Mittwoch, 2. November 2011

Eine Feld-, nein: eine L e b e n s - beichte


- K r i s t e n l e e r e III -


Gottfried Keller - ein Dichter als selbstständiger Beichter 1]

Arnold Böcklin: Gottfried Keller (1889)


In der gesamten deutschen Dichtung (verifiziert bei Gutenberg-online.de) gibt es nur einmal das Stichwort “Feldbeichte“.

Und zwar als Gedicht, ja, ohne Kriegsgeschrei, ohne Zeter und Mordio, ohne Parteijargon, inder friedlichst denkbaren Form.

Von einem Gottesfreund, der es sich abgewöhnt hat, an seelsorgerliche oder militärische Übungen zum Zweck der Gottesdienstes, des Vaterlands zu glauben.


Gottfried Keller:

Feldbeichte

Im Herbst, wenn sich der Baum entlaubt,
Nachdenklich wird und schweigend,
Mit Reif bestreut sein welkes Haupt,
fromm sich dem Sturme neigend;

Da geht das Dichterjahr zu End,
Da wird mir ernst zumute;
Im Herbst nehm ich das Sakrament
In jungem Traubenblute.

Da bin ich stets beim Abendrot
Allein im Feld zu finden,
Da brech ich zag mein Stücklein Brot
Und denk an meine Sünden.

Ich richte mir den Beichtstuhl ein
Auf ödem Heideplatze;
Der Mond der muß mein Pfaffe sein
Mit seiner Silberglatze.


Und wenn er grämlich zögern will,
Der Last mich zu entheben,
Dann ruf ich: "Alter, schweig nur still,
Es ist mir schon vergeben!

Ich habe längst mit Not und Tod
Ein Wörtlein schon gesprochen!"
Dann wird mein Pfaff vor Ärger rot
Und hat sich bald verkrochen.

*

(Aus dem Buch der Natur, der ersten Abteilung in der Gedichtausgabe von 1883)

Nachzulesen im Gesamtangebot der Gedichte.

Eine höchste private, des kirchlichen oder gar des militärischen enthobenen Seelsorge.

Der Mensch, so lebt es ihm der Künstler Gottfried Keller in der Rolle des lyrischen Ichs vor, der sich entheben darf ständischer, bürgerlicher, militärischer Zwänge, ja der zwangsweisen Gewissenverkrüpplung, die wir heute Neurotisierung nennen würden.

Nein, das Individuum, das sich aufzuklären bemüht, kann aller auf dem Schlachtfeld noch abgenötigten Beichte (vor oder in einem Menschheitsdrama, dass hier ein Feldgeistlicher funktional-ungerecht einen gott-gesegneten Krieg nennen würde. Diesem nationalen und kirchlichen Unfrieden und Unsinn sich zu entziehen, ist Kellers Intention; die seit Jahrhunderten offen liegt, aber trotzdem immer wieder von Führern und den segnenden Gottesvertretern den Ärmsten als Christenpflicht abverlangt wurden.

Hier eingefügt ein Hinweis zu dem absurden Fahneneid als Führereid in der gottgesegneten Apparatur der Militär- und aller Bischöfe im „Deutschen Reich“…

Vom lyrrischen, erzählstarken, poetischen Ich zum Feuerbachianer Keller; er hat hier in der lyrischen Schnelldarstellung wie auch in seinem grundlegenden Lebens-Roman „Der grüne Heinrich“ (Zweitfassung) ein solch eindeutiges Denk-Mal seines diesseitigen Glaubens gesetzt, dass man sich bei der Lektüre schon recht wundern kann, wie ein Dichter einen lebens- und naturnahen ohne das antiquierte, patriarchalische Gottvater-Bild verwirklicht, als positiven Atheismus.

Ein private „Militärseel“-sorge, ohne Krieg, ohne Zank, eben ohne Militarismus, allein mit den Mitteln der Aschauung und Reflexion.

Gottfried Keller schafft das übliche Kirchentum mit der Sakramenterei, die eine geistige Form der Transsubstantioation zelebriert, dass man schon der volkstümlichen Fluchtreaktion auf dieses „Hoc est enim…“ glaubt: Hokuspokus.

Gottfried Keller bietet die modernen, uralten Sakramentalformen an: den Wein und das Brot.

Wer diese urtümliche Form des Christentums nicht „glaubt“, wird sich in der Gesellschaft, in der Natur, zwischen den Staaten als der Rabauke mit Zerstörungswut aufführen…

Keller zeigt uns den Weg des Naturgläubigen. Er kann sich mit „Not und Tod“ im Anschauen der Welt und Umwelt begnügen.

Er bietet uns diesen christlichen Glauben als natürlichen Trost, wie auch das Zweite Vatikanische Konzil es sieht in der Kirche als Ganzes „in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit, wobei ein Denker wie Keller auf die Gottes-An- und Verwandlung zu den eigenen Gunsten verzichtet. Ein solcher Gott hat 2000 Jahre HERR-schaftsformen und Gewalthaber, Henker und Helden - entindividualisierte Menschlein und Opfer hervorgebracht.

Was Literatur vermittelt:

Friedrich Schiller formulierte zu "Böse Zeiten":

"Philosophen verderben die Sprache, Poeten die Logik, und mit dem Menschenverstand kommt man durchs Leben nicht mehr." -

Keller zeigt an vielen Stellen in seinem Werk, wie in Erzählungwn vom Leben beides eine reale und poetische Sprachebene findet: in der Wahrheit.

P. S.:

Feldgeistliche sind rare Gestalten in der Literatur; ihre Geschäfte als Seelsorger, als Krieghetzer, als Grabtröster, Versprechunger ewiger Wahrheiten und überirdischer Anschauungen werden unterschiedlich bewertet.

Ad exemplum:

„Alte Einrichtungen stehen mit tausend Fasern festgewurzelt, und so lang sie da waren, war's doch auch gut, daß diejenigen Gefühle und Gedanken bestanden, durch die sie verschönt – durch die sie nicht nur erträglich, sondern sogar beliebt gemacht wurden. Wieviel armen Teufeln half jene anerzogene »Todesfreudigkeit« über das Sterbensweh hinweg; wieviel fromme Seelen bauen vertrauensvoll auf die ihnen vom Prediger zugesicherte Gotteshilfe; wieviel unschuldige Eitelkeit und stolzes Ehrgefühl ward nicht durch jene Zeremonien geweckt und befriedigt, wieviel Herzen schlugen nicht höher bei den Klängen jener Gesänge? Von allem Leid, das der Krieg über die Menschen gebracht hat, ist doch wenigstens jenes Leid abzurechnen, welches wegzusingen und wegzulügen den Kriegsbarden und den Feldgeistlichen gelungen ist.«

Aus: Bertha Suttners Freidensbuch "Die Waffen nieder!" (Fünftes Buch. Friedenszeit). [1889]

http://gutenberg.spiegel.de/buch/2594/5


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1]
Ein „Beichter“ seiner selbst:

Im DWB: „Beichter, m. sowol der beichtende als der beichtvater, mhd. bîhtære“. Ein Beispielssatz“. „got hat gesetzt ein beichter als ein mitler zwischen im und dem sünder.“

http://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemid=GS13754

Adelung führt aus: „Der Beichtiger, des -s, plur. ut nom. sing. ein im Hochdeutschen veraltetes Wort, welches aber ehedem in folgenden Bedeutungen üblich war. 1) Für einen, der da beichtet, wofür man jetzt lieber Beichtkind gebraucht, und in weiterer Bedeutung auch für Bekenner, so fern dieses Wort im kirchlichen Verstande einen Märtyrer bedeutet. In beyden Fällen wird es noch häufig in Oberdeutschland gebraucht. 2) Für einen, der dem andern Beicht höret, für einen Beichtvater, in welchem Verstande noch Hagedorn dieses Wort gebraucht, obgleich im Hochdeutschen Beichtvater üblicher ist.“ - S. Adelung: Beichtiger (Bd. 1, Sp. 818)

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