Donnerstag, 14. November 2024

Vor- W i n t e r l i c h e s

 

Vor_Zeitiges/Un-Zeitiges:


Nachzulesen; wenn greifbar:

https://profile.zeit.de/#cid-3663573


Vor-Winterliches

Gruß und Dank und "Post" an Stoffele:

Ich bin Mitglied der Wilhelm-Lehmann-Gesellschaft und erlaube mir diesen jahreszeitlichen Vorgiff auf winterliche Oecologie und Märchenkunde und "Natürliches", die W.L. im Januar 1940 erlebte und verfasste:

Wilhelm Lehmann:

WINTERLICHE SCHWÄNE

Es gibt Wesen und Dinge, die schneller absterben als andere - vielleicht müßte man richtiger sagen: denen die Menschen absterben -, auch wenn sie einmal kräftig sie selbst gewesen sind. Es ist, als sei ihnen das Eingeweide weggewelkt, und sie stehen im Heute als leere, blasse Attrappen in kleinstädtischen Gärten, Blumenläden, in Bürgerstuben vergessenen Datums, eben weil sie noch dastehen, und die Hand stäubt sie beim Reinmachen gewohnheitsmäßig und vergebens ab. Das Pferd in Lessings Fabel konnte sich noch einen Schwanenhals wünschen, und dessen elegante Biegung wollte im Jugendstil des Jahrhundertendes aufleben. Vielleicht ist diese ornamentale Verwendbarkeit schuld daran gewesen, daß nunmehr der Schwan selbst gar kein Lebewesen mehr sein will und zu pappener, porzellanener oder gußeiserner Nippsache erfroren, ein gedankenloses Scheindasein führt. Ihre Verwendung hat die Sache selbst aufgezehrt, so sehr, daß man nicht mehr weiß, was »schwanen« bedeutet, und sogar die Schwäne selbst, die man auf den Seen der städtischen Parks schweigend herumrudern sieht, wie Stefan-Georgesche Gedichte vergangen dämmern, auch die Legende des sterbenden, der vor seinem Tode den ersten und letzten Klageruf ausstößt, zum toten Hausrat des »schnee-« oder gar »alabasterweißen Busens«, der »kirschroten Lippen«, des »Kusses der Musen« verworfen, auf dem Scherbenberg der Redensarten gelandet scheint.

Scheint, sagen wir vorsichtig - denn hat nicht H. C. Andersen ein reizendes Märchen vom häßlichen jungen Entlein geschrieben und sollte es ihm nicht gelungen sein, dem verbrauchten Tier zu seinem Recht auf Leben zu verhelfen? Aber selbst hier lesen wir den Schwan «eher als Allegorie denn als selbständiges Wesen. Gibt es Dichtungen, in denen jener Klageruf alle Ornamentik und Allegorik durchbricht? Ich jedenfalls höre viel mehr mit Storm die Wandergans, die »mit hartem Schrei nur fliegt in Herbstesnacht vorbei«, also wieder nicht den Schwan. Unterliegt er nicht sogar, wenn in der großen Musik der Schwanenritter auftaucht? Als Student saß ich auf der Galerie so dicht über der Bühnenöffnung, daß Lohengrins Nachen und der ihn zog sich als albernes Blechspielzeug auf einer Drehscheibe entzauberten. Fragte doch jener Lohengrin der Wiener Hofoper, als der Nachen zu früh weggezogen ward, einen der umstehenden Ritter: »Bitte, wann geht der nächste Schwan?«

Den vielen, vielen Menschen jedoch, denen ihr Schicksal nicht vergönnt, an fernen Meeresküsten, nur den Himmel als hoch, die Scharen der Singschwäne hoch unter den Wolken, der Jägerkugel unerreichbar, sausen und ihren Ruf als ein fernes Glockengetön zu hören, ihnen schenkt der Winter den ersten Blick, den Wesen den ihnen eingesenkten Zauber zurück. Unversehens machte sich mit stiebendem Schnee ein eisiger Oststurm auf, peitschte die Förde, daß sie über die Ränder der kleinen Stadt quoll, die Bäume der Mole badete, die Autos, die allein die Straße am Hafen entlang zu fahren wagten, in Gondeln verwandelte, das Pflaster polierte und Wind und Schnee die mühsamen Menschen jagte. Aber so sehr sie jagten, im Ernst ihrer Geschäfte - auf der kleinen, von beiden Seiten ansteigenden, glitschigen Holzbrücke, die schon innerhalb der Stadt über die Bucht führt, blieben sie mitten im gleitenden Lauf, sich am Geländer festhaltend, stehen. In dem kleinen Bootswerfthafen, den man jüngst auszuheben begann, hatte sich, der Innenseite der Stadt zu, feine fremde Schar von Höckerschwänen geflüchtet. Der Sturm milderte sich hier gnädig, sie wiegten sich auf den schwappenden Wassern, schlängelten die Hälse, strichen mit den Schnäbeln über den Rücken, filterten die Eisflut, ließen sie sich spielerisch durchs Kleid rinnen und schwankten hin Und schwankten her.
Alt und jung blieb stehen, ein Mütterchen zog kostbares Brot aus der Tasche: Kinder lockten junge Männer starrten in Vergessenheit ihres Tuns, dann eilte alles weiter, bis ein neuer Trupp verweilte. Warum blieb er stehen, da die Mittagspause karg genug war? Elysisch, halkyonisch lächelte im Zentrum des Wintersturms den beladenen, menschlichen Ernst die Geborgenheit der Kreatur an, den Elementen verschwistert. Diese Verschwisterung übertrug sich magisch auf den Menschen. Wie in einer Jungmühle gemahlen, trippelte die Alte weiter. Eine mystisch-natürliche Zuversicht verwandelte die geschäftigste, die böseste Miene. Die wuchtige Zärtlichkeit der herrlichen Vögel überzeugte, ihre Ruhe war unverstellt, den mächtig graziösen Umriß ihrer freien Schönheit verdarb keine Befangenheit und keine Absicht. Und ihrer Ruhe entwuchs als sichere Ahnung die Großartigkeit ihres Fluges.

Auch ich war unter den Schauernden. Dicht neben mir stieg einer der Schwäne auf einen Balken, auf nilpferdgrauen Ruderfüßen das weiße Schiff seiner Federn. Hatte er Lohengrin durch den Eissturm hergetragen? Abgeschüttelt war die Last der Vergangenheit, die Drohung der Zukunft. Er wartete, bis unter uns Elsa von Brabant gefunden war - er ließ uns in die immer gegenwärtige, immer verkannte Wahrheit des Märchens ein.
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Zuerst in: Frankfurter Zeitung Nr. 41/1940. 24.01.1940 (Abendblatt/Erstes Morgenblatt); in Buchgestalt: Bewegliche Ordnung. Heidelberg 1947.S. 145-147.

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Ich füge an:

http://www.lyrikwelt.de/auto…

Liebe Grüße, ob in poeticis oder in den Realitäten:








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