Montag, 9. Dezember 2019

Auf der L e i t e r des Hasses

Ganz ferne rauscht auf seinem Geleise ein Panrzug vorbei:

 
Stephanie D.-R.:

Is da noch, jau, Platz neben Sie auffa Bank da - 
 
... da iss noch Platz neben Sie - auffa Bank, junge Braut -

Saß ich da, allein. Ja, selber schuld, ich im schwül-warmen Bus, lasse mich durch die Gegend schaukeln, okay, von der jungen Busfahrerin mal abgesehen, die kaum grüßte, als ich in Speckbusch eingestiegen bin. Die werde ich gleich interviewen, kann doch sicherlich eine Rast von fünf oder zehen Minuten machen, eben Kaffeepause. Sie fährt heute ihrem Fahrplan ja wohl weg wie nie im Jahr; aber erst abwarten, was sich so tut. Einmal im Jahr dabei sein, wenn keiner allein sein will.
Heute abend kommt kein Kontrolleur, wetten? Bequem ist es hier schon, in den neuen Schnellbussen, flottweg, und komfortabler als zu meiner Schulzeit.
Immer diese Unterführung, wenn ich unter der durchfahre, zähle ich immer die Riesenbuchstaben unserer Zeitung, von R bis g; könnten eine Modernisierung brauchen, Fraktur ist unmodern.
Imma diese Linkskurve, sich anlehn'n können, ewig dieselbe, minutenlang, fast jedenfalls, wie ich et bei meinem Männe gern habe.
Nur noch zwei Blocks bis dahin. Grau, lang, öd gleiche Fensterlöcher.
Waren da eigentlich Blumen zu sehen? Oder sonst was? In diesem Schlafzimmerfenster da? Ob sie gesehen hat, dass ich den Arm noch hochreckte, so als Gruß, was besonderes für heute abend? Ein Mädchen, ja, passend zur Stunde? Wirklich? Zwischen der beatmeten Scheibe und dem dunkelgrünen Rollo hinter ihr, auf der Fensterbank stehend?
Ließ Worte wie Hauch von ihren Lippen aufsteigen. Wie alt? sechs, nein, eher älter, stand da im bauschigen Nachthemdchen, allein, wie abgestellt und winkte - ja, wie ein Christkind hinter Eisblumen; kann ich nicht schreiben, glaubt keiner! Muß ich deleten, später!
Die Bescherung ist wohl gelaufen für die. Ab-ins-Bett oder so! Engelchen du. Wie lange stehst du da wohl? Und wer kommt vorbei, heute? Wer winkt schon, wenn er nach Hause will in die Wärme des Lichts, der geplanten Gefühle! Hart ist das Leben; gerecht bin ich, nur gerecht, hat der Vater rübergerufen! Jetzt aber ab, du, Marsch! Sonst ist morgen kein fern. Und kein raus auf den Spielhof! Und keine Omi!
Warum bremst die da? Ortsausgang schon, ein Besoffener auf dem Überweg? Ist die Fahrerin verrückt geworden? Das haut mich glatt vom Sitz. Teufel auch; wer will da draußen mit? Wollen die alle einsteigen? Eine ganze Horde? Alles Skins, oh Gott, sehen die stark aus, im Dress wie wenn-zum-Fußball! Haben die sich vor den Bus gestellt? Die provozieren die Fahrerin doch! Na, halat mal Ruhe!
Erst mal fühlen, was noch da ist von meiner Ausrüstung: Vom Sport-Walther holte ich mir ein Kassettengerät, das man in die Innentasche des Parkas stecken kann; mit einem Minimikrophon unterm Reißverschluß, das sich einschaltet, wenn man zu sprechen beginnt. Muß ich dann die Interviewten auch noch bitten, einer Veröffentlichung zuzustimmen?
Quatsch, das anonymisiere ich dann einfach, dass keiner sich wiedererkennen kann. Jumän Tatsch, das macht's! sagt unser Chef, wenn er meine Texte redigiert.
So habe ich mir einen Fahrplan geben lassen, mir eine Route zurechtgelegt, über Sinsen nach Haltern, rüber nach Dorsten, dann über Marl-Mitte zurück, nach RE-West, vielleicht noch nach Gelsenkirchen rein, wenn ich zu wenig interessante Menschen treffen sollte. Ich will ja nicht auch noch auf die Phantasie zurückgreifen müssen, für eine Reportage vom Heiligen Abend.
"Dä Platz da, is dä noch frei, Fräulein! - Hallo, Miss! Neben Ihnen auffa Bank, is da noch frei? Oder wie hätt'n set gerne?"
So hat der Kerl mich doch aus dem vorgetäuschten Dösen geholt.
Ich kuck ihn mir an - wie mein Vati mal einen bösen Onkel anstarrte, der seinem Schatzi-Liebling und meine Püppi streicheln wollte. Dort längs der Kiefernschonung, dann den Bach lang, nördlich des Haard-Grenzwegs.
Hat der sich den einzigen besetzten Platz im Bus ausgesucht, um sich neben mich zu setzen, ohne meine Antwort abzuwarten! War der einzige, der vorne bezahlen wollte, den die Busfahrerin noch reingelassen hat von der Horde. Hat clever reagiert, schnell die Tür in der Mitte und hinten wieder zuzischen lassen, als sie die Schweinerei der Truppe kapierte. Da haben die Macker gegrölt. Und einer, der erste, kann nicht mehr raus. Meckert, schimpft. Knallt gegen die Scheibe. Will zurück zu den Kumpels. Der nimmt mich auf den Kiecker. Na danke, du Rotzlöffel!
Da krieg' ich einen Skin auf meine Bank, danke für die Überraschung!
"Ist der Platz neben Ihnen noch frei?" Tannenzweig an seiner C&A-Mütze, angenäht; die er genüßlich in den Nacken zurückschiebt.
Ohne abzuwarten, gleich weiter: "Steht mir echt geil! nicht wahr, Fräulein?"
Mies der Kerl! Ja, übel wird mir: Angst, Scheißangst! Gerate ins Schwitzen. "Bin gemütlich drauf heut' abend. Gut drauf zum deutschen Fest." Mein Schweigen überzeugt ihn nicht. "Gut drauf bin ich heute." Er wendet sich nach vorne: "Aber, was die da mit uns gemacht hat, nur weil Hannes eine Flasche auf den Asphalt knallen ließ! Das schafft Rache! Maik hat noch einen Pappkasten mit Bierdosen vor ihren Vorderreifen links gelegt, hat die doch sehen müssen! Zweimal acht Dosen starkes Bier, im Pack. Gutet – very Gutet - von Aldi, wat huckelt die dadrüber mit ihrem Bus, die Scheiß-Fotze-da! Alte! Hei - du!"
Ich schüttle den Kopf. Will ihm die Hand auf die Schulter legen. Sieht der aber nicht.
"Soll aussteigen, die Tussi! – Watt, Jung! – Die sollten wir ablösen und rausschmeißen!“
Jau – und nach Hause fahren und ihr mit Opi-Vati-Männe-im-Arm ein deutsches Weihnachtslied singen, als Ständchen. Die gehört doch an Heim und Herd, dat Weib, sieht doch gut aus von vorn, dat Frau!"
Da schimpfen sie nochmals los über die Bus-Tussi, nein, nicht druckreif! Ne, wiederhol ich nicht.
Eigentlich müßte ich den Notstopp drücken. Können die Kerls uns noch einholen? Einer ist langeweg hingeknallt. Wie lang die jungen Leute sind! Und der ist nicht so bomber-fettig! Die andern sind im Dunkel verschwunden. Bleibt der Bock in Leder und Schweiß und Aufgedunsenheit neben mir sitzen, kuckt interessiert auf meinen Busen, beruhigt sich aber zusehends, betatscht mich mit seinen fixen Augen, ein Hans-Albers-Blau, klasse! Tapfer bleiben, Anne!
Aber wenn der seine Glatze unter eine Perücke gesteckt hätte, oder meinetwegen unter ein NATO-Käppi, ich hätt' ihn mit einem satten Lächeln ankucken können. Auf der Wange - was hat der da? Stacheldraht, als Tatoo? Weiß nicht - oder aufgemalt so. Der könnte doch seine Glatze mit zwei Händen glatt und satt bedeckt halten, und grinst mich an! War ein hübscher Kerl sonst, so irgendwie! Un kriegt der die Backe wieder sauber? Der steilt sich und sitzt auf einer Leiter des Hasses und klopft von oben runter auf mich!
Das fiel mir leider zu spät ein. Wäre ja wirklich der Baustein für eine Story zum Fest gewesen - an diesem unseren Glorien-Fest!
Will zu seinen Genossen zurück. "Hab's nicht eher geschnallt! Dann sah ich Sie!"
Ja, hätte das ein Interview gegeben! Den Kerl interviewen! Ausquetschen, warum und wieso denn deutsch und - und: welche Bildung. Elternhaus? Lehrer oder was? Alles Scheiße?
Wie Männer sich verändern, so ohnewasaufdemSchädel! Wie alt? So sechzehn; ich kann so was nicht auseinanderhalten in dieser gnadenlosen Aufmachung.
"N' Abend, natürlich."
"Ja, sozusagen: Heiligen Nabend!"
Aber ich laß mich nicht stören, ich möchte weiterlesen. Keine Nachfrage, klar, Junge? Mach' die Fliege! Such dir 'ne andre Tante, die stricken kann und so was Feistes aushält! - Hab ich das wirklich gesagt?
"Ich steh' nicht auf Anmache oder so! Nur damit Sie klarsehen! Und dass Ihre Freunde da abgehängt wurden, tut mir leid!"
Mit diesen Glatzen komme ich nicht klar. Was sagen die Kumpels untereinander? Freunde? Genossen wohl nicht! Entsetzlich, wie die durch ihre Kluft wirken, männliches Outfit, einfach stark, derbe. Scheiß-Backe!
"Ja, staunst! Das ist unser Fieling, echt stark." Wieder nichts von mir. ich komm' nicht dazu, den Mund aufzumachen.
"Ob ich das immer trage? Im Bett nich, ne, nich? - Zigarette?"
"Hier ist Nichtraucher, junger Mann."
"Lesen kann ich schon. Nich, wie Sie denken. Kurz vor dem Abi, dat bin ICKE! Ob ich dat Reifezeugs aber verstehn will, dat is hier die Frage. Kommt aber gut an, allein, wie wir aussehen, damit fegen wir die Bürgersteige leer, na klar! Mit Pauer!"
Ja, die Bürgersteige. Da sind die meisten Zeitgenossen weg von der Bahnsteigkante. Weg vonner Kante! Aber draußen, so wie am 20. April vor dem Judenfriedhof in Nord: "Kennze doch, Fräulein, nur Kanickel, Draht und Tore! Gut geschützt das! All' unsere Karten für das Fußballländer mußten wir wieder eintauschen, mit Portoverlust, die Kapitalisten. Berlin, ade! Dortmund ade! Wir kommen aber wieder!"
War leider noch besser abgesichert der Friedhof, als wir gedacht hatten! Haben die da aufgepaßt da, so eine Masse Bullerei, hundsgemein! Wohl eine Hundertschaft draußen für uns paar Männekes! Mit Schäferhunden, die die Falschen beißen sollten! Die haben uns abkacken lassen wie die Straßenköter! Verräter am Volk die, pah, Säuglinge die! Und am nächsten Tag nix von uns in der Zeitung. Keine Zeile! Keine Bild! Das hat uns am meisten geärgert! Aber den Verräter kriegen wir."
Von dem Vorfall haben wir nichts im Polizeibericht zu legen gekriegt. Spinnt dat Männeken hier?
"Muß einer von Norberts Truppe sein. Den setzen wir so was von unter Druck, dass der nur so weinend erzählt wie auf Mamas Schößchen! Gibt wieder einen Selbstmord mit Stromkabel um den freigelegten Hals. Rache für Rudolf und so weiter! Rache für - Einer, der gehört ja zu uns; konnte uns nicht mehr anpeilen, oder ein Verräter, aber das nur fürn Polizistenbrot, 'nen Appel und Ei und Pensionsanspruch nach vierzig Jahren? Kann der sich nicht leisten mit seinem Geländewagen, den wir ihm bezahlt haben für unsere Fahrten inner Halterner Heide. Fressen muß der bei uns, kacken auch!"
Hab' schon zu viel dem Kerl zugehört - mit dem reden? denk ich. Wo der hinwill heute abend? Gehört ans Mutterns Rockzipfel!
 

Richtig mal im Backteig knatschen, alles nacherziehen, nicht so viel schleckern, Arni, vom rohen Teig kriegst du Bauchschmerzen! Noch ein Backblech, dann sind wir fertig, Papi wird sich freuen, wenn wir ihm das erzählen, und erst das Christkind. Dann gibt es keinen Feuerwehrwagen und keine Böller. Oder nochmals unter Vaters schützende Hände! Aber jetzt keine Verschwendung mehr!
Buh! Unsympathisch, der Kerl. Abwarten, mir bedrohlich. Muß ja nicht den ersten interviewen, ist auch noch zu früh für die Heiligabendstimmung. Müssen erst ins Nachdenken kommen, die Leute, in Ruhe braten lassen, und dann das richtige Wort!
"Sind Sie immer so schweigsam? Oder nur wegen meiner besonderen Gestaltung?" Zusätzlich läßt er den rechten Ärmel hochrutschen, langsam, ich sehe eine Tätowierung. Ich sehe zwei Kreuze, ineinander gezeichnet, mit äußeren Haken, so dass sie wie Schnitzelräder vorwärtszulaufen scheinen.
"Die Zeit, wir werden sie nutzen. Sie arbeitet für uns, jawoll! Für die Zukunft! Für die Starken!"
"Hab ich zu dumm gekuckt?
"Klar: Alles Schwache wird weggehämmert. Alles Interlektelle -
Typisch dein Sprachfehler! Hasse vom Pott hier. Woet am stärksten kochen tut! (Habe ich aber nicht gesagt, nur gedacht.)
"Allet wird aufgeräumt. Worte des Führers! Wie Raketen vom Urvater Thor! Wenn wir die erst haben. Wie die Affgaaan'n die hatten gegen die Russen. Diese da, die Dinger vonner Schulter zu schießen! Panzerfäuste, so. Aber eben besser. Für gegen Flugzeuge! - Die -"
"Stinger-Raketen."
"Äh, hömma! Ach! Kann reden, die Braut! - Na, all die Stubenhocker, das Gesindel, die Erfüllungsheinis der Fremdländer! - Vastehse doch? Oder?"
Jetzt will ich die Klappe doch nicht mehr halten? Wer bin ich denn. Jetzt geht sein Grinsen in ein Lächeln über, mit kackbraunen Mausezähnchen vorne. Los! Sag was, lüg was! Irgendwas!
Steht der wieder auf. Zeigt na vorne: "Mit der da am Steuer hab' ich noch ein Hühnchen zu rupfen; ‚n ganzen Stall voll, das Huhn! Die Kumpels haben alle gültige Märkchen oder eine Sechserkarte! Interessiert dich nicht, ne! Aber - schlaf weiter, Prinzessin! Bis wir dich wecken! Dass ich nicht lache: Hotelmieze! Siehst aus wie eine Emanze! Lehrsche wohl? Oder Tussi bei der Stadt? Meldeamt, wie, immer korrekt, hä? Hätte was werden können mit uns drei!"
Er packt sich, gottseidank! Den Dickarsch steif gehalten bei der Bewegung, wie das Arschleder der Kumpels! Wo die sich hinsetzen!? Was man sich so einbrockt, mit gut gemeint!
Und ich fühlte mich so gut vorbereitet! Und stieg um 17,40 Uhr in den Bus, der nach Norden abfuhr; ich war der einzige Fahrgast.
An einer Haltestelle, fast auf freier Strecke im Wald, stieg ein junger Mann in Bomberjacke ein. Nach dem Trabbel kam er zu meiner Sitzbank, ließ sich grinsend nieder, in parodierter Verbeugung.
"Na, Frollein, noch keine Verpflichtung für heute abend? Oder wartet der Gnädigste am Herd? Mit Pasta oder son Schitt?"
Ich schwieg, lächelte geringschätzig, aber ohne besondere Überzeugung. Er strählte seine Glatze. "Frisch lackiert für heute abend. Öl, Sonnenöl einfach! Für den Einsatz parfümiert! Wir fahren nach HÜHNEr-Franz! An der Umgehungsstraße, kenn'n Sie doch, ja? Alles schön dunkel dort jetzt. Auf dem Hof ist nämlich heut' mittag die Beleuchtung ausgefallen, reines Wunder vom Tage. Wissen wir alles. Versteh'n Se! Mal sehen, ob's Remmdidemmi gibt auf dem Spielplatz, den illegalen, was die da hingeschleppt haben, die Asis und die Kanakas. Haben den Teppichboden aussem Rathaus, wo eina draufgekackt hatte vonne Initiative gegen Zigeunabrut; waa unsa besta Mann, hihi, allet geplant! Haben den geschenkt g'kriegt und unta die Schaukels ausgelegt in den Mist da. Säue!"
Wie kann ich mit dem reden? Soll ich nach der Schule fragen? Müßte doch noch in die Schule - ob der noch lernen will? oder nur kaputtmachen. Wie wir: Macht kaputt, was euch kaputt macht? Was waren wir noch naiv! Und erst die 68er! Was feiern die heute.
"Werdet wie die Kinda und redat dat, wat iha halten können tut! Hihi! Wir spieln den eins auf! Die Ärsche der Bürokraten als Trommel und Pauke! Hitla hat auch genau vasprochen, was er gehalten hat! Macht uns heiß unsa Führa, auf die Bescherung dort! Ha!"
"Darf ich Sie mal etwas fragen?"
"'türlich, schöne Braut, darf ich's wagen, Antwort der schönen anzutragen! Platt wie! Klassische Bildung, hab ich von mein letzten Pauker! Der konnte sich druchsetzen, wie ein Führa! Aba nix wie gefragt! Schönes Weib und Gretchen! Ich kassier aber vorher", lachte de doch wie - ich weiß nicht, Stan und Lauel und Hape und Alf zusammen, irgend so'n Verschnitt aus BLÖD-Lache und Kampf.
"Ja, Ihr Lehrer, wie war der so?"
"Dafst du sagn, Mädkn! Kannst ja meine Mami sein, die Liebe, die Gute! Will heut am'd bei mia auffa Bettkante sich ausheulen, von wegen Alten und so. Habb ich doch geahnt, so'n Schlammassel! Da hab' ich den Beand angerufen. Und klappt! Watt sachich imma? Wia ziehn los! Nua die Tussi da voan. Wenn wia die nochmal aufschneiden können tun! Jau?"
Ja, ich hab' noch gefragt, ja, er hatte die Hauptschule abgebrochen. War intelligent für Ssprachen. Konnte sogar Russisch. Aber ich glaube, nur so nachmachen. ichwillmich gar nicht mehr dran erinnern. Einmal, sagte der: "Dem Schniedas wollten wia mal die Klöten ansengen!" Oder ein anderer westfälischer Ausdruck dafür! Du verstehst, Schatz? Fragte nochmals nach Geld, aber eher lachend! Hatte ja recht, wie die hofiert wurden nach Hünxe oder Hoyerswerda! Hängen mir zum Hals raus, diese Saftärsche. Ich hatte die Nase voll von einem Skin! Weißt du, deren dickfettige Haut! Woher sind die so aufgeblasen, so ebermäßig, affenartig feist und ungestaltet gerundet, und ruckelnd in ihren Bewegungen, Maschinenkörper, ausgerichtet auf den Revierkampf, gesteuert durch die Rivalitätsaggression, den ausgespielten Futterneid, programmiert auf Nahkampf im pubertär aufkackenden Rudel gegen was nervös und unsicher ist, gegen die von der Politik etikettierten armen Scheißer von draußen!
Sehe ich Gespenster? Einfach schmierig so was von Jugend! ich hatte keine Fragen mehr drauf. Ehrlich! Hormone allüberall, über alles in der Welt, nicht nur in Deutschland. Muttis ganze, fetttriefende Liebe: kahl auf der Kopfhaut, auch unter der Hirnhaut? Vaters Prügelbock? Brut, die hochgepäppelte, verquer und verzogen, die da aus Deutschlands Schoß kroch, dem vereinten? Das hätten wir auch ohne das gekriegt! Und wir Wessis stärker als die drüben, nur mal so gedacht, wenn die Einheit nicht gekommen wäre. Darf ich doch mal sagen!
Ich verkrampfe noch mehr, ziehe meine Arme dicht vor den Körper und versuche das leise Laufgeräusch des Recorders mit einem Husten zu übertönen. Kann ich das Ding auch wieder abstellen, hätte Heiner mir erklären sollen! Da war nix Verständliches drauf! Ich Unglücksvogel!
Am Stadtrand, zwei Haltestellen weiter - der Bus hält für einen älteren Mann, Typ Oberbuchhalter, der einsteigt. Da, drei Schritte neben dem Wartehäuschen eine Telefonzelle, schnell bin ich am Ausstieg, rufe der Fahrerin zu: was von "Tschuldigung, bitte öffnen Sie mal"; die drückt die Tür auch prompt auf. Danke! Ich winke, mit einem Armen rudernd zurück, sie grüßt.


Ich springe raus. Da, in die offene Zelle, der Hörer, keine drei Groschen, also Notruf: "Hier, die Polizeiwache, Schäpers. Oberwachtmeister."

Melden die sich immer so gleichgültig? Der Beamte auf der Wache protokolliert ziemlich desinteressiert meine Meldung. Ja, bei "hühner-Franz", der verblichenen Hausinschrift, "auch Eier und Enten vorrätig". Aber die sind noch nicht alle da, wenn die nicht mit eigenen Wagen fahren. Was? Eine Streife ist schon dort? - Haben alles im Griff. Trotzdem, danke schön! Na dann, schöne Weihnachten. - Nein, Weihnachten passiert hier nichts! Können Sie sich drauf verlassen! Ach - woher wissen Sie das denn eigentlich mit dem Bomberangriff? Hallo?" Ich lege auf! Auch wieder falsch!
Nochmals anrufen? Ich bin wohl nur was für den Schreibtisch wert!
Nach Plan lohnt es sich gerade, auf den Gegenbus aus Dülmen zu warten. Wenn es wenigstens schneien würde, da könnte ich auf meinem Handrücken Kristalle zählen, bevor die Eissternchen verlöschen. Der letzte Schnee zu Weihnachten? Glaube, das war, ja, als Vater Mutti den Pelz schenkte. Den ich immer zu Weihnachten ins Auto packe, wenn ich sie besuche. Da zieh' ich ihn für sie an. Und sie streichelt ihre schrubbigen Runzelhände, und ich schäme mich. Ob sie den noch hat?
Upandaway. Zurück zur Sinsener Straße, wo war das Mietshaus, hingehauen von Architekten in den fünziger Jahren, die nie in solche Betonzeilen einziehen würden, die sie heute abreißen, um -
Wo steckt das Kind, das mir im Nachthemd zuwinkte?
Sie noch wartet - auf Vorbeikommende, die ihr völlig unbekannt sind, dass sie ihnen zuwinken kann? Ob sie müde geworden ist, weinend eingeschlafen? Liegt sie jetzt im Bett, schwitzt und schläft?
Gegenüber der Tankstelle, richtig, da muß doch der Tankwart von da auch das Kind gesehen haben, mit dem blassen Gesicht, den Engelshänden hinter der Scheibe und den gehauchten Worten: An der Tankstelle war noch Verkehr. Ob sie sich inzwischen schlafen gelegt hat? Wie kalt hat sie es wohl in ihrem Zimmer mit dem quäkenden Brüderchen? Ab, ins Bett, Blag! Penz! Göre, du! (Oder was sonst?) So was von ungezogen! Weihnachten ist für dich gelaufen! Sofort in dein Zimmer! Und nicht mehr gemuckst! Muß der Vater erst die Zeitung weglegen und aufstehen? Mit dem gerollten Blatt kommt er auf sie zu.
Keine Chance für Weihnachtsmänner, keine Möglichkeit für Weihnachts-Frauen? Und wenn ich mit dem Skin verwandt wäre? Er mein Neffe? Verrückte, sentimental geisternde Phantasie! Hätte ich was ausrichten können gegen deren Plan? Oder was verhindern? Was würde die Polizei schon aus der Randale machen? Haben die für Heiligabend eigentlich eine Reserve, eine Spezialtruppe, ein Eingreifkommando, das abrufbereit steht für die innere Sicherheit auch in den Hütten, in den Containern: Angepiepst: Weg von der duftenden Gattin, von der neuen Eisenbahn weggeholt! Bethlehem später, jetzt gilt es auf der Dortmunder Straße? Die Alleingelassene, Kids und die Mami, verkrümmeln sich vors Fernsehen, oder doch alle ins Ehebett, und dann wieder von früher erzählt: Mamis viele hundertmale Weihnachten? Oder sind schon mit den strahlend bunten Lichtpünktchen auf den Schirmen getröstet, zu Zeilen angeordnet, die nicht gelesen werden müssen, wo es kracht: krawumm! Später, Kindchen, der Papi repariert es wieder. Komm, setz' dich zu mir! Einmal war es so kalt am Heiligabend, dass -
Gibt's das noch? Komm, setz dich auf meinen Schoß. Ich leg' das Strickzeug weg? Erzähl mir' was von deinem Teddy! Wie mach' ich das später? PC aus? Und von meinen Heinzelmännchen erzählen, die mich als Steppke Nacht für Nacht im Advent besuchten, die auf einmal verschwunden waren, als -?
Es ist feucht-warm, bestimmt vierzehn Grad. Da blüht die japanische Zaubernuß schon, da nieste ich immer furchtbar, dann die Ohrschmerzen oder die Neenhöhlen, und noch schlimmer: Frohes Fest mit Cortison. Bevor ich ins Träumen komme, jetzt will ich's auch wissen.
Steht das Kind noch dort hinter der Scheibe? Ob sie beschlagen ist? Das war keine Thermopen-Scheibe! Da zog's immer, das kann ich dir aber vertellen. Soll ich dann klingeln, da: Parterre, links, oder draußen gegen die Scheibe klopfen? Da kann ich doch nicht einfach reinschneien, bei Mütters! Das Feuerwehrauto aus dem Kleiderschrank holen! Verdammte Neugiersnase! Der Papa wird schon mit dir fertig!
Da, die Tankstelle schiebt sich ins Blickfeld. Die drei Pappeln - nur noch eine, die da steht! Hat schon dicht, Tankstelle Mütters! Klar, und? Jetzt, da, das graue Haus, in dem wir wohnten, bis die Planer von der FANAL-Benzin zuschlugen und alles niederlegten, bis auf die alte Fassade für die Parkpalette neben dem Supermarkt. Dort erlöschen gerade die Weihnachtsbäume.
Ich stehe wieder auf der kühlen Fensterbank und zähle mit Bleistiftstrichen auf der Tapete die vorbeifahrenden Autos, miese Weihnacht, versauter Heiligabend. Aus dem Wohnzimmer schallt es von unserem ersten Fernseher gemütlich her: Leise rieselt - Was? War das Freddy, der mit den großen Augen, heiliger Freddy Quinn, deine kurzen Locken und deine ewige Sehnsucht; den ich einmal heiraten wollte, ich splillerig Blag, ausgestellt hinter einer kalten Scheibe vor einer glitzernden Winterwelt. Ein hingestelltes Mädchen!
Der Vater hat dich erhöht, du Auserwählte!
Akeda!
Wat issen dat fürrn Woat - äh?


Illustrationen zur „Leiter des Hasses“ - und zu WEIHNACHTEN - von Ewgenia Agarunowa (mit Dank!).



 

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