Dienstag, 10. September 2019

Mörikes "Begegnung" (1828)

Eduard M ö r i k e:


- GOTTES BRÜNNLEIN HAT WASSERS DIE FÜLLE: Scherzhafte Bekräftigung eines Gastgebers, daß genug zum Trinken vorhanden ist; manchmal auch als Hausinschrift. In einem Dankpsalm für die Gaben Gottes heißt es:«Du suchst das Land heim und bewässerst es; Gottes Brünnlein hat Wassers die Fülle (Ps 65,10). -


Eduard Mörike:
Begegnung

Was doch heut’ Nacht ein Sturm gewesen,
Bis erst der Morgen sich geregt!
Wie hat der ungebetne Besen
Kamin und Gassen ausgefegt!

Da kommt ein Mädchen schon die Straßen,
Das halb verschüchtert um sich sieht;
Wie Rosen, die der Wind zerblasen,
So unstet ihr Gesichtchen glüht.

Ein schöner Bursch tritt ihr entgegen,
Er will ihr voll Entzücken nahn:
Wie sehn sich freudig und verlegen
Die ungewohnten Schelme an.

Er scheint zu fragen, ob das Liebchen
Die Zöpfe schon zurecht gemacht,
Die heute Nacht im offnen Stübchen
Ein Sturm in Unordnung gebracht.

Der Bursche träumt noch von den Küssen,
Die ihm das süße Kind getauscht,
Er steht, von Anmut hingerissen,
Derweil sie um die Ecke rauscht.
(1828)
**

Mörikes Vorlage:
Das Wiedersehen am Brunnen
(„Mündlich überliefert“, geben die Herausgeber des „Des Knaben Wunderhorn“ an.)

Es war einmal ein junger Knab,
Der hat gefreit schon sieben Jahr
Um ein fein Mädlein, das ist wahr,
Er konnt sie nicht erfreien.

"Ei, komm den Abend, junger Knab,
Wenn finstre Nacht und Regen ist,
Wenn niemand auf der Gasse ist,
Herein will dich lassen."

Der Tag verging, der Abend kam,
Der junge Knab geschlichen kam,
Er klopfet leise an die Tür:
"Steh auf, ich bin dafür.

Ich hab schon lang gestanden hier,
Ich stand allhier wohl sieben Jahr."
"Hast lang gestanden. Das ist nicht wahr,
Ich hab noch nicht geschlafen.

Ich hab gelegn und hab gedacht,
Wo nur mein Schatz noch bleiben mag,
Er macht mir allzulang, zu lang,
Mir wird ganz angst und bange."

"Wo ich solang geblieben bin,
Das darf dir wohl gesaget sein,
Bei Bier und Wein , wo Jungfern sein,
Da bin ich allzeit gerne."

Es war wohl um die Mitternacht,
Der Wächter fing zu läuten an:
"Steh auf, wer bei Feinsliebchen liegt,
Der Tag kommt angeschlichen."

Das Bürschlein auf die Leiter sprang
Und schaut die Stern am Himmel dicht.
Ich scheide nicht, bis Tag anbricht,
Bis alle Sterne schwanden."

Es sah das Morgensternlein nur,
Als sich der Knab von ihr gewandt;
Das Mägdlein morgens früh aufstand,
Ging an den kühlen Brunnen.

Begegnet ihr derselbig Knab,
Der nachts bei ihr geschlafen hat,
Viel guten Morgen boten hat:
"Gut Morgen, mein Feinsliebchen.

Wie hast geschlafen heute nacht?"
"Ich hab gelegn in Liebchens Arm!
Ich hab geschlafen, daß Gott erbarm,
Mein Ehr hab ich verschlafen!"


**


Interpretation von Renate von Heydebrand:

1828 schreibt Mörike ein Erzählgedicht, das zunächst als reine, wenn auch mit lebhafter Anteilnahme gestaltete Vorgangsbeschreibung anmutet:

Begegnung

Was doch heut' Nacht ein Sturm gewesen
Bis eben sich der Morgen regt!
Was hat der ungebetne Besen
Kamin und Gassen ausgefegt!

(...)
Der Bursche träumt noch von den Küssen,
Die ihm das süße Kind getauscht,
Er sieht, von Anmuth hingerissen,
Derweil sie um die Ecke rauscht.

Die Anwesenheit des Erzählers ist noch unauffälliger, zumal auch hier wieder in der Zeitform der Gegenwart erzählt wird. Mörike führt aber gleich in der ersten Strophe einen Beobachter ein, der alles Künftige wahrnimmt: jemand räsonniert erstaunt (wie die Ausrufezeichen und -sätze anzeigen) über das nächtliche Unwetter und seine Wirkungen. Erst später läßt sich darin auch der Kunstgriff des Dichters erkennen, der hier zugleich die Grundmetapher für das nächtliche Ge­schehen, das sich in der »Begegnung« nur spiegelt, einsetzt, den »Sturm«. Vom Ende her erscheint damit der Erzähler schon in der ersten Strophe als durch­triebener Schalk, der eine pikante Geschichte anspielungsreich und doch schein­bar naiv zu präsentieren weiß. Den Auftritt des Mädchens zeichnet er in der Rolle des Beobachters zunächst ganz sachlich auf; dann versucht er, den Ausdruck der schüchternen Verwirrung in ihrem Gesicht durch einen Vergleich näher zu bestimmen, wobei als Ursache schon der »Wind« ins Spiel kommt. Auch das Erscheinen des Burschen und seine anscheinend plötzlich gehemmte Bewegung (»Er will ihr voll Entzücken nahn«, kann oder darf es aber wohl nicht) wird genau registriert. Darauf folgt ein erster Versuch der Deutung, den der Erzähler schon durch den Modus der Aussage als subjektive Meinung kennzeichnet: »Wie sehn sich freudig und verlegen« - vielleicht er mehr freudig, sie mehr verlegen? - »die ungewohnten Schelme an«. die Befangenheit, die wohl auf seiten des Mädchens etwas größer ist, Überträgt sich auch auf den Burschen, verhindert die vertrauliche Annäherung und läßt den Beobachter die ersten Schlüsse ziehen. Die spinnt er denn in der nächsten Strophe weiter aus, ganz Erzählende Darstellung diskret; er formuliert seine Vermutung als vermutliche Frage des jungen Man­nes und verbirgt den Vorgang der nächtlichen Liebesbegegnung unter der Sturm-Metapher. Er fühlt sich ganz in den jungen Mann ein und kann da­durch in der letzten Strophe dessen innere Empfindungen nachzeichnen: weniger gehemmt als das Mädchen, erinnert der sich jetzt unverhüllt an die Liebesnacht und zeigt sich von neuem fasziniert, wenn seine Schöne, ihre Ver­legenheit in großer Geste überspielend, »um die Ecke rauscht«. In den beiden letzten Zeilen scheint der Erzähler aber bereits wieder Distanz zu nehmen und sich fast über die Verliebten lustig zu machen, indem er mit seinen Wendungen ein wenig zu hoch greift, ein anderes Milieu unterstellt als das, dem die beiden   dem volkstümlichen Ton des Ganzen entsprechend - angehören.
In diesem Gedicht also verrät sich der Erzähler, obgleich nicht mit dargestellt, als anwesender Zeuge des Geschehens durch entschiedene Anteilnahme, durch interpretierende und kommentierende Wendungen, ja, am Anfang und gegen Ende durch sein augenzwinkerndes Bescheidwissen. Das schafft eine „realistische“ Atmosphäre   fast möchte man schon an Spitzweg-Szenen denken -, die den Merkmalen, die auf eine volksliednahe, literarische Situation hinweisen, entgegenwirkt. Für den Volkston sprächen die Typisierung von »Mädchen« und »Bursch«, die Diminutiva von »Liebchen« und »Stübchen«, ja die charakteristi­sche Wendung vom »offnen Stübchen« als Metapher für Liebesbereitschaft, die Kargheit der Umweltbeschreibung (Kamin, Gassen, Straßen). Literarisch in anderer Weise wirken das Gleichnis von den »Rosen, die der Wind zerblasen«, das »süße Kind« und die hinreißende »Anmuth«, und manches andere in Wortschatz und -fügung. Keine dieser drei Stilschichten kann sich ganz durchsetzen, und daher ist die Realitätssuggestion des Gedichts trotz der vorgeblichen Zeugen­schaft des Erzähler-Beobachters nicht allzu stark. Der Leser empfindet das Ge­dicht darum eher als ein Modell, an dem der Dichter Mörike zwei seiner Lieb­lingsmotive darstellen kann: andeutend das Motiv »Lieb ist wie Wind« und ausführlich das Motiv »gemischte Gefühlslagen«. Wie das Gedicht Tag und Nacht lassen sich diese Verse daher auf dem Wege des Motivvergleichs innerhalb des Gesamtwerkes auf den Autor und sein Gefühlsleben beziehen, ohne daß von einem »Erlebnisgedicht« gesprochen werden sollte.
(Aus: R. v. H.: Eduard Mörikes Gedichtwerk. Stuttgart 1972: Metzler. S. 93f.; ohne Anmerkungen)

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