ANTON STEPHAN R. -
Von den Spechten
Im Frühling 1984. In der 10, im Altbau; ja, die sagenhafte B-Klassse, mit ihrem Klassensprecher Bernd, dem Fixen:
Biologie bei Frau Dr. Charlotte Westpoll, ja, die! UFL genannt; es bleibt ja unter uns: Unsere Flotte Lotte. Im weiten, derb blauen Kittelkleid steht sie vor der Klasse. Hat einen präparierten Buntspecht in der Hand, läßt ihn herumwirbeln. Manchmal ist sie ja etwas fahrig; aber immer guten Willens. Man kann ihr einen aktuellen Tierbericht aus dem Stern oder aus dem SPIEGEL mitbringen. Oder aus der Gala „Prinzip Charles als Entwicklungshelfer auf einer Tee-Farm“. Was sagst du? 'Prinz Charles?' – Ja, so!
Da ist sie dankbar, blüht auf. Ich kann ja nicht alles lesen, was so gedruckt wird. Also, Augen auf, Kinder!
Sie ist Tierärztin und unterrichtet im letzten Schuljahr, ist die da; dann will sie sich ganz ihrer Praxis widmen.
Die Hausaufgabe zu dem Film der letzten Stunde ist aufgerufen: Unsere munter klopfenden Freunde von der Truppe der Spechte!
Bernd - er wühlt, er fühlt, daß er heut* drankommt, ist in Schwierigkeiten. Da kriegt er flugs von links und rechts zwei Seiten Hausarbeiten zugeschoben. Unvollständig sind die! Frechheit, das! Pah! Was er so schnell nicht überblickt! Danke, Mädels! Zeigt seine aufreckende Rechte.
Beruhigt, ohne in der Stimme sich was anmerken zu lassen, liest er ab: Unsere einheimischen Spechtarten -
Zuerst ist da der Buntspecht. Und er liest routiniert, was Britta ihm hingeschoben hat...
Dann ist er schon beim Schwarzspecht, und Hildes Text darüber ist furchtbar kurz: Das rote Köpfchen des Männchens ist am deutlichsten, sonst ist er schwarz bis stahlblau. Seine Körperlänge ist - Er kann es nicht genau lesen. Britta, Mensch, deine Schrift ist eine einzige Köttelei, ein Misthaufen!
Frau Dr. med. Westpoll blickt weiter durchs Fenster auf den blühenden Kastanienbaum: Herrliche, rote Kerzen hat er eingeschraubt. Tutenmäßig. Ja, ich weiß: Tulpenmäßig gut.
Nein, die ist nicht eingeschlafen da vorne: Ja, Bernd, schön, bisher – mhm - gut! Und nun die dritte Art?
Mein*Gott. Ist doch noch nicht die Kastanie. Vor Ostern ist da nix. Nur, hie die Magnolie!
Oder meinst du: Gattin – oder die Gattung oder Familie, nun, Bernd?
Herrdorri! Was hat die Tante heute! Ja, und der dritte Specht? Warum haben die beiden den dritten weggelassen?
Britta kann sich das Grinsen grade noch verkneifen, sie schreibt aufs Löschblatt, mit einem erdig-braunen Filzer: Kacke, wa?!
Soll wohl eine Art Entschuldigung sein. Was tun, Junge? Ludger, nein, sagte ich ja: Bernd, setzt mit derselben routinierten Stimme fort: Der dritte ist der, äh, Kackspecht.
Alle halten den Atem an. Aber es passiert nichts.
Frau Westpöhlchen steht am vorderen Fenster. Schaut nach draußen. Träumt unsere arg flotte Charlotte? Die rechte Hand an die rechte Schläfe gelegt. Massiert ihre üble Migräne. Von daher dräut kein Unheil.
Bernd, noch mutiger: Weißenrückenviecher gibt es ja bei euch nicht. Und der Kackspecht ist um einiges kleiner als der Schwarzspecht, aber intelligenter und gewitzter. Seinen Namen hat er vom durchgehend erdig braunen Gefieder. Doch hat auch hier wieder das Weibchen einen roten, rostroten Fleck am Hinterkopf, so tulpenmäßig. Mangolienförmig. Auch er bleibt im Winter in den heimischen Wäldern. Fast unsichtbar übrigens. Außer wenn er Alarm gibt. Auch seine Höhle hat einen locker ovalen Eingang, sie ist aber kleiner als beim Schwarzspecht. (Logo, schreibt jemand auf einen Zettel. Wollte er ja auch sagen. Aber um Himmels willen nicht die Tonhöhe verändern; da darf nix passiern! Bernd bleib bei diesem Specht! Sonst bin ich geliefert!)
Die hört nicht mehr hin. Seh ich genau!
Das Brutgeschäft besorgen beide Vögel, jawoll, abwechselnd. Die Spechtin legt natürlich das Ei, meistens nur eins, höchstens mal anderthalb. Aber wenn der Herr Specht einmal nicht zum Kacken ins Büro muß, setzt er sich auch schon mal gerne ins gemachte Nest. Während der eine auf der Jagd nach Raupen, Larven oder Ameisen ist -
Bernd beobachtet, daß Frau Westpoll verträumt aus dem Fenster kuckt. Wie benommen. Hat sie gar nicht mitgekriegt, was er hier redet?
Hertha trägt ihr schnell den Pultstuhl hin. Wartet hinter ihr, dass sie sich setzt. Heut bedankt sie sich nicht mal. Hertha kuckt, die Lippen verziehend zu Alice. Die nickt nur. Also: Okay?
Die Dame kriegt nix mehr mit! Gis Gas, Bernd!
Fix feixend mein Bernd beugt sich vor, räuspert sich, der Alice in den Nacken pustend. Da sieht er ihren Kopf wieder zurückwandern, Frau Doktors, klar! Aber, schief irgendwie. Hör die mich überhaupt noch? Er setzt fort: Auch im Flug kann man ihn von dem Bunt- und Schwarzspecht oder Lehrerzimmerspecht unterscheiden: Er fliegt – dann - in seinem wellenförmigen, bauschigen Flug von Buche zu Buche.
Frau Westpoll greift ein: Ja, danke, Bernd -(Sie sucht im Notenbuch -): Winkler, Bernhardus. Gut plus, denke ich! Einverstanden? Ich will dem Bernd ja nicht Unrecht tun. Er macht ja viel – äh - Mistus, empörend viel, mein Junge, wenn ich bei den Konferenzen so richtig hinhöre. Aber heute war er- Ja - alle rufen: Spitze! (Aber leiser als sonst.)
Frau Doktor ist auf den Stuhlsessel zurückgesunken.
Nur das mit dem Schwirrflug hast du durcheinander gebracht. Nur der Schwarzspecht fliegt so gerade und häufig über den Wipfeln. Er braucht sich nicht so zu tarnen. Er kann auch den unedel frechen Elstern ein gehämmertes Paroli bieten.
Sie verstummt.
Räuspert sich; dreht sich fast hinaus zum Fenster. Sie schluckt, schluchzt sie auch? Wer hat denn das Fenestra zu-, äh, definita forma – ja! Bernd’nus? Du fiese Möpp? Und wenn er will, macht er sich auch am braunen Waldboden oder im Kompost der Waldbauern schaffen, daß der Dreck fliegt.- War aber besser, als was ich je bisher von dir gehört habe. Ist ja erfreulich, wenn man das mit dem vergleicht, was man von den anderen aufgesagt hört - äh, hören lernt, äh, sagen hört!
Stop: Angefangen hatte diese ruinöse Stunde so; Frau Dr. Westpoll grüßte, schnüffelt, sprach los, wörtlich, freundlich:
Nun wollen wir den Projektunterricht fortsetzen, und zwar mit einem Gedicht, daß freundlicherweise der Bruder von Alice herausgesucht hat, der Biologe ist - und das zu unserem Thema paßt. – Alis-chen liest du bitte vor:
Alice steht auf und trägt vor: Äh, von Christian Morgenspecht:
Hä-ähäh-hä! In de Klasse, leise.
Der Specht: Wie ward dir, kleiner Specht, so große Kraft!
Von deinem Klopfen tönt der ganze Schaft
der hohen Kiefer. Wär auch mir vergönnt,
daß ich den Menschen so durchklingen könnt!
Wir hatten nichts gemerkt. Oder war’s der Magnolienbaum gewesen, der auf dem Gartenstreifen an der Florastraße, der so ins Fenster rot- und weiß reinleuchtete und unsere Flotte Lotte so besummmmmste und schicker machte; irrrgendwie tipsy oder potty-tiddly:?
Nein, das waren die Fenster zur Wiethofgasse.
Was heißt das übrigens? Nä-nee, nie gelernt. – Is auch egal. Die erzählt, was sie will.
Sachte, so war Frau Westpoll auf den Stuhl gesunken, hatte sich in die Lehnen gekuschelt. Aber unser Brittachen hat sie ein wenig gestützt. Blieb hinter ihr stehen. Und: Angelika die Schwebende holte schon ein Glas Wasser, ja, das schon oft geholfen hatte bei derlei Heiserkeit.
Josefa stopfte ihr das Handtuch zwischen die Arme. Alles war auf Zack.
*
Nur Bernd faselte weiter: Der Kaktus spectaturus – äh, hat sich einen Mangolienstrauß, Brautwerbung, angebunden an sein Häuschen.“ Hörte auf, als Frau Westpoll fragend sich schon wiederholte: ...- Berhardus? Wo ist dein Großvater? Liegt er in Riga begraben? Warum kommt der denn nicht mehr zum Sprechtag. Will er nix mehr zu tun haben, mit meines-äh-mir-gleichen? Hier am Haupt-und SS-Bahnhof ist er noch mit uns eingestiegen.
(Meint die unser Recklinghausen? Poh!)
Die Pandersche und ihr Reisekoffer. Evilein Pander, von der – auf die haben wir drauf aufgepasst doch.
Eine Stimme aus der zweiten oder dritten Reihe, quatscht weiter: Aber haben wir nicht gelernt. Die Frau Jüdin Pander ist in Auschwitz – wurde in Auschwitz ermordet, ja?
Eine andere Stimme, tiefer, brummig, von Theo II? „Ja, deren Koffer doch in Auschwitz fotografiert ist. Auf dem hohen Kofferlager-“
Frau Lehrerin winkt ab. Hört die wieder zu? „Da! Ja! Ja! Die Koffernummer A 00111! Wer schreibt das noch? - Wir - dann in Königsberg. Da war er schon weg. Dein Großvater! Hatte sich als Arzt ausweisen wollen. Äh, ja als Heilkundler. Oder so. Nein! Behandler!
Eine leise – Mary (?): Krankenbehandler.
Wisst ihr das? Traf ihn auch, den Berthold Specht: „mit Stumpf und Stiel, mit allen seien Fasern auszurotten“. Nun, auch: „mit seinen Fasern“. Hatte er zu viel gemeckert? Er hat mich geküsst. Einmal. Ich war meiner Mutter weggebrochen. Nachts. Der hat sich nicht aus dem Transportzug gestürzt. War alles abgeriegelt. Die haben den – das Land erbrach sich im Frühling. Die Mangolien waren noch selten. So in den Vorgärten vor den schöneren Partien. Oder – das war doch saukalt. Wir froren da. Das war kurz nach Januarius.
Hopp! Was macht ihr hier, ihr Magnolien?
Hinter einer vorgehaltenen Hand, leise: tschü-psütt-pst-, Rainer, hopp!
Rainer ging zur Tür, leise.
Der Kopf senkte sich vor, auf die Blumenbank. Sanft ruhend
Agnes gab ihm’s Zeichen: Flottflotti, Rainer, lauf! Der wollte nicht. Doch! Du bist der Schnellste – und – da drückte die ihn – und flüsterte in sein süßes Öhrchen: Du bist der - Liebste!
Da ging er leise raus.
Die Direktorin würde kommen.-











