nationalsozialisten in
Deutschland publizistisch aktiv sein können. Von der
Entschlossenheit dieser Opposition zum NS-Staat zeugen vor allem
jene geheimen Tagebücher, die er von Mai 1936 bis Oktober 1944
verfaßte und die erst postum veröffentlicht wurden. In diesem
Tagebuch eines Verzweifelten äußert Reck-Malleczewen immer
wieder seinen Haß auf die Nationalsozialisten (»Horde böser
Affen«, und ihren 'Führer' (»Ich hasse Dich ... ich hasse Dich im
Schlafen und im Wachen, ich hasse Dich als Verderber der
Seelen«, und verurteilt deren Terror und Mordsystem. Daneben
verleiht Reck Malleczewen in diesen Aufzeichnungen aber auch
seiner kulturpessimistischen Kritik an den Entfremdungsprozessen
der modernen Industriegesellschaft Ausdruck; er mokiert sich
über das moderne »Massenwesen«, den »zufällig weißhäutig
gebliebenen Nigger, [der] sich all der modernen technischen
Apparaturen mit einer an Frechheit grenzenden Selbstverständlichkeit
bedient, ohne jene Gedankenwelt, aus der diese Apparaturen erwuchsen,
auszufüllen«. Reck-Malleczewens Antinazismus korrespondiert
hier mit einer Technik- und Fortschrittsfeindlichkeit (»die Nazis,
mit Leib und Seele ihren blöden technokratischen Zielen
verschworen ... «), die den deutschen Faschismus als Konsequenz
einer Modernisierungsbewegung (»Entgötterung blutvollen Lebens«,)
begreift, die mit der französischen Revolution begann und vom
Wilhelminismus sowie der Weimarer Republik vorangetrieben wurde.
Joachim Fest bewertete das Tagebuch eines Verzweifelten anläßlich
seiner Neuauflage (Stuttgart 1967) als »das Resultat der rückwärts
gewandten Fluchtträume eines entfremdeten Intellektuellen in der
modernen Welt«, der »aller begründbaren Wahrscheinlichkeit nach
auch zu den Gegnern unserer heutigen staatlichen und
gesellschaftlichen Ordnung zählen würde« (in: Der Spiegel 3/1967)
Enthalten in:„Joachim
Fest über Friedrich Reck-Malleczewen. „Tagebuch eines
Verzweifelten. WIDER EINEN WIDERSTAND“:
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45522537.html
[Download am 10.11.2013]
Diese Ordnung erlebte
Reck-Malleczewen nicht mehr: Am 13. Oktober 1944 wurde er wegen
Wehrkraftzersetzung - er war einem Aufruf zum Volkssturmappell nicht
gefolgt - zu einer Woche Arrest verurteilt. Zwei Monate später wurde
er von der Gestapo verhaftet. Ein Denunziant hatte ihn beschuldigt,
die »deutsche Währung verunglimpft zu haben« (Brief Irmgard
Reck-Malleczewens vom 26. 12.1945, in: Kappeler, S. 8).
Reck-Malleczewen wurde zunächst in das Münchner Gestapo-Gefängnis
verbracht und im Januar 1945 in das KZ Dachau überstellt und
verstarb an Fleckfieber.
Nach seinem Tod geriet
Reck-Malleczewens literarisches Werk größtenteils in Vergessenheit.
Lediglich das Tagebuch eines Verzweifelten erfuhr mehrere Neuauflagen
(zuletzt 1994) und wurde als Zeugnis des kompromißlosen Widerstands
eines konservativen intellektuellen gegen das 'Dritte Reich'
rezipiert.
Weitere Bücher:
Phrygische Mützen.
(Novellen) München 1922: Drei Masken Verlag. (Enthaltend: Die Fabrik
S. 133-167) -.. Acht Kapitel für die Deutschen. Großschönau 1934.
Ein Mannsbild namens Prack. Berlin 1935. Sophie
Dorothee. Berlin 1936. La Paloma. Berlin 1937. Der
grobe Brief Berlin 1940. Der große Tag des Leutnants
Passavant. Berlin 1940. Der Richter. Berlin 1940.
Spiel im Park. Berlin 1943. Briefe der Liebe. Berlin 1943.
Diana Pontecorvo. Berlin 1944. Das Ende der Termiten. Ein
Versuch über die Biologie des Massenmenschen. Fragment. Lorch 1946.
Literatur:
Alphons Kappeler: Ein Fall
von "Pseudologia phantastica" in der deutschen Literatur:
Fritz Reck Malleczewen. Göppingen 1975.
Peter Härtling:
Essay:
Aus: Hans Sarkowicz u. Alf
Metnzer: Literatur in Nazi-Deutschland. Ein biografisches Lexikon.
Hamburg/Wien 200: Europa Verlag. S. 294ff.
Reck-Malleczewen, Fritz: Phrygische
Mützen.
Anton Stephan Reyntjes:
Erinnerung an RM:
http://stephanus-bullin.blogspot.de/2013/11/fritz-reck-malleczewen-die-fabrik.html?m=0
Weitere Notiz:
RM: Urban, Tierarzt erster
Klasse. S. 65 -
Erinnerung an „Tierarzt“:
S. 33 – ff.
https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/binary/QOBG3VXEBP5YMMZOUZXIKMDR26WYYTJY/full/1.pdf
*
https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Reck-Malleczewen#Weblinks
https://www.deutsche-biographie.de/sfz104646.html