Dienstag, 10. September 2019

Mörike-Spuren bei Wilhelm Lehmann

Vor Spiele:

Mörike-Spuren ... bei Wilhelm Lehmann:


Von der Vring:

Wiederzukommen,
Neu zu erfahren,
Was uns genommen
Bei jungen Jahren.
(Aus: Die Lieder des Georg von der Vring. Albert Langen, Georg Müller Verlag, München, S.57)

Von der Nachwirkung Mörikes zeugen die Werke dieser [gemeint: jungen deutschen … der 50/60er Jahre] Dichter auch dort, wo sie (wie in der wortkargen, geheimnisvollen Lyrik Wilhelm Lehmanns) nur von ferne an die Sehweise des großen Schwaben, an sein Wissen um die Dinge erinnert.

»Mörike«, schreibt mir [S.S. Prawer] Wilhelm Lehmann, "hat mich nicht etwa in eine bestimmte (andere, von mir aus gesehen) Richtung gewiesen, sondern mich, meine Neigung bestätigt .

So warmen Fußes, Sommergeist,
Daß unter dir das Eis zerreißt -
Verheißung, und schon brenne ich,
Erfüllung, wie ertrag ich dich?
(Wilhelm Lehmann, „Ahnung im Januar“)

Das scheue und zu den Elementen hin zitternde Lebensgefühl, das sich in solchen Versen ausdrückt, ist dem Eduard Mörikes zutiefst verwandt.
In: Prawer, S[iegbert] S[alomon]: Mörike und seine Leser. Versuch einer Wirkungsgeschichte. Stuttgart 1960. S. 96. - Prawer gibt keine genauen Daten, keine Angaben zu dem Brief Lehmanns; er merkt an:

* *

Trotz mancher Anklänge hält es aber schwer, den »Einfluß« Mörikes auf die neuere Dichtung zu ermessen.
Wir wissen zum Beispiel, daß HofmannsthaI gern Mörikesche Gedichte vorlas: wieviel ist .aber von der Gefühlswelt und der Rhythmik Mörikes in seine Gedichte übergegangen? Wieweit ist etwa „Vorfrühling“ den »Wind«-Gedichten Mörikes verpflichtet? Gehen nicht Rilkes »Dinggedichte« .zuletzt auch auf die Mörikeschen Dinggedichte zurück, mit denen sie so gern verglichen werden? Und hat sich nicht selbst ein so »unMörikesches« Werk wie Trakls „Abendland“ zuletzt auch an den freien Rhythmen von Mörikes „Äolsharfe“ geschult?



- Trakl, Nossack...

#
O des Knaben Gestalt
Geformt aus kristallenen Tränen,
Nächtigen Schatten.
Zackige Blitze erhellen die Schläfe
Die immerkühle,
Wenn am grünenden Hügel
Frühlingsgewitter ertönt.
(Georg Trakl: Die Dichtungen. Otto Müller Verlag, Salzburg 1938, S. 171)

Von „Einfluß“ im gewöhnlichen Sinne ist hier nicht mehr zu reden - aber Mörikes eigentümlich schwankende Gefühlswelt und subtile Rhythmik haben soldie Dichtung gewiß mitbestimmt. Nun darf natürlich nicht geleugnet werden, daß die heutige Dichtung durch eine tiefe Kluft von Mörike getrennt ist - wie ja auch die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts Dinge er leb t haben, von denen die des neunzehnten höchstens einmal angsterfüllt träumten. Nach dem Naturalismus und der Neuromantik, nach dem Expressionismus, dem Surrealismus und der neuen Sadilldikeir, nach Rilke, Eliot, Valery, Lorca und Gottfried Benn kann der moderne Dichter kaum mehr auf Mörike zurückblicken. »Nadi meinem persönlichen Dafürhalten«, schreibt mir deshalb Klaus Demus, dessen Urteil sich audi andere Dichter unserer Zeit (darunter Günter Eich, Karl Krolow und Ilse Aichinger) anschließen, »sehe ich keine Möglichkeit einer Beziehung zwischen Mörike und der modernen Dichtung. . .. Nein, im kann nicht sehen, daß Mörikes Dichtung von ihrem Ort aus weiterwirken könnte.« Und trotzdem wirkt sie weiter! Wenn auch von unmittelbarem »Einfluß« nur wenig die Rede sein kann, so ist doch gewiß, daß, wie es Hans Erich Nossack ausdrückt, »kein Deutscher, der Verse schreibt, ohne die Mörikeschen Zeilen: -Gelassen stieg die Nacht ans Land- oder -Der Sonnenblume gleich steht mein Gemüte offen- oder ohne -Orplid- zu denken ist«.3 Unerwartet leuchten in Iosef Weinhebers -Du bist Orplid- 4 und in Gottfried Benns späten Gedichten Mörikes Visionen als ungestillte Sehnsucht auf, als verlorenes Gut, das es wieder zu erringen gilt:


Wilhelm Lehmann:
EDUARD MÖRIKE
Text zur Schallplatte: „Eduard Mörike. Eine klingende Anthologie“. Christophorus Verlag Freiburg.
(e: 1961; ED in W. L.: GW. Bd. 8, S. )

Am schnell verrauschenden Strom der Zeit bilden sich immer wieder Uferstellen, an denen der eilige Mensch entzückt stehen bleibt, in einer Zeitlosigkeit zu verweilen, die sein Leben erfrischt. Die Dichtung Eduard Mörikes bedeutet eine solche Stelle. Alle Kunst setzt uns in den Stand, über dem Schweren leicht zu werden. Im Leben Mörikes gab es viel Qual; er wurde deren Herr mit Hilfe der Dichtung. Wir nennen heute Kunst, die das Innere erschüttert, existentialistisch: ihr [sic!] steht das Dasein auf dem Spiele. Kunst als höchster Lebensernst war das Ergebnis unserer klassischen Epoche gewesen. Einer alteingesessenen schwäbischen Bürgerfamilie entstammend, 1804 in Ludwigsburg im Neckartal geboren, reicht Eduard Mörike also noch in die Klassik und erlebt die späte Romantik als Gegenwart. Der Neunundzwanzigjährige bekennt dem sechzigjährigen Ludwig Tieck »unbedingte Hingebung und immer neue Bewunderung«. Als Schüler, als Student ergeht Mörike sich, nach ungetrübter Kindheit, mit vertrauten Freunden in Märchenphantasien. erfindet Orplid, das „Land, das ferne leuchtet“, ergötzt sich an Puppenspielen und will das Klaviera] aufs freie Feld schaffen, um in der Nacht darauf zu spielen. War es Goethes Tat, in allen Dingen auf das individuelle Erlebnis auszugehen, schwelgte die Romantik vollends in der Ungehemmtheit des persönlichen Lebens. Aber wenn Goethe den Überschwang der Romantiker beklagte: »Das will alles umfassen und verliert sich darüber immer ins Elementarische«, so bewahrte vom Klassischen her die Form Mörike vor dem Zerfließen in die Naturseligkeit. Daß er dies vollendet darstellt, macht seine Bedeutung aus. Er steht „dem Eindruck naher Wunderkräfte offen, / Die aus dem klaren Gürtel blauer Luft / Zuletzt ein Zauberwort vor meine Sinne ruft“. Er lauscht den Erscheinungen und hört: »Horch! auf der Erde feuchtem Grund gelegen, / Arbeitet schwer die Nacht der Dämmerung entgegen«, und» Wie süß der Nachtwind nun die Wiese streift / Und klingend jetzt den jungen Hain durchläuft!« Er findet das beschwörende Wort von »der Erdenkräfte flüsterndem Gedränge« und preist den Fluß, der ihn „mit Liebesschauerlust“ kühlt. Heidnisches und Christliches streiten sich um sein Wesen. Als amtierender Pfarrer ist er nie glücklich, gerade weil Lieder wie „Wo find ich Trost?“ und „Neue Liebe“, Seufzer aus gepreßter Brust, offenbaren, wie nahe ihm das christliche Mysterium ist. Er fürchtet überhaupt den Aufruhr der Gefühle, sie möchten ihn zerschmettern: »Wollest mit Freuden / Und wollest mit Leiden / Mich nicht überschütten« (wobei »vergnügt“ in der ersten Strophe den alten Sinn 'begnügt' trägt).

Der Begriff des »Biedermeiers« besagt hier gar nichts; Innigkeit, das wäre die schlüssige Bezeichnung. Nur Oberflächlichkeit glaubt, Mörikes Kunst als spielende Anmut ausreichend gekennzeichnet zu haben; es braucht nicht erst der Vertiefung durch Hugo Wolfs Kunst, das zu offenbaren. Es gibt harmlose, freundliche Naturen, denen zerstörerische Leidenschaften fernbleiben; liebenswürdige Zugänglichkeit kostet sie nicht viel. Mörikes Seelengrazie jedoch ist Sieg über das Chaos des aufgeregten Innern. Sie wird ihm zur Sprachgrazie. Das ist sein Triumph. Er hat das Jauchzen erfüllter, die Pein enttäuschter Liebe gesungen („Ein Stündlein wohl vor Tag“, „Das verlassene Mägdlein“). Ihm selbst hat die irdische Liebe mehr Leid als Glück gebracht. Den Studenten der Theologie stürzt die Begegnung mit einem noch heute rätselhaft gebliebenen Mädchen von großer Schönheit - halb verlorenes Kind, halb Nymphe - in selig-unseligen Wirrwarr. Die Peregrinalieder, voll von Mignonklängen, bezeugen es. Als Vikar eines schwäbischen Dorfes verlobt er sich mit der sanften Luise Rau, einer Pfarrrerstochter. Seine wirtschaftlichen Verhältnisse, die sein Leben lang unsicher bleiben, mehr noch seine religiöse Haltung machen eine Bindung unmöglich. Er heiratet 1851 Margarethe von Speeth, zwei Töchter werden geboren, nach zweiundzwanzig Ehejahren wird eine Trennung nötig. Unentbehrlich bleibt ihm die Schwester, Klärchen, bleiben Freunde, darunter der „Urfreund“, der gleichaltrige Pfarrer Wilhelm Hartlaub. Der Siebzigjährige schreibt: „Der beste Trost, der uns noch bleibt, sind unsere Freunde.“
Mörike ist auch ein zuweilen karger, zuweilen überströmender ausgezeichneter Briefschreiber gewesen. Allein die Briefe an Wilhelm Hartlaub machen in der Handschrift fünf robuste Bände aus. Alle seine Erlebnisse legt er in dem Roman „Maler Nolten“ nieder, einem Zauberbuche, das Wirklichkeit und Traum zusammenbildet. Es erscheint im Todesjahr Goethes. Wir müssen es in der ersten Fassung lesen,wiewohl der Verfasser sie nicht wiedergedruckt wissen wollte.
Ludwig Bauer, der Jugendfreund, hat Mörike als Verkörperung der Poesie empfunden. Mörike war eine scheue, sehr zarte, viel kränkelnde, gleichwohl zähe Natur. An dem erst Einundfünfzigjährigen entdeckt Theodor Storm bereits »verfallene Züge«. Gewisse Einflüsse trotzig abwehrend und nie weichlich, spricht Mörike selbst von »dem unglaublich verzärtelten Gang meines inneren Wesens«1. Er hatte anderes zu tun, als in die politischen Vorgänge seiner Zeit einzugreifen, aber er beachtete sie wohl. Shakespeare, Goethe, Jean Paul, Lichtenberg liebend zugetan, sucht er in Zeichnen, Malen, Schnitzen, Töpfern, im Sammeln von Münzen und besonders Versteinerungen, im Hegen von Tieren und Pflanzen Erleichterung seiner schwierigen Existenz. Die Musik bedeutet ihm das größte Wunder. Mozart wahrhaft geistähnlich, schreibt er die Novelle „Mozart auf der Reise nach Prag“, eine Herrlichkeit unserer Prosa. Sie schildert einen sonnigen Tag im Leben des Bewunderten. Die Baßsaite des Todes durchdringt die Helle. Ergriffen hören wir zu. Wir Heutigen sind empfindlich gegen Abschilderung musikalischer Vorgänge in poetischer Weise; aber es trifft uns, wenn der Choral „Dein Lachen endet vor der Morgenröte“ aus Mozarts „Don Giovanni“ von Mörike so wiedergegeben wird: „Wie von entlegenen Sternenkreisen fallen die Töne aus silbernen Posaunen, eiskalt, Mark und Seele durchschneidend, herunter durch die blaue Nacht.“ Die Novelle endet in die todesbangen, todesgewissen Verse: „Ein Tännlein grünet wo.“
Alles Gestaltete ist heiter, und noch die betrübteste Melodie tröstet. Die Melancholie hat sowieso die Heiterkeit zur Schwester. Mörike kennt auch das Behagen Goetheschen Charakters. Die Poesie arbeitet der Flucht der Erscheinungen entgegen, hält mit liebender Hand Dinge, Situationen, Ereignisse, Wesen fest. Gegen die Überzeugung, »daß nichts bleibt und kein Moment des Genügens uns Stand halten kann«, befreundet er sich, in »sanfter Wollust seines Daseins«, mit den Menschen, Tieren, Pflanzen, der Landschaft seiner nächsten Umgebung und schreibt Idyllen wie die vom Bodensee und dem „Alten Turmhahn“.
Es ist oft, als befrage er die Dinge selbst, und sie antworten launig, vom Schweigen erlöst; auch die Menschen ergehen sich dabei in der energischen Lust des bloßen Daseins. „Erdenleben, laß dich hegen. Uns ist wohl in deinem Arm“, heißt es im Gedicht „Herbstfeier“; ein anderes feiert „das schöne Gemüt“, weil es »den heiteren Blick doch in die Welt noch behielt“. Nietzsche, dessen fanatischem Auge unsere Zivilisation fast nur Schäden aufwies, entgeht in seinen Betrachtungen über Kunst und Künstler nicht der Gefahr, beide zu sehr als sein Material anzusehen. Aber Kunst ist der Triumph und das Symbol des Lebens an sich und unterliegt nicht den Werturteilen selbst der radikalsten Philosophie. Zuweilen ahnt Nietzsche das, und wie er über Carl Maria von Weber schweigt, ist sein Angriff auf Mörike abwartender im Ton, als es sonst bei ihm zu sein pflegt. Er merkt es wohl, daß ihm eine solche harmlose Poetenseele ein Schnippchen schlagen kann. Wie wenig auch dem bitteren Philosophen ein Dichter des Idyllischen und Volksliedhaften, nach Goethe und als Zeitgenosse Schopenhauers, in sein Konzept paßt, Mörike ist mit Daseinsherrlichkeit da, und das Dasein kann man nicht bestreiten. Der wunderbare Mann hat es nicht nötig, sich zu rechtfertigen:
Am Waldessaume kann ich lange Nachmittage,
Dem Kuckuck horchend, in dem Grase liegen;
Er scheint das Tal gemächlich einzuwiegen
Im friedevollen Gleichklang seiner Klage.
Da ist mir wohl, und meine schlimmste Plage,
Den Fratzen der Gesellschaft mich zu fügen,
Hier wird sie mich doch endlich nicht bekriegen,
Wo ich auf eigne Weise mich behage.
Und wenn die feinen Leute nur erst dächten,
Wie schön Poeten ihre Zeit verschwenden,
Sie würden mich zuletzt noch gar beneiden.
(In: L. W.: G.S. Bd. 8. Autobiographische und Vermischte Schriften. Hrsg. v. Verena Kobel-Bänninger. Stuttgart 1999. Text S. 454 – 458. Anm. S. 770 – Dieser Essay ist auch im Internet erreichbar, in einem Schüler-Forum:
http://www.biblioforum.de/forum/read.php?35,10279

Ich füge an:
Erläuterungen der Herausgeberin Verena Kobel-Bänninger: (Ich gebe die Seiten- und Zeilenangaben nach der Abdruck an.)

Die Schallplattenreihe »Deutsche Dichtung. Eine klingende Anthologie« war nicht zuletzt für die Verwendung im Unterricht gedacht. Lutz Besch, der am Aufbau der Reihe maßgebend beteiligt war, erwartete jedoch, als er Lehmann um das Geleitwort für eine Mörike-Platte bat, keine didaktischen Hinweise. Diese wurden, von Paul Wanner verfaßt. der Platte gesondert beigegeben. Vielmehr wünschte er sich einen »besonders schönen und eindringlichen Text«, in dem ohne »journalistische Glätte« das »Betroffensein seines Autors durch die Dichtung Mörikes gespiegelt sein sollte.« (An Wilhelm Lehmann, 9.6.1961) Gesprochen bzw. gesungen wurden folgende Stücke: 1. Im Frühling 2. Nachts 3. Ein Stündlein wohl vor Tag 4. Das verlassene Mägdlein 5. Schönes Gemüt 6. Erinna an Sappho 7. Neue Liebe 8. Wo find ich Trost 9. Denk es, o Seele (ln der Vertonung von Hugo Wolf; Claus Ocker, Bariton - Walter Bohle, Klavier) 10. Idylle vom Bodensee - Dritter Gesang.
Die Auswahl stammt nicht von Lehmann, lag ihm aber vor und wurde bei der Abfassung des Textes berücksichtigt.

454,17 dem sechzigjährigen Ludwig Tieck: Brief vom 20. 2.1833.
454,27f. »Das will alles umfassen ... «:Brief von Sulpiz Boisseree an seinen Bruder, 4.5.1811. Siehe die Erläuterung zu 384,221
454,32ff. »dem Eindruck naher Wunderkräfte ... «:»An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang«, 2. Strophe.
455,2f. »Horch! auf der Erde ... «: »Nachts«,
455,3-5 »Wie süß der Nachtwind ... «: »Gesang zu zweien in der Nacht«.
455, 6 »der Erdenkräfte ... «: Ebd., von Lehmann öfters zitiert. Vgl. 227,21 und Lesart zu 171,251
455,7 »mit Liebesschauerlust«: »Mein Fluß«.
456, 91 »Der beste Trost. ..«: Brief vom 5.9. [1873} an Wilhelm Hemsen (1828-1885), in: Eduard Mörike, Unveröffentlichte Briefe. Hrsg. von Friedrich Seebaß. Zweite, umgearbeitete Auflage. Stuttgart: Cotta 1945, S.469.
456,17f. Wir müssen es in der ersten Fassung lesen: Die Umarbeitung, welche nach Mörikes Willen die frühere Fassung ersetzen sollte, blieb unvollendet. Vgl. Mörikes Brief an Wilhelm Hartlaub (10.3.1868), wo es heißt: »Sie [die Arbeit am Maler Nolten] muß aber getan sein, und falle sie aus, wie sie wolle, so weiß ich doch, daß ich mit dieser Umformung das alte Buch vertilge, d. h. den Wiederabdruck unmöglich mache.« Lehmann besaß eine Ausgabe der Erstfassung (Eduard Mörike, Maler Nolten. Ein Roman. In ursprünglicher Gestalt. Leipzig: Insel- Verlag [1913]. Vgl. 72,22-25.
456, 24 »verfallene Züge«: Vgl. »Meine Erinnerungen an Eduard Mörike«. Storm, Bd. 4, S. 480.
456,25 f. von »dem unglaublich verzärtelten Gang meines inneren Wesens«: Brief an Wilhelm Waiblinger [August 1824].

457,28 ein anderes: [Das schöne Gemüt].
Ich ergänze:
[Schoenes Gemuet. 1861]
Wieviel Herrliches auch die Natur, wie Grosses die edle
Kunst auch schaffe, was geht ueber das schoene Gemuet,
Welches die Tiefen des Lebens erkannt, viel Leides erfahren
Und den heiteren Blick doch in die Welt noch behielt? –
Ob dem dunkelen Quell, der geheimnisvoll in dem Abgrund
Schauert und rauscht, wie hold laechelt die Rose mich an!
458,12 »Am Waldessaume ... «: Das Sonett »Am Walde« wurde auf der Plattenhülle ohne Stropheneinteilung und ohne die letzten drei Zeilen abgedruckt. Der Anfang lautet bei Mörike: »Am Waldsaum kann ich ... «.


Mörike: Am Walde
*
[Es fehlt das letzte Terzett:]
Denn des Sonetts gedraengte Kraenze flechten
Sich wie von selber unter meinen Haenden,
Indes die Augen in der Ferne weiden.

Als komplettes Sonett sieht der Text so aus:

Eduard Mörike: Am Walde

Am Waldsaum kann ich lange Nachmittage,
Dem Kukuk horchend, in dem Grase liegen;
Er scheint das Tal gemaechlich einzuwiegen
Im friedevollen Gleichklang seiner Klage.
Da ist mir wohl, und meine schlimmste Plage,
Den Fratzen der Gesellschaft mich zu fuegen,
Hier wird sie mich doch endlich nicht bekriegen,
Wo ich auf eigne Weise mich behage.
Und wenn die feinen Leute nur erst daechten,
Wie schoen Poeten ihre Zeit verschwenden,
Sie wuerden mich zuletzt noch gar beneiden.
Denn des Sonetts gedraengte Kraenze flechten
Sich wie von selber unter meinen Haenden,
Indes die Augen in der Ferne weiden.



Erläuterungen:
Von Nietzsche ist die schmähliche Aburteilung zu Mörike bekannt: „ganz schwach und undichterisch“ bekannt.

Im Original so: 8 [2]
Gegen die lyrische Poesie bei den Deutschen. Da lese ich, daß gar Mörike der größte deutsche Lyriker sein soll! Ist es nicht ein Verbrechen dumm zu sein, wenn man hier also Goethe nicht als den größten empfindet oder empfinden will?— Aber was muß da nur in den Köpfen spuken, welcher Begriff von Lyrik! Ich sah mir darauf diesen Mörike wieder an und fand ihn, mit Ausnahme von 4—5 Sachen in der deutschen Volkslied-Manier, ganz schwach und undichterisch. Vor allem fehlt es ganz an Klarheit der Anschauung. Und was die Leute an ihm musikalisch nennen, ist auch nicht viel: und zeigt wie wenig die Leute von der Musik wissen: die mehr ist als so ein süßliches-weichliches Schwimm-schwimm und Kling-kling!— Gedanken nun hat er gar nicht: und ich halte nur noch Dichter aus, die unter anderm auch Gedanken haben, wie Pindar und Leopardi. Aber was kann auf die Dauer einem diese Knaben-Unbestimmtheit des Gefühls sein, wie sie im deutschen Volkslied sich ausdrückt! Da lobe ich mir selbst noch eher Horaz, ob der schon recht bestimmt ist und die Wörtchen und Gedänkchen wie Mosaik setzt. (Friedrich Wilhelm Nietzsche: Fragmente 1875-1879, Band 2. „Sommer 1875“. „Gegen die lyrische Poesie bei den Deutschen“)

* ~ *

DER ZITRONENVOGEL
(1949; ED; aus: W.L.: GW. Bd. 8, S. 326 - 328)

Der erste durchwinterte Zitronenfalter zickzackt über die schon lange blühenden, stäubenden Haselbüsche. In seiner Einsamkeit bannt er den Blick doppelt, dreifach. Das Schwefelgelb seiner graziös gebuchteten Flügel, die weiße Seidenmähne seines Rückens entzücken, als sähe man ihn zum erstenmal. So schönes Geschöpf braucht keine Stimme. Dem Urgrund, dem er entstieg, legten die Gnostiker das Schweigen als Gattin bei. Mag den Zarten wiedereinfallende Kälte vernichten, er leistet als Vergängliches den wundervollen Dienst des Gleichnisses. Lautlos deutet er auf die große Einheit. Stoff und Geist hat noch kein Wort gespalten. Welche Weisheit des Fleisches, welche Geistigkeit der Materie! Vertieft sein Anblick das Schweigen um die Phänomene - wenn es sich löst, spricht es mit Mythen, mit Symbolen als allein ihnen gemäßem Ausdruck. Er läßt Jules Renard vom Körper als dem klugen Hunde der blinden Seele und die alten Chemiker vom Archäus sprechen als einer jedem Bestandteil der körperlichen Welt innewohnenden plastischen Natur, deren Wesen man Denken nennen kann, wenn man nur darunter kein Bewußtes versteht. Und die Gnostiker glaubten, daß die in der (ganz platonisch gefaßten) Materie gehaltene und darin waltende Weisheit den Demiurgos, den Gott des alten Bundes,ihm selber unbewußt dahin bringe, ihren und aller Dinge Rückgang in die Fülle des Seins zu vermitteln. Wir geraten mit dem Falter in die Vorwelt, da man noch wußte, wieder Materie zumute ist, denn das Ich ist, mit Gottfried Benn zu sprechen, eine späte Stimmung der Natur. Wir sind in der Zeit, da die Wissenschaft noch nicht aufgehört hatte zu verehren. Noch wird die Schlacht nicht geschlagen, die toben wird zwischen denen, die das Allgemeine und denen die das Einzelne für das Primäre halten. In seinem Fluge preist der Falter die ungeschiedene Einhelligkeit. Das Zergliedern,wie es die neue Wissenschaft emsig trieb, heilt zum Ganzen. Goethe beklagt die Zerstückelung der zeitgenössischen Naturwissenschaft. »Indem ich Linnés scharfes, geistreiches Absondern, seine treffenden, zweckmäßigen, oft aber willkürlichen Gesetze in mich aufzunehmen versuchte, ging in meinem Innern ein Zwiespalt vor: das,was er mit Gewalt auseinander zu halten suchte, mußte, nach dem innersten Bedürfnis meines Wesens, zur Vereinigung anstreben.« Er fragte,warum die Naturforscher nicht ein so wichtiges Phänomen,wie es die Metamorphose der Insekten darstellt, auf allen Straßen predigen. Wie versagen auch noch heute die meisten Naturkundebücher! Sie geraten in ein wässeriges Salbadern, in eine nichtige Vermenschlichung, oder sie ergehen sich in unfruchtbaren Synthesen oder werden als Aufzählung harter, abrupter Details, Nekro- statt Biologie. Wer sah schärfer, redlicher als Goethe? Wer hütete sich mehr den Gegenständen die Grille, die einem durchs Gehirn läuft, aufzuheften? Er sah im Realen das Ideelle. Der wahren Naturkunde dient als Motto, was Tschuangtse sagt:Wenn man die einzelnen Glieder eines Pferdes aneinanderreihen wollte so würde man noch kein Pferd dadurch bekommen: »Das Pferd muß zuerst dasein und seinen einzelnen Teilen Zusammenhang geben, dann erst haben wir das vor uns, das wir Pferd nennen.« Die Tatsache, daß einer Eidechse der verlorene Schwanz nachwächst, rührt aus der Einheit des Tieres. Es ist die Idee der Eidechse, die das Organ wieder ersetzt. Gegenüber so lebhaft-zartem Wesen,so glücklicher Mobilität werden abstrakte Fragen gegenstandslos: Ob etwa die Sinnlichkeit mehr der Feind als der Diener der wahren Erkenntnis oder ob die Empfindung mit Fichte und Leibniz ein unreines Denken oder mit Condillac das Denken ein verfeinertes Empfinden sei. In einem zeugenden Augenblick fallen Empfindung und Denken zusammen, bilden Außen und Innen sich in eins.(»So im Anschauen wie im Begriff« glückte es Goethe 1787 in Sizilien, die Metamorphose der Pflanzen zu gewinnen.) Vielleicht hat Leibniz recht mit seiner Behauptung, wer nur deutliche Gedanken hegte wie Gott, der hätte keine Sinnesempfindungen. Kaum ins Dasein gerückt aber, unterliegt der Zitronenfalter dem Gebot der Endlichkeit. Mit unbeirrbarer Sicherheit eilt er dem auf ihn wartenden Weibchen zu und vollzieht die Verbindung. Als irdisches Wesen trifft ihn wie den Menschen jene kleine Zäsur im All, der Zwiespalt der Geschlechter. Es ist, als ob das derbe All seine Zartheit nicht entbehren könne, als ob die Idee seine Art zu perpetuieren beflissen sei, damit uns der Falter als leiser Wink ihrer Götternähe, als Gruß des reinen Seins, nicht verlorengeht.
(ED in Welt am Sonntag. Nr. 14 v. 3.4.1949; abgedruckt nach Bd. 8, S. 326 - 328; Anm. S. 729f.)
Erläuterungen nach S. 729f.:

Erdmann, Johann Eduard (1805 - 1892): Grundriß der Geschichte der Philosophie. Bd. 1,2; 2. Aufl. Berlin: Wilhelm Hertz 1870. Hier: § 123,,2; in Bd. 1. S. 195

Anm.:
Condillac, M. L. Abbé (s. S. 727: Erläuterung zu S. 322,27)
a] Die „Story“ vom ins Freie gehobene, geschobenen Klavier ist mir aus der Mörike-Biografik nicht bekannt; glaubhaft als bezeichnende Extraordinalität ist sie allerdings schon, obschon arg übertreibend.
1] Das Zitat findet sich als authentische, intime Aussage Mörikes in seinem Brief an den Jungfreund Wilhelm Waiblinger, den er derozeiten noch mit „Sie“ anredete, aus August 1824,sich selbst psychologisch zu diagnostizieren: : „unglaublich verzärtelten Gang meines inneren Wesens“.
Genauer Wortlaut des allbekannten Zitats (aus dem Brief an Wilhelm Waiblinger v. 13. oder 14. August 1824):
Als Neunzehnjähriger diagnostizierte Mörike, nicht zufällig in einem Brief an Waiblinger, seine eigene Lebensschwäche:
„Es ist überhaupt in meinem wirklichen Zustand ein besonders peinlicher Zug, dass alles, auch das Kleinste, Unbedeutendste, was von außen an mich kommt - irgendeine mir nur einigermaßen fremde Person, wenn sie sich auch nur flüchtig nähert, mich in das entsetzlichste bangste Unbehagen versetzt und ängstigt, weswegen ich entweder allein oder unter den Meinigen bleibe, wo mich nichts verletzt, mich nichts aus dem unglaublich verzärtelten Gang meines innern Wesens heraus stört u. zwingt.“ (EM: WuB. 10, S. 57 – 61; hier S. 59;6f.
– Dieser August-Brief an Waiblinger enthält noch andere poetische Hinweise: “(...) ob Du nicht in der leztern Zeit einen Traum gehabt habt, wo sich alle schönen Gestalten in Feuer und Qualm aufgelößt u. Dich zum Theil verlassen haben, zum Theil neben Dir in den Schutt versunken, vergangen seyen (...)“(S. 58) – die Gestalt und das Schicksal des Schemens vom Feuerreiter, bezogen auf den Sprecher. M. Selbst hat ja den Zeitpunkt der Entstehung der Ballade auf den Sommer 1824 bestimmt. Ich glaube, M. beschreibt hier im Brief verstörende Gefühlsmomente ob seltsamer Gestalten.

Mörikes "Begegnung" (1828)

Eduard M ö r i k e:


- GOTTES BRÜNNLEIN HAT WASSERS DIE FÜLLE: Scherzhafte Bekräftigung eines Gastgebers, daß genug zum Trinken vorhanden ist; manchmal auch als Hausinschrift. In einem Dankpsalm für die Gaben Gottes heißt es:«Du suchst das Land heim und bewässerst es; Gottes Brünnlein hat Wassers die Fülle (Ps 65,10). -


Eduard Mörike:
Begegnung

Was doch heut’ Nacht ein Sturm gewesen,
Bis erst der Morgen sich geregt!
Wie hat der ungebetne Besen
Kamin und Gassen ausgefegt!

Da kommt ein Mädchen schon die Straßen,
Das halb verschüchtert um sich sieht;
Wie Rosen, die der Wind zerblasen,
So unstet ihr Gesichtchen glüht.

Ein schöner Bursch tritt ihr entgegen,
Er will ihr voll Entzücken nahn:
Wie sehn sich freudig und verlegen
Die ungewohnten Schelme an.

Er scheint zu fragen, ob das Liebchen
Die Zöpfe schon zurecht gemacht,
Die heute Nacht im offnen Stübchen
Ein Sturm in Unordnung gebracht.

Der Bursche träumt noch von den Küssen,
Die ihm das süße Kind getauscht,
Er steht, von Anmut hingerissen,
Derweil sie um die Ecke rauscht.
(1828)
**

Mörikes Vorlage:
Das Wiedersehen am Brunnen
(„Mündlich überliefert“, geben die Herausgeber des „Des Knaben Wunderhorn“ an.)

Es war einmal ein junger Knab,
Der hat gefreit schon sieben Jahr
Um ein fein Mädlein, das ist wahr,
Er konnt sie nicht erfreien.

"Ei, komm den Abend, junger Knab,
Wenn finstre Nacht und Regen ist,
Wenn niemand auf der Gasse ist,
Herein will dich lassen."

Der Tag verging, der Abend kam,
Der junge Knab geschlichen kam,
Er klopfet leise an die Tür:
"Steh auf, ich bin dafür.

Ich hab schon lang gestanden hier,
Ich stand allhier wohl sieben Jahr."
"Hast lang gestanden. Das ist nicht wahr,
Ich hab noch nicht geschlafen.

Ich hab gelegn und hab gedacht,
Wo nur mein Schatz noch bleiben mag,
Er macht mir allzulang, zu lang,
Mir wird ganz angst und bange."

"Wo ich solang geblieben bin,
Das darf dir wohl gesaget sein,
Bei Bier und Wein , wo Jungfern sein,
Da bin ich allzeit gerne."

Es war wohl um die Mitternacht,
Der Wächter fing zu läuten an:
"Steh auf, wer bei Feinsliebchen liegt,
Der Tag kommt angeschlichen."

Das Bürschlein auf die Leiter sprang
Und schaut die Stern am Himmel dicht.
Ich scheide nicht, bis Tag anbricht,
Bis alle Sterne schwanden."

Es sah das Morgensternlein nur,
Als sich der Knab von ihr gewandt;
Das Mägdlein morgens früh aufstand,
Ging an den kühlen Brunnen.

Begegnet ihr derselbig Knab,
Der nachts bei ihr geschlafen hat,
Viel guten Morgen boten hat:
"Gut Morgen, mein Feinsliebchen.

Wie hast geschlafen heute nacht?"
"Ich hab gelegn in Liebchens Arm!
Ich hab geschlafen, daß Gott erbarm,
Mein Ehr hab ich verschlafen!"


**


Interpretation von Renate von Heydebrand:

1828 schreibt Mörike ein Erzählgedicht, das zunächst als reine, wenn auch mit lebhafter Anteilnahme gestaltete Vorgangsbeschreibung anmutet:

Begegnung

Was doch heut' Nacht ein Sturm gewesen
Bis eben sich der Morgen regt!
Was hat der ungebetne Besen
Kamin und Gassen ausgefegt!

(...)
Der Bursche träumt noch von den Küssen,
Die ihm das süße Kind getauscht,
Er sieht, von Anmuth hingerissen,
Derweil sie um die Ecke rauscht.

Die Anwesenheit des Erzählers ist noch unauffälliger, zumal auch hier wieder in der Zeitform der Gegenwart erzählt wird. Mörike führt aber gleich in der ersten Strophe einen Beobachter ein, der alles Künftige wahrnimmt: jemand räsonniert erstaunt (wie die Ausrufezeichen und -sätze anzeigen) über das nächtliche Unwetter und seine Wirkungen. Erst später läßt sich darin auch der Kunstgriff des Dichters erkennen, der hier zugleich die Grundmetapher für das nächtliche Ge­schehen, das sich in der »Begegnung« nur spiegelt, einsetzt, den »Sturm«. Vom Ende her erscheint damit der Erzähler schon in der ersten Strophe als durch­triebener Schalk, der eine pikante Geschichte anspielungsreich und doch schein­bar naiv zu präsentieren weiß. Den Auftritt des Mädchens zeichnet er in der Rolle des Beobachters zunächst ganz sachlich auf; dann versucht er, den Ausdruck der schüchternen Verwirrung in ihrem Gesicht durch einen Vergleich näher zu bestimmen, wobei als Ursache schon der »Wind« ins Spiel kommt. Auch das Erscheinen des Burschen und seine anscheinend plötzlich gehemmte Bewegung (»Er will ihr voll Entzücken nahn«, kann oder darf es aber wohl nicht) wird genau registriert. Darauf folgt ein erster Versuch der Deutung, den der Erzähler schon durch den Modus der Aussage als subjektive Meinung kennzeichnet: »Wie sehn sich freudig und verlegen« - vielleicht er mehr freudig, sie mehr verlegen? - »die ungewohnten Schelme an«. die Befangenheit, die wohl auf seiten des Mädchens etwas größer ist, Überträgt sich auch auf den Burschen, verhindert die vertrauliche Annäherung und läßt den Beobachter die ersten Schlüsse ziehen. Die spinnt er denn in der nächsten Strophe weiter aus, ganz Erzählende Darstellung diskret; er formuliert seine Vermutung als vermutliche Frage des jungen Man­nes und verbirgt den Vorgang der nächtlichen Liebesbegegnung unter der Sturm-Metapher. Er fühlt sich ganz in den jungen Mann ein und kann da­durch in der letzten Strophe dessen innere Empfindungen nachzeichnen: weniger gehemmt als das Mädchen, erinnert der sich jetzt unverhüllt an die Liebesnacht und zeigt sich von neuem fasziniert, wenn seine Schöne, ihre Ver­legenheit in großer Geste überspielend, »um die Ecke rauscht«. In den beiden letzten Zeilen scheint der Erzähler aber bereits wieder Distanz zu nehmen und sich fast über die Verliebten lustig zu machen, indem er mit seinen Wendungen ein wenig zu hoch greift, ein anderes Milieu unterstellt als das, dem die beiden   dem volkstümlichen Ton des Ganzen entsprechend - angehören.
In diesem Gedicht also verrät sich der Erzähler, obgleich nicht mit dargestellt, als anwesender Zeuge des Geschehens durch entschiedene Anteilnahme, durch interpretierende und kommentierende Wendungen, ja, am Anfang und gegen Ende durch sein augenzwinkerndes Bescheidwissen. Das schafft eine „realistische“ Atmosphäre   fast möchte man schon an Spitzweg-Szenen denken -, die den Merkmalen, die auf eine volksliednahe, literarische Situation hinweisen, entgegenwirkt. Für den Volkston sprächen die Typisierung von »Mädchen« und »Bursch«, die Diminutiva von »Liebchen« und »Stübchen«, ja die charakteristi­sche Wendung vom »offnen Stübchen« als Metapher für Liebesbereitschaft, die Kargheit der Umweltbeschreibung (Kamin, Gassen, Straßen). Literarisch in anderer Weise wirken das Gleichnis von den »Rosen, die der Wind zerblasen«, das »süße Kind« und die hinreißende »Anmuth«, und manches andere in Wortschatz und -fügung. Keine dieser drei Stilschichten kann sich ganz durchsetzen, und daher ist die Realitätssuggestion des Gedichts trotz der vorgeblichen Zeugen­schaft des Erzähler-Beobachters nicht allzu stark. Der Leser empfindet das Ge­dicht darum eher als ein Modell, an dem der Dichter Mörike zwei seiner Lieb­lingsmotive darstellen kann: andeutend das Motiv »Lieb ist wie Wind« und ausführlich das Motiv »gemischte Gefühlslagen«. Wie das Gedicht Tag und Nacht lassen sich diese Verse daher auf dem Wege des Motivvergleichs innerhalb des Gesamtwerkes auf den Autor und sein Gefühlsleben beziehen, ohne daß von einem »Erlebnisgedicht« gesprochen werden sollte.
(Aus: R. v. H.: Eduard Mörikes Gedichtwerk. Stuttgart 1972: Metzler. S. 93f.; ohne Anmerkungen)