Donnerstag, 13. Februar 2025

Ernst W i e c h e r t: "H i r t e n n o v e l l e"

 

Försterei: Haus von Ernst Wiecherts Vater: "Kleinort"/Pierslawek bei Peitschenort - Aufnahme 2002. REY -









Ernst Wiechert:

Hirtennovelle


Vorbemerkung von A.S.R.:

Das Ende der "Hirtennovelle" vollzieht sich für jeden, der es in der Nazizeit las und zur Wehrertüchtigung sich verpflichtet fühlte oder gezwungen wurde, so: Gedichtetes und Geschichtliches:

Nach dem bösen Einfall der Kosaken (schon im August 1914), die Gold auf Pferdewagen aus dem deutschen Reich, aus Ostpreußen...) fortschafften, gelang es erst später Hindenburg durch große Truppenbewegungen - aber noch 1914 - die Russen zu schlagen, siehe Tannenberg! Russische Offensiven hat es bis Dez. 1918 gegeben, ohne einen Einbruch in Ostpreußen zu erzielen. Dieser Ausblick auf die siegreichen Truppen steckt im letzten Absatz der Novelle, der nach dem Tod des Michael diese Aussicht den deutschen Leser der Nach 33-er-Jahre eröffnet: der große Sieg über die Russen - er wird uns gelingen...

- Wörtlich bei Wiechert: "Es ist dann der Krieg noch mehrmals über die Landschaft hin und her gegangen. Er hat Felder umgewühlt und Häuser zu Asche gebrannt. Er hat auch die Feldsteinmauer des Friedhofes übereinandergeworfen und sein rotes, glühendes Licht in das Dunkel aufgerissener Gräber geschleudert. Aber er hat das einfache Holzkreuz nicht berührt, das zu Häupten Michaels aufgestellt worden ist und das nach dem Willen des Lehrers Elwenspök die Worte trägt: Michael, einer Witwe Sohn." -

- Nota: Der Sohn - ohne den Vater, ermordet - das Volk ohne die Vaterfigur, bedürftig des Führers; die "Hirtennovelle" (von E.W. ohne Artikel gesetzt), ein Erzählwerk, das der Deutung - der Analyse und Kritik - bedarf... -

**

("Hirtennovelle". Erschienen 1934; zuerst im Zeitschriftenabdruck in "Das Innere Reich"; im Oktober-Heft 1934. S. 859 - 900.

Hier im PC-Ausdruck wiedergegeben nach der Buchfassung 1951: S. 9 - 91; mit Erstdruckvermerk München 1935; vgl. Ausgabe innerhalb der "Sämtlichen Werke". 1957. Bd. 6.)


In Masuren; ein Heldenstock für deutsche Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg. Es ist belegt, dass Ernst Wiechert hier war. - Aufnahme A.St.R. <Sept. 2022> 

                                                                                                > Masueren. Touristenidyll:


Ernst Wiechert : Hirtennovelle

Für Karl Benno von Mechow


Seinen Vater erschlug ein stürzender Baum um die Mittagszeit eines blauen Sommertages. Ihm allein war bestimmt, vom Rande der Lich­tung aus zuzusehen, wie der Wipfel der hohen Fichte zu beben begann, und wie sie, ohne hin und her zu schwanken wie sonst, sich plötzlich einmal um sich selbst zu drehen schien, ganz schnell, mit waagerecht kreisenden Zweigen, bevor sie niederbrauste gleich einem aus den Fundamenten geworfenen Turm und mit dem Donner ihres Sturzes den leisen Schrei ver­schlang, der zu ihren Füßen aufstand gegen das niederbrechende grüne Gebirge.

Die Lippen halb geöffnet, an denen der Saft der Heidelbeeren noch nicht getrocknet war, stand das Kind, dem Anblick des Gewaltigen hingegeben, und erzitterte mit der Erde, auf der es mit bloßen Füßen stand, bis die Wolke aus Blütenstaub im leisen Wind waldeinwärts gezogen war und das Grüne und Ungeheure nun regungslos quer über die Lichtung geschleu­dert lag.

Es wunderte sich nicht, daß der Vater nicht zu sehen war, dessen Kraft und Kühnheit dies vollbracht hatte, und auch nicht der andere Mann, den sie den »Soldaten« nannten, und der mitunter die Schneide der Axt an die Schul­ter legte, den langen Stiel gleich dem Lauf eines Gewehres auf sie gerichtet, wozu er auf eine erschreckend täuschende Weise Schuß auf Schuß mit den Lippen auf ihre zerstiebende Schar schleuderte. Und da das Kind Michael diese verderbenbringenden Gewehrlauf niemals aus­wich, sondern mit furchtlosen Augen sein frühes Ende erwartete, hatte der "Soldat" es tief in sein Herz geschlossen und ihm eine große Laufbahn als General geweissagt.

Erst nach einer Weile, sich vorwärtstastend in der grünen Wildnis gesplitterter Aste, fand das Kind den Vater und den Soldaten. Den einen still auf dem Rücken ruhend, die Axt noch in den Händen, einen schmalen roten Strich zwischen den Lippen, obwohl keine Beeren in dem zerschlagenen Moos zu erblicken waren. Den andern auf dem Gesicht ruhend, die Arme ausgebreitet, indes ein Fichtenast, stark wie ein junger Baum, sich über seinen Rücken gelegt hatte, der merkwürdig flach und wie verwelkt unter dem rötlich braunen Joch erschien.

Eine Weile suchte das Kind noch nach dem Stiel der Axt, aus dem der Soldat den Tod auf sie zu schicken pflegte, fand ihn aber nicht, stellte den blauen Paartopf mit Suppe und Fleisch in den Schatten des gestürzten Stammes und setzte sich dann bei seinem Vater nieder, in Geduld erwartend, wie dies seltsame Ver­steckspiel nun zu Ende gehen würde.

Über die zur Erde geneigte Stirn des Toten senkte sich, auf eine wunderbare Weise unver­sehrt, ein Stengel mit Glockenblumen, und von dem zart geäderten Blau dieser Blüten ging der Blick des Kindes zu der erstaunlichen Weiße der beschatteten Stirn und wieder zurück. In dem grünen Haus, auf dessen Schwelle es saß, zitterten goldene Flecken der Sonne, die ihm hoch im Rücken stand. Aus den weißen Bruch­stellen der Aste tropfte schon mit starkem Ge­ruch hellgelbes Harz, und der Leib einer Ei­dechse glitt schimmernd, mit atmenden Flanken, an den Händen des Vaters vorbei. Und nach einer Weile, indes der Ruf des Pirols mit süßer Eintönigkeit über den Wald gefallen war, wußte das Kind sich nichts Besseres, als es den beiden Großen nachzutun, die Augen halb zu schließen und in einen dämmernden Schlaf zu gleiten, aus dem ja wohl einer von ihnen, des Spiels müde, zuerst in das alte Leben wieder treten würde.

Das Kind erwachte von einem leisen Stöh­nen, das tief unter den Asten zu wohnen schien. Es war der Soldat, unverändert in seiner Hal­tung. Das Stöhnen klang, als habe er den Mund voller Erde und als werde er niemals mehr imstande sein, jenen hellen und scharfen Ruf des Todes mit seinen Lippen zu erzeugen. Aber noch bevor das Kind aus der Wirrnis zerrin­nender Träume und der Ahnung eines dunklen Grauens sich zu erheben vermochte, sah es, wie es an Schlafenden oft gesehen hatte, daß die kleinen dunklen Waldfliegen sich um das Gesicht des Vaters zu schaffen machten und daß sein Schlaf zu tief sein mußte, als daß er mit einer Bewegung seiner Lider sie aus den Augen­winkeln hätte verscheuchen können.

Hier, und zwar zum ersten und zum letzten Male, schluchzte das Kind einmal auf, dumpf berührt von einer Ahnung der Kreatur, brach dann zwischen den Fichtenästen einen schon welkenden Lindenzweig und saß dann Stunde um Stunde, die Blätter über den Augen des Vaters hin und her führend, indes das Stöhnen des Soldaten eintönig und regelmäßig aus der Erde zu rufen schien.

Es war dem Kinde wohl bewußt, daß es gut sein würde, zu den grauen Hütten des Dorfes zu laufen, die Mutter oder einen der Großen anzuhalten in ihrem Tagwerk und ihnen zu sagen, daß hier im Walde zwei Männer unter einem Baume lägen, nicht schlafend und nicht wachend, und daß der Soldat wohl nicht imstande oder willens sei, die Axt an die Schulter zu legen und aus seinem Munde Schuß auf Schuß unter die Feinde zu senden.

Es war dieses dem Kinde in seiner Hilflosig­keit so wohl bewußt, daß es ein paarmal aus seiner grünen Höhle heraustrat und über die Lichtung hinweg nach dem Rande des Moores blickte, der mit gekrümmten Kiefern bläulich vor dem weißen Himmel stand. Doch, wenn es sich dann mit einem letzten Abschiedsblick zu­rückwandte, sah es die dunklen Waldfliegen wieder um die Augen des Vaters schwirren, und es schien ihm nicht erlaubt, diese stillen Augen der fremden Zudringlichkeit preiszu­geben. So kehrte es jedesmal wieder in sein dunkles Haus zurück, in dem die Sonnenbalken nun schon flacher lagen, fuhr in seiner eintöni­gen Tätigkeit fort und wehrte sich mit zusam­mengezogenen Augenbrauen gegen das wach­sende Gefühl kalter und gänzlich hoffnungs­loser Verlassenheit.

Erst in der Abenddämmerung fanden sie die beiden Männer und das Kind. "Die Fliegen", sagte Michael, um das Geschehen befragt. "Es mußte einer dableiben, um die Fliegen zu ver­jagen."

Sie hoben den Toten und den Sterbenden auf, dem der Fichtenast das Kreuz gebrochen hatte, flochten zwei Bahren aus grünen Asten und kehrten in das Dorf zurück, in dem alle Türen offenstanden und in dem das Vieh an den Ketten brüllte, als wittere es den kühlen Hauch des Todes.

Michael war sechs Jahre alt, als dies geschah, und die Achtung der Großen und seiner Alters­genossen fiel ihm unverlangt zu, weil er als ein tapferer Wächter im Haus des Todes gesessen hatte. Doch half ihm das nicht weiter bei dem Irdischen seines Lebensweges, als daß man ihn frühzeitig auf Posten stellte, die man solcher Jugend sonst nicht überwies, hinter die Pferde des Göpelwerks etwa, oder zu einer Kuh, die kalben sollte, oder zu Kindern, die man allein lassen mußte, wenn der Markt oder die Ernte alle Großen aus einem Hause rief.

Er tat das alles, wie man von ihm als einem früh Geprüften und Bewährten erwartete: still, wachsam, umsichtig und mit einer ernsten Würde, die niemals lächerlich war. Seine Mut­ter, klein, gebeugt, aber unzerbrechlich wie eine Weidenrute, verdiente gleichsam laufend ihr Brot, konnte pflügen und Pilze trocknen, Mär­chen erzählen und Träume deuten, predigen und Gesichte haben, Neugeborene und Tote waschen, und vor ihrer furchtlosen Tüchtigkeit erschien die bittere Armut der Hütte nicht als ein Herr, sondern als ein Gesinde, das man be­halten oder entlassen konnte, wie es einem beliebte.

"Der Lehrer", konnte die Mutter mit ihrer anspruchsvollen Philosophie zu Michael sagen, "der Lehrer, siehst du, hat ein Gehalt und einen Stock. Und der Förster hat ein Gehalt und ein Gewehr. Aber der Lehrer kann nicht Förster sein, sonst würden die Hasen lachen, und der Förster kann nicht Lehrer sein, sonst würden die kleinsten Rotznasen lachen. Sie sind beide zu dumm, um etwas anderes zu sein. Du aber mußt so viel lernen, daß du alles sein kannst, auch ohne Stock und ohne Gewehr. Hier innen muß man alles haben, siehst du, Stock und Ge­wehr und Talar und Siegel. Und als Saul aus­zog, um eine Eselin zu suchen, fand er eine Königskrone!"

Nun schien es zwar Michael, der am Herde saß und einen Löffel schnitzte, als gebe, es wenig Aussicht für ihn, eine Königskrone zu finden, und er wußte auch nicht genau, was er mit einer goldenen Krone auf dem Kopf hinter dem Göpelwerk hätte beginnen sollen; aber wenn er gutmütig und mit freundlicher Nüchternheit aus der Philosophie seiner Mutter ausstrich, was er die "Lämmerschwänze" nannte   denn an den grauen, runden und behaglich geschlossenen Formen dieser Tiere erschienen die Schwänze ihm als ein vergessener oder angeklebter Zie­rat  , so blieb immer noch manches übrig, was ihn an seinen Vater erinnerte, an seine hellen, wachen und furchtlosen Augen, seine schnellen, nie verlegenen Hände, seine nie betroffene Rede, seinen Gang, der wie ein Frühlingswind war, und aus seiner Erinnerung stieg, schweigend bewahrt, das Bild des fröhlichen Toten auf, der unter dem schweren Feind erschlagen lag, indes der Gefährte, den Mund voll Erde, nicht mehr imstande war, mit Axtstiel und Lip­pen den plumpen Sieger in eine schmähliche Flucht zu schlagen.

"Michael, einer Witwe Sohn" hatte der Leh­rer feierlich vor sich hin gesagt, als er die Namen der jüngsten in sein großes Buch geschrieben hatte, und somit einen gleichsam alttestament­lichen Glanz um die Stirn des Ärmsten der Klasse gelegt. Doch schien dieser damit sich zu­frieden zu geben und vorläufig nicht nach höhe­ren Dingen, einer Königskrone zum Beispiel, zu verlangen. Er lernte, wie das Gesetz es be­fahl, Buchstaben und Silben, Sprüche und Ein­maleins, aber es kamen keine frühen Psalmen aus seinem Munde, und, nach dem tieferen Sinn der Geschichte von David und Goliath befragt, erwiderte er trocken und sachlich, daß jener Hirtenjunge sehr wahrscheinlich eine Schleuder aus Haselnußholz gehabt habe, weil dieses zu­gleich am zähesten und am biegsamsten sei und lange genug halte und auch rechtzeitig genug fliegen lasse. Zu treffen aber sei eine Kunst, zu der man nicht David zu heißen brauche.

Diese Erklärung, wiewohl ohne Hochmut vorgetragen, erregte einiges Aufsehen, weil hier ein Kind eines armen Moordorfes von einem Hirten und König und Psalmensänger wie von ihresgleichen sprach, und auch der Lehrer schüt­telte mit sanfter Mißbilligung den grauen Kopf, gab zu bedenken, daß es doch wohl nicht zuerst auf die Holzart ankomme und war erst wieder zufrieden, als Christoph, der Sohn des Schul­zen, mit vor Ehrfurcht bebender Stimme sehr laut erklärte, daß es auf den Geist Gottes an­komme, der einen Streiter erfülle oder nicht er­fülle. Und als die ganze Klasse im Chor, von der Hand des Lehrers geleitet, nach damaliger Sitte das Gefundene wiederholte, daß es auf den Geist Gottes ankomme, der einen Streiter erfülle oder nicht erfülle, sprach Michael diese Wahrheit mit, ebenso ernst wie die anderen, und auch in der großen Pause, als Christoph von vielen umstanden und bewundert wurde, äußerte er keinen Widerspruch, sondern aß von seinem trockenen Schwarzbrot, indem er mit den nackten Zehen seines rechten Fußes den Namen des großen Streiters in den Sand des Schulhofes schrieb.

Auch schien ihm vom Schicksal, wie allen Ärmsten in Moordörfern, vorbezeichnet zu sein, den Weg seines Lebens dort zu beginnen, wo auch Saul oder David ihn begonnen hatten, wenn auch auf keine Weise zu erwarten war, daß das Ende dieses Weges zu einer Königs­krone führen würde. Er begann, wie die Ge­setze eines Dorfes vorschreiben, mit den Gänsen als den am geringsten Geachteten und am leich­testen zu Bewahrenden. Er entnahm von der hochmütig geleugneten Klugheit dieser Tiere vieles, was ihm bei folgenden höheren Ämtern nützlich werden sollte, wurde mit ihnen zu Hause in der Welt der Wiesen, der Tümpel, der mageren Stoppelfelder, erkannte, zwischen ihnen auf dem Rücken liegend, zum erstenmal Form und Herrlichkeit der Wolken, und gewann, ein Kind an Jahren, die frühe Bruder­liebe zum stummen Geschöpf und die stille Sicherheit derer, die in jungen Jahren zum Hüten und Bewahren berufen werden, gleich­viel ob ihren einsamen Händen Gänse oder Völker überantwortet sind.

Endete die schöne, unter Wolken und Win­den verrauschende Zeit, schnitt um Martini der erste Todeslaut der von ihm Gehüteten ihm bitterlich ins Ohr, so nahm er Abschied von der königlichen Freiheit seines einsamen Amtes, kehrte wie ein lang Gereister zum kümmer­lichen Herdfeuer des mütterlichen Hauses zu­rück, schnitzte Löffel und Quirle, Tiere und Tierfallen, las mit strengen Augen in der Ge­schichte der Erzväter, lauschte den dunklen, etwas gewalttätigen Märchen und Legenden seiner Mutter, hörte zu, was der Lehrer vor­trug, widersprach mitunter, schwieg häufiger, und erhob sich mit den ersten Frühlingswinden aus dem trüben Kreis von Herdrauch, Legen­den, Schulweisheit, Hunger und Verlorenheit zu der Weite und Freiheit tätigen Lebens, etwas magerer, etwas blasser als zuvor, aber mit wachsender Sicherheit, als habe der Winter ihn mit einem Zauberwort versehen, das nur ihm allein im ganzen Dorf bekannt sei.

Als Michael zwölf Jahre alt war, übertrug das Dorf ihm die Hut der gesamten Herde. Die Herde war so klein und ärmlich wie das Dorf, aber sie übertraf es an Buntheit und Vielfalt der Erscheinung. Da waren Kühe und Kälber, und ihre Farben wie ihre Formen schie­nen aus allen Rassen der Welt in das stille Moordorf gekommen zu sein. Aber da waren auch Schafe, graue, geduldige Wesen, die aus­sahen, als seien sie aneinandergeleimt und wür­den nun, auf unsichtbaren Rädern, von einer geheimnisvollen Hand hin und her geschoben. Und auch Ziegen waren da, mit Bärten gleich Baumflechten und klugen Augen, die spöttisch oder verträumt aussehen konnten und die den neuen Hirten mit einer kühlen Überlegenheit musterten.

Der Glanz des Dorfes aber, der König gleich­sam über ein vielsprachiges Reich, war der Stier, der einen Ring in der Nase hatte und den der Schulze mit unerklärlichem Eigensinn gegen die Meinung des ganzen Dorfes "Bis­marck" nannte.

Der Schulze, mit einem angeborenen Sinn für Feierlichkeit, hatte angeordnet, daß zur Übertragung des alten Amtes auf den jungen Hirten die ganze Herde auf dem Schulzenhof versammelt werde, damit er so das Lehnsamt vor den Augen des Volkes auf die Schultern seines jüngsten Vasallen legen könnte. Und da Menschen und Tiere diesem Ruf gehorsam ge­folgt waren, so war zwischen den grauen Ge­bäuden und verfallenden Zäunen gleichsam eine ganze Schöpfungsgeschichte dargestellt, und vom alten Torfjohann bis zur jüngsten Ziege, beide auf etwas schwankenden Gliedern, fehlte kein Lebewesen dieser ärmlichen und etwas bedrückten Welt, die den Frühlings­anfang nach alter Weise mit dem Viehaus­treiben zu feiern gedachte.

Es war kein Zweifel, daß in der erfüllten Enge des Hofraumes zwei Gestalten sich hoch über die niedere Menge erhoben, durch Rang und Amt wie durch das Bedeutende ihrer Er­scheinung gleichmäßig ausgezeichnet: die des Dorfschulzen und die des Stieres Bismarck. Jener hoch und ragend wie ein Heufuder, mit schweren Gliedern und dem mißlingenden Be­streben, königlich aus kleinen, rot geäderten Augen zu blicken, dieser schwer und breit, mit einem verborgenen Trotz der Seele, ein Sklave gleichsam, der doch schon leise und gefährlich an seinen Ketten rüttelt.

Und wenn dieser König der Ställe und Hei­den auch gleich einem afrikanischen Häuptling durch einen Nasenring ausgezeichnet war, so hatte der Gegenkönig im Menschengeschlecht nichts Geringeres, was ihn hoch über seines­gleichen hob: einen goldenen Zahn, den er durch eine leise Senkung der Unterlippe sicht­bar machen konnte und sichtbar zu machen liebte, und der in den Gesprächen des Dorfes lange Zeit eine bedeutsame Rolle gespielt hatte. Denn es hatte weder an Stimmen gefehlt, die diese Vergoldung menschlicher Natur ein sichtbares Zeichen göttlichen Willens nannten, noch an solchen, die darin einen Fallstrick des Teu­fels erblickt hatten, und der alte Täuferjohann, so genannt wegen seiner Zugehörigkeit zur Baptistengemeinde, war in sektiererischem Zorn so weit gegangen, daß er sehr deutliche Vergleiche zwischen dem Schulzen Christoph und der großen "Hure Babylon" gezogen hatte. Doch hatte dann die Gewohnheit sich auch mit diesem Seltsamen abgefunden, ja, es war ein leiser Stolz auf diesen fast gemeinsamen Besitz zurückgeblieben, ähnlich wie auf ein wunder­tätiges Bild oder auf eine graue Reliquie, und auf Jahrmärkten, bei beginnenden Kämpfen zwischen Dorf und Dorf, konnte es geschehen, daß, wie in kindlichen Streitgesprächen, die Untertanen des großen Christoph als einen höchsten Trumpf den Gegnern die Tatsache in die Gesichter schleuderten, daß ihr Schulze einen goldnen Zahn besitze und daß es somit sinnlos und gänzlich verblendet sei, sich mit einem solchen Dorfe messen zu wollen.

Während dieser König des Dorfes nun feierlich von der Bedeutung des Hirtenamtes sprach, auch nicht vergaß, die Geschichte der Erzväter und ihrer wunderbaren Erhöhungen zu erwäh­nen, während auf der anderen Seite der Stier Bismarck mit unlustig gesenkten Hörnern und unruhigen Vorderfüßen diese Rede über sich ergehen ließ und mehr Augen auf sich zog als der schimmernde Mund des Redenden, um­kreiste der kleine Michael, unbekümmert um die Worte und Taten der beiden Großen, ein­mal ruhig und prüfend seine Herde, legte ein­mal hier und einmal da seine braune Hand auf ein mattglänzendes Fell oder in graue unge­schorene Locken, beugte sich dann zu dem Hunde nieder, der wie ein in Gram gealterter Wolf aussah und Wotan hieß, rieb ihm ein wenig Speichel an die kühle und mißtrauische Nase, sagte ein leises Wort zu ihm und begann dann den Stier zwischen den Hörnern zu streicheln und die andere Hand um seine rauhen Lippen zu legen. Und als der Schulze, etwas verwirrt durch diesen Anblick, seine Rede vor­zeitig schloß und dem jungen Hirten als ein Zeichen seines Amtes die lange Peitsche und das Rinderhorn überreichte, hatte dieser schon in seiner stillen, bewährten Art die ihm zukom­mende Herrschaft angetreten, winkte dem Sohn des Schulzen, das Tor zu öffnen, knallte ein­mal über die versammelte Gemeinde hin, einen musterhaft flachen und scharfen Peitschenknall, und verließ dann mit der sich drängenden Herde den Hof, als habe er Zeit eines langen Lebens auf ungeheuren Pampas Tausende von wilden Geschöpfen gehütet, gebändigt und sich untertan gemacht.

Seine Mutter, wie alte, einsame und gehetzte Frauen zu tun pflegen, weinte noch ein wenig vor Stolz und Ergriffenheit, den anerkennen­den Worten des Schulzen nicht ohne Würde zuhörend, als Michael schon am Rand des Moores dahinschritt, hinter einer frühen Staub­säule des sandigen Weges, die Herde vor sich, vom Hunde umkreist, von der Jugend des Dorfes ehrfürchtig gefolgt, und so von ferne einem der königlichen Hirten nicht unähnlich, von denen eben die Rede gewesen war, und

die nun jetzt wie vor Jahrtausenden in eine fremde Wüste auszogen, um Weide und Brun­nen zu finden und in den Nächten zu den hohen Sternbildern aufzublicken, zwischen denen die Verheißung geschrieben stand, die der Gott der Hirten über die Stirn eines von ihnen als eine feierliche Gewißheit ausgesprochen hatte.

Schon in diesem ersten Sommer des neuen Amtes war Michael eine der Prüfungen be­stimmt, die, so gering sie ihrem äußeren Ge­schehen nach sein mögen, doch für alle einem öffentlichen Urteil Ausgesetzten Sieg oder Nie­derlage, ja für alle von einem tiefen Ehrgefühl Erfüllten Tod oder Leben bedeuten. Gegen dieses am Rande der Wälder drohend aufstei­gende Schicksal war alles bis dahin Erworbene und Bewahrte ein schaler Gewinn: daß die Herde jeden Abend gesättigt heimkehrte wie nie zuvor und Milch spendete wie nie zuvor; daß die Bremsen sie nicht zerstreuten; daß Blitz und Donner sie nicht in alle Winde zer­sprengten; daß der Stier Bismarck seines von der Natur gewollten Amtes getreulich und erfolgreich waltete und sich gegen seinen einge­setzten Herrn nicht empörte; und daß keine Anzeigen wegen Hütens auf verbotener Weide einliefen.

Denn das Schicksal, von dem die Rede ist, betraf nicht Ruhe und Ordnung der Herde, sondern die Grundlagen ihres Daseins und so­mit das Dasein, des Dorfes überhaupt. Es be­traf die fruchtbare und immer feuchte und wür­zige Waldweide, die einzige in weiter Runde, die Oase gleichsam in unendlicher Moor  und Heidewüste, den Trost aller milchbedürftigen Kinder und Geschöpfe in dürren Sommern.

Zwar galten die Gerechtsame dieser Wald­hütung auch für das Nachbardorf, aber Ge­wohnheit und das heilige Gesetz der größeren Zahl hatten seit undenklichen Zeiten diesen Platz für Michaels Dorf allein bestimmt, und wiewohl Streitgespräche und Schlachten an die­ser heiligen Ordnung mehrmals zu rütteln ver­sucht hatten, so war das Dorf doch immer Sie­ger geblieben, und in seiner Geschichte war der Waldgrund mit keinem geringeren Glanz erfüllt als die trojanische Ebene oder die kata­launischen Felder in der Geschichte großer und dahingesunkener Völker.

Auf diesem geheiligten und gleichsam blut­gedüngten Boden nun erschien eines Morgens der junge Hirt des Nachbardorfes, ein langer, pockennarbiger Geselle, mit eng zusammen­stehenden Augen, der "Laban" genannt wurde, womit in jener Landschaft aus unbekannten Gründen ein hochaufgeschossener und in seinen Gelenken noch nicht gefestigter Mensch be­zeichnet wurde. Er erschien in einem Gewand, das wie zerfallende Borke aussah, hatte einen Stab mit Kettenringen in der Hand, die man, entgegen dem Gesetz, auf widerspenstige Kühe schleudern konnte, und war Herr über einen grauen Hund mit einem Auge und über eine Herde, in der Zusammensetzung der Michaels ähnlich, wiewohl ohne einen Stier mit dem Namen eines Reichskanzlers und ohne jeden Anspruch auf Schönheit, Wohlgenährtheit oder Adel der Rasse.

Laban also erschien ohne Ankündigung oder Verhandlung plötzlich am Rande des Waldes, vor seiner Herde, was allein schon ein Zeichen unedler Gesinnung war, die Hände in den Taschen, den Kettenstock an seinen mageren Körper gedrückt, einen Grashalm im Munde. Es traf sich so, daß Michael gerade im Begriff war, aus dem Wipfel einer Fichte abwärts zu steigen, wo er geprüft hatte, ob der vorjährige Horst eines Hühnerhabichts wieder bewohnt sei, und daß er somit unbewaffnet war. Er er­kannte erst aus Wotans Knurren die Nähe einer Gefahr, schob einen Ast zur Seite und blickte aus der Höhe in das emporgerichtete Gesicht des alttestamentlichen Namensträgers hinab, dessen Urvater mit allen bedenklichen Charaktereigenschaften ihm aus der Geschichte der Erzväter wohl vertraut war.

Selbst für Christoph, den König des Dorfes, würde es schwer gewesen sein, so zwischen Himmel und Erde das Passende an Wort oder Tat zu finden, auch wenn das Schicksal ihn durch einen goldenen Zahn über alles Volk erhoben hatte. Für Michael aber, "einer Witwe Sohn", durch nichts ausgezeichnet als durch Ju­gend und frühe Berufung, ergab sich kein andrer Vorteil als das Recht der Geschichte und die räumliche Erhabenheit seines Stand­punktes. Auch übersah er ohne Schwanken die Folgen dieser Begegnung und erkannte mit früher Verantwortung, daß für sein Dorf nur in der besten Rüstung gekämpft werden dürfe, daß somit Zeit gewonnen werden müsse, weil ja, nach seiner früher geäußerten Meinung, der "Geist Gottes" nicht ganz ausreichen würde, um die Geschichte dieses Schlachtfeldes siegreich weiterzuschreiben.

Stieg also ruhig am Stamm der Fichte her­unter, rief Wotan herbei, nahm die Haselnuß­schleuder aus dem verfallenen Rüsselkäfer­graben, sah Laban an und fragte schon im Fort­gehen: „Du willst es also darauf ankommen lassen?" Und als dieser, den Grashalm hörbar ausspeiend, nur verächtlich grinste, als erübrige sich jede Antwort auf eine so dumme Frage, ja als sei es der Würde eines labanlang1 aufge­wachsenen Hirten überhaupt unangemessen, mit einem Nebenbuhler dieser Beschaffenheit anders als durch Zeichen zu sprechen, sah Mi­chael ihm furchtlos prüfend zwischen die engen Augen, sagte leise: "Also morgen früh ... und vergiß nicht, noch einmal zu deinem Pfarrer zu gehn!" und wandte sich dann zu seiner Herde, die er langsam in den Wald hineintrieb, als wolle er vor der feierlichen Entscheidung kei­nen Teil an seinem Gegner haben.

Dieser, im Geistigen nicht ganz seiner Kör­perlänge entsprechend gewachsen, blieb etwas verblüfft zurück, gleichermaßen von der Ruhe seines Feindes wie von dessen seltsamen Ab­schiedsworten betroffen, und begnügte sich da­mit, seine Herde den Tag über am Rande des Waldes zu weiden, wobei er vergeblich zu ent­rätseln versuchte, was der Hinweis auf den Pfarrer zu bedeuten habe.

Indessen verbrachte Michael den Tag in der Tiefe des Waldes an einer Kiesgrube, aus der er eine Menge glatter und runder Steine sorg­fältig auslas und in seiner Hosentasche sam­melte. Und nachdem er viele Male mit seiner Haselnußschleuder, die Entfernung immer wechselnd, den hellen Fleck einer Buche muster­gültig getroffen hatte, zwischen zwei dunkle, eng beieinanderstehende Astnarben hinein, kehrte er am Abend mit unverändertem Ge­sicht in das Dorf zurück, lieferte jedes Stück seiner Herde an dem vorgeschriebenen Hoftor ab, zuletzt den Reichskanzler mit seiner un­mittelbar ergebenen Schar, saß wie sonst schnit­zend auf der abendlichen Schwelle und hob nur einmal den Kopf, um seine Mutter zu fragen, ob es wahr sei, daß, wer Menschenblut vergieße, auch sein eigenes Blut vergießen müsse.

Natürlich schrie die Mutter auf, wie Dorf­frauen aufzuschreien pflegen, leise und hoch wie ein Huhn unter dem Habicht, aber ihre entsetzte Frage wurde von Michael abgeschnit­ten, indem er weiter fragte, ob dies Gesetz denn auch für den Krieg gelte? Und dies konnte die Mutter beruhigt verneinen und auch die lange Geschichte von den gefangenen Franzosen daran knüpfen, die zu Kaiser Wilhelms des Großen Zeiten die Brücke über das Fließ gebaut hätten und die zu ihr als einem flinken und aufgeweckten Kinde "Chérie" gesagt hätten, wovon der Krüger in der Lagerkantine, als ein böser und spottlustiger Mann, behaup­tet habe, daß es eine Weinsorte bedeute.

Aber Michael lächelte nur zerstreut, ließ die Fallentür, an der er arbeitete, prüfend zuschlagen und ging dann noch einmal zu den Wiesen hin­unter, wo er drei Maulwürfe fing, die er, schon im Dunklen, dem Hund als Kriegsnahrung in die Hütte trug. Damit meinte er, an diesem Tage alles vor dem Gott des Krieges Notwen­dige getan zu haben und schlief ein wie sonst, die Hände über der Brust gefaltet, indes seine Mutter noch Kräuter über dem Herde kochte, als rüste auch sie, wie eine Mutter lang ver­schollener Zeiten, das Ihrige für den kommen­den Tag.

Tau lag auf den Gräsern, und die frühe Sonne stand noch tief und rot über dem Moor, als die Herden und ihre Führer am Rande des Waldes aufeinander stießen. Laban trug keinen Grashalm mehr zwischen den Lippen, und auch seine Sorgen wegen des Pfarrers schienen ver­gangen zu sein, aber seine Kriegserfahrung reichte nicht aus, um zu bemerken, daß Mi­chael ihm zunächst die Sonne abgewann, um von ihr nicht geblendet zu werden. In dumpfer Kenntnis primitiver Kriegsführung versuchte er, mit homerischen Streitgesprächen die Feind­seligkeiten zu eröffnen, indem er fragte, ob dieser Sohn einer Hure die Absicht habe und bereit sei, an seinem steifen Arm zu verhun­gern? Und obwohl Michael die Bedeutung des Schimpfwortes nicht verstand, fühlte er doch, daß seine Mutter hier auf eine unedle Weise von unedlen Lippen geschmäht wurde, und ohne ein Wort der Entgegnung hob er die Schleuder und traf die vorderste Kuh aus La­bans Herde so hart in die Flanke, daß sie mit dumpfem Gebrüll in die Höhe sprang und durch die bestürzte Herde den vertrauten und offenen Raum der Heide gewann.

Bei diesem unvermuteten Angriff verlor Laban den Faden seines mühsam erbrüteten Schlachtplanes, hob den Stock und schleuderte mit einem Fluch die Kettenringe gegen die Brust des Gegners. Und noch während Michael auswich, hetzte er mit einem kurzen Wort den einäugigen Hund, die Waffe wiederzuholen, indes er eine zweite Eisenschleuder aus der Hosentasche holte und sie auf den Stock streifte.

Im nächsten Augenblick rannte Wotan den Einäugigen aus der Flanke über den Haufen, und während Laban, von neuem aus der Bahn seiner Pläne geworfen, vorwärtsstürzte, um den ebenerdigen Kampf zu seinen Gunsten zu beenden, traf ihn der runde Stein aus Michaels Schleuder so genau und verderblich gegen das rechte Schienbein, daß er, wie abgeschnitten im Lauf, vornübersturzte und mit einem unge­heuerlichen Fluch seinen Mund mit Erde er­füllte.

Michael hat später nur widerwillig von dieser Schlacht auf den katalaunischen Feldern ge­sprochen, und seine Erzählung hat sich auf die nüchterne Wiedergabe der einzelnen Hand­lungen beschränkt. Niemals aber hat er, auch nicht vor seiner Mutter, bekannt, daß in diesem Augenblick, ohne sein Zutun, das Bild des ge­stürzten Baumes vor ihm aufgestanden sei, der die beiden Männer begraben hatte, von denen einer sein Vater gewesen war. Und daß dieses Bild, so wenig einer der Männer dem eben ge­fällten Hirten geglichen habe, ihn mit aller Kraft desjenigen erfüllte, vor dem ein unver­gängliches Bild seines Vaters leuchte, und daß somit, ohne sein Wissen, das Wort des Schul­zensohnes hier unter den hohen Kiefern eine unwiderstehliche Wahrheit gewonnen habe: daß es auf den Geist Gottes ankomme, der einen Streiter erfülle oder nicht erfülle.

Denn nun, als der Einäugige bereits hinkend und winselnd das Schlachtfeld verlassen hat und der unrühmlich Gestürzte sich langsam in die Knie hebt, mit der linken Hand in das Moos gestützt, indes die Rechte aus dem zerknitter­ten Stiefelschaft ein Messer zieht, trifft der zweite Stein, von ganz ruhiger Hand geschleu­dert, ihn zwischen die eng zusammenstehenden und nun böse veränderten Augen, schleudert ein Flammenmeer vor ihnen auf und beendet auf eine unwiderlegliche Weise die Schlacht, indem er den Getroffenen sanft auf die Seite legt und Bäume und Himmel vor ihm in einen dunklen Abgrund versinken läßt, während, mit unheimlicher Schnelligkeit wachsend, ein sich färbendes Mal zwischen den geschlossenen Augen erscheint, ohne viel Blut zu Michaels Beruhigung, aber in seiner Form und Größe unzweifelhaft beweisend, daß dieser Träger eines alttestamentlichen Namens für geraume Zeit aus der Reihe kämpfender und fremde Weidegründe begehrender Männer ausgeschie­den sein wird.

Eine schöne Beute, die Michael in den Hän­den hält. Eine blitzende, scharfe, feststehende Klinge, ein glatter Hirschhorngriff, eine blanke, kurze Querstange. Eine königliche Waffe für jemanden, der gewohnt ist, eine abgebrochene Sichel zu einem kümmerlichen Messer zurecht­zuschleifen.

Und nun zuerst die fremde Herde, die mit Wotans Hilfe und der Haselnußschleuder in alle Winde zersprengt wird, nachdem es mühsam gelungen ist, den Reichskanzler wieder in den Wald zu bringen, der das Seine zum Triumph beigetragen hat, indem er finster schweigend versucht hat, Entehrung und Ge­walttat in das fremde Volk zu tragen.

Und dann einen Flechtkorb mit kühlem Grabenwasser über die Augen des Betäubten, eine Bewegung mit der Schleuder nach den ihm zustehenden Weidegründen und die hinkende, schwankende Spur eines Geschlagenen, die sich dunkel durch das betaute Gras aus dem Walde zieht.

Und dann das weithin hallende Lied des Rinderhornes, in alle vier Winde herrlich ge­sendet, ohne erlernte Melodie, ohne darunter­liegende Worte eines in der Schule erlernten Liedes, aber nicht müder im Rhythmus als die Siegeslieder aller Zeiten, nicht geringer in der Seligkeit des sich darunter weitenden Herzens als der Jubel und Glanz jener Psalmen, die in verschollenen Zeiten, am Rande versunkener Wüsten aus Herzen aufgestiegen waren, über denen, in Tagen der Kindheit, kein anderes Kleid geruht hatte als das Michaels, das dürf­tige, sonnen  und regengebleichte Kleid eines Hirten.

Das Echo steht in allen Waldgründen auf, Hörner, die Klang auf Klang einander zuwer­fen, über Birkentäler und Fichtenwände hin­weg, und wie ein feierlich Berauschter steht Michael auf seinem Hügel, schon nicht mehr Herr seiner Klänge, die Hände mit dem Horn in die rote Sonne gehoben, indes eine erste Woge großen und unbekannten Lebens ihn hoch hinaushebt über seine enge Dürftigkeit und durch fremde, unverständliche Tränen das Bild des Waldes vor seinen Augen ver­schwimmt, ein grünes, gestaltloses Meer, über dem eine herrliche Sonne steht und der brau­sende Glanz des ersten Siegerliedes.

Erst acht Tage später erfuhr das Dorf von dem neuen Blatt in seiner Geschichte, und es erfuhr es nicht durch Michael, sondern durch Labans Vater, der um die Abendzeit, etwas unsicheren Ganges, bei König Christoph vor­sprach und nach wortreicher Einleitung die Rückgabe des Messers und ein angemessenes Schmerzensgeld für die Beule forderte, die groß sei wie ein Gänseei und blau wie ein Lupinen­feld. Acht Abende habe er seinen Leibriemen benutzen müssen, um die Wahrheit aus seinem Sohn herauszuprügeln, und wenn die Hochach­tung vor Herrn Christoph ihn nicht verhin­derte, so würde er auch für die Abnutzung des Riemens etwas Angemessenes fordern müssen, einen Scheffel Roggen etwa, oder mindestens doch ein junges Lamm, auch wenn es vielleicht nur eines mit fünf Füßen sei.

König Christoph, wiewohl aufs äußerste be­stürzt und gleichzeitig beseligt durch diese wort­reiche und schnapsduftende Klage des Abgesandten eines geschlagenen Volkes, verzog die Unterlippe, um das Symbol seiner Macht leise glänzen zu lassen, und schickte dann, ohne den Seufzenden vorerst einer Antwort zu würdi­gen, seinen Altesten hinaus, damit er Michael hole, dessen abendlicher Hornruf schon auf der Dorfstraße erscholl.

"Michael", sagte König Christoph ernst und gemessen, dieser Mann, Vater eines gewissen Laban, ist gekommen, um zu behaupten, daß du seinen Sohn böswillig überfallen und halb­tot geschlagen hast, ihm auch ein Messer mit fester Klinge entwendet hast. Der Sohn Laban, behauptet er, habe eine Beule auf der Stirn, groß wie ein Gänseei und blau wie ein Lupinen­feld ... wenn ich auch nicht weiß, ob die Be­wohner jenes Dorfes jemals in ihrem Leben eine Gans oder ein Lupinenfeld gesehen haben. Da doch jedermann weiß, daß jenes Dorf, sagen wir, ein nicht sehr wohlhabendes Dorf ist."

Hier versuchte der Wergeldforderer2] einen schwächlichen Einwurf, wurde aber durch eine Handbewegung Christophs zum Schweigen gebracht.

Als sich aus Michaels kurzem, fast wider­willigem Bericht der Tatbestand in aller Klar­heit ergeben hatte, erhob sich der Schulze mit nunmehr leuchtenden Augen. "Wir haben", sagte er feierlich, "durch Gottes Weisheit zweierlei zugeteilt bekommen, damit die Landschaft nicht übermütig werde: einen Schulzen, der sich sehen lassen kann, und einen Stier mit Namen Bismarck. Wir haben nun ein Drittes dazubekommen, einen Hirten, der nach dem Willen Gottes aufgestellt ist gegen alle Kana­aniter! Wir hoffen, daß dazu nichts weiter zu sagen ist!"

Und mit einer großartigen Handbewegung wies König Christoph auf die Tür, durch die der Labanvater wortlos und den grauen Kopf verzagt schüttelnd hinausschlich.

Von diesem Tage an war Michael ein Held, wie ja in der Geschichte vieler Völker das Heldentum oft erst mit einer Beule beginnt, die auf der Stirn des Feindes anschwillt, wäh­rend die Geschichte nichts von alledem zu sagen weiß, was dieser Beule vorangegangen ist oder abseits von solchen Taten in der Brust ihrer Söhne aufsteigt und milde leuchtet.

Es war nicht so, daß Michael nun etwa aus der Hand des Schulzen eine Krone empfing oder daß die Frauen des Dorfes sich zusam­mentaten, um einen Purpurmantel3 für ihn zu nähen. Und die Jugend des Dorfes, so sehr sie diesen Sieg als einen Sieg ihrer aller leuchtend empfand, war doch in den Gewohnheiten der großen Welt so unbekannt, daß sie nicht ein­mal auf den Gedanken verfiel, ihrem Helden einen Fackelzug zu bringen, womit ja sonst auf eine schöne und leuchtende Weise junge Herzen ihren Dank abzustatten pflegen. Und selbst der Vorschlag des Schulzensohnes, ihren Führer fortan "David" zu nennen, verlor nach anfäng­licher Begeisterung der Zustimmung seinen be­stechenden Glanz, weil ihnen rechtzeitig ein­fiel, daß auch der Hausierer der Landschaft so hieß, der mit Hosenträgern, Glasperlen und Zopfschleifen von Dorf zu Dorf wanderte, der auf dem linken Bein leider unverkennbar hinkte und nach seiner gesamten, durch den "Bauchladen" mitverschuldeten Haltung und Gestalt nicht so aussah, als würde er einen Kampf gegen Goliath oder auch nur Laban siegreich und heldenhaft bestehen.

Es blieb also im Äußerlichen, wie es gewesen war, und nur dieses kam häufiger vor, daß mitunter eine der Dorffrauen Michael über das helle Haar strich, wenn er ihre Kuh oder Ziege am Hoftor ablieferte, und daß mitunter einer der Männer, am Gartenzaun lehnend, ihn fragte, was er zum Wetter meine, und zu Mi­chaels Antwort dann nachdenklich nickte, wobei er dann noch prüfend in die Abendwolken blickte.

Der Gefragte aber ging mit seinem stillen Gesicht weiter, die bloßen Füße im Staub der Straße, das Rinderhorn über der Schulter, die Schleuder in der braunen Hand. Es entging ihm nicht, was an Achtung, Zuneigung und Liebe ihm dargebracht wurde, aber seine Wünsche waren gering an Zahl und Bedeutung, und es half ihm wohl in dieser nicht ungefährlichen Zeit, daß er an jedem Morgen seine Herde an der Lichtung vorübertrieb, auf der er als Kind gesessen hatte, neben zwei sehr stillen Män­nern, von denen der eine den Mund voll Erde und der andere so stille Augen gehabt hatte, daß er mit einem Lindenzweig ihre Wehrlosig­keit hatte beschützen müssen.

Es war nun nichts mehr davon zu sehen. Weidenrosen schlugen über dem braunen Fich­tenstumpf zusammen, neues Gras war über der Spur des Sturzes gewachsen, und nur der Pirol, verborgen im hohen Geäst, ließ noch immer sein goldenes Lied über die Zweige fallen, das nach dem Paradiese suchte, aber es niemals fand. Vor Michaels Augen aber hob sich das Vergangene an jedem Morgen von neuem auf, ohne Trauer oder Angst, aber mit einer be­wahrenden Feierlichkeit und Mahnung, als werde es ihm für immer verwehrt sein, allzu laut auf dieser Erde zu sein, die ihm am Beginn seiner Tage so viel Stilles gezeigt hatte.

Nur eines gewann er aus seiner ersten Men­schenschlacht auf eine ihn tief beglückende Weise: die Freundschaft derjenigen seines Alters, die nach Geburt, Stand und Besitz sich hoch und fast unerreichbar über seine Demut erhoben, obwohl sie in Lebensart, Tätigkeit, Neigung und Abneigung nicht viel von ihm unterschieden waren. Die Gesetze des Dorfes und der Landschaft, so wenig sie auch berührt sein mochten von dem Lauf der großen Welt und ihren Maßstäben der Erhöhung und Er­niedrigung, hafteten doch, wenn auch unge­schrieben, an Besitz und Macht, ja auch an dem, was das Volk unter Bildung und Vornehmheit zu verstehen meinte. Und wiewohl Christoph, der Sohn des Schulzen, und die beiden Förster­söhne und Adam, der Sohn des Gutsherrn, nie­mals verschmäht hatten, ihre Nachmittage bei Michael zu verbringen, gelehrige und dankbare Schüler in der Wissenschaft des Horstausneh­mens, des Kreuzotterfanges oder der Krebs­jagd, so würden sie doch niemals auf den Ge­danken verfallen sein, ihren jungen Lehrmeister gleichsam aus der freien Wildbahn in das ge­schützte Gehege ihres eigenen Lebensraumes zu holen, ihm die Geheimnisse ihrer elterlichen Gärten oder Stuben zu zeigen, und auf den Sonntag ihres Lebens zu übertragen, was ihrem Alltag selbstverständlich war.


Nun aber, nach dem Glanz dieses Sieges, und mehr noch nach der stillen Würde, mit der Michael aus diesem Sieg hervorgegangen war, verlor das gemeinsame Leben der "Großen" der Landschaft mit ihrem niedrigsten Diener auch das Bedrückende einer heimlich geduldeten Herablassung, und wiewohl Michael nicht etwa zu einer festlichen Abendtafel im Gutshaus hinzugezogen wurde, was bei dem Zustand seines Hirtenrockes und jeglichem Mangel an passender Fußbekleidung auch seine Schwierigkeiten gehabt haben würde, so kam es doch vor, daß Adam mit sehr leuchtenden Augen einen "Gruß" von seinen Eltern ausrichten konnte, daß Friedrich und Wilhelm, die Förstersöhne, eine alte lederne Jagdtasche als "Ehrengabe" ihres Vaters überreichten, und daß selbst Chri­stoph, als ein noch ungekrönter Kronprinz und somit der Eifersucht, am ehesten ausgesetzt, eine lächelnde Bemerkung über den dörflichen Goldzahn machen konnte, aus der sich ergab, daß er die Entschlossenheit und Gewandtheit einer kleinen, braunen und niedriggeborenen Faust für größer hielt als die Beredsamkeit eines leuchtenden Mundes und den Besitz eines Stieres mit historischem Namen.


Auch aus dieser Erhöhung eines Niedrig­geborenen erwuchs für den so Beglückten kein Zwiespalt seines stillen Lebens. Es kam vor, je weiter sich Sommer an Sommer schloß, daß er still bei seinen Freunden sitzen und der frühen Weisheit ihrer höheren Schulen lauschen mußte, zu der sie großartige Beschreibungen städtischen Lebens in unschuldiger Prahlerei zu fügen wußten. Und wiewohl mitunter ein wehmütiger Sprung durch den beschatteten Spiegel seines Daseins laufen wollte, so schob er dies doch mit einer Handbewegung zur Seite, sah in die veränderten Augen seiner Freunde und sagte dann lächelnd, daß ein Professor wohl ein großes Tier sein möge und sicherlich auch nützlich für das Bestehen der großen Welt, aber daß es wohl ein Spaß sein würde, ihn zum Beispiel vor "Bismarck" zu stellen, wenn es diesem einfiele, die Erde auf die Hörner zu nehmen, und ihm dann zu übertragen, ihn wie­der in seinen dunklen Stall zu leiten. "Es muß wohl Professoren geben", schloß er dann, "aber es muß wohl auch Hirten geben, und es müßte traurig auf einer Erde sein, die keine Hirten mehr brauchte ... Ja, ich glaube, das müßte sehr traurig sein . . ."

Und dazu nickten die anderen dann ohne Widerspruch, und wenn man ihnen angeboten hätte, mit Michael zu tauschen, so würde keiner auch nur einen Augenblick gezaudert haben und bunte Schlipse, Mädchen und die Kenntnis lateinischer Oden mit verächtlichem Lächeln für die Kunst hingegeben haben, den Stein schleudern zu können wie Michael oder das Rinderhorn so in den Abendhimmel zu heben, daß selbst die Wolken vor den Klängen zu erglühen schienen, die sich vom Moor­rand aufhoben über die selig widerhallende Welt.

Und diese vier Großen der Landschaft wur­den allein auch von Michael für würdig befun­den, teilzunehmen an dem, was außerhalb seines täglichen Berufes lag und was ein paarmal im Laufe des Sommers als ein hohes Fest sein stren­ges Leben unterbrach: am nächtlichen Hüten der Pferde. Zwar hatte ein Dorf mit drei

Höfen und zwei Kätnerstellen nicht gerade das aufzuweisen, was Adam als einen Traum vor seiner schwerfällig glühenden Seele sah, eine Herde wilder und stolzer Mustangs, mit einem Rappen etwa, gegen den der Winnetous4 nur ein unbeholfener und zurückgebliebener Bruder gewesen wäre. Das Dorf besaß nicht einmal ein Kutschpferd, ungewohnt aller ländlichen Fron­arbeit, aber doch waren es fünfzehn Pferde und Fohlen, die auf dem Schulzenhof versam­melt waren, und über ihren glänzenden und warmen Leibern lag nicht der kümmerlich ein­geengte Duft eines Moordorfes, sondern der große und wilde Geruch endloser Prärien, und wenn sie die Köpfe hoben und die zart geäder­ten Ohren aufstellten und die feuchten Nüstern über den Abendrauch der Höfe hinaus in die Ferne witterten, so war das nicht die Ferne der nahen Seeufer oder der kühlen Waldrän­der, sondern die Ferne eines Erdteils, über dem eine blutrote Sonne unsäglich einsam versank und an dessen Rand die großen Taten der Hel­den standen, und der Glanz des Ruhmes, und der bleiche Schein einsamen und unvergäng­lichen Todes.

Um die Nachmittagszeit ist Christoph, der Kronprinz, auf sein Scheunendach gestiegen und hat mit einem weißen Säelaken)*solange gewinkt, bis ihm Antwort vom Turm des Guts­hauses und vom Dach der Försterei gekommen ist. Es ist ein lang verabredetes Zeichen, und nun, um die Abendzeit, indes die Welt nach Heu und Flieder duftet, stehen sie alle auf dem Schulzenhof, jeder mit einer Schleuder aus Haselnußholz, mit einem Bogen und Pfeilen, die eine eingeschmolzene Eisenspitze haben, und mit einer geschärften Holzlanze im Arm. Die Förstersöhne, als die dem Beruf der Krieger und Waldläufer am nächsten Stehenden, haben ein Besonderes an Ausrüstung, woran die Au­gen des Dorfes bewundernd hängen: eine grüne Botanisiertrommel mit aufgemalten Feuernel­ken und ein Tesching von sechs Millimeter Kaliber, für Kugel  und Schrotschuß, ein Wun­der der Technik des Abendlandes, bei dem man an gefällte Büffel, an stürzende Krähenfußindianer, an knirschend sterbende Labans aller Welten denken muß.

Sie stehen neben den Pferden, unbeweglich, mit Gesichtern wie vor der Schlacht bei Mars­la Tour. Bis Michael kommt. Er kommt barfuß wie immer, behutsam, ernst und still. Er hat kein Gewehr, keinen Bogen, keine Lanze. Er hat nur seinen Hirtenrock über dem Arm und die Schleuder in der Hand. Er sieht seine Freunde an, mit einem leisen Lächeln, das selt­sam alt und gütig um seine jungen Lippen steht. Und dann legt er die linke Hand in die Mähne seines Pferdes und sagt leise: "Auf!"

Michael hat die Spitze mit drei Pferden, dann kommen die anderen. Sie haben einen Trensen­zügel und weder Woilach ***) noch Sattel. Die Foh­len folgen wie Kälber hinter ihnen. Es wird auf Vordermann geritten, die Lanzenspitze neben dem rechten Pferdeohr. "Mein Gott ...", sagt die Schulzenfrau leise, "wie sie reiten..." Und es klingt, als sei das Ganze traurig und gefährlich und groß. Aber die jungen Gesichter blicken über diese Stimme hinweg, über Menschen und Dächer, in eine unendliche, schwei­gend wartende Ferne.

Hinter der letzten Kate hebt Michael die Hand, und sie traben. Rötlich noch steht der Staub über ihnen. Der Fischadler zieht heim, unter bestrahlten Wolken, und Nebel steigen über dem Erlenfließ. Weit ist das Land, die Wiesen, der ferne Wald. Der Geruch der Pferde, streng und süß, geht wie eine Wolke mit ihnen, hebt sie auf, berauscht sie, als ob sie nun fliegen müßten. Und als auf der Höhe, unter der blitz­getroffenen Eiche, Michael sich endlich umdreht, steigt ein einziger, wortloser, herrlicher Schrei über sie alle empor, und im Galopp brausen sie nun abwärts, durch Heide und Moor, durch Nebel und Gesträuch, abwärts zu der warmen Feuchte der Ufer, überspringen den Otter­graben, schlagen einen letzten Kreis, ziehen die Zügel an, sind da.

Es könnte wohl sein, daß sie in diesem Augen­blick zu sterben bereit wären, für Michael, für seine Pferde, für das Dorf, für ihr Land. Aber da es noch an einem Anlaß fehlt, so koppeln sie vorläufig die Pferde und stecken die Lanzen im Kreis um den Eingang der Rohrhütte. Dann sammeln sie Holz und türmen es inmitten der Wiese zu einem großen Berg.

Und dann beginnt die Nacht.

Die Wiese gehört dem ganzen Dorf. Sie liegt am See und springt von den Schilfrändern wie ein Pfeil in die Wälder hinein. Das Gras ist warm, und Spinnen laufen über die Halme. Ungeheuer steht der Wald hinter ihnen, und in seinem vorjährigen Laub beginnt es sich leise zu rühren zur Nacht. Unter den Erlen zieht das schwarze Wasser des Fließes dahin, und der erste Reiher fällt mit seinem heiseren Ruf in das Schilf. Nebel steht um die Füße der Pferde, und ihre Körper sind riesengroß über den weißen Tüchern.

Michael stopft seine kleine Holzpfeife mit getrocknetem Klee. Er liegt auf den rechten Ellbogen gestützt und raucht. „Heute könnte er kommen ... ", sagt er ernst. "Wer?" rufen sie leise, und Adam greift nach seinem Lanzen­schaft. "Der Moorwolf", erwidert Michael ruhig und sieht sie langsam der Reihe nach an. "Der Schwarzspecht hat gerufen und eine Elster flog über meinen Weg."

Voll von Geschichten ist seine Seele. Der Wald brütet sie aus, die Einsamkeit, das Schwei­gen. Er braucht keine lateinischen Oden zu ler­nen, aber es gehen Wochen dahin, in denen der Regen auf die Wälder rauscht, indes er unter einer Schirmfichte liegt, in seinen Hirtenrock gehüllt, und den Stimmen der Tiefe lauscht. Und Gewitter stehen hinter den Kronen auf, lautlos geboren hinter dem Moor, und Nebel hängen über dem Erlenwald, und unsichtbare Vögel rufen aus der Höhe, und alles fällt in seine einsame Seele, der niemand hilft, die ganz allein ist, mit Bismarck und Wotan und der Herde und einer schmalen Schleuder aus Hasel­nußholz.

Der Abendstern steht über den Fichten, aber er ist kalt und sehr fern. Und sie wissen nicht, ob er zu ihren Häusern gehen und um Hilfe rufen wird, wenn die Stunde da ist. "Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes muß man rufen!", flüstert, Adam. Adam ist reicher Leute Kind, aber er ist schweren Geistes. Seine Augen sind viel zu groß für sein kleines Gesicht, und seine Mutter muß alljähr­lich in ein stilles Haus an den Bergen fahren, wo viele blasse Menschen leben und wo ein Mann in einem weißen Mantel mit Liebe und Geduld versucht, sie zum Lächeln, zu Gesprä­chen und zu etwas Arbeit zu bewegen.

Michael sieht ihn gedankenvoll an. Er kennt die zarte und blasse Frau, die Adam geboren hat, und er hat so viel Sorgen um ihn wie um ein junges Lamm, das vor den Nachtfrösten geboren wird. „In seine Augen muß man sehen", sagt er ruhig, „wenn er kommt, und den Stein hineinschleudern zwischen sie!"

Ob man nicht Feuer machen sollte, fragt Adam leise. Aber Michael schüttelt den Kopf. Ein Ast bricht im Walde, und Friedrich, so schweigsam wie sein Bruder, schiebt eine Pa­trone in den Lauf seines Teschings. Aber es scheint, als sei seine Hand nicht ganz sicher. "Ein Reh", sagt Michael. „Auch im Kriege ist es nicht anders in der Nacht ... "

Und mit diesem Wort richtet er sie wieder auf. Der Wald ist wieder warm und schön, die Pferde rupfen sorglos das Gras, der Stern ist hell wie über einem Abendgebet. Hinter dem See steht ein Licht auf und schwebt allein im dunklen Raum. Sie streiten, ob es bei Mi­chaels Mutter sei oder in Christophs Hof. In der vorigen Nacht hat Christoph ein Licht ge­sehen auf dem Moor. Es ging vor sich hin, blieb stehen, ging weiter. Ein müder Schein, der plötzlich ertrank. "Meine Mutter brennt kein Licht", sagt Michael. "Licht gibt es nur im Winter."

An nichts anderem würden sie verstehen wie an diesem, daß er arm ist. Dann packen sie aus und beginnen zu essen. Eine große Flasche mit Kaffee geht von Hand zu Hand. Christoph hat sie mitgebracht, und Michael ist der erste, dem er sie reicht.

Nun ist die ganze Welt weiß, und die Erlen stehen wie Türme über dem milchigen Glanz. "Alles ist im Nebel, sagt Adam. "Die Lehrer, wenn sie hier sein möchten, wie Häuser würden sie sein. . ." Ja, die Lehrer und die Oden, was würden sie bedeuten in dieser wilden Welt! "Nirgends steht in der Bibel", sagt Christoph, "daß Gott die Lehrer geschaffen hat. Bloß Sonne und Mond und alle Tiere und alle Pflan­zen, und zuletzt Adam und Eva. . . " Christoph hat einen großen aber schweren Kopf und er liebt die Lehrer nicht.

Der erste Kauz erwacht und ruft im Eich­baum hinter ihnen. Man sieht nur die Schwärze des Waldes, und so ist es, als ob die Schwärze rufe. Ob es wahr sei, daß er anmelde, fragt Adam. Aber sie antworten nicht. Es ist schwer zu wissen, ob die Lehrer recht haben oder Mi­chaels Mutter, die abends auf ihrer Schwelle sitzt und Geschichten erzählt.

Nur Christoph sieht sich unruhig um. "Solch eine Nacht war", sagt er, "als Heinrich wieder­kam. Sie hatten ihn durch das Bein geschossen, beim Wilddieben, und er kam aus dem Lazarett oder aus dem Gefängnis. Auch damals hat es gerufen. Der Braune war krank und ich mußte auf der Stallschwelle sitzen. Ganz klein war ich noch. Da hörte ich, wie es kam. Es knarrte bei jedem Schritt, und darüber war etwas Dunkles, als ob ein Pferd über das Moor geht. Und dann kam Heinrich, auf Krücken, und sein rechtes Bein war ab. Keiner hatte es ge­wußt, denn er hatte es nicht geschrieben. Die Pappschachtel hatte er auf den Rücken gebun­den ... die ganze Nacht haben sie geweint, und auch damals rief der Kauz ... "

Sie schweigen, und ungeheuer ist die Stille der Nacht. Der Große Bär flammt über den Wäldern, und immer neue Sterne steigen laut­los aus den Wipfeln. "Jetzt haben sie Tag in Neu Seeland", sagt Wilhelm, und noch größer wird die Welt nach seinem Wort. Wieder bricht ein Zweig hinter der Wiese, und Mi­chael steht auf. "Wollen Feuer machen", sagt er kurz.

In dem roten Kreis ist alles nahe und leben­dig und warm. Ein Pferd taucht aus dem Nebel, sieht lange mit glänzenden Augen auf sie und geht wieder in das Dunkel zurück. In der hei­ßen Asche rösten sie Kartoffeln, und sie sprechen vom Herbst, der kommen wird, und daß sie nun wieder auf die hohen Schulen sollen. Und wie Heinrich sich am Balken erhängte, auf dem Speicher, weil er nicht mehr pflügen konnte mit einem Bein. Und wie der "Soldat" die Axt an die Schulter legte und schoß, und wie sie das Land verteidigen würden, wenn die Polen kä­men, und wie der Mann ohne Kopf am Graben stand.

Und dann kommt es wirklich durch den Wald, ein schwerer Schritt, der die Zweige bricht, und sie stehen da, die Schleudern und die Lanzen in der Faust. Aber dann ist es der alte Torf­johann, der ein bißchen Torf sticht und ein bißchen bettelt und ein bißchen trinkt und nun nach Hause stolpert. "Ach, ihr Teufel . . .", stöhnt er und sucht sich den wärmsten Platz. "Ein Feuer haben sie wie die Herren ... Ja ..." Sein Gesicht ist wild und traurig, und seine Au­gen tränen von dem Feuerschein. Er bekommt Kartoffeln und Brot. Den Kaffee will er nicht, aber eine Pfeife raucht er mit Michaels Stein­klee. Er spricht nicht viel, und es ist immer, als stehe ein großer Raum um ihn, ein großes Schicksal, fremd für ihren Kindersinn. "Ja", sagt er, "weit ist die Welt ... sehr weit ... eine Brücke werde ich bauen über das Moor und hineingehen auf ihr ins Paradies..."

Er faltet die grauen Hände um die Knie und sieht über sie hinweg. „Wie die Blindschleichen leben sie im Dorf", sagt er verächtlich, „und auch ihr werdet so leben, ihr Teufel . . ." Sie fragen nichts, denn sie fürchten ihn. Böses wird von ihm erzählt, und in den Ohren trägt er silberne Ringe. Nur Michael sieht ihn ruhig an. "Geh nun, Johann", sagt er, "wir wollen schlafen."

Und gehorsam steht er auf. "Weit ist die Welt", wiederholt er, "und am Torfbruch, da wartet einer auf mich. . ." Sein Schatten bricht durch den roten Kreis, richtet sich auf an der Nebelwand und zerfließt. Wieder brechen die Zweige im Wald.

Die Wiesenschnarre ruft hinter dem Dorf, und sie wickeln sich in ihre Decken. Nur Michael bleibt sitzen, den Blick ins Feuer gesenkt. Vieles geht in seiner Seele um, und bevor die Augen ihnen zufallen, sehen sie seine helle Stirn, auf der der Widerschein des Feuers flammt. So viel Sterne ... , denkt Adam noch, so viele ... wachen werden sie, daß der Moorwolf nicht kommt...

Der neue Tag beginnt mit Adams Schrei. Er schreit so laut, daß es sie fast zerreißt, und es dauert eine Weile, bis sie es begreifen. Die braune Stute von Christophs Hof steht über ihm, und ihre Nüstern suchen freundlich über sein Gesicht. So dicht neben dem Feuer und ihrem Schlaf ist ihr Körper riesengroß, und als Adam erwacht ist, hat er geglaubt, der Moor­wolf5 liege auf seiner Brust.

Sie lachen ihn aus, selbst noch weiß um den Mund, und sehen sich um. Der Nebel ist fort. Tau liegt auf Gras und Schilf, und über dem Wald baut ein rotes Tor sich feierlich auf.

Auch Michael steht auf und sieht sie lächelnd an. "Kocht nun Kaffee", sagt er, "ich hole euch einen Hecht." Ob er nicht geschlafen habe? Er schüttelt den Kopf. "Vieles war unterwegs", sagt er und blickt nach dem Wald. „Lange Zeit war da ein graues Gesicht, und die Pferde schnoben und waren dicht zusammen..., aber dann ging ein Mann über das Moor und sang, weit hinten. Und da war es fort ... nun holt noch Holz. Gleich bin ich wieder da."

Und er taucht unter im Schilf und winkt ihnen zu. Die Sonne geht auf. Die Pferde liegen in ihrem roten Licht. Ein dünner Nebel steht über ihren Leibern.

"Wie schön es ist . . .", sagt Adam und sieht sie glücklich an.


Später, in schnell verglühenden Jahren, haben sie oft gedacht, diese Nacht sei die letzte ihrer Kindheit gewesen. Beschattet von dumpfen Ängsten wie die Nächte junger Völker, aber auch auf eine nie wiederkehrende Weise erhellt von morgendlicher Sonne, von junger, gläubi­ger Kraft, von letzter Bereitschaft todesmuti­ger Freundschaft.

Der Sommer ging, und an seinem Ende war Michael allein. Wohl kehrten die anderen zu den Ferien wieder wie sonst, aber nun war es nicht mehr das gleiche. Sie brachten Freunde mit, junge, werdende Herren, die mit kühlen Augen auf Michael und seine Künste blickten, die wohlwollend seinen Schleuderwürfen zu­sahen und mit unverständlichen Ausdrücken der Tätigkeit "Bismarcks" ihre Anerkennung zollten. Und als es Michael zum erstenmal widerfuhr, daß seine Aufforderung, einen Fisch­adlerhorst auszunehmen, mit verlegenem Dank abgelehnt wurde, weil gerade an diesem Nach­mittag ein paar junge Mädchen   Kälber na­türlich!   eingeladen seien, wechselte er seinen Weideplatz, zog tief hinter die Bruchwälder hinter dem Moor und sah nur einmal auf dem Heimweg eine Gruppe von Reitern über die Heide kommen, sah weiße Kleider dazwischen, ein paar grüßend erhobene Arme, sah ihnen eine Weile nach und zog dann mit sehr stillem Gesicht in die Dorfstraße ein.

An diesem Abend sah er seiner Mutter lange und heimlich zu, wie sie am Webstuhl saß, klein und gebeugt, und das Schiffchen unter ihren Händen rastlos hin und her flog, Faden an Faden knüpfend zu einem Gewebe, das er noch nicht sah. Dann rief er den Hund zu sich auf die Schwelle, legte die Hand in sein warmes Haar, und so saßen sie lange, die Blicke auf das dunkelnde Dorf gerichtet, über dem die Sterne aufstiegen wie sonst und in dem die Stimmen verstummten, bis nur die Nachtvögel über der schweigenden Erde waren.

Und nur eines blieb als ein unerwartetes Band zu vergangener Zeit: daß Adam mitunter kam, heimlich und allein, mit einem verlegenen Lä­cheln, als habe er seine Eintrittskarte verloren, und daß er viele Stunden wortlos bei ihm saß, die großen traurigen Augen auf das Moor ge­richtet, bis er leise davon zu sprechen begann, daß die Stadt nicht schön sei, die Schule, die Pension, und daß das Leben lange nicht so sei, wie andere meinten, sondern böse und gefähr­lich und schwer.

Ob er mit ihm tauschen möchte, fragte Mi­chael nachdenklich ja, das möchte er sofort.

Aber er wisse auch, daß das nicht ginge. Nicht weil er einmal das Gut übernehmen solle, son­dern weil er doch dies alles niemals lernen werde, Wotan mit einem Pfiff zu lenken, oder die jungen Lämmer zu tragen, oder Bismarck zur Vernunft zu bringen, wenn er die Erde auf die Hörner nehme und mit geröteten Augen nach Mord verlange. Er wisse wohl, daß er zu nichts tauge als bei seiner Mutter zu sitzen und die Hand auf ihrer Stirn zu halten, wenn die bösen Kopfschmerzen kämen und die bitteren Tränen, für die sie nichts könne und die so ganz umsonst an ihren Wangen herunterfielen.

Dann sah Michael ihn an, so wie er ihn beim nächtlichen Feuer angesehen hatte, und lehrte ihn viele Stunden lang, den Stein zu schleudern, und sagte, daß es bereits viel besser ginge als am Vortage. Und beim Abschied wandte er sich noch einmal um und meinte, Adam solle es doch nicht für gering achten, daß seine Hand geeig­net sei, die Schmerzen seiner Mutter zu ver­scheuchen. Das sei eine große Gabe, und schon in der Bibel komme das Handauflegen als etwas Großes und Schönes vor, größer viel­leicht als das Steineschleudern, und er wisse ja auch, daß David gerufen worden sei, wenn der böse Geist über den großen Hirtenkönig Saul gekommen wäre.

Dann nickte Adam ihm dankbar zu und ging davon, und es sah aus, als trage er seinen schwe­ren Kopf nun etwas höher, seit Michael ihn an die Gabe Davids erinnert hatte.

Aber im nächsten Sommer war auch Adam nicht da, weil er mit seiner Mutter bis in die Berge fahren mußte, wo der Mann im weißen Mantel versuchte, seinen Gästen das Lächeln beizubringen, und er kam erst in den letzten Tagen der Ferien wieder heim, gerade zur Zeit, um die Malerin abfahren zu sehen, die Michael den Sommer schwer gemacht hatte.

Die Malerin klopfte eines Tages bei dem alten Lehrer im Nachbardorf an, demselben, der Mi­chaels Auslegung des Davidsieges mit beküm­mertem Kopfschütteln aufgenommen hatte, und meinte, daß sie solch ein Haus gerade gesucht habe, am Rand der Heide, mit Bienen und Kaiserkronen und Päonien, und daß sie wohl dableiben möchte, um dieses Land zu malen, damit die Stadtkühe wieder etwas hätten, um die Augen aufzureißen, und eine Giebelstube werde er wohl abzugeben haben. Und da sie Rohkostlerin sei, so brauche er sich auch um ihre Verpflegung keine Sorge zu machen.

Der Lehrer Elwenspök, auf diese verwir­rende und fast betäubende Weise überfallen, versuchte zunächst, seinen weißhaarigen Kopf zu schütteln, sah mit verlegener Unruhe auf ihre Sandalen, ihr kurzgeschnittenes Haar, ihr loses Kleid, erreichte aber mit diesem Kopf­schütteln nur, daß die Malerin ihr Skizzenbuch aus dem Rucksack zog, ihre Hände an seine Schläfen legte, um seinem Kopf die passende Haltung zu geben, und dann mit einem dünnen Kohlestift über ein silbergraues Papier glitt, so daß ihm nichts anderes übrig blieb, als unter ihrem strengen Blick still zu halten, der so kühl geworden war wie der des Schulinspektors, nur daß er durch keine gnädige Brille gemildert wurde.

Der Heidepatriarch", sagte die Malerin freundlich, weidete sich an seiner Verblüffung und bat ihn dann, ihr die Treppe zu ihrer Gie­belstube zu zeigen.

Und obwohl der alte Elwenspök nicht wußte, ob diese seltsame Frau nun wirklich von dem „Geist Gottes" erfüllt sei oder von einem frem­den und gefährlichen Geist, vermochte er nicht, wie immer seit dem Tode seiner Frau, einer so bestimmten Forderung auszuweichen, stieg hin­ter ihr die Treppe hinauf in das Zimmer seines einzigen Sohnes, der auf einer fernen Univer­sität studierte, wies mit bescheidenen Worten auf die weite Aussicht hin, rief nach seiner Haushälterin und saß eine Viertelstunde später wieder bei seinen Bienen, den Geldschein immer noch in der Hand, und aufs tiefste verwundert, wie rasch die neue Zeit über einem weißen Haupte zusammenschlage.

Fräulein Tamara aber, wie sie sich wohl­klingend nannte, sammelte schon nach einer Viertelstunde mit seiner Erlaubnis Mohr­rüben und Zuckerschoten in einem kleinen Lederbeutel, nahm Staffelei und Skizzenbuch unter ihre unbekleideten Arme und ging auf braunen Sandalen durch die Gartentür mitten in die Heide hinein, wo über blauen Wachol­derbüschen eine weiße Sonne stand und der Lärm der Grillen wie eine tönende Wolke über den Ginsterbüschen hing.

"Verrückt!" sagte die Haushälterin aus dem Fenster der Giebelstube, wo sie neue Vorhänge an die kleinen Scheiben hängte. Aber Herr Elwenspök schüttelte nur lächelnd den Kopf. "Der Herr hat sie geschickt, der Herr wird sie wieder nehmen ... ", sagte er nachsichtig. "Mach es nun schön sauber für das Fräulein."

Fräulein Tamara nahm also von Heide und Moor und Wald Besitz, wie sie von Herrn El­wenspöks Giebelstube und von seinem Gesicht Besitz ergriffen hatte, das sie nun auf einem silbergrauen Papier als ein unverlierbares Eigen­tum mit sich trug. Sie tat dies alles nicht, weil sie etwa eine habsüchtige oder auch nur rück­sichtslose Seele besaß, sondern weil sie gleichsam ein unbekümmerter Mensch war. Da sie die

Welt als eine Malerin mit den Augen aufnahm, statt mit Begriffen oder Urteilen, und da sie die Welt vor den menschlichen Augen zunächst wehrlos liegt, so konnte es scheinen, als drin sie mit Worten und Blicken achtlos in fremde Bezirke ein. Aber so wenig man von einer Biene etwa sagen kann, daß sie achtlos in fremde Gärten dringe, so wenig konnte dieser Vorwurf gegen Fräulein Tamara erhoben werden, denn auch ihr war auf eine sehr ernste Weise um den Honig der Welt zu tun, wenn dieser in ihrer Meinung auch anders beschaffen war als in der Meinung der meisten anderen Menschen.

Sie war nicht mehr so jung, wie nach ihrem mädchenhaften Kleidung hätte vermutet werden können, und sie hatte die erste Hälfte ihr Lebens damit zugebracht, Menschen und Weltanschauungen unbedenklich in sich hineinzunehmen, um in ihrem Leben einen ähnlich festen Grund zu finden, wie sie in ihrer Kunst ihn längst besaß. Doch war ihr das nicht gelungen, ja, es war ihr sogar auf eine entschiedene Weise mißlungen, weil das städtisch und abendländisch Verwelkte und Müde von Menschen und Weltanschauungen ihrer heftig fordernden Natur nie lange zu genügen vermochten, viel­leicht auch weil das Immerhabenwollen einen Menschen nach gerechten Gesetzen daran ver­hindert, zu einer Ruhe zu kommen, die nur mit Gebenwollen erkauft werden kann.

So war sie gleichsam in einem Wellental ihres Daseins in das Haus am Heiderand gekommen, wo die fallende Woge mißlungenen Erlebens sich schal zerteilte und verrann, indes die neu steigende erst sich sammelte und Richtung und Gewalt ihr noch zu bestimmen waren. Und auch die Rohkost dieses Zeitpunktes war weni­ger eine Spielerei als ein Symbol müder Lebens­pause, da mit Erdnüssen und Mohrrüben sich schwerlich das Aufsteigende einer neuen Leiden­schaft verbinden läßt, ob sie nun nach einem neuen Ziel der Kunst oder nach einem neuen Menschen trachte, aus dessen Blut und Anbetung das Leben neu brausend sich wieder hebt.

In diesem leise verworrenen Zustand, nicht unbedenklich für sie wie die ihren Weg Kreuzenden, trat sie in die sommerliche Verlassenheit einer schwermütigen Landschaft und, gleich am Anfang ihres Aufenthalts, in Michaels ruhig und gleichmäßig verlaufende Tage. Denn da sie, von einem Hügel der Heide, am Rand des Bruchwaldes eine langsam ziehende Herde er­blickt hatte, war vor ihren immer hungrigen Augen vielleicht das Bild eines zweiten Patriar­chen aufgestanden, auf einen hohen Stab ge­stützt, den Hund zu seinen Füßen, wie er mit hellen, vom Licht gleichsam ausgespülten Augen über den Beschauer hinweg in eine ferne Ver­gangenheit blicken mochte, ja vielleicht bis zu jenen Zeiten, da das Königsamt sich noch auf eine Hirtenstirn legen konnte.

Sie hatte dann in ihrer freimütigen Weise aus ihrer Überraschung kein Hehl gemacht, als sie Michael erblickt hatte, der, die Schleuder in der Hand, sich damit vergnügte, Stein auf Stein in die Sonne hinaufzuschicken, mit ernstem Gesicht, wie ein Titanenenkel, der aufrühre­risch an die goldenen Tore der Götter schlägt.

Sie bereute bitterlich, daß sie einen Ausruf des Staunens nicht unterdrückt hatte, denn auf ihre flehentliche Bitte, das Spiel mit gleicher Gebärde zu wiederholen, sah Michael sie ohne Verständnis an, mit dunkel bestürzten Augen, und schüttelte nur nachdrücklich den Kopf, als sei etwas Ungehöriges von ihm verlangt wor­den.

Doch konnte er nicht verhindern, daß die Malerin nun bei ihm blieb, über ein großes Buch gebeugt, in dem auf eine unfaßliche Weise die Welt noch einmal erstand; daß sie Fragen an ihn stellte, die er beantworten mußte; und daß schließlich sein eigenes Bild, nie anders ge­sehen als auf einer Wasserfläche, plötzlich auf einem grauen Papier vor seine Augen gehoben wurde, mit der gleichen Verzauberung ihn leise umstrickend, mit der zu allen Zeiten die Keuschheit der Natur von ihrem künstlichen Widerspiel umstrickt worden ist.

Mit Befremden sah er ihrem Mittagsmahl zu und den blauen Ringen, die sie aus ihrer Ziga­rette kunstvoll blies. Doch lehnte er, im Inner­sten dunkel gewarnt, die Teilnahme an beidem ab, aß sein Schwarzbrot, trank die Milch, die er in einen irdenen Topf vor ihren erstaunten Augen molk, und rauchte dann seine kurze Pfeife, auf den rechten Arm gestützt, indes er an ihr vorbei auf das Moor sah, über dem die Luft flimmernd stand und der Turmfalke rüt­telnd schwebte.

Nach seinem Leben und Denken befragt, gab er sparsame Auskunft, immer tiefer zurück­weichend vor dem Fremden in Gestalt, Sprache und Redseligkeit, das hier in seine Welt ein­gebrochen war, als könne es, mit einer Eintritts­karte versehen, sich in ihr umsehen und bewegen wie im eigenen Haus. Doch gelang es ihm nicht, ihre Frage, ob sie wiederkommen dürfe, zu verneinen, auch wurde die Frage mit einem solchen Lächeln gestellt, als sei die Antwort ganz nebensächlich und als werde der Wille der Fra­genden unbekümmert über sie hinweggehen.

Es sei wohl nicht gut, sagte er dann aber doch, mit solchen Schuhen in den Bruchwald zu kommen, wo die Kreuzottern lebten. Und auf ihren Einwand, daß er doch selbst barfuß gehe, belehrte er sie nicht sehr freundlich, daß es darauf ankomme, wer das tue, und es sei wohl nicht dasselbe, ob jemand hier aufgewachsen sei und mit geschlossenen Augen wisse, wohin er zu treten habe, oder in der Stadt, wo nach seiner Kenntnis die Kreuzottern nicht in den Straßen spazieren gingen.

Nun, meinte sie, die Staffelei schon unter dem Arm und auf ihre braunen Beine hinunter­sehend, das könne nicht so schlimm sein, da er ja immer in ihrer Nähe sei, um die Wunde mit seinen Lippen auszusaugen.

In einer dumpfen und zornigen Verwirrung verbrachte Michael den Rest des Tages. Da er nicht gelernt hatte, Seelenzustände zu zerglie­dern, empfand er die beginnende Verstörung seiner Welt, gleich allen einfachen Naturen, als einen Zauber, den man über ihn geworfen hatte und gegen den eine Abwehr sich nicht im Augenblick erfinden ließ. Und da ihm einleuch­tete, daß das Wirksamste zunächst sein müßte, den Kreis des Zaubers zu vermeiden, so be­schloß er, am nächsten Morgen jenseits des

Moores seine Herde zu weiden und auch sein Rinderhorn nicht an die Lippen zu heben. Doch gelang ihm nicht, das Bild der fremden Frau vor seinen Augen auszulöschen, so daß er finster und schweigsam am Abend in die Dorfstraße einzog und seine Mutter ihn nach dem Essen fragte, ob die Moorhexe ihm begegnet sei.

Das könne sein, erwiderte er abweisend, mußte aber dann auf eine verwirrte Weise lächeln, als die Mutter ihm einen Psalm von besonderer Kraft empfahl und dazu den Rat gab, mit dem Saft der gelben Blume, die man Jesu-Wundenkraut nannte, Handflächen und Stirn einzureiben.

Doch war das Mädchen Tamara sehr er­schreckt, als sie am nächsten Morgen ihn fand, an der gleichen Weidestelle übrigens, und auf seiner Stirn ein blutrotes Mal sah wie von einer schweren Wunde. Und als er finster erklärte, das sei ein Saft gegen Mücken und Bremsen, sah sie ihn ungläubig an, bevor sie, diesmal mit Öl­farben, sich der Landschaft zuwandte, die weit und schwermütig sich vor ihnen ausbreitete.

Sie hatte von Herrn Elwenspök die ganze Lebensgeschichte des seltsamen Hirten bereits am Abend erfahren, mit Stolz aber auch mit leiser Sorge vorgetragen, und sie war in der Kenntnis abseitiger Menschenherzenweit genug vorgedrungen, um zu wissen, daß hier auf sanfte und behutsame Weise vorgegangen wer­den müsse, wenn das ganz Neue und Bestric­kende dieses Erlebnisses nicht gleich zu Beginn zerstört werden sollte.

So ging ein wortkarger Tag zwischen ihnen dahin, unter der brütenden Sonne des Bruch­waldes, und nur von Zeit zu Zeit kam Michael an ihrer Staffelei vorbei, blickte wortlos auf die zauberhaft erwachsende Landschaft und schlug dann wieder seinen großen Kreis um die ver­streute Herde, wobei er manchmal hinter den Erlen und Weiden verschwand, in eine unbe­kannte Ferne, aus der er mit einer geflochtenen Schale voller Himbeeren oder einem dunkel leuchtenden Schmetterling zurückkehrte, die er wortlos neben sie legte, als gehöre ihr der Tribut dieser ganzen Erde.

So standen die Tage wie unter einer gleich­bleibenden Wolke, unter der man leise spricht, damit sie sich nicht im Wetter öffne. So ver­wirrend der Sommer über Michael gekommen war, so war doch unschwer zu erkennen, daß der tiefere Zauber über das Mädchen Tamara gefallen war und daß sie nur mit Mühe ihrer Natur gebot, die gewohnt war, das Lockende zu ergreifen, wo es sich bot, um zu erfahren, ob hier sich vielleicht das Neue verhülle, das den ruhigen Grund eines unruhigen Lebens bilden könnte.

Michael hingegen, wiewohl von dem Erst­maligen auf eine unvergleichliche Weise be­stürzt, trug doch von Abkunft und männlicher Lebensweise her eine tiefe Scheu in sich, sich an ein Seltsames und Fremdes gänzlich zu ver­lieren, und wehrte sich mit nicht gewußter Scham, als ein Herr der Herde nun gleichsam mit gefesselten Händen dem zu verfallen, was er täglich in ihr geschehen sah, was ihm in ihrem dumpfen Dasein als ein Selbstverständliches und nicht zu Verwunderndes erschienen war, was aber, auf sein eigenes Leben übertragen, mit einer unheimlichen Warnung vor ihm auf­stand.

Und als das Mädchen Tamara, viele Tage später, sein Gesicht gemalt, hatte und, von sei­nem bestürzten Schauen vor der Zeit verführt, mit ihren Lippen seinen halb geöffneten Mund verschloß, mußte sie neben seiner Erschütterung auch seinen wachsenden, fast feindseligen Widerstand spüren, und es blieb ihr nichts zu tun, als mit einem verwirrten Scherz über diese Handlung hinwegzugehen, die sie mit hastigen Worten teils als eine mütterliche Zärtlichkeit und teils als die Freude über ein gelungenes Kunstwerk zu erklären sich bemühte.

Doch kam dem so Gefährdeten die letzte Hilfe von der schroffen und unmißverständ­lichen Einfachheit des mütterlichen Urteils, indem seine Mutter am nächsten Abend, vom Webstuhl zurückblickend, ohne Vorbereitung berichtete, daß eine Malerin dagewesen sei und mit süßen Worten sich angeboten habe, ihr Ge­sicht abzumalen, woraus aber nichts geworden sei, da eine der Mägde auf dem Gut in Wehen gelegen und man nach ihr geschickt habe. Und auf die vorsichtige Frage Michaels, wie sie denn gewesen sei, erfolgte, schon wieder mit der Wendung zum Webstuhl, die Antwort: "Sie riecht. . . wie eine Ziege!"

Es ist anzunehmen, daß dieses harte und ver­mutlich von mütterlicher Weisheit eingegebene Urteil den davon Betroffenen zunächst mit Widerspruch erfüllt hat, und erst aus der Über­tragung in seinen beruflichen Erfahrungskreis allmählich die verborgene Wirkung erhielt, die geeignet war, die Schärfe seines Blickes wieder­herzustellen.

Doch erfolgte die entscheidende Lösung durch Tamara selbst, und sie nahm, als ein gerechtes Schicksal, ihren Ausgang von einer tiefen Täu­schung, der die Malerin als ein im Fordern un­bedenklicher und ungeduldiger Mensch unter­lag. Durch ein Leben in einer Umgebung ge­formt, in dem mit dem Nackten der Darstel­lung sich leicht eine Nacktheit der Schau und des Denkens verband, hatte sie übersehen, daß es erst vieler Jahre und Entkleidungen bedarf, ehe die jugendliche Seele bereit ist, in derselben Sprache zu antworten. Und als sie nun, am Ende dieser Wochen, vor Michaels Augen das Tuch von einem heimlich gemalten Bilde nahm und er sich nun selbst darauf erblickte, die Schleuder in der Hand, wie sie ihn zum ersten­mal gesehen hatte, aber seinen Körper unver­hüllt und so, wie ihn zu sehen nur seiner Mut­ter erlaubt gewesen war, geschah das für sie gänzlich Unerwartete und auch Unfaßbare, daß er nach einem Augenblick völliger Erstar­rung, indes das Blut in sein Gesicht schoß, das Bild mit beiden Händen ergriff, es in zwei Teile riß, die Leinwand zusammenballte, unter die Füße trat, sich nach seiner Schleuder bückte und in seinen wilden Augen die Absicht nicht zu verkennen war, daß er den ersten Stein auf diejenige schleudern wollte, die auf schamlose Weise Besitz von ihm ergriffen hatte, ehe er bereit dazu gewesen war.

Es war natürlich, daß sie floh wie vor einem Verrückten und daß die Enttäuschung ihres Blutes in einen wilden Zorn überging, der ihn mit unedlen Worten aus der Ferne schmähte. Daß sie am gleichen Abend noch Herrn Elwen­spöks Haus verließ, nicht ohne sich über dies "Botokudenland"****) mit harten Worten bei ihm beklagt zu haben, wo nicht nur die Stiere, son­dern anscheinend auch die Menschen einen Ring durch die Nase trügen, und nicht ohne daß Adam, soeben von seiner Reise zurückgekehrt, ein erschreckter Zeuge dieses Ausbruches ver­schmähter Leidenschaft wurde. Und wenn er selbst auch von allem diesem als ein eben Zu­rückgekehrter nichts verstand, so schüttelte doch Herr Elwenspök sowohl bekümmert wie erleichtert den Kopf, fragte, ob er Michael schon besucht habe und trug ihm viele Grüße auf, mit dem Zusatz, daß Beelzebub nicht nur in eine Herde von Säuen auszufahren liebe, was er wortgetreu zu bestellen bat.

Michael aber, nachdem er sich im Bruchwald für den Rest des Tages wie ein Geschändeter verborgen hatte, war so spät heimgekehrt, daß man mit Sorgen nach ihm ausgeblickt hatte, war dann nach einer schlaflosen Nacht mit un­verändertem Gesicht an sein Tagewerk gegan­gen und hatte eine Art von Trost und Recht­fertigung erst gefunden, nachdem er am frühen Morgen eine Stunde an der Lichtung gesessen hatte, wo vor Jahren das Bewußte seines Lebenslaufes mit einem unvergeßlichen Tage begonnen hatte.

Wohl verstand er, was in diesen Wochen mit ihm geschehen war, aber auf keine Weise, daß dies im Leben der Menschen so geschehen sollte, auf eine so deutliche und fast gewalttätige Art, und die Gestalt der Frau, ihm nur aus der dörf­lichen Strenge wie hinter einer Verhüllung be­kannt, hatte hier eine plötzliche und fast teuf­lische Abwandlung erfahren, die nach seiner Meinung nur in den Städten zu Hause sein konnte, wie ja auch die Freunde seiner Jugendgefährten mit einem ihm unbekannten Aus­druck von Dingen sprachen, von denen zu spre­chen ihm nicht in den Sinn gekommen wäre, da er sie ohne Worte geschehen sah.


Er wußte nicht, daß etwas ihn bewahrt hatte, was er niemals hätte benennen können, weil er nicht wußte, daß die Natur vor die Jugend einen Schild stellt, damit sie sich nicht vor ihrer Zeit verliere, und wenn man es ihm auch mit dem gesagt hätte, was die Religion daraus ge­macht hat, indem sie ein Unbewußtes der Natur in ein Bewußtes des Menschen verwandelte, so würde auch die Keuschheit etwas Unverständ­liches für ihn geblieben sein, ein Wort aus dem Konfirmandenunterricht, das als eine Warnung aber ohne Sinn gebraucht worden ist.

Und vielleicht war es seinem ins Dunkle horchenden Sinn gut, daß die Bewahrung auch aus dem Dunklen gekommen zu sein schien, aus dem Blut etwa, denn dieses kam von seinem Vater her, und was von dort kam, war immer gut. Und wenn er auch nicht, fühlte, daß ein männliches und ganz auf sich gestelltes Leben ihm in diesen Wochen zur Seite gestanden hatte, mit Wachsamkeit, Schweigen und Stolz, so fühlte er doch die langsame Rückkehr ins alte Leben als eine schöne, immer weiter sich breitende Befreiung, ja fast als einen Sieg, nicht un­ähnlich dem Gefühl, mit dem er damals die dunkle Spur des gefällten Laban durch das tau­feuchte Gras aus seinem Leben und Reich hatte davonziehen sehen.

So empfing er den Besuch Adams bereits mit dem freundlichen Gleichmut vergangener Tage, und erst die Botschaft des Lehrers, wortgetreu ausgerichtet, trieb einen Schatten auf seine Stirn, dort wo der Saft des Jesu-Wundenkrautes geglüht hatte. Doch begriff er aus Adams Be­richt sofort den Zusammenhang, verweigerte aber jede Aufklärung und schob das Ganze end­lich mit einer Handbewegung zur Seite.

Sie verlebten einen hellen und aufgeschlosse­nen Tag, in dem auch Adams Bedrückung da­hinging, dem das Leben bei dem Mann im weißen Mantel nicht gut getan hatte und der an die kommende Schule dachte, wie man an das Messer eines Arztes denkt.

In diesem Herbst, in dem Michael sechzehn Jahre alt wurde, gewann er einen seltsamen Besucher seiner einsamen Welt, die unter ziehenden Kranichen, roten Vogelbeeren und dem fern herwehenden Duft der Kartoffel­felder noch stiller in sich beschlossen war als sonst. Es hatte nämlich Herr Elwenspök, vom Schulrat mit der goldenen Brille auf sein hohes Alter aufmerksam gemacht, sein Amt zu Be­ginn des Herbstes niedergelegt und ging nun, als ein Herr seiner Zeit, viele Stunden des Tages durch Heide und Moor, um sein großes Buch mit getrockneten Pflanzen zu erneuern, und, wenn das Glück es fügen sollte, auch zu ver­größern. Und da er, absichtlich oder durch Zu­fall, bereits in den ersten Tagen mit Michael und seiner Herde zusammengetroffen war und bei diesem nach den ersten Worten nicht nur eine natürliche Teilnahme, sondern eine unver­mutete Unterstützung seiner Tätigkeit gefun­den hatte, indem Michael sich erbot, ihn zu den Fundstellen seltener Pflanzen zu führen, so er­gab sich aus diesem fast wissenschaftlichen Be­ginn eine immer wachsende menschliche Ver­trautheit, die der sein Leben Beendende als ein spätes Geschenk und der von der Welt zum erstenmal Verwundete als eine sanfte Tröstung empfing.

So waren besonders die späten Nachmittags­stunden von einem stillen und weltabgeschiede­nen Glück für sie erfüllt, wenn Michael auf einem Hügel unter Wacholderbüschen ein klei­nes, rauchloses Feuer entzündete, in dem er die letzten Pilze des Jahres briet und an dessen Rand Herr Elwenspök seinen Kaffee wärmte. Der Blick ging von der sanften Höhe weit hin­aus, über braunes Moor und sich färbende Wäl­der, bis zur frühen Abendröte, die den wan­dernden Keil der Wildgänse oder der Kraniche empfing und begrub. Hoch über ihnen riefen unsichtbar die Brachvögel, und ein ferner Wa­gen rollte hinter ihnen über die Erde, schwer­mütig von einem Lied geleitet, das der Knecht in den weiten Abend sang.

Dann öffnete das alternde Herz des Lehrers sich noch einmal, der ein Leben lang, Jahr für Jahr, die einfachen Dinge hatte lehren müssen und der niemals von den anderen Dingen hatte sprechen können, die in seiner Jugend sein Herz durchflammt hatten, wie sie jede Jugend durch­flammen. Und der nun, vom trüben Alltag ent­bunden, in der feierlichen Stille der Landschaft, im Kreis der schon ruhenden Herde, sich gleich einem der Patriarchen vorkommen mochte, die nach einem vielerfahrenen Leben noch einmal bei den Enkeln niedersitzen, um ihre stille Weisheit in gute Hände zu legen, bevor man ihnen selbst die Hände über der Brust zusam­menlegt.

Es waren viele Leben gewesen, die in ihrem Beginn durch seine behutsamen Hände gegan­gen waren, und da er, wenn auch von ferne, zu­gesehen hatte, wie aus diesem Beginn die Lebensbahnen weitergelaufen waren und wie manche sich zu einem frühen Tod gesenkt hatten, so konnte er wohl mit vorsichtigen Worten ein stilles Gesetz aus der Wirrnis dieses Gewebes lösen, und er konnte nicht anders, als daß es, auch jetzt noch, ihm auf den "Geist Gottes" anzukommen schien, der einen Men­schen erfülle oder nicht erfülle.

Aber darüber hinaus begann er, von der Enge der Landschaft zurückzuschreiten in die Ge­schichte der Völker, wie sie aus stillen Anfän­gen gleich dem eines Hirtenamtes lodernd auf­gestiegen sei zu großen Leiden und Taten, und daß die Demut des Kleides niemals verhindert habe, daß Herrliches unter solchem Kleide ge­dacht und gelebt worden sei. Und mitunter, nach langem Schweigen, fügte er behutsam hinzu, daß jedes Amt, in Treue verwaltet, seine stille Krone trage. Daß er wohl erfahren habe, wie seine jungen Freunde nun immer weiter sich von ihm entfernten, Adam wohl ausge­nommen; daß dies ein Gesetz alles Lebens sei, daß aus gleichem Anfang sich ein verschiedenes Ende entfalte; daß aber das Ursprüngliche der Welt zu bewahren eine edle Aufgabe sei, zu­mal in einer Zeit, in der die Städte wüchsen und die Maschine unaufhaltsam zerstöre, was die Hand des Menschen in Jahrtausenden erlernt und erworben habe. Und immer, setzte er leise hinzu, habe ein besonderer Glanz und eine be­sondere Gnade um die Einsamen gestanden, als die am männlichsten sich Bewahrenden, und was sie erlitten hätten, an Schmerzen oder Ver­zicht, sei ihnen zum Segen geworden, und nicht ihnen allein.

Dann pflegte Michael wortlos neben ihm zu sitzen, die braunen Hände um die bloßen Knie gefaltet, die Augen vom Widerschein des Abendrotes erfüllt. Und nur einmal fragte er, ganz ohne Scheu, von welchem Geiste denn nun jenes Mädchen namens Tamara erfüllt sein mochte.

Hier errötete der alte Lehrer auf eine kindliche Weise, schob mit seinem Stock die Asche über die letzte Glut des Feuers und sagte dann, sich erhe­bend, daß das wohl der Geist der alten heidni­schen Natur sein mochte, der man vor Zeiten viele Tempel gebaut habe, ein Geist, der weder böse noch gut sei, aber den in ein Höheres zu verwandeln uns wohl von Gott für kommende Zeiten schweigend aufgetragen worden sei.

Dann nahmen sie Abschied voneinander, zwei stille Gefährten, denen der nächste Tag noch gewiß war, und die viel Zeit hatten, um einander die Dinge zu sagen oder zu zeigen, um die ihre Gedanken sich bewegten. Und wenn, aus dem Dunkel des sie schon trennenden Bruchwaldes, ein spätes Lied aus Michaels Rinderhorn noch einmal aufstand, die ganze herbstlich dunkelnde Erde überflutend und gleichsam beglänzend, so blieb der heimkeh­rende alte Mann noch einmal stehen und lauschte, auf seinen Stock gestützt, indes eine tiefe Wehmut ihn überkommen wollte, sei es über den fallenden Abend seines kärglich ge­ernteten Lebens, sei es über die späte Freund­schaft mit jener stillen Jugend, die dort in den Wäldern untertauchte und deren Los und Zu­kunft so gänzlich im Verborgenen lag.

Der nächste Sommer führte Adam nicht in die Berge, und auch Christoph kehrte, als ein hoffnungsloser Fall aus der landwirtschaft­lichen Schule entlassen, zum Gram seines Vaters in das Dorf zurück, um noch einmal Ernte und Aussaat zu erfahren, ehe im Herbst die Schule des Soldaten ihn aufnehmen und, wenigstens im äußeren Glanz, zu einem angemessenen Nachfolger seines Vaters erziehen sollte.

So wurde ihnen noch einmal, auf eine unver­mutete Weise, ein Nachglanz jener Jahre ge­schenkt, da sie Kinder und als solche vor jeder Zukunft behütet erschienen waren. Es machte nichts aus, daß Adam lateinische Oden wußte und daß Christoph die Chemie des väterlichen Bodens mit seltsamen Buchstaben in den Heide­sand schreiben konnte. Es machte nichts aus, weil sie dies als eine menschliche Verirrung be­lächelten oder auch mit harten und ehrfurchts­losen Worten benannten. Es war ihnen wieder wichtig, den Gabelweihhorst zu finden, in dessen Nähe der große Vogel mit den edel­geformten Schwingen schwermütig rufend kreiste, die Krebse unter den Erlenwurzeln des Fließes mit bloßen Händen zu greifen und den leise alternden Stier Bismarck durch ein dump­fes Gebrüll aus den Büschen zu jugendlichem Zorn über einen unsichtbaren Nebenbuhler zu­rückzuführen. Die Sonne schien, die Beeren reiften, und wenn der alte Mann mit seinem stillen Lächeln über das blühende Moor kam, das Band der grünen Pflanzenkapsel über den gebeugten Schultern, so empfingen sie ihn, als hätte er ihnen niemals Schmerzen bereitet, weder mit Dezimalstellen noch mit feierlichen Bibelsprüchen, und ihm selbst wollte mitunter in leiser Verlegenheit scheinen, als sollte der Mensch doch besser ganz und gar unterlassen, die Ersten und die Letzten auf irgendeiner Stufenleiter festzustellen.

Sie erfuhren von dem im Dunkel sich Vor­bereitenden wohl durch Andeutungen und Ge­spräche, aber erst mit den nächtlichen Schein­werfern, den Sprengungen und über den Hori­zont auflohenden Bränden, mit denen man an der nahen Seenenge das Schußfeld freilegte, trat der kommende Krieg in ihr unvorbereitetes Bewußtsein. Dann aber veränderte er mit einer unfaßlichen Schnelligkeit ihre Welt, das Dorf, die Landschaft, ihre Tätigkeit, ihre knaben­haften Pläne. Und während die Gefährten be­reits ihre Zurüstungen trafen, um in der näch­sten Garnison sich als Schutz gegen den Feind aufzustellen, Christoph mit drohenden Reden, als trüge er schon den väterlichen Goldzahn als Erbe in seinem Munde, Adam mit stiller und etwas sorgenvoller Gefaßtheit, fiel die Verant­wortung seines Amtes zwar schweigend aber um so ernster auf Michael, der vor aller kriege­rischen Tätigkeit zunächst seine Herde zu ver­sorgen hatte, und der, von Flüchtlingsnachrich­ten gewarnt, mit ernsten Augen durch die Wälder streifte, wo er die unzugänglichsten Winkel prüfend betrachtete, ob sie Weide und Wasser und jene Unauffälligkeit besäßen, die sie vor den Augen der Kosaken bewahren würden.

In jenen sich überstürzenden und doch un­endlich langen Tagen der ersten Entscheidungen, in denen die zusammenrollenden Wetter des Krieges schon rings im Kreise zu murren began­nen, träge noch und unlustig gleichsam, aber mit­unter schon, in schwülen Nächten, ein Flammen­signal aufschleudernd über die bangen Hori­zonte, trug in aller Verstörtheit, Torheit, Angst und Begeisterung des Dorfes Michael das stillste Gesicht unter allen Bewohnern. Wie ein schweigsamer Feldherr hatte er getan, was ihm zukam, den Zufluchtsort seiner Herde ausge­wählt und in einer Schilfhütte zusammen­getragen, was zu einem heimlichen Leben für ihn und andere nötig sein würde. Denn niemals würde er, wovon König Christoph in mutlosen Augenblicken sprach, die Hand dazu bieten, seine Herde im Staub der Straßen in eine bittere Fremde zu treiben. Es mochten Greise und Frauen und Kinder diesen Ausweg der Verstoßenen und Kraftlosen wählen. Aber so wenig man die Häuser des Dorfes abtragen und in eine sichere Hut bringen konnte, so wenig durfte man mit der Herde tun, wie man mit einem Stein tun konnte. Denn die Herde war nicht nur der Stolz des Dorfes, nicht nur sein Reichtum und sein wenn auch bescheidener Ruhm, die Herde war das Dorf selbst, sein innerstes Wesen, war wie der Geruch der Stroh­dächer und der Rauch der Schornsteine und der Lindenduft des Kirchhofes. Etwas Unvergleich­liches und auf keine Weise aus diesem Boden zu Entfernendes.

Doch wurde Michael als der Geringste des Dorfes wie König Christoph als sein Größter allen Entscheidungen ungefragt enthoben. Denn noch während Christoph die Dorfstraße mit Leiterwagen und Eggen zu sperren befahl, damit man die feindlichen Kraftwagen finge, die nach dem Gerücht Gold nach Rußland bringen sollten; noch während die Jugend den Befehl erhielt, sich an bestimmten Orten zu sammeln, um nicht bei unvermutetem Vorstoß des Feindes in seine Gewalt zu fallen; noch während, unabhängig von allem diesem und von unveränderlichen Gesetzen geleitet, die Wa­gen auf die Felder fuhren, um die frühe Ernte hastig einzubringen: flammte eines Nachmit­tags der Himmel hinter den Wäldern auf, zur Rechten wie zur Linken, Glocken schrieen auf und verstummten, und der ferne Knall von Schüssen schlug, vom Winde verweht, über die gemähten Felder, wo man die Pferde aus­spannte, die Wagen ablud und vor den Häusern mit Hausrat hastig und sinnlos erfüllte, indes der junge Christoph zu Pferde zu Michael ge­jagt wurde, damit er mit der Herde sich an die große Straße ziehe, die allein für die Flucht ins Innere des Landes noch offen zu stehen schien.

Doch kam Christoph mit der seltsamen Bot­schaft zurück, daß Michaels Herde verschwun­den und gesichert sei, dieser selbst aber, von einer Erkundung soeben zurückgekehrt, sagen lasse, daß die Dörfer in der Runde brennten, daß er Wald und Herde nicht verlassen könne und wolle, und daß er an den Torfbrüchen die Bewohner des Dorfes erwarte, um sie in das Versteck zu führen, das er für sie ausgesucht habe und in dem kein Kosak der Welt sie finden werde. Doch hatte er ihnen Eile und Stille dringend anempfohlen und Christoph als einen zuverlässigen Führer bestimmt.

In dem sich erhebenden Lärm der Ratlosig­keit und Verstörtheit entschied Michaels Mutter das Schicksal des Dorfes, indem sie, das Kopf­tuch festbindend und die Harke über die Schul­ter legend, erklärte, daß es immer noch gut ge­wesen sei, zu tun, was Michael wolle, und daß sie jedenfalls zu ihrem Sohn gehe, gleichviel was das Dorf beschließe.

Und so war nach einer Stunde bereits alles nach Michaels Willen geschehen und Menschen und Pferde schon am Rand des schützenden Waldes, von dem sie nun, querab von der Straße, einzeln, um keine große Spur zu hinter­lassen, hinter die Brüche geführt werden soll­ten. Aber noch während sie von dort, die Frauen weinend, die Kinder stumm und mit verstörten Augen, auf die verlassenen Felder zurückblick­ten, wo die abgeworfenen Garben in Haufen lagen und das noch nicht gemähte Korn in der Sonne glänzte, blitzte es hinter dem Dorfrand auf, Lanzen und Säbel über fremdem, braunem Kleid und niedrigen Pferden, und im gleichen Augenblick erschien um die Ecke des Waldes, allen sichtbar, die verwachsene Gestalt der Tochter des Torfjohann, laut weinend hinter einem jungen Lamm herjagend, das an diesem Morgen als kränklich nicht zur Herde gekom­men war und das nun in übermütigen Sprüngen vor dem Mädchen durch die Heide lief.

Sie erkannten alle, mit angehaltenem Atem, was dieses junge und mutwillige Tier für ihr Schicksal bedeutete, und auch die Tochter des Torfjohann, durch ein verstohlenes Zeichen ge­warnt, blieb zunächst unschlüssig stehen, sah sich um, sank dann aber wie erstarrt in sich zu­sammen, worauf sie lautlos durch das hohe Gras in den Wald zurückzukriechen begann.

Aber indes man hinter dem Waldrand bereits aufatmete, ohne noch zu wissen, ob man die Reiter beobachten oder sich in den Schutz des Waldes davonzumachen sollte, verlor das Lamm, da es seine Herrin nicht mehr sah, die Sicherheit des Daseins und begann, mit kläglichem Rufen, nach dem Dorf zurückzukehren, wo es seinen Stall und die Vertrautheit seines Lebens wußte.

Vielleicht wäre es gut gewesen, wenn Mi­chaels Mutter ihrem Sohn früher gesagt hätte, daß sie müde sei und nun gern an dem Ort aus­ruhen möchte, den er ihnen ausgesucht habe. Denn obwohl er nun ihre Bitte vernahm und auch das Hastige ihrer Worte nicht überhören konnte, blieben seine Augen doch unablässig auf das sich langsam entfernende Lamm gerich­tet. Dann nickte er Christoph zu, wies ihm noch

einmal mit der Hand die einzuschlagende Rich­tung, legte Rinderhorn und Ledertasche ab, behielt aber die Schleuder bei sich und ver­schwand dann in den Büschen des Waldrandes, sich zurück zur Straße wendend, als habe er wohl überlegt, daß an dieser Stelle des Waldes kein Lebenszeichen mehr erblickt werden dürfe.

Der junge Christoph hat später berichtet, daß in diesem Blick Michaels, mit dem er ihm seine Aufgabe zugewiesen habe, etwas Beson­deres gelegen habe, das er mit seiner ungeschick­ten Sprache nicht ausdrücken könne. Doch könne er soviel sagen, daß dieser Blick sehr ernst gewesen sei, daß hinter diesem Ernst aber auch eine leise Fröhlichkeit und eine leise Trauer gestanden hätten. Es sei der alte Michael in diesem Blick gewesen, wie sie ihn alle gekannt hätten, aber neben ihm habe sozusagen schon ein neuer Michael gestanden, den niemand noch gekannt hätte. Und anders könne er es eben nicht sagen.

Es geschah nun alles schnell vor ihrer aller Augen. Zur selben Zeit, als Michael, hinter der äußersten Waldspitze hervorlaufend, dem Lamm den Weg abzuschneiden suchte, setzten sich hinter dem Dorfrand die drei Reiter in Galopp. Sie waren weit entfernt und ihre Pferde wohl nicht die ausgeruhtesten, aber das Lamm machte Michael viel Mühe, und auch als er es gefangen und über die Schultern gelegt hatte, behinderte es seinen Lauf, und man konnte sehen, daß er stolperte, während er den Waldrand zu erreichen suchte, der seitwärts ,von den Verborgenen an die Heide stieß.

Hier geschah es, daß König Christoph, in der Voraussicht des Kommenden, seine Beherr­schung verlor und, die Hände um die Lippen gelegt, "laß los!" schrie. Aber auch wenn der Fliehende den Ruf gehört haben sollte, so war es ihm wohl auf keine Weise möglich, hier ge­horsam zu sein, denn als er, nochmals zurück­blickend, die Verfolger als die Schnelleren er­kannte, blieb er plötzlich stehen, dem Feinde zugewandt, ließ das Lamm von den Schultern gleiten, hielt es mit beiden Armen an die Brust gedrückt und erwartete nun das Kommende.

Die Reiter, mit Amt und Sorge eines Hirten wahrscheinlich wohl vertraut, schienen auch, als sie ihn erreicht hatten, keinen Spion oder verkleideten Soldaten in ihm zu vermuten, und hatten wohl nur, zuerst mit unverständlichen Worten und dann mit deutlichen Gebärden verlangt, er solle das Lamm als eine willkom­mene Beute vor den Sattel eines von ihnen auf das Pferd legen.

Doch hatte Michael sich geweigert, war zu­rückgetreten, ihren zugreifenden Händen aus­zuweichen, und schließlich, als einer der Reiter mit einem Fluch den Säbel aus der Scheide ge­rissen und erhoben hatte, hatte Michael das Lamm zur Erde gleiten lassen, die Schleuder ergriffen und den ihn Bedrohenden wahr­scheinlich zwischen die Augen getroffen, so daß er rücklings vom Pferde gestürzt war.

Dann hatte ein Lanzenstich ihn durch die Brust getroffen und ihn über das Lamm gewor­fen, über das er, mit schwindenden Sinnen, die geöffneten Arme gebreitet hielt.

Sie hatten dann den bewußtlosen Kameraden auf sein Pferd gehoben, hatten das Lamm unter dem Toten hervorgezogen, es über den Sattel­knopf gelegt, und waren dann langsam, den Schwankenden zwischen sich, zurückgeritten, wobei sie sich ab und zu umgeblickt hatten, ob aus den dunklen Wäldern nicht ein Rächer oder Verfolger hinter ihnen her sei.

In der Abenddämmerung hatten Christoph und sein Sohn den Toten geholt, auf einer Bahre aus Asten, wie ehemals sein Vater aus dem Walde heimgebracht worden war. Sein Gesicht war friedlich, von einem stillen Lächeln erhellt, und nur um die erloschenen Augen stand ein strenger Ernst, als weise er noch aus dem Tode Vorwurf und Mitleid als ungehörig zu­rück. Seine Mutter kniete neben ihm, ohne Tränen, und wischte mit ihrem Kopftuch den schmalen roten Strich behutsam fort, der zwischen seinen geschlossenen Lippen stand.

Am nächsten Tage schon zogen eigene Trup­pen durch das Dorf, und hinter den Wäldern stand der Donner der Kanonen auf, als ein dump­fer Ring, der sie nun umschloß und behütete.

Er war auch noch nicht gewichen, als sie Michael auf dem Friedhof des Dorfes begruben. Da der Pfarrer, von einem Säbelhieb vor der Kirchentür getroffen, nicht hatte kommen kön­nen, hielt der Lehrer Elwenspök nach alter Sitte der Landschaft die Totenrede. Er begann mit der hellen und tapferen Stimme, die sie alle, Erwachsene und Kinder, an ihm kannten, aber, schon nach den ersten Sätzen war es, als zer­breche etwas in seiner Brust, vor die er plötz­lich die gefalteten Hände hob, und er sprach so leise, als stehe er vor einem Schlafenden statt vor einem Toten.

Es sei nicht das Vaterland gewesen, sagte er, für das dieser junge und adlige Mensch gefallen sei, nicht der Kaiser und nicht ein Thron oder Altar dieser Erde. Sondern er sei für das Lamm des armen Mannes gefallen, von dem in der Bibel geschrieben stehe. Und in diesem Lamm des armen Mannes seien nun allerdings alle, Vaterländer und Kronen dieser Erde beschlossen, denn keinem Hirten dieser Welt könne Größeres beschieden sein als der Tod für das Ärmste seiner Herde.


In diesem jungen Leben sei auf eine herrliche Weise gewesen, wozu die andern siebzig und achtzig Jahre zu brauchen pflegten   der Kampf, die Liebe und der tapfere Tod. Und er selbst, als ein alter Mann, bekenne an diesem Grabe, daß die späte und milde Sonne seines Abends ihm von diesem Kinde gekommen sei. Das deutsche Land aber, über dem nun die dunkle Wolke des Krieges und der bitteren Not ohne Erbarmen stehe, könne von Gott nicht zum Untergange bestimmt sein, nachdem derselbe Gott in die Ärmsten und Geringsten dieser deutschen Erde eine Seele gelegt habe, wie sie in diesem jungen Hirten geleuchtet und ge­brannt habe. Und nichts anderes könne er beten an diesem jungen Grabe, als daß die Seele dieses Toten allezeit über dem Dorfe wie über dem ganzen Vaterland leben möge. Dann werde, in fernen kommenden Zeiten vielleicht es von selbst sich fügen, daß das Wesen solcher Seele alle Länder durchdringen und dazu helfen werde, die Herrschaft dessen aufzurichten, der das Lamm Gottes genannt worden sei.

Es war nicht verwunderlich, daß Christoph, als der König des Dorfes, über dessen Tod weinte, der ein Helfer seines Ruhmes gewesen war. Daß Adam, mit gänzlich verzweifelten Augen, in das Grab dessen starrte, der allein ihm hätte zeigen können, wie ein schweres und gefährliches Leben zu bezwingen sei. Aber dies war allen seltsam und fast unbegreiflich, daß Laban aus dem Nachbardorf wie ein Verlore­ner an dem Grabe stand und mit zitternden Händen Erde auf die Stirn seines Bezwingers streute. Es war nicht zu vermuten, daß eine späte Reue über einen Kinderhaß ihn erfüllte, und es mochte wohl so sein, daß hier ein Ge­meinsames des Amtes und Schicksals auch ihn umfaßt hatte, ein Gemeinsames des Ruhmes vielleicht dazu, und daß er in dem Toten nun ein Stück seiner selbst sah, eines schweren und geringen Lebens, das vom Schicksal zuerst er­griffen wurde, wenn es die harten Augen auf den Frieden eines armen Dorfes warf.

Es ist dann der Krieg noch mehrmals über die Landschaft hin und her gegangen. Er hat Felder umgewühlt und Häuser zu Asche ge­brannt. Er hat auch die Feldsteinmauer des Friedhofes übereinandergeworfen und sein rotes, glühendes Licht in das Dunkel aufgeris­sener Gräber geschleudert. Aber er hat das ein­fache Holzkreuz nicht berührt, das zu Häupten Michaels aufgestellt worden ist und das nach dem Willen des Lehrers Elwenspök die Worte trägt:

Michael, einer Witwe Sohn

*

Angehängt in der 1951er Ausgabe: LEBENSLAUF (gezeichnet mit "Ernst Wiechert")

Geboren 18. Mai 1887 in Forsthaus Kleinort, Kreis Sensburg, Ostpr. - Gestorben 24. August 1950 in Uerikon bei Zürich, Schweiz.

Vater: Emil Martin Wiechert, Kgl. Förster, gest. 1937.

Mutter: Henriette Wiechert, geb. Andrea, gest. 1912.

Erziehung durch Hauslehrer bis 1898, von da bis 1905 Kgl. Oberrealschule auf der Burg in Königsberg, Pr.

1905 Reifeprüfung.

1906 Erzieher in der Familie des baltischen Baron Grotthuß bei Königsberg und Memel.

1905 1911 Studium an der Albertus Universit­ät Königsberg: Naturwissenschaften, Englisch, Erdkunde Philosophie, Deutsch.

1911 Staatsexamen.

1911 1933 im höheren Schuldienst, bis 1930 in Königsberg.

1930 1933 in Berlin, Kaiserin   Augusta   Gymnasium. 1914 1918 im ersten Weltkrieg. Verwundet. Leutnant d. R. 1933 1936 in Ambach am Starnberger See, ab 1936 Hof Gagert, in Wolfratshausen.

Erstes Buch 1913 geschrieben. Reisen nach Schweden, Norwegen, Dänemark, England, Frankreich, der Schweiz, Italien, Tschechoslowakei, Österreich. Fast alle zu Vorlesungen aus eigenen Werken.

1938 Auslandsreiseverbot.

6. Mai bis 30. August 1938 Haft im Lager Buchenwald.

Bis 1945 unter Gestapo Aufsicht.

(+ 24.08.1950 auf dem Rüthihof in Uerikon; Grab in Stäfa)

(Ausgabe: SW. Bd. 6. S. 493 -551; Einzelausgabe: Ernst Wiechert. Hirtennovelle. München 1951: Kurt Desch Verlag.)


*

Zur Analyse: "Hirtennovelle" von Wiechert

Stichworte für eine ästhetische und soziokulturelle Analyse:

Viele, teils ineinandergreifende Gegensätzlichkeiten:

Männliches - Weibliches

Technik-Mechanisches - Natur, Gottgegebenheit

Deutsches, Nationales - Russisches, Fremdes

Das Moralische: Reinheit, Keuschheit - Maßlosigkeit, Begierde

Lebenseinstellung: Ruhe - Erregtheit

Glauben: Das Unnennbare - das Bewußte, das Bewußtsein

Lebenswelt: Stadt - Land

Unruhe der Zivilisation - Ordnung, Friedlichkeit der Natur

Religiöses: Laban-Motivik - Michaels-Motivik

Christliches - Jüdisches (Michael vs. Laban)

*

Erzählte Zeit: Vorkriegszeit; unvermittelter Einbruch - 1. Weltkrieg - siegreiches Ende in Ostpreußen

Allegorie: Vaterlosigkeit (Kaiser tot; demokratischer Präsident nicht anerkannt; Sehnsucht nach dem "Führer")

Intentionale Zeit als Wirkungszeit: Vorspiel zum 2. Weltkrieg

Glaubensmäßige Intention, Verflechtung, Einbindung der erdhaften, germanischen, naturnahen Momente in die nationalsozialistische Ideologie (auch des Antisemitismus)

Gefühl - Verstand

Erwachsene - Kinder, Kindliches

Töter, Krieger ("Kosaken") - Opfer des Lebens

Dialogfähigkeit: "Urworte" gegen Mitteilungslosigkeit

Stier - Lamm

"Bismarck" als Garant - Friedlichkeit des Moordorfes

Moderne Welt - Christentum, Kirche

Funktion der sozialen Unterschiede, Entwicklungsverständnis:

Ständisches, "Blut"-Orientierung, angeborene Charaktere, "Gebundensein" - soziale Entwicklung, "Werden", Bildungsentfaltung

*

Motive:

Laban (hebr. "weiß"): Heute noch Redensart "Langer Laban": gemeint ist dann ein Mann von großer, aber wohl nicht allzu gut proportionierter Körpergestalt.

AT: Gen. Kap. 29-31: Er ist der schlaue Schwiegervater des Patriarchen Jakob, Vater der beiden Töchter Lea und Rahel (29,16)

Laban war habsüchtig und betrügerisch (schob dem Jakob in dessen Hochzeitsnacht die ältere Tochter unter) und diente den Götzen (31,30), obwohl er den Herrn kannte und sah, dass er ihn um Jakobs willen segnete. Als Jakob nach 20jährigem Dienst verließ, verfolgte er ihn; doch Gott verbot ihm, mit Jakob anders als freundlich zu reden. So schlossen sie einen Bund...(31,55)

Im AT wird aber nichts über Labans Aussehen gesagt. Vermutlich geht der Ausdruck zurück auf eine volkstümliche Alliteration,. Wobei auch mitgespielt haben kann, dass nach Luthers Übersetzung das Wort "Laban" wie nach "Lappen" oder "Laffe" klingt.

*


Biblisches vom "guten Hirten":


1) Das Bild vom H. spielt sowohl im AT als auch im NT eine große Rolle. Der Beruf galt als durchaus ehrenhaft; das geht schon daraus hervor, daß David von der Herde weg zum König (2 Sam 7,8) und Amos zum Propheten (Am 1,1; 7,14) be­rufen wird.


2) Jes 44,28; Mi 5,4; Jer 3,15 werden die Fürsten des Volkes mit H. verglichen. Dabei wird zwischen guten (Hes 34,11 16; Jes 40,11) und schlechten (Jes 56,11; Hes 34,2ff; Sach 11,17) unterschieden, je nachdem ihr Blick auf sich selbst oder auf die Tiere der Herde, d. h., auf das Volk gerichtet ist.


3) Auch Gott selbst spricht von sich im Bilde des H.: Ps 23; Ps 80,2; Jes 40,11; Jer 31,10; er will sich um sein Volk kümmern, das Verlorene sammeln, das Kranke verbinden, den Seinen geben, was sie brauchen. So hat auch Jesus sein Amt und seinen Dienst im Gleichnis vom guten H. dargestellt (Joh 10; vgl. 1 Petr 2,25; Hebt 13,20), im ausdrücklichen Gegensatz zum »Mietling«, der die Herde im Stich läßt, sobald er selbst bedroht ist.

4) Schließlich wird das Bild auch gebraucht für die jünger und die Träger bes. Dienste in der Gemein­de: Petrus soll die Schafe weiden (Joh 21, 15ff); und die Leiter der Gemeinde werden Eph 4,11; Apg 20, 28 als H. bezeichnet, wie im AT schon Jer 3,15; 231 2. Der H. lebt in Treue und Fürsorge ganz für die Menschen, die ihm anvertraut sind. Vgl. auch Lehrer.

Hirtenhaus (hebr. Beth Eked).

Ort an der Straße zwischen Jesrael und Samaria, wo Jehu 42 Männer der judäischen Königsfamilie umbringen ließ (2 Kö 10,12 14). Man sucht den Ort im heutigen Beit Kad, 26 km nordöstl. von Samaria. (Aus: Lexikon zur Bibel. Hrsg. v. F. Rienecker. S. 617f.)

*

Hirten-Motiv:

"Schafe, die keinen Hirten haben" =

Der Hirte, der dem verlorenen Schaf nachgeht und seine Herde im Stich läßt. - Der "gute Hirte" = (Mt 18,12-24); (Lk 15,3-7) vorher schon: Ez 34,12-16): Im Gleichnis ist das Schaf ein in die Irre gegangener Mensch, um den der Besitzer der Herde (, mit dem sich Jesu vergleicht und wozu er seine Jünger und Priester auffordert) bemüht, dass man sich also pastoral um ihn kümmere; denn das Schaf, das sich verirrt hat, läßt man nicht im Stich. Jesus rechtfertigte damit seinen Umgang mit den Sündern, der ihm von manchen Frommen zum Vorwurf gemacht wurde.

  • Problem:

  • Blut, Verwandtschaft, Determination:


Lessing: Nathan der Weise


Nathan (3. Aufzug, Gespräch Nathan, Sultan Saladin):

SALADIN.

Die Ringe! - Spiele nicht mit mir! - Ich dächte,

Daß die Religionen, die ich dir

Genannt, doch wohl zu unterscheiden wären.

Bis auf die Kleidung; bis auf Fleisch und Trank!


Nathan:

Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte?

Geschrieben oder überliefert! - Und

Geschichte muß doch wohl allein auf Treu

Und Glauben angenommen werden? - Nicht? -

Nun wessen Treu und Glauben zieht man denn

Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen?

Doch deren Blut wir sind? doch deren, die

Von Kindheit an uns Proben ihrer Liebe

Gegeben? die uns nie getäuscht, als wo

Getäuscht zu werden uns heilsamer war? -

Wie kann ich meinen Vätern weniger,

Als du den deinen glauben? Oder umgekehrt. -

Kann ich von dir verlangen, daß du deine

Vorfahren Lügen strafst, um meinen nicht

Zu widersprechen? Oder umgekehrt.

Das nämliche gilt von den Christen. Nicht? -


[Lessing: Nathan der Weise, S. 108. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 31167 (vgl. Lessing-W Bd. 2, S. 278)]

*

RECHA. Nicht mehr, nicht weniger,

Als meinen Vater mir zu lassen; und

Mich ihm! - Noch weiß ich nicht, wer sonst mein Vater

Zu sein verlangt; - verlangen kann. Wills auch

Nicht wissen. Aber macht denn nur das Blut

Den Vater? nur das Blut?


[Lessing: Nathan der Weise, S. 197. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 31256 (vgl. Lessing-W Bd. 2, S. 339)]


*

SALADIN.

Gar sterbend! - Nicht auch faselnd schon? - Und wärs

Auch wahr! - Ja wohl: das Blut, das Blut allein

Macht lange noch den Vater nicht! macht kaum

Den Vater eines Tieres! gibt zum höchsten

Das erste Recht, sich diesen Namen zu

Erwerben! - Laß dir doch nicht bange sein! -

Und weißt du was? Sobald der Väter zwei

Sich um dich streiten: - laß sie beide; nimm

Den dritten! - Nimm dann mich zu deinem Vater!


[Lessing: Nathan der Weise, S. 198. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 31257 (vgl. Lessing-Werke. Bd. 2, S. 339)]


*

Lamm Gottes:

E.W.: ...die drei Reiter in Galopp. Sie waren weit entfernt und ihre Pferde wohl nicht die ausgeruhtesten, aber das Lamm machte Michael viel Mühe, und auch als er es gefangen und über die Schultern gelegt hatte, behinderte es seinen Lauf, und man konnte sehen, daß er stolperte, während er den Waldrand zu erreichen suchte, der seitwärts ,von den Verborgenen an die Heide stieß.

Hier geschah es, daß König Christoph, in der Voraussicht des Kommenden, seine Beherr­schung verlor und, die Hände um die Lippen gelegt, "laß los!" schrie. Aber auch wenn der Fliehende den Ruf gehört haben sollte, so war es ihm wohl auf keine Weise möglich, hier ge­horsam zu sein, denn als er, nochmals zurück­blickend, die Verfolger als die Schnelleren er­kannte, blieb er plötzlich stehen, dem Feinde zugewandt, ließ das Lamm von den Schultern gleiten, hielt es mit beiden Armen an die Brust gedrückt und erwartete nun das Kommende. (S. 40)

*

Und nichts anderes könne er beten an diesem jungen Grabe, als daß die Seele dieses Toten allezeit über dem Dorfe wie über dem ganzen Vaterland leben möge. Dann werde, in fernen kommenden Zeiten vielleicht es von selbst sich fügen, daß das Wesen solcher Seele alle Länder durchdringen und dazu helfen werde, die Herrschaft dessen aufzurichten, der das Lamm Gottes genannt worden sei. (S. 42)


Biblisch: Er ist das Lamm Gottes, das die Sünden auf sich nimmt (Jesaia 53,7) Wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird...

Der leidende Gottesknecht wird dann im Christentum mit Jesu gleichgesetzt (Apg 8,30-35)

Lamm (im Johannes-Evangelium)

*

Neben der textimmanenten Interpretation als Wiedergabe der damaligen Situation in Dorf, Wald, Grenze und Kriegssituation zwischen dem Deutschen Reich und dem Russischen Kaiserreich -


  • Die familialen Strukturen: Vater, Mutter, Sohn...

  • Die dörfliche Lebenswelt als Kosmos des Zukünftigen?

  • Die religiöse Entfaltung der Personen und Handlungen und ihrer Motive - und Übertragung auf das Entstehungs- und Lesejahr 1934/35

  • Die politische - historische Entfaltung - für die militärischen (außenpolitischen) Erfordernisse: die Russin, die russischen Truppen, die Mörder

  • Als Beitrag zur inner-nationalsozialistischen und kirchlichen und sozialen Dimension einer Denkers und bibel-kundigen Dichters.

*

Das Jüdische Element - auch... in der "Hirtennovelle" (Arbeitsfassung am 15.06.2003)

Jüdisch...? Was hieß von 1933 bis Mai 1945 "jüdisch"? Was konnte das Adjektiv, das nie neutral war wie eine andere Religionsbezeichnung, was durfte, was musste es heißen. Welche Konnotationen waren erlaubt, gängig, politisch gewollt...?

Bei E.W. las ich in seinem zweiten Band der Erinnerungen: "Jahre und Zeiten" (1949):

Der Unterricht fand in meiner alten Burgschule statt, in sonst unbenützten Nebenräumen, und mein schwarzgelock­ter Direktor hatte eine ganz lose Oberaufsicht über die Kurse. Das war nun für mich als den Autor der berüchtig­ten Flucht eine mehr als schwierige Situation, und ich brachte sie auch vor dem Präsidenten der Schulbehörde mit vorsichtigen Worten zur Sprache. Aber er hatte nur ein feines, ironisches Lächeln dafür und versicherte mir, daß ich ganz selbständig sei und daß ich bei ihm immer Rat und Hilfe finden würde.

So begann ich denn mein Werk, und ich glaube, daß ich es meinen Schülern und mir zur Freude leistete. Es war in jenen Zeiten ein schwieriges und manchmal gefährliches Amt. Politische Leidenschaften beherrschten alle Gebiete des Le­bens, und diese im Feuer des Krieges früh geglühten Zu­hörer kamen aus allen Schichten des Volkes, der Meinungen und der Überzeugungen. Es waren Söhne des Adels und der Arbeiterschaft, die ein neues Selbstbewußtsein gewonnen hatte. Es waren Soldaten ohne Rang und Offiziere, die auf Krücken gingen. Söhne der Feudalgeschlechter mit einer Grafenkrone und Juden, die mit den radikalen Lehren der russischen Revolutionäre auf eine oft unverhüllte Weise übereinstimmten.

Aber ich habe früh erfahren, daß nichts für den Erzieher von so maßgeblichem Gewicht ist wie seine menschliche Hal­tung. Wer sich auf Wissen und Methode beschränkt, wird immer nur als ein armer Handlanger betrachtet werden, der er ja dann auch ist. Und wer sich von seiner mühsam erwor­benen Humanität abziehen läßt in die Bereiche der Tages­kämpfe, zu politischen Meinungen von Parteien und Kasten, ist auf eine noch verhängnisvollere Weise verloren. Auch der aus dein Kriege Heimgekehrte, und er besonders, verlangt nach einem festen Boden, den nur die Menschlichkeit ver­leiht, nur Gleichmäßigkeit und Festigkeit der Gesinnung, die das Tägliche dem Tage überläßt und nur das umfaßt, was in, Schwankenden eine Gewähr des Unveränderlichen bietet.

Diese jungen Menschen verlangten Achtung vor ihrem Schicksal, vor den Jahren, die sie als Unfertige schon mit dem Tode würfeln ließen, und diese Achtung ihnen zu erweisen, war ich ganz bereit. Sie verlangten Wissen oder doch den Weg, der sie in den Stand setzte, es einmal erwerben zu kön­nen, und diesen Weg zeigte ich ihnen. Und sie verlangten eine bestimmte Wärme des Herzens, die sie in den kalten Jahren schmerzlich entbehrt hatten. Eine Art von Sorge um ihr junges Schicksal und die ganz sanfte und behutsame Lei­tung aus der Welt der Kriegsartikel in die einer noch un­geklärten aber leise geahnten und erstrebten Freiheit. Nicht nur eine der Umgangsformen in ihren Schulbänken, sondern auch eine des Geistes und mehr noch eine des Herzens.

Es gab Reibungen und Konflikte zwischen ihnen, und ich hatte sie zu schlichten. Es gab Taktlosigkeiten und selbst Roheiten des Direktors, und ich hatte sie mit Schärfe zu­rückzuweisen. Es gab antisemitische Äußerungen und Hand­lungen, und ich hatte das Beschämende solcher primitiven Affekte aufzuzeigen und zu bedauern. Ich war damals sicher­lich, was man landläufig einen »Reaktionär« nannte. Ich trug einen dunkelgrün gefärbten Feldmantel mit einem Pelz­kragen und hatte den Beinamen »Joachim Hans von Ziethen«. Aber es war mir selbstverständlich, meine Hand über alles Wehrlose zu halten, und keine »weltanschauliche« Leidenschaft konnte mich verleiten, die Formen des Anstan­des oder die großen Gesetze der Menschlichkeit zu verletzen. Und es ist mir eine schöne Erinnerung, daß die jungen Grafen Ostelbiens mir mit derselben Liebe anhingen wie die jüdischen Überradikalen und daß keiner dem anderen diese Liebe nachtrug.“

(Aus der Ausgabe: E.W.: Es sprach eine Stimme. S. 370ff.)

* * *

"... wie die jüdischen Überradikalen..."

Lassen Sie mich zuerst die üblichen, reichsdeutschen Gewohnheiten schildern,die in einer Vielzahl von diffamierenden Ausdrücken und Invektiven überliefert ist; es ist eine makabre Auswahl von Originalbegriffen, die das Jüdisch-Sein, die jüdische Religion, die jüdische Kultur denunzieren sollte...


- Jud XY= herrische NS-Anrede gegenüber Juden


- Juda = negative, pathetische Bezeichnung für die Gesamtheit der Juden; Generalgouverneur Frank, 16.8.43: "denn die Front des ns. Reiches ist auch die Front aller anständigen Menschen der Welt gegenüber Juda und der Weltplutokratiell <“


  "Juda verrecke": Haßparole der Ns. bis Mitte 1935


- Jude = nach NS Definition (1.Verordnung vom 14.11.35 zum Reichs­bürgergesetz): jeder Mensch, der von mindestens drei der Rasse nach jüdischen "Großelternteilen" abstammte (*Istjude); außerdem unter bestimmten Voraussetzungen (kraft Gesetz) ein deutscher Staatsangehöriger, der von zwei volljudischen Großelternteilen abstammte (*Geltungsjude, nicht zu ver­wechseln mit dem *jüdischen Mischling); "zur Feststellung der Rassenzugehörigkeit der Großeltern dient die unwiderleg­liehe gesetzliche Vermutung, daß ein Großelternteil als volljüdisch gilt, wenn er der jüdischen Religionsgemeinschaft angehört hat


- Volljude = ein Jude dessen gesamte Vorfahren Juden waren


- der Jude

(1) kollektives Feindsymbol, meist in der Singular Form; Gegensatz z.B.: 'der Deutsche'

  Wenn der Jude deutsch schreibt, lügt er = Haßparole an den Schwarzen Brettern der Hochschulen 1933 -  Wer den Juden nicht kennt, kennt den Teufel nicht: Haßparole auf den Zeitungskästen des * "Stürmer"

(2) brandmarkender Zusatz zum Namen jüdischer Wissen­schaftler, Künstler, Literaten usw.: der Jude Einstein, der Jude Marx

(3) Schimpfname für alle dem NS Regime verhaßten Perso­nen, auch wenn sie keine Juden waren; der Jude Kiepura   der Tenor Jan Kiepura war Pole

- Juden: „Juden!“ = Kennzeichnungsschild für Räume, die Juden be­treten durften, Nichtjuden aber meiden mußten; war auch an Toilettentüren zu lesen

  Für Juden = Aufschrift auf dem Dach des kleinen Verga­sungs-gebäudes im KZ Sobibor

  Für Juden verboten = Anschlag an Gaststätten, Geschäf­ten und, ab 1933, an den Ortseingängen von Seebädern; die gefälligere Form war. Juden unerwünscht

  Die Juden sind an allem schuld = häufig wiederholte Propagandaformel für die angebliche Urhebersehaft der Juden am Zweiten Weltkrieg

  Die Juden sind unser Unglück = Motto auf dem Titelblatt jeder Ausgabe des "Stürmer" und auf den *Stürmer Kästen

  „Juden  und Jesuitenverlage“ = Begriff aus Will Vespers Artikeln gegen jüdische Autoren und Verleger; eine Variation der üblichen Formel von den drei Verschwörermächten Juden, Jesuiten und Freimaurer, die angeblich Deutschlands Verderben wollten

  Juden und Judengenossen = eine weitere häufige Wendung, unter anderem auch in Vespers Vokabular: "wir wissen, daß im Ausland viele Buchhandlungen... in den Händen von Juden und Judengenossen sind... Wir müssen den Weg zu den ande­ren Völkern ohne die Juden finden, ja, den Juden als Ver­mittler ablehnen und vernichten" <53:92>

- Judenaktion

(1) gängiges Wort der Aktensprache für die Räumung jüdi­scher Wohngeblete und Ghettos; dazu gehörte die Vertrei­bung der Juden aus ihren Wohnungen und, am *Umschlag­platz, ihr Verladen in LKWs oder Waggons, das Einsammeln und *Erfassen ihres zurückgelassenen Besitzes durch die SS, und ihr Transport ins KZ oder direkt ins Vernichtungslager

(2) willkürliche Ausschreitungen gegen Juden; Aktennotiz für den Oberbefehlshaber des Heeres: "am 23.11.39 veranstaltet Polizeioberleutnant Altendorf eine 'Juden Aktion' in Parzew. Seine Truppe (Leute vom Pol. Batl. 102) plündert und zer­stört dabei eine größere Anzahl von Geschäften und mißhan­delt die Zivilbevölkerung"


- Judenbann = durch Polizeiverordnung festgesetztes Sperrgebiet in Städten, das Juden nicht mehr betreten durften


- judenblind = jemand, der die ns. Politik gegenüber den Juden nicht über­nahm <17:55>


- Judenboykott

(1) Aufforderung an Deutsche, nicht in jüdischen Geschäften zu kaufen; erster Boykott (einer ganzen Serie) am 1.4.33, mit SA  und SS Wachen vor den Türen jüdischer Geschäfte und mit Plakaten wie: "Bis Sonnabend früh 10 Uhr hat das Judentum Bedenkzeit! Dann beginnt der Kampf' Die Juden aller Welt wollen Deutschland vernichten! Deutsches Volk! Wehr Dich! Kauf nicht beim Juden!"

(2) Verbot für alle Angehörigen der SA, SS und anderer NS Organisationen sowie der Wehrmacht in Uniform, in jüdi­sehen Geschäften einzukaufen; galt bezeichnenderweise nicht für Kaufhäuser

- Judendelikt = Verstoß von Juden gegen anti jüdische Gesetze und Erlasse, z.B. Nichttragen des Judensterns; wurde mit strenger Bestra­fung und Aberkennung jeglicher "Rechte" geahndet <27:148>

die Judenfrage: Schlagwort in der antisemitischen Diskussion seit dem 19. Jahrhundert (aber auch im Untertitel eines Werks von Theo­dor Herzl); nicht genau zu definierender Sammelbegriff für Probleme und Gefahren aller Art, die sich angeblich aus der Existenz der Juden in einer nichtjüdischen Umgebung erga­ben; tauchte immer dann auf, wenn die Juden als allgegen­wärtige Bedrohung ihrer "Wirtsvölker" zu denunzieren waren, von der man sieh endlich befreien müsse (z.B. E.K. Dühring: 'Die Judenfrage als Frage der Rassenschädliehkeit für Exi­stenz, Sitte und Kultur der Völker', 1892); bei den Ns. wurde die J. in Traktaten, in der Schule usw. "behandelten und schließlich einer "Lösung zugeführt" (*Endlösung): "Rassenkunde und Judenfrage müssen sich durch den Unterrricht aller Altersstufen wie ein rotes Faden hindurchziehen" (Julius Streicher <18:87); "nur die von der Kirche beeinflußten Kreise gehen in der Judenfrage noch nicht mit"; "in der Judenfrage vertraut sich der Vorstand der Führung der Reichsregierung an" (Erklärung des Börsenver­eins, 12.4.33, <53:66>; *Institut zur Erforschung der Juden­frage

- judenfrei = Bezeichnung für die geforderte und dann die vollendete Verdrängung der Juden aus dem öffentlichen und privaten Leben; Schulen und Hochschulen judenfrei <2>; WVHA an den Kommandanten von Auschwitz, 5.10.41: "die sich in den ver­schiedenen KL im Reichsgebiet noch befindlichen jüdischen Häftlinge sollen nach Auschwitz überstellt werden. Es han­delt sich um etwa 1.600 Mann. Damit werden die im Reichs­geblet gelegenen KL judenfrei".

- Judengelb = Farbe des Judensterns; in einer Verordnung aus Polen vom 14.11.39 heißt es, Juden hätten "eine 10 cm breite Armbinde in judengelber Farbe" zu tragen

- Judengesetze = Sammelbegriff für die Gesetze gegen die jüdische Bevölke­rung

- Judenhaus = Haus eines jüdischen Besitzers, oft mit dieser Aufschrift, in das Juden zwangsweise eingewiesen werden konnten; pro Person oder Familie ein Zimmer, gemeinsame Bad  und Küchenbenutzung; in verschiedenen Städten Deutschlands schon vor der Einführung des Judensterns

- Judenhure = nazistische Bezeichnung für eine „arische“ Frau, die ein Verhältnis mit einem jüdischen Mann hatte

- Judenkarte = *Lebensmittelkarte mit dem Aufdruck "J" und den extrem redu­zierten Zuteilungsmengen; später wurde das Wort 'Jude' schräg über die Karte und schließlich auf jeden Abschnitt gedruckt; *Bewirtschaftung

Judenknecht = schlimmstes Schimpfwort für Arier, die Kontakt zu Juden pflegten <42:182> oder den Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte ignorierten und weiter dort einkauften <23:26>; Goebbels (16.11.41): „Miese Judenknechte hätten eigentlich auch Anspruch auf einen „Judenstern“ <63>

- Judenleihgebühr = mußte von Unternehmern, die in den eingegliederten und besetzen Ostgebieten jüdische Arbeiter beschäftigten, an die Kasse der SS Ghettoverwaltung gezahlt werden; nur ein Bruchteil davon wurde dem Ältestenrat der Juden "zur Unter­bringung der nicht einsatzfähigen Juden" (in Lodz z.B. 30% des angesetzten Stundenlohns von  ,70 RM)


- Judenrat = mußte sofort nach dem Einmarsch in Polen (im September 1939) in jeder jüdischen Gemeinde gewählt werden und war "vollverantwortlich“ für die exakte und termingemäße Durchführung aller Weisungen", die speziell die Erfassung der Gemeindemitglieder nach Altersgruppen und Berufen und für die Organisation der Transporte in größere "Konzentrie­rungsstädte", später in die noch größeren Ghettos; dort war er dann auch für die Selbsterhaltung des Ghettos zuständig <67:47>; *Ältestenrat

- Judenreferat = Abteilung IV B 4 des Reichssicherheitshauptamts unter Adolf Eichmann, 1939 eingerichtet

- judenrein = * judenfrei; "die Stadt Krakau müsse die judenreinste Stadt des Generalgouvernements werden" <61:178>

- Judenrepublik = Schimpfwort für die Weimarer Republik <9>

- Judensau, Judenschwein = Beschimpfung jüdischer Männer und Frauen: Judensechserl Bezeichnung für die angeblich typische "jüdische Nase", propagiert in dem antisemitischen Kinderbuch 'Der Giftpilz': "die Judennase ist an ihrer Spitze gebogen. Sie sieht aus wie ein Sechser. Daher nennt man sie 'Judensechserl"

- Judensöldling = Schimpfwort der NS. für Liberale, Demokraten und andere Deutsche, die sich zur Weimarer Republik bekannten

- Judenstämmling = Abkömmling von Juden

- Judenstern = zwei ineinandergeschobene Dreiecke, schwarz ausgezogen auf gelbem Stoff, und darin das formal der hebräischen Schrift angeglichene Wort 'Jude'; war im Deutschen Reich laut Poli­zeiverordnung vom 1.9.41 von jedem Juden ab 6 Jahren auf der linken Brustseite des Kleidungstücks festgenäht zu tragen; Goebbels, 16.11.41: "wenn einer den Judenstern trägt, so ist er damit als Volksfeind gekennzeichnet. Wer mit ihm noch privaten Umgang pflegt, gehört zu ihm und muß gleich wie ein Jude gewertet und behandelt werden" <63>; ab 15.4.42 mußte an der Tür jüdischer Wohnungen neben dem Namensschild ein Judenstern in schwarzem Druck auf weißem Papier angebracht werden; Nichtbefolgung führte zur Einlieferung ins Konzentrationslager; im *Generalgouvernement wurde das Tragen eines blauen Juden  (oder Zion )sterns auf weißer Armbinde schon Ende 1939 zur Pflicht <67:49>; im Warthegau dagegen hatten die Juden eine gelbe Armbinde und ab 11.12.39 "auf der rechten Brust  und Rückenseite einen 10 cm hohen gelben David­sternff zu tragen <76:9> Judenvermögensabgabe = *Kontribution jüdisch diffamierender Wortzusatz in Standardbeschimpfungen: jü­disch asiatischer Bolschewismus <42:164>;

- jüdisch bolschewi­stische Kulturlosigkeit <42:179>,

- jüdisch marxistische Weltan­schauung <42:179>

- jüdisch kapitalistisches Ausbeutungssystem = * Zinsknecht­schaft

- jüdisch liberalistiseh = * Liberalismus jüdisch versippt mit Juden verwandt, verschwägert, verheiratet

- jüdische Geistesüberfremdung = der angeblich dominierende Einfluß des Judentums auf die deutsche Kultur vor 1933

- jüdische Greuelhetze (des Auslands) diente als Vorwand für *Aktionen gegen jüdische Einrichtun­gen und Geschäfte, z.B. beim *Judenboykott


- jüdische Großmutter

da sich die rassische Bewertung des Einzelnen nach der Rassenzugehörigkeit seiner Großeltern richtete, kam das makabre Scherzwort von der jüdischen Großmutter auf   für einen jüdischen Vorfahren, dessen Existenz bei der Aufstel­lung der Ahnentafel offenbar wurde und vertuscht werden mußte; *Abstammungsnachweis


- jüdische Intelligenz = abfälliges Wort für alle dem NS Regime Missliebigen der jüdische Krieg Propagandaschlagwort für die angebliche Schuld der Juden am Zweiten Weltkrieg


- jüdische Pressetaktik = vor der Machtübernahme: Vorwurf der Ns. gegen den Teil der Presse, der dem NS kritisch gegenüberstand, z.B. in Hitlers 'Mein Kampf (S.267)


- jüdische Rasse = Zusammenfassung alles Jüdischen   Gegensatz zum Deutsch­tum. Also keine Religonsbezeichnung wie "christlich", sondern ein politisches, hetzerisches, rassisches Verdikt.


- jüdische Winterhilfe = Selbsthilfeorganisation der Juden als Parallele zum *Winter­hilfswerk der *NSV


- jüdischer Feuilletonismus = Unwissenschaftlichkeit; Vorwurf, der auch Angehörigen des linken Bürgertums gemacht wurde <42:108>


- jüdischer Mischling = nach dem Runderlaß vom 26.11.35 wurde zwischen jüdischen Mischlingen 1. Grades, die von zwei volljüdischen "Groß­elternteilen11 abstammten und keine *Geltungsjuden waren (sogenannten "Halbjuden") und den jüdischen Mischlingen 2. Grades unterschieden, die von einem volljüdischen Groß­elternteil abstammten; Mischlinge 1. Grades waren vom Besuch Höherer Schulen und Universitäten ausgeschlossen; es gab Pläne, sie zu sterilisie­ren, wenn sie im "Reichsgebiet verbleiben" wollten, oder sie in eine nach Geschlechtern getrennte "Mischlingssiedlung" *abzuschieben <61:388>; einem Mischling 2. Grades (dem "Vierteljuden"), der nach ns. Plänen mit seinen Nachkommen im deutschen Volk aufgehen sollte, war die Ehe mit einem Juden verboten; die Bezeichnungen 'Halb ' oder 'Vierteljude, waren keine juristischen Begriffe <69:114>

- Jüdlein = Ausdruck äußerster Verachtung für Juden; Bericht eines Einsatz-gruppenangehörigen, 21.6.42: "Wir haben von den hier allein in Kamenetz Podolsk lebenden Jüdlein nur noch einen verschwindenden % Satz von den 24.000. Die in den Rayons lebenden Jüdlein gehören ebenfalls zu unserer engeren Kundschaft. Wir machen Bahn ohne Gewissens-bisse"

(Zitatnachweise aus "NS-Deutsch" sind hier weggelassen.)

Zusammenfassung:

Wiecherts Ausdruck von (selbstverständlich im Plural gekennzeichneten!) "jüdischen Überradikalen" scheint eine eher vereinzelte Stimme, aber wohl gruppenmäßige Wortbildung, wahrscheinlich aus Pädagogen-Mündern sein. Es muss bei dieser Etikettierung nicht nach Argumenten, nach Interessen, nicht nach Meinungen oder Fakten - sondern nach äußerlicher und prägender Kennzeichnung - aber ein probates Mittel gewesen sein, "jüdische Besonderheit" (um es neutral und ahnungslos zu formulieren) aufzuzeichnen; hier durchaus mit Verständnis für solche Art jugendlichen Überschwanges; der allerdings nicht den normal-deutschen, also den christlichen (ob katholischen oder protestantischen) jungen Männern zu diktiert wird.



*

Aus der Rezeptionsgeschichte:

Berendson, ein jüdischer Name, der Name eines sensiblen, weil "betroffenen" Lesers der "Hirtennovelle", ein Zeitzeuge der Entstehungs- und Haupt-Lesezeit der Novelle:


Walter A. Berendsohn: „Ernst Wiechert: 'Hirtennovelle'"


Ernst Wiecherts "Hirtennovelle" ist ein Beispiel der schönen Literatur zur Zeit der heimlichen Aufrüstung und geistigen Kriegsvorbereitung in der Frühzeit des Dritten Reiches (1935). Ein Zufall hat mir das Büch­lein jetzt in die Hände gespielt. Ein deutsch jüdischer Emigrant, 45 Jahre alt, rühmte die Novelle mit offenbarer Begeisterung in superlativi­schen Ausdrücken. Da nahm ich sie mit heim. Ernst Wiechert ist ja kein Irgendwer. Er hatte sich schon 1933 einen Namen gemacht. Auch später gehörte er zu den wenigen, daheimgebliebenen Dichtern, deren Bücher noch vom Ausland gelesen und in fremde Sprachen übersetzt wurden. Es ist bekannt, daß er wegen mutiger Reden und Andeutun­gen in seinen Werken mehrmals mit der Gestapo in ernsten Konflikt geriet. Er ist begabt und nicht charakterlos. Und dennoch ...

Die Einleitung der„Hirtennovelle" ist schlicht und ergreifend. Ein sechsjähriger Knabe wird mit Essen zu zwei Waldarbeitern geschickt und erlebt den Sturz einer riesigen Kiefer, die den Vater erschlägt und seinem Kameraden das Rückgrat bricht. Das Kind versteht weder das Stöhnen des einen noch das tiefe Schweigen des anderen, und als die Fliegen sich auf die Augenlider des Vaters setzen, bricht es einen Zweig und wehrt sie ab. So hält es treue Totenwacht, bis man gegen Abend vom Dorfe kommt und alle drei heimholt. Da erst begreift es, daß es den Vater und seinen Kameraden nie mehr wiedersehen wird. Dies Er­lebnis zeichnet den Knaben zeitlebens. Michael wächst heran, still, ernst, frühreif, geschickt in allem und von rascher Auffassung, so daß er mit Werkzeug, Tieren und Menschen gut fertig wird. Daher wird ihm der ganze Reichtum des Dorfes anvertraut, das Vieh. In feierlicher Versamm­lung setzt ihn der Dorfschulze in das Amt des Hirten ein. Es fehlt nicht an lustigen Lichtern. Der Schulze hat einen goldenen Zahn, auf den die ganze Gemeinde stolz ist. Er hat dem Stier selbstherrlich den Namen 'Bismarck gegeben. Aber durch beständige Vergleiche mit den Hirten des Alten Testamentes wird auch die uralt   ehrwürdige Bedeutung des Berufes herausgearbeitet. Das Leben des Hirten, der mit dem Vieh auf die Weide und in den Wald zieht, gibt dem Dichter Gelegenheit, Natur­stimmungen eindringlich wiederzugeben. Die Schilderung einer Nacht mit den Pferden auf der Weide am Walde haftet besonders in der Erin­nerung.

Man schüttelt ein wenig den Kopf, wenn diese Naturromantik an­schwillt zu dunklem Gerede. Der alte Eichendorff und noch Hermann Hesse in unserer Zeit ("Knulp") können dergleichen schlichter und besser gestalten. Es ist eine späte, ein wenig gedunsene romantische Natur­schilderung.

Das Schicksal des Hirtenjungen wird in drei Abschnitten darge­stellt. Ein Nachbardorf besitzt eigentlich das gleiche Anrecht, das Vieh im Walde weiden zu lassen, aber ist von Michaels Dorf stets mit Gewalt von der Nutzung abgehalten worden und hat nun lange keinen Versuch gemacht, sein Recht zu erstreiten. Eines Tages erscheint der Nachbar­hirte, wegen seiner Länge "Laban" genannt, mit seinem einäugigen Hund und seiner Herde. Michael warnt ihn nachdrücklich, zieht sich zurück, übt sich mit seiner Schleuder aus Haselnußholz den ganzen Tag und erringt am folgenden Morgen einen entscheidenden Sieg über den Geg­ner. Seither ist er der Held seiner Gemeinde, der angesehene Führer der Jugend; auch die Kinder der wohlhabenden Honoratioren, die in der Stadt die höheren Schulen besuchen, ordnen sich ihm unter. Was be­deutet ihr Wissen und ihre Welterfahrung?

Das zweite Abenteuer Michaels begegnet ihm in der Gestalt einer Malerin, die etwa so gezeichnet ist, wie man es zu Beginn der Frauen­emanzipation in schlechten Witzblättern tat. Ganz reizlos erscheint sie Michael nicht, die Liebe zum anderen Geschlecht regt sich bei ihm zum ersten Mal. Aber sie, plump und von allen guten Geistern verlas­sen, zeigt ihm eines Tages sein eigenes Bild, das sie nach ihrer Phantasie gemalt hat, ganz nackt. Er zerreißt empört das Bild, und es fehlte nicht viel, daß er sie getötet hätte. Sie flieht entsetzt und verläßt die Gegend. Durch diese schlecht erzählte Episode soll die keusche Schamhaftigkeit des jungen Menschen beleuchtet werden.

Dann brechen mit dem ersten Weltkrieg die Russen in die Dorf­idylle hinein. Michael bringt die Herde tief im Moor in Sicherheit und veranlaßt die Dorfbewohner, ihm dorthin zu folgen; der Sechzehnjährige wird also zum Führer der Gemeinde. Als die Tochter des armen Torfjohann verspätet, ihr Lamm verfolgend, sich in den Wald retten will, sind die Feinde schon im Dorfe. Da eilt Michael herbei, um zu helfen und wird von der Lanze eines Kosacken durchbohrt. Er hat sein Leben geopfert, um„das Lamm des Ärrnsten" zu retten, und sich dadurch   meint der Dichter   ewigen Ruhm gesichert. Man darf dies bezwei­feln, denn, wenn sich jemand zum Führer einer Menschenschar macht, hat er nicht das Recht, sein Leben leichtsinnig aufs Spiel zu setzen. Man wird ihn draußen im Moor sehr dringend brauchen während der gan­zen Zeit der russischen Besetzung. Nun kann er nicht mehr helfen und raten!

Was für ein Ideal ist es, das in der "Hirtennovelle" aufgestellt wird? Verachtung von Welterfahrung und Wissen, Verherrlichung der Natur­verbundenheit und der Reinheit. Right or wrong, my country - hier Recht oder Unrecht, mein Dorf. Die Nachbargemeinde wird, weil sie schwä­cher und ärmer ist, verächtlich behandelt wie ein Erbfeind jenseits der Grenzen. Gewiß, Michael hat ausgezeichnete Anlagen, aber in seinem Schicksal wird er zum kriegerischen Führertypus gesteigert, der ohne Zögern in den Tod geht für "das Lamm des Ärmsten". Man spürt sehr peinlich die Verwandtschaft mit der nationalsozialistischen Blut  und Boden, Kriegs  und Opferromantik! Das dunkle Gerede hätte eine freundschaftliche Kritik Ernst Wiechert vielleicht abgewöhnen können. Wer weiß, was er in einem freieren Lande geschaffen hätte! Es ist das Schicksal solcher empfänglicher Dichternaturen, daß sie den Einflüs­sen der Umwelt nicht widerstehen können. Diese Dichtung fügt sich gut in die geistige Aufrüstung des Propagandaministers Goebbels ein. Sie ist ein Beispiel für viele.

Wie kommt es, daß mein Bekannter, ein Mann in reifen Jahren, für diese Novelle schwärmt? Hat er sich von den starken, dunklen Natur­stimmungen bezaubern lassen? Erkennt er nicht, auf welchem Boden diese Dichtung gewachsen ist, den breiten nationalsozialistischen Hin­tergrund? Versteht er nicht den Zusammenhang zwischen dieser klei­nen, fast idyllischen Dichtung und der großen blutigen Politik des Drit­ten Reiches? Er ist auch ein Beispiel für viele!


(by Katrin Bronn, Israel. Text in: Deutsche Bibliothek, Frankfurt/M   Deutsches Exilarchiv: Nachlaß Walter A. Berendsohn, EB 54b/7, III.B.b.3.) - Aus: Manfred Franke: Jenseits der Wälder. Der Schriftsteller Ernst Wiechert als politischer Redner und Autor. Köln 2003. S. 200-211.


**

Paartopf: vgl. Der „blaue Paartopf“:

Wiechert, Ernst: Das einfache Leben, München: Ullstein Taschenbuchverl. 2000 [1946], S. 376

Thomas hatte verlangt, daß es Paartöpfe seien, sonst sei es nicht richtig.


Wiechert, Ernst: Das einfache Leben, München: Ullstein Taschenbuchverl. [1946], S. 376

„Sie warf dem Pferd einen Arm voll Heu vor und nahm die Paartöpfe aus der Pelzdecke.“


*

Wiki macht einen seltsamen Unterschied zwischen BluBo – und der Leben- und Landschafts-Dichtung E.W.s:

https://de.wikipedia.org/wiki/Hirtennovelle

Ernst Wiechert war einer der erfolgreichsten Autoren Deutschlands in den 1930er Jahren. Trotz einer konservativen Grundhaltung stand er dem Nationalsozialismus fern, blieb aber in jenen Jahren in Deutschland. Die 1935 erschienene Hirtennovelle ist ein typisches Werk Wiecherts. Formal und sprachlich ausgefeilt und emotional ansprechend begegnen in der Erzählung die Konstanten seiner Kunst und Lebensauffassung - der Lobpreis des einfachen Lebens, eine romantisierend-mystische Naturverherrlichung und die Bewährungsprobe christlicher Gesinnung. In dieser christlichen Sinngebung liegt vor allem der Unterschied zur zeitgenössischen Blut-und-Boden-Literatur. Zahlreiche biblische Anspielungen, Namen und vor allem die Hirtensymbolik drücken den christlichen Geist aus, der der Hirtennovelle zugrunde liegt. Am Ende des Buches betont der Autor ausdrücklich, dass sein Held nicht aus patriotischen Gründen gehandelt habe, dass sein Verhalten aber seinem Volk als Vorbild dienen könne: „Das deutsche Land aber, über dem nun die dunkle Wolke des Krieges und der bitteren Not ohne Erbarmen stehe, könne von Gott nicht zum Untergange bestimmt sein, nachdem derselbe Gott in die Ärmsten und Geringsten dieser deutschen Erde eine Seele gelegt habe, wie sie in diesem jungen Hirten geleuchtet und gebrannt habe. Und nichts anderes könne er beten an diesem jungen Grabe, als dass die Seele dieses Toten allezeit über dem Dorfe wie über dem ganzen Vaterland leben möge. Dann werde, in ferne kommenden Zeiten vielleicht, es von selbst sich fügen, dass das Wesen solcher Seele alle Länder durchdringen und dazu helfen werde, die Herrschaft dessen aufzurichten, der das Lamm Gottes genannt worden sei.“

*

Eine englische Übersetzung v. Stautzenberger findet sich:

https://repositories.lib.utexas.edu/bitstream/handle/2152/37932/1971t-Stautzenberger.pdf?sequence=2&isAllowed=y


Stichwörter-Register: Gelenkworte:

Laban = „Lamm Gottes“ ist ein quasi biblischer, aber lediglich religiös-mythologischer Wort-Schmiss, ein semantischer Blut-Striemen aus Studententagen.

*

Grün“ als häufige, real-visuelle, aber nicht ideologische Signalfarbe des Natürlichen: „das “ grüne Gebirge“ der gefallenem Fichte, des toten-Erinnerungsmal. „Ein grünes, gestaltloses Meer“ - unverständliche Verwendung des Adjektivs „gestaltlos“: Wald oder Wälder sind in der Wahrnehmung nicht „gestaltlos“,vielleicht ist gemeint wallend Gleichförmigkeit?

eine grüne Botanisiertrommel“

Tod / Leben

Schaf/Lamm: "das Gesetz es befahl“: Wanderer ... nach Sparta: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_gefl%C3%BCgelter_Worte/W#Wanderer.2C_kommst_du_nach_Sparta.

Gesetz – Wiechert: http://www.ostpreussen.de/uploads/media/Wiechert__Ernst.pdf

Gesetze sind wie Würste, man sollte besser nicht dabei sein, wenn sie gemacht werden. - Das Bonmot wird – auch in der Fassung: „Je weniger die Leute wissen, wie Würste und Gesetze gemacht werden, desto besser schlafen sie!“ – gern Otto von Bismarck zugeschrieben. Es geht jedoch auf den amerikanischen Dichter John Godfrey Saxe (1816–1887) zurück und wird erst seit den 1930er Jahren mit Bismarck in Verbindung gebracht.[43]

*

Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883! -“Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest Uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.“

Weitere Beispiel für coole oder flotte oder segensreiche Sprüche:

https://www.dwds.de/r?corpus=kern;q=Gesetz%20es%20befahl

Ante Wiechert: Tucholsky, Kurt: Die Straße der Republik. In: Tucholsky, Kurt, Werke - Briefe – Materialien, [1920] B. 4. Texte 1920. S. 457ff. u. 795f.,797.65f.: „Wanderer, kommst du nach auswärts, so sage dorten, du habest uns hier schlafen gesehen, wie das Gesetz es befahl!“; vgl. Schiller „Der Spaziergang“, (...)

Wergeldforderer: Wiki belehrt: „Wergeld (althochdeutsch 'weragelt, wergelt', zu althochdeutsch 'wer' „Mann“; vgl. Werwolf)[1] war im germanischen Recht das Sühnegeld. Bei einem Totschlag musste der Totschläger eine Entschädigung leisten, und zwar an diejenigen Angehörigen des Erschlagenen, die sonst die Blutrache hätten ausüben müssen. Daher ging das Wergeld an die nächsten männlichen Verwandten; gab es diese nicht, auch an Frauen. Wergeld wurde aber auch auf andere Vergehen angewandt.

Andere Bezeichnungen waren Manngeld, Friedegeld, Wiedergeld oder Mutsühne, im altfriesischen Strafrecht (Lex Frisionum, 8. Jahrhundert) wer-gildus und compositio. (Auch im Sachenspiegel bekannt).

https://de.wikipedia.org/wiki/Wergeld

Vaterbild, vergleichbar: Geist Gottes" (in Natur)

Tamara: „Geist Gottes" erfüllt - Allgemein, lapidar, Gewohnheitssprache: Alt, Franz: Liebe ist möglich, München: Piper 1985, S. 35 „Er spürte den Atem und den Geist Gottes in sich.“

Das Newe Testament. Deutzsch. Übers. v. Martin Luther. Wittenberg, 1522. „Da ließ ers yhm zu/ vnd do Jhesus getaufft war/ steyg er bald erauff auß dem wasser/ vnnd sihe/ da wurden vber yhm die hymel auffgethan/ vnnd Johannes sahe den geyst gottis gleych als eyn tawben erab steygen vnd vbir yhn komen/ vnnd sihe/ Eyn styme vom hymel erab sprach/ diß ist meyn lieber son/ ynn wilchem ich eyn wolgefallen habe.“

* Schleuder, ,Haselnußschleuder'

* Rüsselkäfer, Rüsselkäfergraben: „Ein Rüsselkäfergraben ist 20 cm breit und 20 cm tief ausgehoben worden und läuft um eine rechteckige Kultur mit 240 und 300 m langen Seiten. Wieviel cbm ...“

https://de.wikipedia.org/wiki/Dickmaulr%C3%BCssler

-käfer, der in zahlreichen Arten vorkommender Käfer mit rüsselförmig verlängertem Kopf: wie andere R. ist auch der Kornkäfer ein Pflanzenschädling

*

Schlacht auf den katalaunischen Feldern“: „als die trojanische Ebene oder die kata­launischen Felder in der Geschichte großer und dahingesunkener Völker“: Wo Kaiser verehrt werden, und ein Karl der Große angerufen sein mag, sind große Heldentaten als Untergänge von Völkern berufenswert.

Die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern fand im Jahre 451 n. Chr. zwischen den Römern unter Aëtius und den Hunnen unter Attila statt.“ Zu Wiecherts Zeiten galt es noch als Verteidigung Westeuropas gegen die Hunnen. In parallel-historischer Hymnik:

Bei Raabe, Wilhelm: Das Odfeld. Leipzig, 1889. „Wie bei Chalons sur Marne -- auf den Katalaunischen Feldern, ein spukhaft Gewoge von Leidenschaft, Grimm und Haß!“

>> Die Gedenktafel in Kleinort/Pierslawek, am Försterei-Haus der „preußischen Forstverwaltung“ (Nähe Peitschendorf/Pecki: (Powiat Mrągowski):

In diesem Haus wurde am 18. Mai 1887 Ernst Wiechert geboren. Er war Prosaschriftsteller und Poet - Lobsänger Masurens, Autor von "Wälder und Menschen", "Die Jeromin-Kinder", "Märchen", "Der Totenwald".

Er war ein rechtschaffener Mensch, Antifaschist, ehemaliger Häftling in Buchenwald.

 * * *

1] Diffus-semantisch: Er, Laban, mit dem dümmlichen Vornamen 'Laban', ist also ein Leben lang als 'Laban'“ aufgewachsen? Wg. seiner Gestalt, seiner Einäugigkeit – oder von Vater und Mutter und Pastor als Taufender so sozial-deformiert? - Es gibt viele Belege für „Laban“: https://www.dwds.de/r?q=Laban&corpus=kern&date-start=1900&date-end=1999&genre=Belletristik&genre=Wissenschaft&genre=Gebrauchsliteratur&genre=Zeitung&format=full&sort=date_desc&limit=50

2] Seit germanischer Urzeit Sühnegeld für Totschlag (Angabe im 1934er "Duden"), Forderung nach einer Ersatzleistung; entsprechend der Bedeutung des Präfixes „Wehr in Wehrwolf, wo in frühesten Belegen „Wer“ heißt. Vgl. Wiechers Erzählung „und Wehrwolf" (in einem unheilschwangeren, mystisch gründelnden Kleinwerk. - Vgl. Krauss' Definition in "Kleines Lexikon der Bibelworte“ 1998. S. 121.

3] Beliebte Metapher bei E.W., um höchste Wertschätzung für Personen in religiösen oder weltlichen Rängen zu reklamieren.

4] Es sollte nicht viel fehlen, dass wir als Leser von Wiechert den schlauen, schönen Namen de

s Lieblingspferds von E.W. erführen.

**) Laken oder Tuch, unter dem Arm gehalten, um den Nacken gebunden, aus dem heraus Samen gestreut wurde bei dem Schreitsäen.

***) Eine Sattelunterdecke; auch Woilok (russisch)

5] Dem Geist von Tannenberg sei Dank, dass er nicht weitere Wolfsbezüge gebar; der diffuse Ahnung vom wortreichen Zwischenreich der Natur und dem Abseitig-Menschlichen mag EW so Genüge getan haben. Seine naturalistische Stil- und Wortschatzebene vom Wahnhaften des Geistigen finalisierte sich somit.

***) Indianerstamm im Brasilien; Schimpfwort für "Dummkopf"; im Duden 1934 als Alltagsdeutsch aufgenommen; selbst das Adjektiv "botokudisch" wird dort gebucht.

>> https://web.archive.org/web/20100719011808/http://www.ernst-wiechert.de/Ernst_Wiechert_Hirtennovelle.htm

Die Novelle ist dort derzeit nicht greifbar; angefragte Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Buchverlage Langen-Müller Herbig nymphenburger, München; auch bei diesem Verlag ist nichts mehr lieferbar vom E.W.

> Wikis Botschaft: https://de.wikipedia.org/wiki/Hirtennovelle

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen