Sonntag, 10. November 2013

Fritz Reck-Malleczewen: Die Fabrik

Deutsch-baltische Erinnerungen an Autoren und Texte II:

Fritz Reck-Malleczewen (1884 - 1945)


R.-M., ein Irrläufer der Geschichte? Ein zu Unrecht Vergessener? Ein Sonderling eigenster Prägung (wenn denn überhaupt ein Superlativ ausreicht...)?

Hier möchte ich den Erzählband „Phygische Mützen“ vorstellen, für den die Rechte 1922 beim Drei Masken Verlag. München liegen (heute sicherlich bei R.-M.s Erben, die ich nicht kenne).

Ich biete hier die Exposition einer Kurznovelle, die sich in einer Stadt an der Düna erzählerisch ausbreitet, wo eine Kautschukfabrik besetzt wird, in den Wirren Revolution der Jahre um 1905 im baltisch-russischen Raum…

Fritz Reck-Malleczewen:

Die Fabrik
(Kurznovelle)

Im Osten verdämmerte über Sand, Sumpf und gelben Birkenwäldern die weite Ebene, verlor sich dort weit, weit hinter den gewaltigen, den menschenleeren Forsten in das große gärende Rußland der aufbrüllenden Großstädte, der zaristischen Manifeste, der meuternden Garderegimenter und der fabelhaften Straßenkämpfe.
Hier an der westlichen Peripherie des Reiches, an der baltischen Küste, fraß die große Industriestadt sich mit den barbarischen Ausläufern ihrer Proletariersiedlungen hinaus ins Vorgelände, versammelte täglich in riesigen Meetings fünfzigtausend gegen den Zaren, gegen die Oberschicht, gegen das Kapital aufheulende lettische Arbeiter, mordete im Dunkeln, in den mittelalterlichen Schlupfwinkeln, schickte Strafexpeditionen hinaus zu den Adelssitzen, brannte, schändete und wütete gegen die aristokratische stille Kultur des Landes: "Wärest Du nur ein Sklavenhalter, wie die Fabrikherren der Stadt, wir sprengten nur Deine Schatzkammer und ließen Dich doch sonst ungeschoren! Wehe Dir aber, wenn Du ein Ritter, wenn Du ein wirklicher Herr bist mit einem anderen Hirn, als das unsere ist; so werden wir Dich auf heißen Ziegeln tanzen lehren und Dich zwingen, Deines geschlachteten Weibes Blut in saufen!"
In der weiten ebene im Osten der Stadt, wo die Düna seit Jahrhunderten ungeheure Kiesbänke ablagert, lag, eigentlich eine ganze Stadt für sich riesige Kautschoukfabrik: Bestien rotverblendeter Verwaltungsgebäude aus kanariengelben Ziegeln, Irrgänge verräucherter Höfe, atembeklemmende Lichtschächte, ein Gewirr von Benzintanks, Kesselhäusern .... fünf langgestreckte radienförmig ausstrahlende Hallen mit schiefen Pultdächern. . . . das Ganze umgeben den trostlosen Eisenzäunen .... eine Ausgeburt des Maschinenwahnsinns, eine häßliche Spinne, die sich gierig hineinfraß in das weite Bauernland. In dieser Fabrik nun hatte man vor vierzehn Tagen die Direktoren ermordet, die zweitausend Arbeiter hatten sich, die drohende Strafexpedition witternd, mit Weibern und Kindern in einem Teil der Anlagen verbarrikadiert, hausten dort wie in einer Festung und sahen im Besitze ihrer Waffen den Dingen mit wildem Trotz entgegen.
Gegen das Novemberende schickte die Regierung, die die große Stadt allmählich einschloß, die ersten Truppen: es war Spätnachmittag und das Licht schon in völligem Schwinden, als die dritte Schwadron der kaiserlichen Chevaliergarde in die zur Fabrik gehörige Siedelung Schreyenbusch einritt. Zuerst ritt der Vorsänger mit dem Schellenbaum ) und dahinter trottete der Schwadronsziegenbock Iwan Pawlowitsch, und dann fielen
hinter diesen eleganten und stark parfümierten Offizieren die Soldaten ein mit einem jener sechzehnstimmigen höchst kunstvollen Lieder des russischen Heeres, die wie gothische Hymnen klingen, bei deren Text sich aber doch jeder Hamburger Lichtmatrose schamrot bei Seite schleichen würde.....
(…)
Das Buch, dem die Novelle entnommen wurde, ist recht preiswert käuflich im antiquarischen Buchhandel; z. B. hier mit dem prächtig aufgemachten Titelbild der „roten Mützen“: http://www.booklooker.de/B%C3%BCcher/Fritz-Reck-Malleczewen+Phrygische-M%FCtzen-Der-Tag-der-Tuilerien-Der-Tag-von-Saint-Denis-Urban/id/A01ofZ4p01ZZd?zid=f80d24dbadc19a74a93a0a7c92e1b766

Zur Information über den vielfältigen Denker und Dichter auf Wikipedia:
http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Reck-Malleczewen
(Hier fehlt die Erwähnung des Novellenbandes „Phrygische Mützen“.)
R.-M.s „Tagebuch eines Verzweifelten“, ist sicherlich das wichtigste Werk, in der Neuauflage bei Eichborn in Frankfurt am Main (1994), als Neuausgabe. Mit einem biographischen Essay von Christine Zeile. Bei Bastei-Lübbe/Eichborn ist kein Titel von R.-R. mehr im Angebot. – Das Thema des „Tagebuchs eines Verzweifelten“ zeigt uns „Nachgeborenen“ Verhältnisse, die sich zwar bis 1945 militärisch erschöpft haben, aber in unterschiedlichen Formen immer präsent bleiben in Maskierungen, in Eruptionen, in Überraschungen, wenn auch unerwünscht.
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Als biografischen, literarischen Artikel empfehle ich:
Essay:
„R.-M.: In: Hans Sarkowicz u. Alf Mentzer: Literatur in Nazi-Deutschland. Ein biografisches Lexikon. Hamburg/Wien ²2000: Europa Verlag. S. 334ff.
Für mich, bei meine literarischen und historischen Interessen an deutsch-baltischen Themen ist „Die Fabrik“ eine überraschender Einblick in die sozialen, hier: proletarischen, Unruhen in der Stadt Riga und ihrer Peripherie in Liv- und Kurland, die ansonsten in vielen bürgerlich und/oder gutsherrschaftlich, landwirtschaftlich geprägten, teils idyllischen Porträts angeboten wird.
Revolutionäre Verläufe finden sich ansonsten selten; jedoch in Siegfried von Vegesacks Romanwerk „Die baltische Tragödie“ (1934/35).

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