Montag, 16. März 2020

Vor zwanzig Jahren geschrieben


Yeah: Vor zwanzig Jahren geschrieben:



  • Montag, 16. März 2000



Lieber Reinhold, Meister der Lüfte: Herr Ahr! (oder ähnlich; auch Vorfahren namens Aquila müßten zu Deinem Stammbaum gehören...)


                                                                                                                      Buchleser ...                                                       

Anbei ein paar schriftliche Gaben. Der Aufsatz über die Bergarbeiter-Lyrik an Rhein und Ruhr ist gerade in der Festschrift meiner alten Schule erschienen. Ich hoffe, ich werde Dich in Erinnerung behalten als den, der die Pfarrergestalten bei Ernst Wiechert schmählich im Stich gelassen hat, um den Grundtypus selber zu realisieren. Nenn mal bitte einen Text, in dem so ein Pfarrer besonders charakterisiert wird. Ich weiß bei Wiechert nicht Bescheid.
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Einige Kitteleien:
 
Im Bauernmuseum in Rusne/Pl.: (Erzählte ich Dir schon davon? Wenn ja, so ist’s für meine eigene Wahrnehmung von Funktionärsmentalität gut aufzuschreiben) - Da steht der Funktionär vor einer Brauttruhe. Er hört den Erläuterungen zu: Damals nähten oder webten oder strickten und häkelten die Mädchen für ihre zukünftige Rolle im Haus des Mannes. Dazu die Kittel-Frage (gefertigt auf dem immensen Hintergrund der beleidigten, deutsch-memelländischen Männlichkeit und neuzeitlich schmählicher Benachteiligung infolge der obwaltenden Emanzipation): Und was bringen heute die jungen Frauen in die Ehe mit!- als Ausruf gestellt, wenn auch mit der Frageform eingeleitet.
Eine Frau, Rosa, antwortet: Die Ausbildung. Und Irena: Oder z. B. einen Doktor-Titel.
Andere Ergänzungen, als ich von der Kittelei erzählte: „Und ihre Erfahrungen bringen sie mit.“ „Und den Führerschein.“ „Und noch viel, worüber nur Mann und Frau sich einigen müßten.“
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In Bitthenen, auf der Paradiesstraße: Memel-Meister Kittel erzählt mir, dass Lena Grigoleit Geld hatte, sich in Sibirien eine Erdhöhle zu kaufen. Ich entgegnete: „Und ob man da überlebte, war nun ziemlich unwahr-scheinlich!“ Kittel (wirklich mit dem Ton des Rechtsbelehrenden!): „Sie wurde des Landes verwiesen.“ Ich, versuchsweise dagegen haltend: „Sie wurde deportiert. Sie wurde verschleppt!“
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Auf dem Helden-Friedhof in Klaipeda:
Hier mit einer Art Heiligenblick, rezitierend, aber nicht ablesend: Die Inschrift der Steinplatte: Hier starben im Abwehrkampf gegen den Kommunismus in den Jahren 1944/45 20.000 junge Deutsche.
Die Inschrift lautete (etwa, ich habe vergessen, sie zu notieren; man weiß ja oft erst nachträglich, was wichtig wird.) „Hier ruhen deutsche Soldaten, die in den Jahren 1939 - 1945 hier starben.“
Ein bißchen Utopie, um der wackeren Heldenverehrung zu begegnen:
Ich würde - als Vorschlag für Gedenktafeln- zu bedenken geben: Hier ruhen deutsche Soldaten, die 1939 in dieses friedliche Land kamen, Land und Leute bedrohten und nur durch große Opfer der den Deutschen östlichen Nachbarn besiegt werden konnten. Dieser Friedhof wurde zur Mahnung angelegt, daß keiner mehr des anderen Mörder oder Herrscher werden solle: Friede den Toten und Friedfertigkeit den Lebenden!
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Zur Zeit sitze ich an einem Beitrag für die Religions-Zeitschrift, unter dem Titel: Johannes Bobrowski - Mahner christlich-jüdischer Gemeinschaft (oder Verantwortung?). „Die Spur im Sand“ werde ich als zentrales Gedicht des Gedenkens herausstellen. Etliches von der „Spur“ habe ich im Gebiet Klaipeda gesehen. Von einem eigenen Gedichtversuch zur Reise nach Memal werde ich Dir später mal schreiben.

So, ich hoffe, ich habe die Regeln der neuen Rechtschreibung gebührend beachtet, auf dass ich ein gutes Beispiel gebe...

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                                               Spuren im Himmel


Johannes Bobrowski:
Die Spur im Sand

Der blasse Alte
im verschossenen Kaftan.
Die Schläfenlocke wie voreinst. Aaron,
da kannte ich dein Haus.
Du trägst die Asche
im Schuh davon.

Der Bruder trieb
dich von der Tür. Ich ging
dir nach. Wie weht um den Fuß
der Rock! Es blieb mir eine Spur
im Sand.

Dann sah ich
manchmal abends
von der Schneise
dich kommen, flüsternd.
Mit den weißen Händen
warfst du die Schneesaat
übers Scheunendach.

Weil deiner Väter Gott
uns noch die Jahre
wird heller färben, Aaron,
liegt die Spur
im Staub der Straßen,
find ich dich.
Und gehe.
Und deine Ferne
trag ich, dein Erwarten
auf meiner Schulter.
(Zuerst in „Sarmatische Zeit“, 1961; aus Gesammelte Werke. Bd. I. S. 28; Erläuterungen. Bd. V. S. 35)

Reflexion und Erläuterungen zum Gedicht:

Kaftan: langer, vorn offener Überrock; mit langen Ärmeln
In einer frühen Fassung: hieß es „Vater“, statt „Bruder“.
Schneesaat“: Die Saat der zwischenmenschlichen, irdisch-natürlichen Kälte, d.h. den Anfang des Judenhasses, wirft Aaron über das Dach der Höfe, in die er nicht mehr einzutraten wagt.
Eine Möglichkeit des Verständnisses: Das lyrische Ich repräsentiert den christlichen Bruder des Juden, dessen Existenz nur noch in Spuren zu finden ist; dessen (und unser) Gott uns „noch die Jahre wird heller färben“ - wenn wir das Erwarten des jüdischen Mitbruders aufzunehmen bereit sind, an dieser Schuld zu tragen gewillt sind. Aaron, von Gott berufener Sprecher des jüngeren Bruders Moses; erster Priester.
Bobrowskis Gedicht ist ein komplexes Prisma unterschiedlicher, auch zeitlich diachroner Spurenfindungen, die zwar unterschiedlich sind, aber einander ergänzen.
Die drei Lebens- und Zeitkreise der Spurenfindungen in Bobrowskis Parabel sollen den Leser, den Beter, den Interpreten, den Finder ermuntern, seine Suche nach Brüdern, nach raren Spuren, nach Intentionen aufzunehmen - und davon zu berichten.
Ein gegenwärtiger Merksatz zu dem Problem der religiösen Identitätsfindung: „Denn wie will man anders entdecken, dass Religion nichts anderes ist als erfahrene Heimatkunde der Seele, wenn man nie die konkrete Heimat (...) von innen sah?“ (Jürgen Fliege: Auch ein Lindenbaum kann ein heiliger Ort sein. In: DS 39/1999. S. 38)

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Im Übrigen gilt was Isaac Newton sagte: 

"Selbst wenn es sonst überhaupt keinen Beweis gäbe, würde alleine der Daumen mich von der Existenz Gottes überzeugen".

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