Freitag, 21. Juni 2024

Was v o n R i l k e (dem priesterlichen Dichter)

 

Er - Innerung an eine Abiturklasse ..   in  D e u t s c h!


Z u   P r a g  nachgetragen:

Seine 25-jährige Herrschaft drückte nicht nur auf Prag, sondern auch auf die jüdischen Gemeinden einen positiv prägenden Stempel auf. Er hatte ein gewisses tolerantes Verhältnis zu den Juden und während seiner Regierungszeit blieb es im Prager Ghetto verhältnismäßig ruhig; Es kam zumindest zu keiner Vertreibung der Juden.

*

Auftakt zu einem Jahrhundertthema:

Es gibt ein dramatisches, ein balladeskes Frühgedicht von Rainer Maria Rilke aus den Jahren 1896 bis 1898, und das er nicht zu veröffentlichen wagte: „Judenfriedhof“, ein Bild seiner „Christus-Visionen“.

Die Schwierigkeiten mit diesen visionären Prophetien kennzeichnet er so: „Ich habe viele Ursachen, die Christus-Bilder zu verschweigen – lang-lange noch. Sie sind das Werdende, das mich begleitet leben-entlang. Darum verzeih, wenn ich Deinen Wunsch nicht nachgebe“ – schreib er auf eine Bitte einer Zeitschrift um Überlassung der Gedicht (am 9. Februar 1899 aus Berlin-Schmargendorf an Wilhelm von Scholz).

Nach Ermittlungen und vollständigem Abdruck von Ernst Zinn in der Ausgabe R.M.R.: Sämtliche Werke. Band 3. Jugendgedichte. Hrsg. v. Rilke-Archiv. 1959. S. 790).


Rainer Maria Rilke: 

Judenfriedhof

Ein Maienabend. - Und der Himmel flittert

vor lauter Lichte. Seine Marken glühn.

Die grauen Gräbersteine, moosverwittert,

deckt jetzt der Frühling mit dem besten Blühn;

so legt die Waise - und ihr Händchen zittert

auf Mutters totes Antlitz junges Grün.

Hier dringt kein Laut her von der Straße Mühn,

fernab verlieren sich die Tramwaygleise,

und auf den weißen Wegen wandelt leise

ins rote Sterben träumerisch der Tag.

Der alte Judenfriedhof ists in Prag.

Und Dämmer sinkt ins winklige Gehöf,

drin Spiro schläft, der Held im Schlachtenschlagen,

und mancher weise Mann, von dem sie sagen,

dass zu der Sonne ihn sein Flug getragen,

voran der greise hohe Rabbi Löw,

um den noch heut verwaiste Jünger klagen.


Jetzt wird ein Licht wach in des Torwarts Bude,

aus deren schlichtem Eisenschlote raucht

ein karges Mahl. - Bei Liwas Grabe taucht

jetzt langsam Jesus auf. Der arme Jude,

nicht der Erlöser, lächelnd und erlaucht.

Sein Aug ist voll von tausend Schmerzensnächten,

und seine schmale blasse Lippe haucht:

"Jehova - weh, wie hast du mich missbraucht,

hier wo der Treuste ruht von deinen Knechten,

hier will ich, greiser Gott, jetzt mit dir rechten!

Denn um mit dir zu kämpfen kam ich her..

Wer hat Dir alles denn gegeben, wer?

Der Alten Lehre hatte mancher Speer

aus Feindeshand ein blutend Mal geschlagen,

da brachte ich meinen Glauben und mein Wagen,

da ließ ich neu dein stolzes Gottbild ragen

und gab ihm neue Züge, rein und hehr.

Und in der Menschen irres Wahngewimmel

warf deinen Namen ich - das große "Er".

Und dann von tausend Erdensorgen schwer

stieg meine Seele in den Hohen Himmel,

und meine Seele fror; denn er war leer.

So warst du niemals - oder warst nicht mehr,

als ich Unsel´ger auf die Erde kam.

Was kümmerte mich auch der Menschheit Gram,

wenn du, der Gott, die Menschen nicht mehr scharst

um deinen Thron. - Wenn gläubiges Gefleh

nur Irrsinn ist, du nie dich offenbarst,

weil du nicht bist. Einst wähnt ich , ich gesteh,

ich sei die Stimme deiner Weltidee..

Mein Alles war mir, Vater, deine Näh.

Du Grausamer, und wenn du niemals warst,

so hätte meine Liebe und mein Weh

dich schaffen müssen bei Gethsemane."


Im Wärterhäuschen ist das Licht verlöscht.

Und in dem Bett von Gräbern breit umböscht

fließt schon des blauen Mondquells Wunderwelle,

verstohlen über schwarzen Giebelrand. -


Und Christus, zu des Rabbi Gruft gewandt:

"Dir auch gefiel es, Alter, manchen Spruch

zur Ehre jenes Gotts zusammzuschweißen.

Wer hat Dich, morscher Thor, auch blättern heißen

in alten Psalmen und im Bibelbuch?

Du hast so viel gewusst, stehst im Geruch,

dich gar geheimer Weisheit zu befleißen.

Heraus damit jetzt! Weißt du keinen Fluch,

dass ich des Himmels blaues Lügentuch

mit seiner Schneide kann in Stücke reißen.

Hast Du kein Feuer in den Dämmerungen

des Alchymistenherdes je entdeckt,

das fürchterlich und ewig unbezwungen

mit gierem Lecken seine Rachezungen

bis zu des Weltalls fernen Angeln streckt?

kennst du kein Gift, das süß ist wie der Kuss

der Mutter, das nach seligem Genuss

den Ahnungslosen sicher töten muss.

O Glück, die ganzen Welt so zu vergiften.

Weißt Du kein Mittel, herben Hass zu stiften,

der jeden Mann zum wilden Raubtier macht?

Kannst du nicht ziehn in diese stillen Triften

die Schauerschrecken einer Völkerschlacht.

Kannst du nicht eine neue Lehre stiften,

die Wahnsinnswut in jeder Brust entfacht.

Ins Unbegrenzte steigre ihre Triebe

und sende Pest und sende Seuchenschwärme,

dass in des Lotterbettes feiler Wärme

die ganze Welt zu Grund geht an der Liebe!"


Jach lacht der Hohn. Und in den stummen Steinen

gellts wie des wunden Wildes Sterbeschrei.

Es legt ein Reif sich auf den nächtgen Mai.

Ein schwarzer Falter zieht im Flug vorbei

und er sieht Christum einsam knien und weinen.

*

(Aus: Christus-Visionen (München, 6. Oktober 1896; wiedergeben nach: R.M. Rilke: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. III. Jugendgedichte. München 1956. S. 156ff.)

Anmerkungen:

„Waise“: Die Figur des Mädchens als Waise, als elternloses Mädchen, ist schon im ersten Gedicht des Zyklus eingeführt; für die konkrete Eröffnung des separaten Gedichts „Judenfrühstück“

„Tramway“: (schon damals um 1900) üblicher Ausdruck in Österreich-Ungarn für die in Europa damals entstehenden U-Bahn-Systeme

Spiro: sagenhafter Held in böhmischer Tradition (ungeklärte Anspielung)

Gehöf (oder „Höfchen“). Parzelle auf dem Friedhof.

Rabbi Löw: zentrale Figur diese Prager Friedhofs; sein Grab ist das größte; die Sagen um seine Person ergeben einen eigenen kulturellen Horizont; vgl. die Golem-Überlieferung. Wohl in dieser Zeit Rudolfs II. (1552-1612) fällt das Licht jüdischer Lehre auf eine Persönlichkeit, die später mit bekannten Legenden umwoben wurde: es handelt sich um den großen Rabbi Juda ben Bezalel Liwa, genannt Rabbi Löw, der zumeist lediglich mit der Golem-Saga in Zusammenhang gebracht wird.

„Liwa“: vgl. Anm. zu Rabbi Löw.

„Torwarts Bude“: Die nach unserer modernen Sportsprache klingende Wortgestaltung ist nicht Rilkes damaliges Verständnis in diesem Gedicht. Gemeint ist: Das Tor des Friedhofs wird nachts geschlossen; und ein Torwärter in einem kleinen Häuschen an der Friedhofsmauer sorgt für die Ruhe und das religiöse Ordnung.

„Alchymistenherd“/Alchemysten: Anspielung an die Alchemie (auch Alchymie oder Alchimie) als alter Form der Naturphilosophie; sie wurde ab dem 17./18. Jahrhundert von der modernen Chemie und Pharmakologie abgelöst.

„Jach“: (Adj.) jäh, aufklingend, hell schallend

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Rainer Maria Rilke, auch der „Priester-Dichter“ genannt, setzte sich bereits in jungen Jahren intensiv mit Gott und den ihn für sich reklamierenden Religion auseinander. Seine 1896/1897 verfassten»Christus-Visionen«, eine Folge von elf epischen Gedichten, wurden erst nach seinem Tod 1959 veröffentlicht.


Der Theologe Karl-Josef Kuschel schreibt dazu unter der Überschrift „Jesus contra Gottessohn: Rilkes Blasphemien“:

„Entschiedener wird man sich kaum vom Christusglauben der Kirche entfer­nen können als Rilke in seinen Christus-Visionen. Radikaler wird man den Na­zarener kaum entdivinisieren und entkultisieren, wenn man ihn zu einer Mi­schung aus Proletarier und Narren, aus Wahnsinnigem und Besessenem macht, zu einem Täuscher und Getäuschten zugleich. Nach Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei hatte man dies in der deutschen Literatur so nie gehört:"


Ein Dichter lässt seinen Christus erklären, der Himmel sei leer, Gott eine Fiktion, Gebet ein Irrsinn. Jesus Christus - nichts als die ewige Projektionsfolie des Menschen, die Sehnsuchtsphantasie nach Vergöttlichung und Erlösung - der ewige Wahn!

Diese Position hielt Rilke bis an sein Lebensende durch. Als Beispiel sei verwiesen auf den Brief des jungen Arbeiters (1922), in dem noch einmal die Grundthese von Rilkes Christentums-Kritik aufleuchtet und zugleich eine Alternative angeboten wird. Bezeichnenderweise verweist Rilke hier auf den Koran, das Grunddokument des Islam, und sieht eine Affinität von koranischem Gottesverständnis und dem Gottesverständnis Jesu.“ (Karl-Josef Kuschel und Georg Langenhorst: Jesus. In: Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Hrsg. v. Heinrich Schmidinger. Bd. 2. Personen und Figuren. Mainz 1999.S. 326 – 396; hier 327ff.

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Rilke hat diese Christus- und Christentumsauffassungen ein Leben lang vertreten, wenn auch nicht mehr so provozierend-entlarvend, psychologisch-desillusionierend, so vaterkritisch wie in der Figur des missbrauchten Christus, der protestiert.

Rilke:

Wenn ich sage: Gott, so ist das eine große, nie erlernte Überzeugung in mir. Die ganze Kreatur, kommt mir vor, sagt dieses Wort, ohne Überlegung, wenn auch oft aus tiefer Nachdenklichkeit. Wenn dieser Christus uns dazu geholfen hat, es mit hellerer Stimme, voller, gültiger zu sagen, umso besser, aber laßt ihn doch endlich aus dem Spiel. Zwingt uns nicht immer zu dem Rückfall in die Mühe und Trübsal, die es ihn gekostet hat, uns, wie er sagt, zu „erlösen". Laßt uns endlich dieses Erlöstsein antreten. - Da wäre ja sonst das Alte Testament noch besser dran, das voller Zeigefinger ist auf Gott zu, wo man es aufschlägt, und immer fällt einer dort, wenn er schwer wird, so grade hinein in Gottes Mitte. Und einmal habe ich den Koran zu lesen versucht, ich bin nicht weit gekommen, aber soviel verstand ich, da ist wieder so ein mächtiger Zeigefinger, und Gott steht am Ende seiner Richtung, in seinem ewigen Aufgang begriffen, in einem Osten, der nie alle wird. Christus hat sicher dasselbe gewollt. Zeigen. Aber die Menschen hier sind wie die Hunde gewesen, die keinen Zeigefinger verstehen und meinen, sie sollten nach der Hand schnappen. Statt vom Kreuzweg aus, wo nun der Wegweiser hoch aufgerichtet war in die Nacht der Opferung hinein, statt von diesem Kreuzweg weiterzugehen, hat sich die Christlichkeit dort angesiedelt und behauptet, dort in Christus zu wohnen, obwohl doch in ihm kein Raum war, nicht einmal für seine Mutter, und nicht für Maria Magdalena, wie in jedem Weisenden, der eine Gebärde ist und kein Aufenthalt." (Rilke: Sämtliche Werke. Bd. 6. 1976. S. 1113f.)

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