Sonntag, 4. Dezember 2022

Goethes Verständis des 'H i m me l s' in "W e r t h e rs Leiden"

Goethes Himmel auf Erden (im Weimarer Gartenhaus)):

Gemälde von Chritiian Rohlfs (1902):

  

G  o  e  t  h  e  -  Memorabilia # 32

 


 

 

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Vom  H i m m e l  als Ort der  S e l i g k e i t - auch nach einem FreiTod -

(Todes_SehnSüchte in der klassischen oder romantischen Epoche der deutschen Literatur):

Da seine Bezugnahme auf Gott undeutlich bleibt, kann Novalis vom Glück der Liebenden statt von der Seligkeit der Heiligen reden. Das „Lied der Toten“ weist überraschende Ähnlichkeit mit einem etwas früher entstandenen Gedicht Friedrich Schillers (1759-1805) auf. Als eifriger Förderer der Neubelebung antiker Dichtung greift Schiller auf die Renaissancetradition der Verknüpfung des Himmels mit dem Elysium und den Inseln der Seligen zurück. Sobald das Elysium betreten wird, gehören Schmerz, Leid, Müdigkeit und Elend der Vergangenheit an. Nun finden sich die Liebenden wieder, "küssen sich auf grünen samtnen Matten, lieb gekost vom Balsamwest«. Die Liebe triumphiert über den Tod:

Ihre Krone findet hier die Liebe,

Sicher vor des Todes strengem Hiebe,

Feiert sie ein ewig Hochzeitsfest.“

Die romantischen Vorstellungen von einer Liebe im Jenseits sind auch im Werk Johann Wolfgang Goethes (1749-1832) präsent.

Bereits in „Die Leiden des jungen Werthers“ (1774) läßt er seinen sich aus Liebe zu der verheirateten Charlotte verzehrenden jugendlichen Helden sagen, nur der Tod könne die Harmonie seiner Seele wiederherstellen, denn erst nach dem Tod könne er mit ihr vereint werden. »Ich gehe voran! gehe zu meinem Vater, zu deinem Vater«, weint der verzweifelte Werther. „Dem will ich's klagen, und er wird mich trösten, bis du kommst, und ich fliege dir entgegen und fasse dich und bleibe bei dir vor dem Angesichte des Unendlichen in ewigen Umarmungen.“ Diese Gewißheit - "wir werden sein! wir werden uns wiedersehen! - ermutigt ihn (und manchen zeitgenössischen Leser des Buches) zum Selbstmord. Goethes tragischer Held ist überzeugt, daß Charlottes Gatte Albert in der anderen Welt keinen Anspruch mehr auf sie besitzt. Der Tod befreit Werther nicht nur von der Qual einer unerwiderten Liebe; er verheißt ihm auch ewige Liebe.

Werthers Glaube an ein Wiedersehen erinnert an Rousseaus „Julie oder die neue Héloise“. Auch dort endet mit dem irdischen Leben eine sinnlose Ehe, um im Jenseits einem neuen Liebesbund Platz zu machen. Dieses Motiv hat Goethe zeitlebens beschäftigt. Der reife Goethe verwandelt den einfachen Wunsch der Liebenden nach ewigem Liebesgenuß in eine symbolische Aussage über die Ewigkeit. 

In „Faust II“ sind nicht der treue Liebhaber und die Geliebte das wiedervereinigte Paar, sondern der Verführer Faust und das unschuldige, aber gestrauchelte Gretchen. Gretchen hatte als Mörderin ihres unehelichen Kindes hingerichtet werden sollen, war aber durch göttlichen Eingriff der Strafe entgangen. Ihre Liebe zu Faust, nicht ihr religiöser Glaube, rettet sie vor ewiger Verdammnis und ermöglicht ihre Aufnahme in den Himmel. Auch Faust wird gerettet. In dem Augenblick, als der Teufel Fausts Seele holen will, steigen Engel vom Himmel herab. Ihre knabenhafte Schönheit lenkt den stets lüsternen Mephisto von seinem Opfer ab. Sie entführen Fausts Seele und entkommen mit ihr in den höchsten Himmel. Dort bittet eine Gruppe von Büßerinnen, unter denen sich auch Gretchen befindet, die Gottesmutter, die Seele Fausts aufzunehmen. Als Fausts Seele das Leichentuch abstreift, wird eine jugendliche und herrliche Gestalt sichtbar, bereit, sich von dem durch die Buße gereiften Gretchen belehren zu lassen. Im abschließenden Chor gibt Goethe eine verschlüsselte Deutung:

Alles Vergängliche

Ist nur ein Gleichnis;

Das Unzulängliche,

Hier wirds Ereignis;

Das Unbeschreibliche,

Hier ist es getan;

Das Ewig-Weibliche

Zieht uns hinan.

So bleibt Goethe als Autor in „Faust II“ nicht bei dem Wiedersehensmotiv stehen, das er im Werther benutzt hatte. Nach ihrem Tod erscheinen Faust und Gretchen nicht mehr als handelnde Einzelgestalten. Faust sagt in der Schlußszene kein einziges Wort mehr, und Gretchen wird als una poenitentium [eine der Büßerinnen] eingeführt.

Das Paar verkörpert jetzt philosophische Begriffe: das Ewig-Männliche, dargestellt durch das Streben, die Selbstbehauptung und den amoralischen Individualismus Fausts; das Ewig-Weibliche, vor Augen geführt in der hingebenden Liebe, bereitwilligen Selbstaufopferung und vollendeten Schönheit Gretchens. In einer

vollkommenen Welt bilden diese beiden Prinzipien eine unauflösliche Einheit. Goethe verwirft jeden Begriff der Sittlichkeit, der geeignet wäre, das Paar zu verurteilen. Bereit, herkömmliche christliche Vorstellungen aufzugeben oder umzuformen, ersetzt er den patriarchalischen Gott der Tradition durch eine glorreiche Matriarchin. Die barocke Vorstellung von Mariä Aufnahme in einen männlich geprägten Himmel wird zu Fausts Himmelfahrt, die  I h n  in ein weibliches  J e n s e i t s  führt. Ewiges Heil wird nicht durch Vermeidung von Sünde erlangt, sondern durch Streben und Lieben, verkörpert durch Faust und Gretchen. (…)“ Aus: Der Himmel. Eine Kulturgeschichte des ewigen Lebens. S. 329ff.)

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