Montag, 24. April 2023

Wilhelm L e h m a n n: A t e m h o l e n

Klassische, ergo authentisches Atemholen -


G o e t h e -Memorabilien # 04



 Andy Warhol. Goethe (Redface)

http://www.germanposters.de/warhol-andy-goethe-red-face.jpg

I m   A t e m h o l e n“

Goethes Gedicht als Basis des mensch-lichen, biologischen und sozialen Lebens ist bekannt, ja, im Atemholen sind zweierlei – wie heißt dann das Nomen: „zweierlei Gnaden“. – ein wundevolles, hauchzart religiöses Wort s Segens, der Benedeiung, der Erfahrung von Güte und Leben:



Im Atemholen sind zweierlei Gnaden

        Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:

Die Luft einziehen, sich ihrer entladen;

 Jenes bedrängt, dieses erfrischt;

 So wunderbar ist das Leben gemischt.

 Du danke Gott, wenn er dich preßt,

 Und dank ihm, wenn er dich wieder entläßt.












Ein Spezialist für Fragen des Islams führte dazu aus:

Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:/Die Luft einziehn, sich ihrer entladen./Jenes bedrängt, dieses erfrischt;/So wunderbar ist das Leben gemischt/Du danke Gott, wenn er dich preßt,/Und dank ihm, wenn er dich wieder entläßt. In diesem „Talisman“ aus dem ‚West-östlichen Divan’ sieht Navid Kermani das Wesentliche der islamischen Religion erfasst. Mit Hendrik Birus wird Kermani an diesem Abend über Goethes intensive Beschäftigung mit dem Koran und der persischen Poesie sowie über Goethes Verhältnis zum Islam nachdenken.“ – Soweit eine Ankündigung aus dem Goethe-Haus über Navid Kermanis Goethe-Verständnis.


Nachzulesen:

http://www.goethehaus-frankfurt.de/ausstellungen_veranstaltungen/veranstaltungen/im-atemholen-sind-zweierlei-gnaden


Doch eine plausible, einfache Interpretation zum Text, von Form, Inhalt und Intention her?


WERNER ROSS

ATEMTECHNIK HOCHPOETISCH


Der »Witz« des Gedichts - das, was in der Musik der Einfall ist - beruht auf dem Reim der ersten Verse: dem »hohen «, der göttlichen und fürstlichen Sphäre angehörigen Wort »Gnaden- steht das derbe, drastische, fast ordinäre »sich entladen« gegenüber. Es ist nicht nur der Witz, auch der Sinn des Gedichts, daß es das Höchste, das Göttliche, mit der bescheidenen Notdurft, mit dem elementarsten aller vitalen Akte in Verbindung bringt.

Hochfeierlich ist die Spruchreihe, in der diese Verse stehen. Es sind fünf Sprüche, überschrieben »Talismane«, im ersten Buch des »West-Östlichen Divan«, und es eröffnet

sie der großmächtige, prunkvolle Spruch:

Gottes ist der Orient!

Gottes ist der Okzident!

nord- und südliches Gelände

ruht im Frieden seiner Hände.


Talismane dieser Art wurden von den frommen Muselmännern in Edelsteine geritzt und am Körper getragen.

Der Talisman, heißt es in einem anderen der Sprüche, »schützet dich und schützt den Ort, / Wenn das ein gegrabne Wort / Allahs Namen rein verkündet ... «

Bei Goethe bedarf es keiner Edelsteine mehr. Doch sind seine Sprüche Mitnehm-, Mittragesprüche geblieben, mehr als Merk- und Mahnverse, nämlich Vergewisserungen des rechten Lebensweges. Das Atmen selbst ist ein spiritueller Vorgang, das lernen wir heute am liebsten von den Indern, aber auch im Okzident hängen »spirare« und »spiritus« aufs engste zusammen. Atem einhauchen ist gleich Leben einhauchen, ein göttliches Prärogativ.

Gott verfährt so bei Adam, dem Erdenkloß, und als Prometheus einen ebensolchen Erdenkloß modelliert, muß Athene herbei, um das Einhauchen zu besorgen. So bläst die Muse als göttliche Kraft dem Dichter seine Produktivität ein, und erst die Folgezeit hat das zum Musenkuß verniedlicht.

Goethe, der in aller Weisheit Beschlagene, hat die Zusammenhänge gekannt, sie aber - wohlweislich - in diesem Gedicht vor der Tür stehen lassen. Was diese Verse großartig macht, ist gerade ihre scheinbar trockene Technizität, ihr Anwendungscharakter. Gewiß, in der Doppelbewegung des Atems verbirgt sich Goethes weit- und hochgespannte Philosophie: das Doppelspiel von Tag und Nacht, Gut und Böse, Freud und Leid, Spannung und Entspannung. Das Fluten und Ebben in unserer eigenen Brust entspricht den kosmischen Gesetzen, das Leben selbst ist wunderbare Mischung, aber von dieser Philosophie wird keinerlei Aufhebens gemacht.

Der Rhythmus, der wechselnde Pulsschlag und Taktschlag, regelt das vegetative Leben und durchfließt das Gedicht - auch und gerade dieses, das sich fast wie von selbst auswendig lernt mit seinen sich liebevoll reimenden Gegensatzpaaren.

Man könnte einwenden, mit »bedrängt« und »preßt« hätte Goethe den Mund ein wenig zu voll genommen. Tatsächlich hat Goethe damit bewußt dramatisiert, pädagogisch übertrieben: nicht ein Blasebalg ist am Werk, sondern die Gottheit selbst, die nicht nur den ersten Atem einhaucht, sondern von früh bis spät in jedem Atemzug zugegen ist, christlich oder pantheistisch, das macht wenig aus, und gut muselmanisch dazu.

Das Ganze ein Gnadengeschenk, die Antwort Dank. Das ist Goethes Altersweisheit, darum hat er, ein Menschenalter nach der Italienischen Reise, die zweite, geistige Reise in den Orient unternommen: »Patriarchenluft zu kosten«, reiner und tiefer zu atmen, als das im beengten Weimar möglich war. Darum steht dieses Gedicht am Ende der Reihe, die mit »Gottes ist der Orient« begann.


In: 1000 deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Bd. 2: Johann Wolfgang von Goethe. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki. Frankfurt/M. 1996. S. 316ff.)


Und die Fortsetzung hier: nicht von Goethe, sondern von dem Lyriker, der im 20. Jh. die größte Affinität, ja, Verehrung und künstlerische Nachfolge:

Wilhelm Lehmanns Gedicht aus dem August 1947: „Atemholen“:


Wilhelm Lehmann:
Atemholen


Der Duft des zweiten Heus schwebt auf dem Wege,
Es ist August. Kein Wolkenzug.
Kein grober Wind ist auf den Gängen rege,
Nur Distelsame wiegt ihm leicht genug.

Der Krieg der Welt ist hier verklungene Geschichte,
Ein Spiel der Schmetterlinge, weilt die Zeit.
Mozart hat komponiert, und Shakespeare schrieb Gedichte,
So sei zu hören sie bereit.

Ein Apfel fällt. Die Kühe rupfen.
Im Heckenausschnitt blaut das Meer.
Die Zither hör ich Don Giovanni zupfen,
Bassanio rudert Portia von Belmont her.

Auch die Empörten lassen sich erbitten,
Auch Timon von Athen und König Lear.
Vor dem Vergessen schützt sie, was sie litten.
Sie sprechen schon. Sie setzen sich zu dir.

Die Zeit steht still. Die Zirkelschnecke bändert

Ihr Haus. Kordelias leises Lachen hallt
Durch die Jahrhunderte. Es hat sich nicht geändert.
Jung bin mit ihr ich, mit dem König alt.


*




Anmerkungen:


Als Titel hatte Lehmann zwei Varianten im Sinne, und in seinem Tagebuch notiert, um den Anklang an Goethes Gedicht nicht sofort aufstoßen zu lassen:

Augusttag ohne Zeit“ – und anders: „Zeitlosigkeit im Garten“ (Tagebuch 21.8.1947)

Und noch diese Textvarianten: In Zeile 4 „Nur …( bis) genug“: „Und niemand stört die Gartenlust.“ (Nach Lehmanns Handschrift; s. WL: Gedichte. S. 451)


Mit einigen Ergänzungen, die ich vor Jahr und Tag schrieb:

http://www.biblioforum.de/forum/read.php?3,3231,3244


(W. L.: Gesammelte Werke, Bd. 1. Gedichte. Stuttgart 1982. S. 180)


Und niemand stört die Vortragslust“? – Ich danke Ihnen!


P.S.: „Gnade/Gnaden“ im Goethe-Wörterbuch:

http://woerterbuchnetz.de/GWB/?sigle=GWB&mode=Vernetzung&lemid=JG03989

Ein mirandes (id est: merkwürdiges) Exempel:Die Sacramente sind .. das sinnliche Symbol einer außerordentlichen göttlichen Gunst und G. 27,119,8 DuW 7 [mit Beziehung auf eine Blumensendung Lottes]“


 

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