Sonntag, 1. Dezember 2024

Weihnachltiches - verlorengeganges -


 

Ver- l o r e n  gegangene 

W e i h n a c h t s -

G e d i c h t e



Ernst Wiechert (1887 - 1950)


DEUTSCHE WEIHNACHT


Da ist ein Volk, das vor den Krippen betet,

wie alle Völker auch in dieser Nacht.

Gott hat wie Disteln dieses Volk gejätet

und es zum Brennen auf das Feld gebracht.


Da ist ein Volk, braucht keinen Stall zu bauen

für Kinder, die heut' Nacht geboren sind,

weil alle Sterne durch die Dächer schauen

und alle Mütter friert's im Weihnachtswind.


Dort liegen zitternd sie in ihren Wehen,

kein Engel, der die feuchten Hände hält,

kein Ochs und Esel, die beim Kinde stehen,

kein Hirtenlied aus dem verschneiten Feld.


Und Joseph kauert auf den nassen Stufen

und träumt vom letzten Brot, das er sich brach,

wo ist ein Gott, ihn gläubig anzurufen?

Wo ist ein Richter, der nicht "schuldig" sprach?


Und keine Könige, die sich verneigen,

und weder Weihrauch, Milch noch trocknes Brot,

und in den Ecken steht das dunkle Schweigen,

und auf den Trümmern sitzt der dunkle Tod.


Da ist ein Volk, im Dunklen noch verloren

und ist ein Volk, das ist wie keins allein,

und sind doch Kinder ihm heut nacht geboren,

und alle werden reinen Herzens sein.


(Geschrieben 1944; aus: E.W.: Meine Gedichte. Posthum 1952 erschienen. München Kurt Desch Verlag. S. 36; enthalten in: E.W.: Sämtliche Werke in zehn Bänden. Bd. 10. Spiele. Reden, Gedichte, Miscellanea. München 1957: Verlag Kurt Desch. S. 472)


Hier steht im Mittelpunkt ein - nein: das "Volk", das herrschaftlich hochmütige, deutsche, also im Jahre 1944: das nationalsozialistische Herrschaft- oder Mitläufervolk; es wird - als Volk - als damals so herrisches, totalitär-deformiertes Volk - mit "Disteln" als einem Unkraut verglichen, das kein Wildkraut zu heißen verdient - das Gott auf das Feld (das damals so glorifiziert das Feld des deutschen Mann, als das Feld der Ehre firmierte in der Propaganda) gebracht und dem selbstentzündeten Feuer (dem angezettelten Krieg) als einer säkularen Katharsis unterworfen hat...

Ein unerhört starker, anklagender Text von Ernst Wiechert, dem Dichter, der "immer und nur" der masurischen Landschaft in Ostpreußen (einer menschenfreundlichen Gegend im heutigen Polen und bald ein Land in der EU) zugeschrieben wird - als einem Poet und Denker, dessen "Weihnachtsgedicht" des prophetischen Protestes und der Klärung sich in keiner der derzeitigen Weihnachtsanthologien findet - aber z.B. mich, den Menschen und Leser, persönlich betrifft, weil ich so ein "Weihnachtskind" bin, am Heiligen Abend 1944 unter den Wirren der Kriegsfront in einem Kartoffelkeller geboren bin.

Und erlebte es, ungefragt, ohne eigenes Zutun, als freundliches Schicksal mit Glück und Gnade und der Menschen Anstrengung des Neubeginns in die Welt des Zusammenbruchs und des friedlichen Neuanfangs hineinzuwachsen...

Und jeder empathisch fähige, zum Mitleiden bereite, Mensch kann sich heute - mit wenigen Worten, mit einem Gedicht, mit dem Trost eines ganzen halben Jahrhunderts in diese Jahre der Kriegs- und Nachkriegszeit versetzen; sich erinnernd, dass Deutschland und Europa nach 45 auch von der Leidensfähigkeit, dem liebenden Wunsch und dem Zutrauen Wiecherts u.a. solcher Denker, Dichter und Politiker erfüllt wurden - der Hoffnung auf Frieden und nachbarschaftlicher Entwicklung in der Demokratie...

E.W. beschrieb seine KZ-Zeit in Buchenwald:

"Da waren zwei Welten, die Johannes [Wiecherts angenommener, distanzierender Name des Gefangenen in Buchenwald] langsam zu begrei­fen trachtete. Zu begreifen, daß dies Teile eines und des­selben Volkes waren, die dieselbe Sprache sprachen, die einmal zu den Füßen des gleichen Gottes gesessen hatten, die mit denselben Formeln die Taufe und die Einsegnung empfangen hatten. Desselben Volkes, in dem Goethe ge­lebt hatte, das durch den Dreißigjährigen und den Großen Krieg gegangen war und dessen Mütter oder Großmütter in der Abendstunde gesungen hatten »Der Mond ist auf­gegangen. . . « Eines Volkes, das nun nicht geschieden war durch Besitz und Armut, durch Gottesdienst und Heiden­dienst, durch zwei Sprachen, zwei Religionen, zwei Natu­ren, sondern das zerrissen war durch nichts als ein politi­sches Dogma, durch ein papierenes Kalb, das zur Anbe­tung aufgerichtet war und von dessen Verehrung oder Verachtung es abhing, ob man aufstieg auf der Leiter der Ehren oder in die Arme des Moloch gestoßen wurde, ge­schändet, gemartert, geopfert, ausgelöscht aus Leben und Gedächtnis. Nichts galt, was gewesen war, keine Leistung, keine Güte, nicht Arbeit und Mühe eines ganzen Lebens."

(In: Der Totenwald. Ein Bericht. [Zuerst 1945]. Aus: Ullstein-TB 24038. München 2001. S. 77)


Diesem Volke, das Wort kommt viermal im Text vor, schenkte er dieses Gedicht... - und das Volk vergaß es...

Eine, eine einzige literaturwissenschaftliche Stimme fand ich zu diesem Gedicht: "Die 'Deutsche Weihnacht' verbindet die frohe Botschaft von der Ge­burt des Jesuskindes nach christlicher Überlieferung mit der tragischen Geschichte des deutschen Volkes in den ersten Nachkriegs­jahren. So gelingt dem Dichter eine gefühlsstarke Darstellung der Not und der Verzweiflung der Menschen seiner Zeit. Im Gegensatz zum Rückgriff auf die Bildersprache des Neuen Testaments ertönt aber auch der empörte' Ruf eines Angefochtenen und Entwurzelten nach dem unbekannten Gott. Gleicherweise entspricht seinem persön­lichen Standpunkt zur Frage der Kollektivschuld des deutschen Vol­kes, die damals in der Öffentlichkeit zur Debatte stand, sein Ruf nach Richtern, die über Deutschland den Stab brechen sollen. Erst in den zwei letzten Versen wird der Blick frei für eine bessere Zukunft."

(Guido Reiner: "Die letzten Lieder". In: Internationale Ernst-Wiechert-Gesellschaft. Mitteilungen 2/1991. S. 8)

Reiner verlegt also die Entstehung und die Aussage des Gedichts in die Nachkriegszeit; was ist nicht eindeutig zu belegen. Der gedanklichen Gegensatz zwischen Vergangenheit und Zukunft, die Konkurrenz, die Reiner in den Aussagen der Strophe findet, ist auch nicht eindeutig, da zur Weihnachtsfeier der "Deutschen", wie E.W. sie vorschlägt und sinnengewaltig (vgl. die biblisch-prophetischen und neutestamentlich-theologischen Anklänge) vorträgt, eine allgemeine Besinnung, eine Erklärung zu Schuld und Not des deutschen Verhängnisse von 1933 bis zum Zeitpunkt dieser Weihnacht - vielleicht gar eine Sühne - gehört - und überhaupt Weihnachten feiern zu können, ja, zu dürfen. Dieses Gedicht ist eine Kontrafaktur zu jedem "normalen", belanglosen, nur tröstenden, nicht politisch-moralisch notwendigen Weihnachtslied, auch die Kritik und Aufhebung zu dem Nazi-Gesang von der "Stillen Nacht der klaren Sterne", der heidnischen Variante der "gewihten nahten", der geweihten, der geheiligten Mittwinternächte. W. wollte nicht, dass Menschen in Deutschland im Krieg bzw. zum Nachkrieg ihr Weihnachten in gewohnt-gedankenloser, privater Tröstung und Gemütszufriedenheit verbrächten. - Die Deutschen in ihrer großen, "unschuldig" wähnenden Mehrheit kümmerte es nicht... Sie haben dieses wahrhaft religiöse Weihnachtsgedicht bis heute nicht angenommen.


** Darf ich Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, eine Anregung geben: Lesen Sie diese moralisch-politische Kritik und die Glaubensgewissheit des Gedichts einmal unter der Berücksichtigung folgender Bibelstellen, in denen von Disteln (und Dornen) die prophetische Rede ist: Gen 3,17f.; Spr. 24,31; Jes 5,6; Hebr 6,8.


Wer - zur Weihnachtszeit oder zu welchem menschlichen Anlass auch immer - "reinen Herzens" sein oder werden möchte, zum Weihnachtsfest im Jahre 2002 könnte er oder sie von diesem Wiechert-Gedicht aus einen Weg für sich finden, in aller Friedfertigkeit, im Vertrauen auf Gott - für die Mitmenschen...


**


Ich will zu diesem Wiechert-Text zwei Weihnachtsgedichte stellen, ein politisch-provokatives, ein starkes, ein satirisches von Vegesack, das ihm dann auch nach 1933 politischen Ärger einbrachte - und ein weiteres, fast unbekanntes, von Rudolf Borchardt...



Dreimal Weihnachten, dreimal vergessene Autoren...



Siegfried von Vegesack:


Deutsche Weihnacht 1930



Es ist Zeit, dass wir uns vom jüdischen Krippenkind

zum urgermanischen Wotan-Kultus bekehren.

Nur Esel, Schafe und einfältiges Rind

können, damals wie heute, ein jüdisches Wesen verehren.


Dieses Kind, das durch feige Flucht und List

sich dem Bethlehemer Pogrom entzogen,

war natürlich Jude und nannte sich nur Christ,

und hat die Weltgeschichte durch seinen Namen betrogen.


Ein arbeitsscheuer, landfremder Vagabund,

der mit bolschewistischen Lehren hausierte.

Mit einen Wort: ein jüdischer Hund,

der gegen die arische Autorität agitierte.


Nein, wir brauchen Wotan, den germanischen Held,

mit rauschendem Vollbart und blitzendem Speere,

der alle Juden verjagt aus der deutschen Welt

mit jauchzendem Walküren-Heere!


Heil Wotan! Heil Hitler! Die Stunde gebeut’s,

die deutsche Weihnacht, jetzt naht sie:

Fort vom Kreuze, - zum Hakenkreuz!

Fort vom Nazarener, - zum Nazi!


(Zu dem baltendeutschen Dichter von Vegesack müsste ich eigentlich - biografische Angabe leisten... - Der Text stammt als Erstdruck aus: Simplicissimus. 22.12.1930; nachgedruckt nach Marianne Hagengruber: S.v.V.: Briefe 1914 - 1971. S. 124f.)


**



RUDOLF   BORCHARDT:

Weihnachten 1944


Wir haben keine Kerzen

Nur einen düstern Baum,

Und bringen es nur kaum

Zu weihnachtlichen Herzen

Bei Fiebern und bei Schmerzen

Im engen fremden Raum

Und doch, die Weihnacht spricht:

Die Nacht ist kurz, und unterwegs das Licht.


Wir haben keine Schrift

Die Botschaft zu verlesen;

Es ist ein giftig Wesen

Das diesmal uns betrifft.

Da hilft ein Gegengift:

Gedenken was gewesen

Daß doch wie Weihnacht sagt:

Kurz nur die Nacht ist und es bald schon tagt.


Sie kamen uns zu knechten

Uns frommte nicht zu fliehn;

Sie zwangen uns zu ziehn

Und wollten uns entrechten.

Den Schergen und den Schlechten

Wars halb an uns gediehn

Und doch die Weihnacht hieß:

Die Nacht nur währen bis der Tag sich wies.


Der Knecht den sie zum Herrn

Uns setzten blieb nicht roh,

In seinem Herzen so

Gott wandelte den Kern.

Es ging sein treuer Stern

Nachts mit uns übern Po

Weil doch die Weihnacht weint

Nur kurze Nacht, drin doch ihr Stern erscheint.


Zu Mantua in Banden

Dräut uns ein offen Grab,

Wir sind draus ohne Hab

Lebendig doch erstanden.

Sind wir auch weltabhanden

Verdrängt am Bettelstab,

Dennoch die Weihnacht heißt

Arm wohl die Nacht sein, reich den lichten Geist.


O krank und halb genesen

O Liebste und zuletzt

Ich der Euch singe jetzt

Wie ich Euch einst gelesen,

Es wird noch wie's gewesen,

Der Kern ist nicht verletzt

- Denn Weihnacht bringt's vom Herrn,

Daß Nacht nur Schale und der Tag ihr Kern.


Die Kerz ist nicht das Licht

Die Schrift nicht das Versprechen

Laßt alles uns gebrechen

Was Einsamen gebricht.

Das Reich verbleibet nicht

Dem Finstern und dem Frechen,

Denn Weihnacht spart die Krone

Nach Vaters Willen einem Sohne.


Und hieß es wohl ein Hohn

Wenn wir von Betten sängen,

Kommt uns zusammendrängen

Um unsern süßen Ton,

Kommt danken heute schon

Und an einander hängen

Weil dennoch Weihnacht ward

Sei Nacht auch grimm,

und Anfang noch so zart.


Daß wir uns Alles sind

Wie dort auf jenem Wagen

Drauf wir geworfen lagen

Durch Mitternacht und Wind;

Das bringt uns zu dem Kind

Bei dem ist kein Verzagen,

Denn seine Weihnacht brennt

Von unserm Tag am ganzen Firmament.


(In: R.B.: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Bd.3: Gedichte. Stuttgart 1957: Klett. Aus: Deutsche Gedichte 1930 - 1960. Reclam UB 7914. S. 43ff.)

Rudolf Borchardt - auch ein Vergessener...? Geboren in Königsberg am 09.6.1877; gestorben in der Toscana am 10.01.1945. Seine Übersetzungen klassischer Literatur, seine dichterischen Texte und seine Briefe sind erhalten geblieben - als motivierendes Erbe?

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