Sonntag, 11. Mai 2014

Manifest von 1920 gegen den Antisemitismus



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- Ein Gruß an die Lebenden & Toten von Siegfried von Vegesacks Grab in Weißenstein/Regen -

Siegfried von Vegesacks früher Protest gegen   A n t i s e m i t i s m u s


"Schlag sie tot, Patriot!" [Ein Manifest]


Ich bin kein Jude. Auch kein besonderer Judenfreund. Aber wenn das so weitergeht wie jetzt, dann könnte man wohl bald das vogelfreie Dasein eines Ostjuden der Schmach, Deutscher zu sein, vorziehen.
Gewiß, man mußte sich auch früher zuweilen als Deutscher schämen. Als alle Welt uns anspie und wir Vertrauen und Achtung wiederzuerringen hofften, indem wir uns selbst bespuckten. Aber damals, als man sich nackt und wehrlos am öffentlichen Pranger der ganzen Welt verhöhnt fühlte - grade damals rief etwas in unserm Innersten: jetzt kannst du dich, jetzt mußt du dich als Deutscher bekennen, denn deutsch sein heißt: verworfen sein - und ist es nicht immer rühmlicher gewesen, statt mit Allen über Einen zu triumphieren, allein von aller Welt verworfen zu werden? Und grade damals, als Millionen von uns ans Auswandern dachten, konnte es für einen Auslandsdeutschen eine schmerzliche Lockung sein, sich im verfolgten und gepeinigten Deutschland dauernd niederzulassen, um an der innersten Gemeinschaft teilzuhaben: an der Gemeinschaft des Unglücks.
Aber heute? Kann man heute noch Deutscher sein, ohne vor Scham sich in den Wäldern verkriechen zu wollen? Heute, wo wir nichts Besseres zu tun haben, als alles Unrecht, das man uns zugefügt hat, am wehrlosen Dritten am Juden auszulassen! Gibt es denn für uns Deutsche nur dies eine Mittel, unser seelisches Gleichgewicht zu bewahren: zu treten, wenn man getreten wird? Gibt es überhaupt etwas Erbärmlicheres, als Prügel eines Stärkeren mit dem Fußtritt gegen einen Schwächern zu quittieren?
Wenn unsre Alldeutschen ahnten, wie undeutsch sie sind! Denn wenn es einen wirklich deutschen Wesenszug gibt (oder richtiger: gab!), der weder bei den Franzosen noch bei den Russen (von den Engländern ganz zu schweigen) so stark entwickelt ist wie bei uns, so ist es der: daß wir Deutsche für fremde Eigenart ein ganz besonderes Verständnis haben, von Shakespeare bis Strindberg, von Dante bis Dostojewski den fremden Herzschlag wie unsern eignen spüren. Und nun sollen wir unser "Deutschtum" durch Pogrome betätigen!
Aber ganz abgesehen von allen Gründen der Moral, des Anstandes und unsrer nationalen Würde (wenn es die noch gibt), ist die Judenhetze wohl das Dümmste, was alldeutscher Eifer zur Erreichung seines Zieles anstellen konnte. Denn wenn es so weiter geht, wird voraussichtlich der anständige Jude mit Selbstgefühl Deutschland verlassen. Und grade die Minderwertigen, die sich unter allen Umständen anpassen, werden bleiben, werden, wenn's nötig ist, ihr Judentum verleugnen und umso schneller in den deutschen Volkskörper eindringen. Es ist so wie mit einer Vergiftung: je heftiger man sich sperkelt, desto rascher und sicherer schreitet sie vor.
Gewiß: das deutsche Volk in seiner Mehrheit steht noch nicht hinter den Pogromhelden. Aber so, wie unsre Feinde von gestern durch unablässiges Hetzen schließlich die ganze Welt von unsrer Minderwertigkeit überzeugten genau so wird es auch der alldeutschen Agitation zuletzt gelingen, alle Verbrechen (und erst recht ihre eignen!) auf die Juden abzuwälzen, wenn nicht eine Gegenaktion erfolgt.
Nicht von jüdischer, sondern von deutscher Seite müßte diese erfolgen.
Nur dann könnte sie vielleicht etwas von dem ungeheuern Schaden wieder gut machen, den alldeutsche Berserkerwut wieder angerichtet hat. Die besten Köpfe, die besten Namen aller Derer, denen deutsch sein mehr bedeutet als gesinnungstüchtiges Gebrüll in Jägerhemd und Lodenmantel, sollten sich zu einer eindrucksvollen Kundgebung schnell zusammentun:

"Schlag sie tot, Patriot!" - nicht die Juden, sondern die für jeden Deutschen schmachvolle Judenhetze!

*

(Erstdruck: Der Aufsatz erschien am 15. April 1920 in der Berliner Zeitschrift "Weltbühne"; aus: S. v. V.: Briefe. 1914 - 1971. S.66f. - Der Aufsatz wurde gekürzt nachgedruckt in: Weimarer Republik. Lesebuch. Hrsg. v. Stephan Reinhardt. Berlin 1982: Wagenbach Verlag. S. 81)
Worterklärung: „sperkeln“ (ndd).: sich bemühen.


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