Montag, 24. Juni 2024

Semantische Probleme in einem Roman von Hans Keilsons: Was 'wünscht' man / wie "grüßt" man "Demonstranten"?

 



> Eine herrlich detailreiche Biografie über Hans Keilson <



Alte Geschichte [immer neu, zu erneuern bei manifestem Anlass!] - ein neues Stoff, ein alter Titel:


So geschehen in Hans Keilsons ersten und gleichzeitig letzter Veröffentlichung im 'Deutschen Reich' (1933).


Jos Versteegen: Nach dem Reichstagsbrand. für den die Nazis den Kommunisten die Verantwortung in die Schuhe schoben, war es gefährlich, offen mit dieser politischen Gesinnung Solidarität zu zeigen. Direkt nach dem Brand wurden allein in Berlin 1500 Parteimitglieder verhaftet. Die 81 Sitze, die die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) bei den Wahlen am 5.März gewann, durften nicht besetzt werden. Einen Tag später wurde die KPD verboten. Die gewählten Reichstagsmitglieder wurden verhaftet. In den folgenden Monaten gab es weitere Verhaftungen. Es wurde gefoltert und es gab Tote. Auch kritische linke, aber nicht direkt kommunistische Intellektuelle wurden verhaftet.73]

Unter diesen politischen Umständen konnten „geballte Fäuste“ Probleme bringen. Oskar Loerke und Peter Suhrkamp, der zu diesem Zeitpunkt beim Verlag S. Fischer für die literarische Zeitschrift Neue Rundschau verantwortlich war, drängten deshalb auf eine Textänderung in den Druckproben: Die geballten Fäuste mussten weg. »Sie meinten«, schrieb Keilson später, »daß die geballten Fäuste beim Demonstrationszug im letzten Kapitel die Chancen des Romans bedrohten.74] Er hatte kein Problem da-mit, die Assoziation mit dem Kommunismus zu vermeiden:

Es ging mir auch gar nicht darum, also um die [Kommunistische] Partei, es ging mir nur um den Willen zu einer politischen Entscheidung überhaupt. (...) Aber ich muß sagen, das war mehr eigentlich das Messianistische, der messianistische Impuls, der ja im Sozialismus steckte - so wie ich damals und wie wir alle damals den Sozialismus verstanden haben." 75]

Wie erwähnt, wurde in der Schlussszene dann beschrieben, dass Albrecht und sein Vater die Demonstranten „grüßen“. Das hat inzwischen zu einem Interpretations-Problem geführt. Das Wort „grüßen“ wird im Deutschen sehr allgemein gebraucht und ruft kein genaues Bild der Form des Grüßens hervor. Aber weil der Vater ideenarm [sic! Schade um diesen VerschreiberVom'Arml] zum Gruß hebt, könnte man denken, dass hier der Hitlergruß gezeigt wird und dass also nationalsozialistische Demonstranten durch die Straße ziehen. Damion Searls, der Amerikaner, der das Buch unter dem Titel Life Goes On (20l2) übersetzte, erschrak, als er die Passage las und anfänglich so interpretierte.76]

In seiner niederländischen Übersetzung Het leven gaat verder (2011) ließ Frank Schuitemaker Vater und Sohn »zwaaien«, also winken, was ein viel spezifischeres Wort ist als »grüßen«. So vermied Schuitemaker die Möglichkeit einer nazistischen Färbung der Szene. Searls wählte die wörtlichere Übersetzung „to salute“. Die mögliche Interpretation als Nazisympathie umging er nicht.

Durch das redaktionelle Eingreifen von Loerke und Suhrkamp wurde die Schlussszene doppeldeutig, und Hans Keilson gab sich damit zufrieden. In den achtziger Jahren, als das Buch bei S. Fischer neu aufgelegt wurde, hat er beim Verlag nicht auf Wiederherstellung des Urtextes gedrängt. Die geballten Fäuste kehrten nicht zurück.

Der Nutzen eines nicht originellen Titels Der Roman sollte ursprünglich Das neue Leben heißen, als Hinweis darauf, dass Albrecht am Ende eien andere Haltung gegenüber seiner Umwelt annimmt.77] Vielleicht war es Loerke, vielleicht Suhrkamp, der Keilson erinnerte, dass es bereits ein berühmtes Buch mit diesem Titel gab: Dantes Vita nuova. Der definitive Titel Das Leben geht weiter war eine Standardformulierng, und hatte seinen Nutzen.“

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In: Jos Versteegens Biografie. „Immer wieder ein neues Leben". Biographie Hans Keilson. Frankfurt/a.M. (2024. S. 92f.):

Vom'Arml] Original heißt ed:„(...) erhebt der Vater seine Hand, tritt einen Schitt vor neben seine Sohn - doch als besäße er nicht die Kraft … der Arm fällt ihm schwer herab (...)“


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