Mittwoch, 15. November 2023

Wir v o n und z u Recklinghausen und H i l l e r h e i d e

 

<Recklinghausen: Straßenszene, mit Lindenbaum>


Weitere literarische Ergebnisse oder Genüsse?

Von RE <Recklinghausen> aus können Sie sich radial-radikal perspektivisch orientieren (und vergessen hierhin wiederzukehren): Nach Duisburg zu den Theatertagen; nach Herne zu den Tagen alter Musik; adventsmäßig nach Dortmund zum standgemäß größten Weihnachtsbaum der Republik; nach Münster zu den Lyriktagen; nach Marl zum Adolf-Grimme-Wettbewerb (wer Grimme war? Fragen Sie mal in Marl!); nach Geldern, irgendwo am Niederrhein, zum Fest der Straßenmaler, nach Herten - mit dem Fahrrad erreichbar - zum Folk-Festival; nach Schloss Moyland, nahe Kalkar, um dort nachzuforschen, wie Beuys sich freundesmäßig durch die van der Grintens verewigen ließ: handwerklich ungenügend, intentional chaotisch-sinnlos.

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Doch der lokalen Realität sei hoher Tribut gezollt, eine Fortsetzung des quasi literarischen Topos Recklinghausen:

Theodor Weißenborns Kurzgeschichte "Eine unbefleckte Empfängnis" ist eine Story, die sich in der Hauptpost an der Martinistraße in Recklinghausen abspielt. In Anthologien ist sie vielfach gedruckt worden 1].

"Geoffenbart am 18. Juli 1965, mittags, 12 Uhr, auf dem Hauptpostamt Recklinghausen, Schalterhalle, vorn, Fernsprechaltar."

So ist die leitmotivische Orts- und Geistesangabe in Th. Weißenborns Erzählung "Eine unbefleckte Empfängnis" beschrieben.

An diesen Ort der Teilnahme, Öffentlichkeit der technischen Kommunikation vollzieht sich der letzte Akt eines Dramas eines Mädchens, das man mit dem Etikett "irre", oder psychiatrisch formuliert: "neurotisch-schizoid" oder "psychotisch" (jeder Nervenarzt ist da variabel und tablettenspendierfreudig).

Heinrich Böll nahm Stellung zur Story, als sie einen exemplarischen Meinungsstreit über das Noch-Erlaubte, über das Häßliche und Kranke, über Sinn und Wahnsinn in der Literatur auslöste:

"Ich finde die Geschichte gut, finde Ort, Personen und Handlung genau richtig platziert und im übrigen einen tiefen religiösen Sinn in dieser Leidensgeschichte einer Magd!"

Über die vordergründige Provokation hinaus stellt dieser Fall einer religiösen Neurose einen christlichen Hilfsappell dar. Gäbe es heute noch jesuanische Menschen, Th. W. wäre der letzte, der nicht auch diesen Heiler, den Erlöser, den Angerufenen (wie sie in Jesu Sendungsauftrag benannt und ausgestattet werden: Missionare der Seele) einbezogen hätte in seine Geschichte.

"...Fürchte dich nicht!"

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Theodor Weißenborn (* 22. Juli 1933): Studien der Sprachen und Philosophie und Psychologie, freier Schriftsteller, international erfolgreicher Autor, besonders mit Erzählungen und Hörspielen zu Themen Logik und Sprache und Erkenntnis, Ethos und Konflikt, Liebe und Gesundheit. Er lebt in der Eifel auf Hof Raskop.


Wer sich, ob realiter oder imaginiert, d.h. auch eingebildet, ständig beobachtet und kontrolliert fühlt, für ewig, solange das Leben währt, überwacht und vorherbestimmt fühlt, entwickelt Obsessionen, kann nicht mehr unterscheiden zwischen Realität und Gefühlen, Äußerem und Inneren. Es hat "den Heiland auf den Lippen, den bösen Feind im Herzen".

Ein Kritiker schrieb über die religiösen und psychiatrischen Fallbeispiele des Autors:

"Einige dieser Texte beschäftigen sich mit Menschen, deren Wahnvorstellungen auf sexuelle und religiöse Konflikte zurückgehen. Der Stoff zu dieser Prosa des Abnormen ist nicht der vermeintlich schmutzigen Phantasie des Autors entsprungen, denn Weißenborn hörte ... an der Universität Köln Psychiatrie und Medizinische Psychologie." "Er selbst ist in streng katholischer Umgebung groß geworden und kennt darum die Sorgen und Nöte der römisch-katholischen Christen aus eigener Erfahrung. Der sprachlich heilkundige Weißenborn ist nicht traurig darüber, selbt der geistigen Unterordnung unter die vom Papst ausgehende Hierarchie entronnen zu sein. Und kaum einen wird es verwundern, dass er angesichts seiner Erkenntnisse seine Kinder der Welt des Weihwassers und der Rosenkränze entzogen hat." "Er maßt sich mitunter an, bestehende Machtverhältnisse in Zweifel zu ziehen, und er fordert zu deren Veränderung auf."

Ein bloße Nennung von Örtlichkeiten ist nie Anlass und Ziel eines poetischen (ob realistisch-erzählerischen oder satirischen) Vorgangs - den Kern von Verletzungen (ob Arroganz oder Machtanspruch oder der bloßen Dummheit) - zufällig in der betroffenen Örtlichkeit Wohnende müssen sich der Kritik a posteriori stellen, ansonsten könnte der Nachweis ihrer Berechtigung a priori schon gegeben sein.

In einer ganz eigenen Art des Feuilletons schreibt ein Autor Essays und Reiseberichte, lange bevor er durch Romane zur österreichischen Geschichte weltberühmt wurde und, wie hunderte andere auch, Deutschland verlassen mußte, weil seine humanistische Auffassung von Menschlichkeit, Frieden und Freiheit nicht akzeptabel waren für ein Regime, in dem (wie heutigentags wiederum) Großmäuler, Verbrecher und Neurotiker das Deutscheste vom Deutschen für absolut setzen - und sich so benehmen möchten, wie sie es als Gewalttäter gelernt haben: durch Mißhandlung.

Was darf Satire? Sie darf (nicht nur nach Kurt Tucholsky) alles: erschrecken, überzeichnen; ja, sie zeichnet das Negative aus, will sie ihrer Intention gerecht werden: Sie zielt ex negativo auf das Menschliche - die Wirklichkeit, die positive Aussage, sie muß hergestellt werden im Kopf des Lesers oder Zuschauers, sie will die Realität verändern. Sie ist die Textsorte, die die einen zum Lachen bringt und die anderen zum Grummeln, und die dritten, häufig humorlose, rachsüchtige Politiker, etwa im Stil der Amigos, zu Wut und Gegenmaßnahmen. Im nächsten Spott/Spot ist es umgekehrt: Die einen werden in die Starrheit der Empörung, der fast tödlichen Beleidigung getrieben, den anderen treibt es die Tränen der Schadenfreude in die Augen.

Exempel für den literarischen Topos Recklinghausen:

Eine Story, die sich in der Hauptpost in Recklinghausen abspielt: Theodor Weißenborn: Eine unbefleckte Empfängnis

Diese Kurzgeschichte ist vielfach gedruckt worden. Hier wird sie zitiert nach dem Erzähl-Sammelband von Weißenborn mit dem gleichen Titel, 1969 erschienen im Diogenes-Verlag in Zürich.

"Geoffenbart am 18. Juli 1965, mittags, 12 Uhr, auf dem Hauptpostamt Recklinghausen, Schalterhalle, vorn, Fernsprechaltar."

So ist die leitmotivische Orts- und Geistesangabe in Th. Weißenborns Erzählung "Eine unbefleckte Empfängnis" beschrieben.

An diesen Ort der Teilnahme, Öffentlichkeit der technischen Kommunikation vollzieht sich der letzte Akt eines Dramas eines Mädchens, das man mit dem Etikett "irre", oder psychiatrisch formuliert: "neurotisch-schizoid" oder "psychotisch" (als Nervenarzt ist man da variabel, weil unfähig, die sozialen Komponenten psychiatrischer Erkrankungen zu erfassen und zu therapieren).

Heinrich Böll nahm Stellung zu dieser Story, als sie einen exemplarischen Meinungsstreit über das Noch-Erlaubte, über das Hässliche und Kranke, über Sinn und Wahnsinn in der Literatur auslöste:

"Ich finde die Geschichte gut, finde Ort, Personen und Handlung genau richtig platziert und im übrigen einen tiefen religiösen Sinn in dieser Leidensgeschichte einer Magd!"


Über die vordergründige Provokation hinaus stellt dieser Fall einer religiösen Neurose ein Hilfsappell dar. Gäbe es heute noch jesuanische Menschen, Th. W. wäre der letzte, der nicht auch diesen Heiler, den Erlöser, den Angerufenen (wie sie in Jesu Sendungsauftrag benannt und ausgestattet werden: Missionare der Seele) einbezogen hätte in seine Geschichte.

"...Fürchte dich nicht!"

Wer sich, ob realiter oder imaginiert, d.h. auch eingebildet, ständig beobachtet und kontrolliert fühlt, für ewig, solange das Leen währt, überwacht und vorherbestimmt fühlt, entwickelt Obsessionen, kann nicht mehr unterscheiden zwischen Realität und Gefühlen, Äußerem und Inneren. Es hat "den Heiland auf den Lippen, den bösen Feind im Herzen".

Ein Kritiker schrieb über die religiösen und psychiatrischen Fallbeispiele des Autors:

"Einige dieser Texte beschäftigen sich mit Menschen, deren Wahnvorstellungen auf sexuelle und religiöse Konflikte zurückgehen. Der Stoff zu dieser Prosa des Abnormen ist nicht der vermeintlich schmutzigen Phantasie des Autors entsprungen, denn Weißenborn hörte ... an der Universität Köln Psychiatrie und Medizinische Psychologie."

"Er selbst ist in streng katholischer Umgebung groß geworden und kennt darum die Sorgen und Nöte der römisch-katholischen Christen aus eigener Erfahrung. Der sprachlich heilkundige Weißenborn ist nicht traurig darüber, selbst der geistigen Unterordnung unter die vom Papst ausgehende Hierarchie entronnen zu sein. Und kaum einen wird es verwundern, dass er angesichts seiner Erkenntnisse seine Kinder der Welt des Weihwassers und der Rosenkränze entzogen hat."

"Er maßt sich mitunter an, bestehende Machtverhältnisse in Zweifel zu ziehen, und er fordert zu deren Veränderung auf."

Ein bloße Nennung von Örtlichkeit ist nie Anlaß und Ziel eines poetischen (ob erzählerischen oder satirischen) Vorgangs - den Kern von Verletzungen (ob Arroganz oder Machtanspruch oder der bloßen Dummheit) - zufällig in der betroffenen Örtlichkeit Wohnende müssen sich der Kritik a posteriori stellen, ansonsten könnte der Nachweis ihrer Berechtigung a priori schon gegeben sein.

Die letzte Veröffentlichung, die diese Geschichte enthält, hat den Titel "Opfer einer Verschwörung"; sie ist enthalten in seiner Sammlung von Erzählungen für Religionsunterricht und Jugendgruppen.

In einer religionspädagogischen Einführung formuliert Friedrich Munzel folgendes:

"Ein junger Mensch, allein gelassen, unverstanden, der aufwachsen muß mit diffusen Vorstellungen über Sexualität und Religion, die eine groteske Vermischung beider Bereiche zur Folgen haben - er kann nur Schaden nehmen.

W. erhebt hier Anklage gegen das Verhalten einer Gesellschaft, wie es sich in Variationen immer wiederholt. Das Mädchen wird in seiner Naivität ausgenutzt, entehrt, entwürdigt; es ist dem Zugriff 'Erfahrener' preisgegeben."

(In: Th.W.: Der Kaiser hat einen Vogel. Erzählungen für Religionsunterricht und Jugendgruppe. Pfeiffer-Verlag: München 1992.)

In einer ganz eigenen Art des Feuilletons schreibt ein Autor Essays und Reiseberichte, lange bevor er durch Romane zur österreichischen Geschichte weltberühmt wurde und, wie hunderte andere auch, Deutschland verlassen musste, weil seine humanistische Auffassung von Menschlichkeit, Frieden und Freiheit nicht akzeptabel waren für ein Regime, in dem (wie heutigentags wiederum) Großmäuler, Verbrecher und Neurotiker das Deutscheste vom Deutschen für absolut setzen - und sich so benehmen möchten, wie sie es als Gewalttäter gelernt haben: durch Misshandlung.

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1] Hier wird sie zitiert nach dem Erzähl-Sammelband von Weißenborn mit dem gleichen Titel, 1969 erschienen im Diogenes-Verlag in Zürich. - Die letzte Veröffentlichung, die diese Geschichte enthält, hat den Titel "Opfer einer Verschwörung"; sie ist enthalten in seiner Sammlung von Erzählungen für Religionsunterricht und Jugendgruppen. In einer religionspädagogischen Einführung formulierte Friedrich Munzel: "Ein junger Mensch, allein gelassen, unverstanden, der aufwachsen muß mit diffusen Vorstellungen über Sexualität und Religion, die eine groteske Vermischung beider Bereiche zur Folgen haben - er kann nur Schaden nehmen.

W. erhebt hier Anklage gegen das Verhalten einer Gesellschaft, wie es sich in Variationen immer wiederholt. Das Mädchen wird in seiner Naivität ausgenutzt, entehrt, entwürdigt; es ist dem Zugriff 'Erfahrener' preisgegeben." (In: Th. W.: Der Kaiser hat einen Vogel. Erzählungen für Religionsunterricht und Jugendgruppe. Pfeiffer-Verlag: München 1992.)

2] Reinhard Junge, mit mehreren Krimis, die im Raum Bochum-Recklinghausen spielen, zuletzt: "Totes Kreuz" und (Erscheinungstermin: September 1998) "Straßenfest"; alle im grafit-Verlag Dortmund. - Ein gewichtiges Stück der gegenwärtigen Kriminalliteratur findet heute in den Regionen statt, so auch in Ruhrkrimis. Auch hier spielen Recklinghausen und Umgebung mit Straßen und Gebäuden und Dienstpersonal eine Rolle in den drei sogenannten "Roggenkemper"-Krimis von Reinhard Junge und Leo P. Ard (Pseudonym für Jürgen Pomorin): "Das Ekel von Datteln" und die Fortsetzungsbände. Hier zeigte sich, dass der fiktive Roman auch in die reale, politische Wirklichkeit reinzuspielen vermag, wenn er es schafft, bei den Lesern und in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit zu erregen: in diesem Fall den Machtmißbrauch auf regionaler Ebene aufzuzeigen. Aber es wird sicherlich noch mehr gereinigtes Wasser die Emscher runterfließen und die Luft über der Ruhr noch sauberer werden, bis neue Landschaftspoesien über planierte Industriebrachen und herausgestrichene Kumpelsiedlungen sich entwickeln.


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