Dienstag, 4. Februar 2020

Texte zur S h o a h



... ich werd Ärger kriegen mit meinem Gott.“

(Letzter Satz des jüdischen Kaufmanns Moise Trumpeter in seinem verwüsteten Laden, in Anwesenheit eines jungen deutschen Soldaten (in: J. Bobrowskis Kurzgeschichte „Mäusefest“, die den Feldzug gegen Polen, besonders gegen polnischen Juden beurkundet.)
*
Shylock (zu Salarino): (...) Ich bin ein Jude. Hat nicht ein Jude Augen? hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? mit derselben Spei­se genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln ge­heilt, gewärmt und gekältet von eben dem Winter und Sommer als ein Christ? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht? Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen? Sind wir euch in allen Dingen ähnlich, so wollen wir's euch auch darin gleichtun. Wenn ein Jude einen Christen belei­digt, was ist seine Menschlichkeit? Rache. Wenn ein Christ einen Juden beleidigt, was muß seine Geduld sein nach christlichem Vorbild? Nu, Rache. Die Bosheit, die ihr mich lehrt, die will ich ausüben, und es muß schlimm hergehn, oder ich will es meinen Mei­stern zuvortun.
(W. Shakespeare: Der Kaufmann von Venedig (III,1) (Übersetzung von August Wilhelm Schlegel)


Die religiösen und politischen Seuchen des Antisemitismus



Religiöse Verfolgung – rassistische Verleumdung, ethnische Ausgrenzungen, Tötungen im 19. und im 20. Jh.: jüdische Opfer – und christliche - atheistische - humanistisch-freigeistige Schicksale -

Erzählungen und Gedichte, die den 

* Antijudaismus, den Antisemitismus und die Shoah  thematisieren





                                                                              Paul Mayer: Den Unbeirrten

(1944)

Sie haben euch in die Höllen gezerrt
Und eure Gesichter zu Fratzen verzerrt.

Sie haben euch Hirne und herzen zerkrallt
In Dachau, in Belsen, in Buchenwald.

Und wenn man uns fragt, wo Deutschland denn war,
Wir weisen auf euch als heilige Schar.

  • Paul Mayer (geb. 1889 in Köln, lebte 1948 noch im Exil in Mexiko. - Das Gedicht wurde veröffentlicht in der Anthologie „Das Wort der Verfolgten. Anthologie eines Jahrhunderts.“ [Erstauflage 1945; in der Schweiz] Hrsg. von Bruno Kaiser. Berlin 1948: Verlag Volk und Welt S. 313)


Schoah, Shoa, Shoah: (neuhebräisch) Tötung einer großen Zahl von Menschen, eines Volkes (Genozid), v. a. Bezeichnung für die Verfolgung, Gettoisierung und insbesondere Vernichtung der europäischen Juden während der NS-Herrschaft in Deutschland und Europa (1933 bis 1945).



Vorläufer der Holocaust-Nachrichten, -Berichte, -Erzählungen sind schon seit dem Endes des 19. Jhs. literarisch aufgegriffen worden. Aber die blieben Erzeugnisse von jüdischen Deutschen für ihre Freunde und Mitgläubige.


Oder der Begriff  Churban :


Jüdische Schriftgelehrte sprachen nach dem Exil im Rückblick vom Churban. Das Wort bedeutet Zerstörung. Am Beginn des Exils stand ja die Zerstörung des Tempels Salomos im Jahre 587. Und dann gab es einen Zweiten Churban, die Zerstörung des Tempels des Herodes durch den römischen Kaiser Titus im Jahre 70 nach Christus. Zweimal zielten Feinde mit der Zerstörung des Tempels auf die Vernichtung des Judentums - und scheiterten. Einige Rabbiner nennen Hitlers Versuch, das Judentum zu vernichten, den Dritten Churban. Und wieder scheiterten Menschen an der Macht Gottes. Deshalb stirbt bei ihnen die Hoffnung nicht.

Manès Sperber wählte als Titel von Essays "Churban oder Die unfaßbare Gewißheit". Erläutert wird zum Begriff Churban: Das Wort bezeichnet "Verwüstung, Vernichtung". Es meint insbesondere die Zerstörung des ersten Tempels durch Nebukadnezar (587 v. Chr.), die des zweiten Tempels durch Titus (70 nach Chr.) und die ab 1940 von den Nationalsozialisten organisierte Ausrottung der europäischen Juden (dtv 10071).

*


Jüdisches Gebet für die Shoah-Opfer:


G'tt voller Erbarmen, in den Himmelshöhen thronend,
es sollen finden die verdiente Ruhestätte
unter den Flügeln Deiner Gegenwart,
in den Höhen der Gerechten und Heiligen,
strahlend wie der Glanz des Himmels,
all die Seelen der Sechs-Millionen Juden,
Opfer der Shoah in Europa,
ermordet, geschlachtet,
verbrannt, umgekommen in Heiligung Deines Namens;
durch die Hände der deutschen Mörder
und ihrer Helfer aus den weiteren Völkern.
Sieh die gesamte Gemeinde betet für das Aufsteigen ihrer Seelen,
so berge sie doch Du, Herr des Erbarmens,
im Schutze deiner Fittiche in Ewigkeit
und schließe ihre Seelen mit ein in das Band des ewigen Lebens.
G'tt sei ihr Erbbesitz,
und im Garten Eden ihre Ruhestätte,
und sie mögen ruhen an ihrer Lagerstätte in Frieden.
Und sie mögen wieder erstehen zu ihrer Bestimmung
am Ende der Tage. Amen

Zum Gedicht:
Die Schreibweise G’tt spiegelt in jüdischer Tradition die Ehrfurcht des Gläubigen, die dem biblischen Bilderverbot für Gott entspricht.
Quelle des Textes: 1999 veröffentlicht unter der Internet-Adresse der HaGalil:



Mein Interesse an deutschen oder anderen Literaten in Mitteleuropa, welcher Religion und Kultur und Politik auch, will ich mit einem Zitat von Albrecht Goes beschreiben, dem Priester, dem Poeten, dem Propheten, dem (fast) Vergessenen...

Albrecht Goes beschloß (am 19. Juli 1957) eine Gedenkrede für die Helden und Opfer des 20. Juli 1944, in Berlin-Plötzensee und bezeichnete das Vermächtnis und die Lebensidee der Widerständler und Attentäter als Auftrag für die Lebenden:

Lassen Sie mich von diesem Auftrag zuletzt in einem Gleichnis sprechen, einem Bericht folgend, den wir Martin Buber verdanken. Martin Buber schreibt: »Als ich ein Kind war, las ich eine alte jüdische Sage, die ich nicht verstehen konnte. Sie erzählte nichts weiter als dies: 'Vor den Toren Roms sitzt ein aussätziger Bettler und wartet. Es ist der Messias.' Damals kam ich zu einen, alten Mann und fragte ihn: 'Worauf wartet er?' Und der alte Mann antwortete mir etwas, was ich damals nicht verstand und erst viel später verstehen gelernt habe; er sagte: 'Auf dich.'«
Albrecht Goes: Das Unvollendete will Vollender. ( In: A. G.: Aber im Winde das Wort. Prosa und Verse aus zwanzig Jahren. S. 223 - 228)

*

Ich möchte diesen Auftrag und diese "Erscheinungen" mit meinen eigenen Worten erklären:
Da hat ein Religionswissenschaftler, ein Übersetzer des AT, ein Sprachschöpfer als Kind eine alte Sage gelesen, natürlich eine widerständige, jüdische, geheimnisvoll anrührende, und sie ein Leben lang nicht mehr vergessen: Vor den Toren Roma - da durfte einer nicht in die Heilige Stadt, da regierten und reagierten die Christen - ohne daß sie den Ernst und die Liebe der Bergpredigt realisieren wollten - und ließen ihn draußen sitzen, den Aussätzigen, den Nicht-Gewünschten, den, der irgendwie sterben und irgendwo verscharrt werden mag .
Aber dieser Elende sei der Messias - den Buber in seinem Leben sucht, ihn aufsucht - in der Gestalt eines alten Mannes, den er anspricht...
Er habe, sagt der Alte, auf ihn, suchenden, fragen, zuhörenden, den Buber gewartet. So erlebte Buber diesen Mann als seinen Messias.

Solche Vollendungen des Unvollendeten durch unvollendeten Menschen - möchte Goes - geleistet wissen.
Ich habe vor zwei Jahren an Goes' Grab gestanden; Fünf Schritte von Mörikes Grab entfernt. In Stuttgart. Auf dem Prager Friedhof. Dem Großzügigen, dem noch viel Platz-habenden (in der Grabkultur derer, die Poeten und Propheten suchen und nicht locker lassen....., ihnen Plätze, Orte, anzubieten..., dass sie mit uns sprechen..

Ich las, nochmals! - bei Albrecht Goes:
dass sie - um dieses Segens willen - bleiben, was sie sind: Abrahams Kinder.
Der Zusammenhang - er wird erarbeitet von jedem, der bereit ist, einen Atta-Massenmörder in seiner menschlichen Genese verstehen zu wollen.
*

Albrecht Goes: Genesis -


Wir fragen: wie oder genauer: als was ist dieses Buch zu lesen? Es ist   dies zuerst   zu lesen als das erste Buch des Alten Testaments, als älteste Urkunde über Israels Weg. Wir finden elf Kapitel Urgeschichte und jene neununddreißig Kapi­tel, die dann folgen, die die Stammesgeschichte der Patriarchen, der Erzväter Israels, erzählen: Geschichte Abrahams, Isaaks, Jakobs und Joseplis. Die Urgeschichte wird, einem großen Wand­teppich gleich, zu Häupten aufgerichtet für alle, die da kom­men  die Urbilder von Erschaffung und Fluch, Brudermord, Sintflut und Errettung; vom zweiten Menschheitsbeginn unter Noah, von der Zusammenrottung der geretteten Welt und von ihrer Zerstreuung in Völker und Sprachen. Dann, mit dem Abraham angehenden 'Gehe!' beginnt: die Geschichte. Geschichte von einem, der, aus den Völkern kommend, ein einzelner wird, nicht um dieser einzelne zu bleiben, sondern um hernach - in der Freiheit Gottes - ein Stammvater zu werden, ein Erster und Ältester in der Geschichte des Volkes, das sich aus den Stäm­men bildet.
Unlöslich verflochten ineinander sind beide: das Geheimnis der Schöpfung und das Geheimnis des Bundes. Der Ewige durchbricht die Welteinsamkeit und schafft das Du, das Ebenbild. Hochaufgerichtet über allem Menschenweg bleibt die Vollmacht der göttlichen Freiheit, der es   in ja und Nein - um diesen Menschen zu tun ist. Auch das "Nein" ist allezeit bei Gott: als ein Nein zu seiner Schöpfung - in der Sintfluterzählung; als ein Nein zu einer einzelnen Stadt   so in der Geschichte von Sodoms Untergang; als das Nein zum Aufrührer und Widersacher; aber dem Nein zur Seite - und hoch über ihm! - steht das ja: alle Lebensnot und alle Angst, Verwirrung, Un­ruhe und Wanderschaft, ja alle Bosheit und auch die Sünden -'etiam peccata' - sollen dies nicht aufhalten können, daß Israel dem heiligen Gedanken des Sinai entgegengeht, dem großen Gottkönigtum des 'Ihr sollt mein Volk sein, so will ich euer Gott sein'.
Es ist möglich, das große Erzählungswerk der Genesis zu lesen als die kühne Schrift der Rechtfertigung, als Botschaft des Stolzes in Israel; aber die eigentliche Herrlichkeit dieser Texte erschließt sich doch nur dem, der das Wort "Segen" gehört und angenommen hat als Gottes Wort: "Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein", und der so denn nicht die nationalen Triumphe zuerst feiert, sondern das unerschöpfliche und unaus­löschliche Geschenk des Ewigen, gültig für die Zeiten: von Abraham bis zu Salomo in seinem Glanz, und weiter zu Jeremia, zur babylonischen Gefangenschaft; neu aufleuchtend in Judas Makkabäus, und überdauernd auch die dürren Tage der Synagoge von Hannas und Kaiphas und die Jahrhunderte dann: segnend Jehuda Halevi, den Dichter Israels, und den erneuerten Ursprung in der Geschichte der Chassidim, ein Wander  und Leidvolk begleitend ins Ghetto von Warschau und in die To­deslager von Auschwitz und Maidanek, und weiter bis "Erez Israel", Vertraute und Fremde gleichermaßen erinnernd an ihre wirklichste Wirklichkeit: daß sie   um dieses Segens willen  bleiben, was sie sind: Abrahams Kinder.
Und weiter: dieses Buch ist zu lesen als das erste Buch der Heiligen Schrift, das heißt als die Geschichte, die Christus ent­gegengeht. 'Hier in Mose haben wir die rechte güldene Fund­grube, daraus genommen ist alles, was im Neuen Testament von der Gottheit geschrieben ist. Es liegt das Erz noch halb in der Gruben.' So Luther. Es ist nicht die Meinung, daß dieser Text zuerst das bedeute, was nicht ausdrücklich dasteht. Ge­nug, wenn uns zum Bewußtsein kommt, wie durchsichtig die Vorhänge hier allerwege sind, wie sehr zu dem Wort des ster­benden Jakob: ,Herr, ich warte auf dein Heil!' der Lobgesang des Simeon gehört, das große Nunc dimittis', und wie die ver­borgene Gegenwart vom 'Sohn des Vaters' diesen ältesten Zeug­nissen eine geheime Helligkeit, ja eine in der Liebe gegründete Heiterkeit zumittelt, jene verborgene Gegenwart, von der das Wort des Johannesevangeliums spricht: 'Ehe denn Abraham war, war ich.'

Endlich aber: es ließe sich die Genesis lesen als Menschheits­urkunde schlechthin. Nicht nach der Weise, wie man stoische Philosophie lesen würde als Einübung in die Lebenskunst, wohl
aber so: daß die Erkenntnisse über Gut und Böse, über Wagnis und Vertrauen, Wahl und Willensfreiheit allen zugute kommen können.
(Albrecht Goes: "Genesis" - als Vorwort zu "Aber im Winde das Wort. Prosa und Verse aus zwanzig Jahren. Stuttgart 1966. S. 12)

**
Ludwig Börme. Briefe aus Paris.

Achtundsechzigster Brief


Paris, Mittwoch, den 11. Januar 1832

Voilà ce roi chrétien, que sa mère appelait
Ferdinand
cœur de tigre et tête de mulet :

*
Einige Shoah-Berichte oder –Erzählungen möchte ich nach und nach vorlegen als Erinnerungen an Täter und Opfer:
(Beiträge sind natürlich sehr erwünscht.)


Die „Nalewski“ heißt eine lang gestreckte, einige Male stumpfwinklig gewundene Straße in Warschau. Hier wohnt das Volk Israel Haus an Haus, Laden an Laden, in Enge, Gerüchen und Geschrei. Buntfar­bige Namen prahlen auf grellen, mit primitiver Ein­dringlichkeit gemalten Firmenschildern. Viel Armut und Elend ist hier, viel Herzenshärtigkeit und Geld­gier, viel ängstlich versteckter Wohlstand, aber auch viel verborgenes Sehnen und Ausschauen nach dem heiligen Sterne Zions.
Eins der niedrigen hölzernen Hinterhäuser in dieser Straße gehörte dem Händler Aaron Zitron. Es sah aus, als sei noch kein Strahl einer höheren und reicheren Freude in seine Fenster gefallen. Zwischen zwei mehrstöckige Nachbargebäude eingezwängt, blickte es scheu und geduckt wie ein verprügelter Hund auf den engen, schmutzigen, übel riechenden Hof.
Im Keller dieses Hauses wohnte in einem feuch­ten, halb finsteren Gelass Chaim Pruzanski, der taube Narr. Außer Aaron Zitron, dem Bruder seiner Mut­ter, gab es keinen Menschen, der sich um ihn küm­merte. Da er zurückgeblieben am Geiste und ver­krüppelt am Körper war, galt er den Leuten als der
von Gott Gezeichnete, der gestraft ist um der Sünden seiner Väter willen. Denn die Juden von Nalewski sind ein frommes Volk.
Chalms kleine verwachsene Gestalt mit dem großen, tief zwischen den Schultern ruhenden Kopf, dem leicht gekrümmten Rücken und dem seltsam schlei­fenden Gang war allen Bewohnern der umliegenden Straßen vertraut. Täglich um dieselbe Stunde ging er denselben Weg und immer lag derselbe Zug von gelassener und gegenstandsloser Heiterkeit um seine großen, etwas vorstehenden Augen, um den stets geöffneten, länglichen Mund mit den fahlen Lippen. Chaims Dasein drehte sich um zwei Pole. Der eine war Aaron Zitron. Er kleidete, nährte, beherbergte ihn und flößte ihm Furcht ein. Chaim empfand je­doch diese Furcht als notwendig, verwachsen mit sei­nem Leben. jeden Morgen empfing er von Aaron einige Pack Streichhölzer und jeden Abend lieferte er den Erlös und den Rest seiner Ware ab. Der Oheim war ein misstrauischer Rechner und zählte beides genau durch.
Verkörperten sich so für Chaim alle trüben Notwen­digkeiten in Aaron Zitron, so sprang auf der anderen Seite eine unversiegliche Quelle, die ihn immer wie­der mit Trost und Heiterkeit tränkte. Das war der an­dere Pol im Leben des tauben Narren und er bestand in nichts mehr als dem hölzernen Warenkasten eines alten Juden, der mit Schuhwichse, Schnürsenkeln, Zigaretten und Apfelsinen hausierte. Chaim hatte seinen Standplatz am Wiener Bahnhof und auf dem
Wege dahin begegnete er täglich dem Alten. Nie hatte er ihm einen Blick geschenkt, nie seine Züge sich einzuprägen gesucht. Er war ihm nur der zufäl­lige Träger, der gleichgültige Diener eines Gegenstan­des von unerhörter Kostbarkeit. Aber der Kasten, der Kasten! Breit und massig war er gebaut, pracht­voll grün gestrichen, innen und außen. Und die In­nenseite des stets geöffneten Deckels zeigte auf gift­grünem Grunde ein himmelblaues Stück Meer neben einem schneeweißen Hause, dessen vorspringendes Dach von zwei Säulen gestützt wurde. Und zwischen Haus und Meer stand in fröhlicher Unbekümmert­heit um alle Gesetze der Perspektive eine violett ge­kleidete Dame mit rabenschwarzem Haar und hielt in der hoch erhobenen Hand eine Dose mit Schuh­wichse zum Himmel empor. Diese sandte ihrerseits zwei grelle, breite Strahlen in Gestalt eines schwefel­gelben und eines knallroten Balkens aus, die an der grünen Umrahmung wie abgebrochen aufhörten.
Dieses Bild war für Chaim der Inbegriff des Schönen und Erhabenen. Die violette Dame, das blaue Meer, das säulengeschmückte Haus und nicht zuletzt der gelbe und der rote Strahl erschienen seinem armen Geiste als Bürgschaft einer höheren Welt, Verhei­ßung einer unfassbaren, leuchtenden Herrlichkeit, die irgendwo bereitliegen musste. Einmal, das fühlte er, musste sie offenbar werden und ihren Glanz auch über ihn ausgießen. Nie hätte er gewagt, sich diesen Kasten in Gedanken an Stelle des armseligen, ge­flochtenen Weidenkorbes zu wünschen, in welchem
er seine Streichhölzer trug. Ihm genügte es, ihn täg­lich im Vorbeigehen anzusehen und alles an ihn zu verschwenden, was an Fähigkeit zu Liebe und Vereh­rung im aschenhaften Düster seiner Natur flackerte. So betet der primitive Mensch ein selbst geschnitz­tes Stück Holz an, in welchem er doch in höheren Augenblicken Ausdruck und Träger seiner eigenen, noch unerschlossenen Empfindungswelt ahnt.
Chaim Pruzanski spürte es nicht, dass die Zeit ein anderes Angesicht gewann. Wie immer stärkte er seine arme Seele im Anschauen des grünen Kastens, wie immer rief er klagend: »Spitschki! Zapalki!«Wie immer tauschte er seine Waren gegen die großen kupfernen Geldstücke und nahm es ohne Neugier hin, dass die Soldaten in den grünlich grauen Hem­den immer mehr in der Zahl seiner Kunden über­wogen. Er achtete kaum darauf, dass das Leben in der Stadt hastiger und nervöser wurde; bis ein Tag kam, der ihm das ganze Bild der Welt zerriss.
Riesige graue Menschenmassen hasteten durch die Straßen, Wagenzüge, Reiter, Geschütze. Mit Offizie­ren überfüllte Autos suchten sich einen Weg zu bahnen, oft vergebens trotz aller Rücksichtslosigkeit. Betrunkene Soldaten schleppten Waren aus den Läden. Die Häuser schlossen sich. Das Volk ver­schwand von den Straßen, die sich immer mehr mit den Scharen der Soldaten füllten.
Und der Taube, dem sich das Geschehen um ihn nicht so deutlich mitzuteilen vermochte wie den anderen, fühlte sich plötzlich vom Strudel erfasst, verschlagen, abgeschnitten von allem Vertrauten. Eine jähe Bestürzung sprang ihn an, eine ratlose Furcht vor dem Unbekannten und Unbegreiflichen, das um ihn geschah.
In dieser Not fiel ihm der grüne Kasten ein. Er war Trost, Ebenmaß und Harmonie in dieser toll gewor­denen Welt. So schnell ihn die schwächlichen Beine schleppten, eilte Chaim der Straßenkreuzung zu, an welcher der Alte zu stehen pflegte. Dort herrschte der gleiche Wirrwarr. Soldaten, Soldaten, Soldaten. Einige stießen und drängten sich auf dem Bürger­steig, kniend, suchend, aufhebend. Und als Chaim näher kam, sah er im Rinnstein zertrümmert den grünen Kasten liegen, in dessen verstreuten Inhalt sich gierige Fäuste teilten.
Einen Augenblick stand der Narr wie versteinert. Dann bückte er sich, um die Bruchstücke zu retten. Heißer, nach Schnaps riechender Atem quoll ihm entgegen. Ein vollbärtiger, weißblonder Soldat mit rotem Gesicht, der seine Mütze im Gedränge verlo­ren hatte, brüllte ihn an.
Der Taube spürte die Feindseligkeit in Gesichts­ausdruck und Gebärde.
»Belieben Sie doch, Herr, mich in Ruhe zu lassen«, flehte er, und als sei damit alles erklärt, fügte er hinzu: »Das ... das ist doch der grüne Kasten!«
Man stieß ihn zurück, schlug ihm den Streichholz­korb aus der Hand und die Mütze vom Kopfe. Grin­send warf ihn einer dem andern wie ein Bündel zu. Schläge, Stöße, Fußtritte trafen ihn, bis er endlich
blutend einen Ausweg aus dem Gedränge gewann und nach Hause flüchtete.
Chaim Pruzanski kauerte, noch an allen Gliedern zitternd, in seines Oheims Stube und starrte durch das zerschlagene Fenster in den Hof, der sich all­mählich mit Dämmerung füllte. Im Hause sah es böse aus. Die Möbel waren zertrümmert, Schränke und Kästen umgestürzt, alles Brauchbare wegge­schleppt. Wäschestücke, Lumpen, zerbrochene Tel­ler und Schüsseln lagen in wirrem Durcheinander auf dem Fußboden. Von einem der trunkenen Plünderer vergessen, stand in einer Ecke ein Gewehr.
Aaron Zitron war nirgends zu finden. Die Nachbarn zuckten die Achseln.
Die ganze Nacht hockte der Narr zwischen den Trümmern. Die Welt war zerfetzt, es gab nichts Mehr, das sein Leben stützen und schmücken konnte. Zitron ließ sich nicht blicken, der grüne Kasten war zer­schlagen.
Endlich kam ihm der Gedanke, dass er etwas tun müsse, dass er nicht ewig hier in der wüsten Stube kauern könne. Zum ersten Male sah er Entscheidung und Entschluß von sich gefordert.
Er fand die einzige Zuflucht. Gegen Mittag verließ er langsam das Haus, um in die Weichsel zu gehen.
Die Straßen wimmelten noch immer von Menschen­massen in grauen Uniformen. Aber statt der flachen Tellermützen oder der hohen Lammfellkappen tru­gen sie graue Helme mit Spitzen. Chaim achtete nicht auf sie, sondern setzte unbeirrt seinen Weg fort.
Fast war es das alte Lächeln voll Ruhe und Heiter­keit, das auf seinem blassen Gesicht lag.
An einer Straßenkreuzung staute sich Bettelvolk um einen Wagen mit Schornstein und großem, hoch­geklapptem Deckel. Ein Soldat schüttete gering­schätzig den Leuten übrig gebliebenes Essen aus einer großen Kelle in die bereitgehaltenen Näpfe und Eimer. Chaim blieb stehen, wie ein Tier überfiel ihn der Hunger. Im Schmutz der Straße sah er eine leere Konservenbüchse, hob sie auf und drängte sich an den Küchenwagen. Der Soldat blickte ihn an, grinste und füllte ihm die Dose. Chaim schlang das dampfende Gemenge hinunter. Dann kehrte er ent­schlossen um und ging wieder dem Hause seines Oheims zu.
Allein der erste eigene Entschluss, der sich seiner Dumpfheit entrungen hatte, der Gedanke des Ster­bens, geboren aus Hilflosigkeit und Verzweiflung, war gedacht und hatte Leben gewonnen. War aus ihm hinausgetreten und wirkte.
Die Granaten, welche die Geschütze der weichenden Russen über die Weichsel warfen, haben in Warschau wenig Schaden angerichtet. Eine von ihnen aber erfüllte das Schicksal des Chaim Pruzanski.
(Aus: W.B.: Baltische Erzählungen. München 2000: nymphenburger verlag. S. 124 - 130)

Die Herausgeberin N. Luise Hackelsberger, Bergengruens Tochter, gibt als Entstehungszeit dieser bis 2000 nicht veröffentlichten Geschichte im Nachwort "um 1918" an. Sie schreibt dort näherhin: "Die früheste der Erzählungen 'Der grüne Kasten' in der Zeit des Ersten Weltkriegs geschrieben, wird hier erstmals veröffentlicht. In prägnanter und zupackender Sprache erscheint uns Heutigen das Geschehen so aktuell wie zur Zeit der Entstehung." - Ich sehe in der Erzählung eine exemplarische Auseinandersetzung mit dem Schicksal des jüdischen Volkes als der unerwünschten, weil beneideten Ethnie einer fremden Religion im Grenzbereich zwischen Deutschland, Polen und Russland. Die tödliche Auseinandersetzung ist hier durch die Soldaten gekennzeichnet, von denen im mörderischen Schluß die russischen Uniformen und Waffen explizit benannt sind.
Die Symbolik des "grünen Kastens" erscheint mir als eine kleine, magisch ersehnte Allegorie eines auf das Sehen und ungestalten Sprechen eingeschränkten, tauben Armen, der in der wundervollen Gestaltung des "Bauchladens" eines Hausierers eine kleine Sehnsucht aufblitzen sieht, die ihm in der gemalten, ungewöhnlich farbigen "violetten Dame" und ihrer strahlenden Herrlichkeit ein Stückchen Paradies, ein wenig Heimat, im entsetzlichen Alltag im Warschau des Ersten Weltkriegs. Meine Hoffnung ist, dass ich die offensichtlich erschütternden Worte "Spitschki! Zapalski!" werde einmal übersetzen können. Bis dahin ist mir die Geschichte ein Organon, das mir, wie dem Chaim in der Geschichte, in dieser Imagination meine "Seele" "stärken" kann. )
Kontakt über:

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Das Jüdische Ghetto in Warschau heisst Nalewski
Der Historiker Emanuel Ringelblum beschreibt in seinen Tagebüchern aus dem Ghetto in begeisternder Sprache das kulturelle Leben dort, die Atmosphäre zwischen Schulen, Universität und den vielen Geschäften entlang der Leschnostasse und Nalewski Strasse (Nalewski ist auch eine Strasse, die es immer noch gibt). Weiter schreibt er über die Atmosphäre nach Feierabend, von Konzerten und Dichterlesungen wie z.B. von Sholom Aleichim. Ringelblum wörtlich: "An jedem Tag in dieser Zeit wurde mit voller Kraft gelebt".
Die schwersten Angriffe und grössten Vernichtungen durch die Nazis fanden zwischen Nalewsi und Muranowski Square statt - Wenn Du an einen Stadtplan kommst - die Nalewski Strasse geht vom Muranowski Square ab. Ich hoffe dir ein wenig geholfen zu haben.

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Noch ein kleiner Nachtrag: Ich habe zusammen mit anderen vor einigen Jahren mal einen jüdischen Reiseführer geschrieben und dabei das Thema Polen im speziellen recherchiert. Wenn Du ein paar tage Zeit hast, suche ich mir das Belegexemplar mal raus und werde versuchen, Dir noch eine Infos mehr zu geben. Ich muss nur suchen - die meisten meiner Bücher sind noch in Umzugskartons ...wenn Du andere Fragen hast - ich werde gerne versuchen, Deine Wissenslücken zu füllen.
©
Also ZAPALKI heisst Streichholz auf Polnisch. Spi´cka (Spitschka gesprochen) heisst Streichholz auf Tschechisch ... sagt das vielleicht ein Strassenverkäufer? Das Mädchen vom Sterntalermärchen? :-)
Ich hatte mal einen Kollegen aus Prag, der mit Familiennamen Spi´cka hiess, sprach man den Namen mit zuuu langer Betonung aus, hiess es eher etwas ziemlich unanständiges :-)
Eine doppelte Bedeutung weiss ich so ad hoc nicht, ich werde sie aber mal erfragen.

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Die Nalewski ist eine einen großen Teil des jüdischen Hitlerghettos durchziehende Straße. Mit ihren Seiten- und Nebenstraßen wurde das ganze Gebiet (Nowolipki- Swietojerski, Gesia - Franziskanska, Mila, Muranowska, Niska ) zum letzten Widerstandsnest in den grauenvollen Tagen des Aufstandes im Warschauer Ghetto.
Hier stand nach der Befreiung Polens durch die Rote Armee kein Stein mehr auf dem anderen. Ganz wenige Häuser in der Panska ( Nähe Hauptbahnhof ) und eine Markthalle erinnern an die "echten " zeitgenössischen Häuser.- Übrigens Jugendstilvorderhäuser mit vielen vielen Hinterhöfen- Vor der Ghettoisierung lebten in dieser Gegend, die sich im Westen bis zur Mlynarska erstreckte sehr viele Juden, aber auch Menschen anderen Glaubens. Viele v.a. reichere assimilierte Juden wohnten aber auch in allen anderen Stadtteilen Warschaus, bis sie eben unter unmenschlichen Hygiene- Wohn- und Grundnahrungssicherungsverhältnissen in dem mit Mauer umgebenen Ghetto zu leben/ vegetieren gezwungen wurden.

Mein Mann und ich machten vor cirka 6 Jahren einen Sühnegang ( ich wage es nicht Spaziergang zu sagen ) durch das Gebiet. Es ist merkwürdig, dass das offizielle Polen recht wenig - nicht nichts - zum Gedenken ihrer jüdischen Mitbürger tut.
Meine Trauer war groß, meine Scham auch. Weiß ich doch nicht nur von Bergengruen, sondern vor allem aus der Lektüre der Werke Isaac B. Singers. An- Ski`s, Itzig Mangers, Manes Sperbers, Karl Emil Franzos ( Scholejm Alechem erwähnte Angelika schon) über das Leben im Städtl Bescheid.Ich weiß also, was Hitler vernichten ließ.
Sehr gut theoretische Kenntnisse kannst Du Dir auch hier besorgen.

Zborowski, Mark und Elisabeth Herzog: "Das Städtl" Die untergegangene Welt der osteuropäischen Juden. Beck, 1992
*
beherrschten „nachgeschichtlichen“ Menschen im Moment seines Unterganges (vgl. Klages: Vom Kosmogenischen Eros).*
Gustav Meyrink veröffentlichte 1915 den sehr erfolgreichen Roman Der Golem, der als Klassiker der phantastischen Literatur gilt. Meyrinks Golem ist eine Art Gespenst, das alle 33 Jahre im Prager Ghetto auftaucht, um Angst und Schrecken zu verbreiten und wird als bleicher, mongolischer Typ beschrieben mit gebeugtem schleichendem Gang und mittelalterlicher Kleidung: Meyrinks Golem ist weit von der jüdischen Idee des Golems entfernt, er ist eine ahasverische Erscheinung, er verkörpert das Ghetto.“ Vgl.Wiki



Der Tod als Endzeitfigur, früher, als wir leben - um uns – ja, in uns…

Ich habe noch vor, zwei Artikel bzw. Geschichten vorzustellen, die nicht nur einen Tod, einen Mord, eine Schandtat, sondern einen Völkermord, eine Genozid.
(Natürlich sind weiter hin Beiträge erwünscht; es gibt viele Erzählungen zu diesem Thema…)

Die erste ist eine historische Vorstufe des Völkermordes an den Juden.
Eine eigenartige Kurzgeschichte, die in Stimmungen und Absurditäten lebt, aber auch einen Ausblick auf ein Grauen gewährt.

Was ich in der Geschichte, die ja im ersten Weltkrieg spielt, nur ahnte, kann ich jetzt belegen - auch mit der genannten Literatur, von der ich nur Singer und Francos kannte. Diese Geschichte "Der grüne Kasten" ist völlig untypisch für W. Bergengruen und von ihm selber gar nicht veröffentlicht worden, sondern erst von seiner Tochter im Jahre 2000.

Tatsächlich muss der Krüppel Chaim täglich mit einigen Päckchen Streichhölzern in einem Weidenkörbchen los und muss sie in der Bahnhofsgegend tschechisch und polnisch anpreisen.
Den Bezirk Nalewski hat W.B. als Zentrum des jüdischen Lebens in Warschau beschrieben, der auch schon beim damaligen Einmarsch der Russen sehr gelitten hat. Und der Chaim, von dem W.B. einfühlsam erzählt, wird von den Granaten "der weichenden Russen" noch getroffen und getötet.

Eine Erzählung, die lange v o r dem Holocaust spielt und uns trotzdem von den Leiden der einfachen und armen Juden in ihrem Viertel mitteilt; lange bevor 1943 der SS-General Stroop das Ghetto liquidierte und nach dem Massaker abschließend mitteilte: "Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr."
(Schon im Jahre 2003 gab es eine Diskussion hier im ST zu dieser Geschichte. Da sie vom Copyright-Verlag noch nicht im Internet zugänglich gemacht ist, ergreife ich die Gelegenheit. Ich habe schon 2010 vom Büro der Bergengruen-Rechte-Verwaltung die Erlaubnis erhalten, Bergengruen-Text in diesem Senioren-Treff anzubieten, auf ihre Quelle hinweisen und dem Büro Mitteilung zu machen, über die Veröffentlichung und über die Diskussion.)

Werner Bergengruen: Der grüne Kasten (1918)
 
Nalewski heißt eine lang gestreckte, einige Male stumpfwinklig gewundene Straße in Warschau. Hier wohnt das Volk Israel Haus an Haus, Laden an Laden, in Enge, Gerüchen und Geschrei. Buntfar­bige Namen prahlen auf grellen, mit primitiver Ein­dringlichkeit gemalten Firmenschildern. Viel Armut und Elend ist hier, viel Herzenshärtigkeit und Geld­gier, viel ängstlich versteckter Wohlstand, aber auch viel verborgenes Sehnen und Ausschauen nach dem heiligen Sterne Zions.
Eins der niedrigen hölzernen Hinterhäuser in dieser Straße gehörte dem Händler Aaron Zitron. Es sah aus, als sei noch kein Strahl einer höheren und reicheren Freude in seine Fenster gefallen. Zwischen zwei mehrstöckige Nachbargebäude eingezwängt, blickte es scheu und geduckt wie ein verprügelter Hund auf den engen, schmutzigen, übel riechenden Hof.
Im Keller dieses Hauses wohnte in einem feuch­ten, halb finsteren Gelass Chaim Pruzanski, der taube Narr. Außer Aaron Zitron, dem Bruder seiner Mut­ter, gab es keinen Menschen, der sich um ihn küm­merte. Da er zurückgeblieben am Geiste und ver­krüppelt am Körper war, galt er den Leuten als der von Gott Gezeichnete, der gestraft ist um der Sünden seiner Väter willen. Denn die Juden von Nalewski sind ein frommes Volk.
Chaims kleine verwachsene Gestalt mit dem großen, tief zwischen den Schultern ruhenden Kopf, dem leicht gekrümmten Rücken und dem seltsam schlei­fenden Gang war allen Bewohnern der umliegenden Straßen vertraut. Täglich um dieselbe Stunde ging er denselben Weg und immer lag derselbe Zug von gelassener und gegenstandsloser Heiterkeit um seine großen, etwas vorstehenden Augen, um den stets geöffneten, länglichen Mund mit den fahlen Lippen. Chaims Dasein drehte sich um zwei Pole. Der eine war Aaron Zitron. Er kleidete, nährte, beherbergte ihn und flößte ihm Furcht ein. Chaim empfand je­doch diese Furcht als notwendig, verwachsen mit sei­nem Leben. jeden Morgen empfing er von Aaron einige Pack Streichhölzer und jeden Abend lieferte er den Erlös und den Rest seiner Ware ab. Der Oheim war ein misstrauischer Rechner und zählte beides genau durch.
Verkörperten sich so für Chaim alle trüben Notwen­digkeiten in Aaron Zitron, so sprang auf der anderen Seite eine unversiegliche Qelle, die ihn immer wie­der mit Trost und Heiterkeit tränkte. Das war der an­dere Pol im Leben des tauben Narren und er bestand in nichts mehr als dem hölzernen Warenkasten eines alten Juden, der mit Schuhwichse, Schnürsenkeln, Zigaretten und Apfelsinen hausierte. Chaim hatte seinen Standplatz am Wiener Bahnhof und auf dem Wege dahin begegnete er täglich dem Alten. Nie hatte er ihm einen Blick geschenkt, nie seine Züge sich einzuprägen gesucht. Er war ihm nur der zufäl­lige Träger, der gleichgültige Diener eines Gegenstan­des von unerhörter Kostbarkeit. Aber der Kasten, der Kasten! Breit und massig war er gebaut, pracht­voll grün gestrichen, innen und außen. Und die In­nenseite des stets geöffneten Deckels zeigte auf gift­grünem Grunde ein himmelblaues Stück Meer neben einem schneeweißen Hause, dessen vorspringendes Dach von zwei Säulen gestützt wurde. Und zwischen Haus und Meer stand in fröhlicher Unbekümmert­heit um alle Gesetze der Perspektive eine violett ge­kleidete Dame mit rabenschwarzem Haar und hielt in der hoch erhobenen Hand eine Dose mit Schuh­wichse zum Himmel empor. Diese sandte ihrerseits zwei grelle, breite Strahlen in Gestalt eines schwefel­gelben und eines knallroten Balkens aus, die an der grünen Umrahmung wie abgebrochen aufhörten.
Dieses Bild war für Chaim der Inbegriff des Schönen und Erhabenen. Die violette Dame, das blaue Meer, das säulengeschmückte Haus und nicht zuletzt der gelbe und der rote Strahl erschienen seinem armen Geiste als Bürgschaft einer höheren Welt, Verhei­ßung einer unfassbaren, leuchtenden Herrlichkeit, die irgendwo bereitliegen musste. Einmal, das fühlte er, musste sie offenbar werden und ihren Glanz auch über ihn ausgießen. Nie hätte er gewagt, sich diesen Kasten in Gedanken an Stelle des armseligen, ge­flochtenen Weidenkorbes zu wünschen, in welchem er seine Streichhölzer trug. Ihm genügte es, ihn täg­lich im Vorbeigehen anzusehen und alles an ihn zu verschwenden, was an Fähigkeit zu Liebe und Vereh­rung im aschenhaften Düster seiner Natur flackerte. So betet der primitive Mensch ein selbst geschnitz­tes Stück Holz an, in welchem er doch in höheren Augenblicken Ausdruck und Träger seiner eigenen, noch unerschlossenen Empfindungswelt ahnt.
Chaim Pruzanski spürte es nicht, dass die Zeit ein anderes Angesicht gewann. Wie immer stärkte er seine arme Seele im Anschaun des grünen Kastens, wie immer rief er klagend: »Spitschki! Zapalki!«Wie immer tauschte er seine Waren gegen die großen kupfernen Geldstücke und nahm es ohne Neugier hin, dass die Soldaten in den grünlich grauen Hem­den immer mehr in der Zahl seiner Kunden über­wogen. Er achtete kaum darauf, dass das Leben in der Stadt hastiger und nervöser wurde; bis ein Tag kam, der ihm das ganze Bild der Welt zerriss.

Bergengruen: Der grüne Kasten (Fortsetzung)
Riesige graue Menschenmassen hasteten durch die Straßen, Wagenzüge, Reiter, Geschütze. Mit Offizie­ren überfüllte Autos suchten sich einen Weg zu bahnen, oft vergebens trotz aller Rücksichtslosigkeit. Betrunkene Soldaten schleppten Waren aus den Läden. Die Häuser schlossen sich. Das Volk ver­schwand von den Straßen, die sich immer mehr mit den Scharen der Soldaten füllten.
Und der Taube, dem sich das Geschehen um ihn nicht so deutlich mitzuteilen vermochte wie den anderen, fühlte sich plötzlich vom Strudel erfasst, verschlagen, abgeschnitten von allem Vertrauten. Eine jähe Bestürzung sprang ihn an, eine ratlose Furcht vor dem Unbekannten und Unbegreiflichen, das um ihn geschah.
In dieser Not fiel ihm der grüne Kasten ein. Er war Trost, Ebenmaß und Harmonie in dieser toll gewor­denen Welt. So schnell ihn die schwächlichen Beine schleppten, eilte Chaim der Straßenkreuzung zu, an welcher der Alte zu stehen pflegte. Dort herrschte der gleiche Wirrwarr. Soldaten, Soldaten, Soldaten. Einige stießen und drängten sich auf dem Bürger­steig, kniend, suchend, aufhebend. Und als Chaim näher kam, sah er im Rinnstein zertrümmert den grünen Kasten liegen, in dessen verstreuten Inhalt sich gierige Fäuste teilten.
Einen Augenblick stand der Narr wie versteinert. Dann bückte er sich, um die Bruchstücke zu retten. Heißer, nach Schnaps riechender Atem quoll ihm entgegen. Ein vollbärtiger, weißblonder Soldat mit rotem Gesicht, der seine Mütze im Gedränge verlo­ren hatte, brüllte ihn an.
Der Taube spürte die Feindseligkeit in Gesichts­ausdruck und Gebärde.
»Belieben Sie doch, Herr, mich in Ruhe zu lassen«, flehte er, und als sei damit alles erklärt, fügte er hinzu: »Das ... das ist doch der grüne Kasten!«
Man stieß ihn zurück, schlug ihm den Streichholz­korb aus der Hand und die Mütze vom Kopfe. Grin­send warf ihn einer dem andern wie ein Bündel zu. Schläge, Stöße, Fußtritte trafen ihn, bis er endlich blutend einen Ausweg aus dem Gedränge gewann und nach Hause flüchtete.
Chaim Pruzanski kauerte, noch an allen Gliedern zitternd, in seines Oheims Stube und starrte durch das zerschlagene Fenster in den Hof, der sich all­mählich mit Dämmerung füllte. Im Hause sah es böse aus. Die Möbel waren zertrümmert, Schränke und Kästen umgestürzt, alles Brauchbare wegge­schleppt. Wäschestücke, Lumpen, zerbrochene Tel­ler und Schüsseln lagen in wirrem Durcheinander auf dem Fußboden. Von einem der trunkenen Plünderer vergessen, stand in einer Ecke ein Gewehr.
Aaron Zitron war nirgends zu finden. Die Nachbarn zuckten die Achseln.
Die ganze Nacht hockte der Narr zwischen den Trümmern. Die Welt war zerfetzt, es gab nichts mehr, das sein Leben stützen und schmücken konnte. Zi­tron ließ sich nicht blicken, der grüne Kasten war zer­schlagen.
Endlich kam ihm der Gedanke, dass er etwas tun müsse, dass er nicht ewig hier in der wüsten Stube kauern könne. Zum ersten Male sah er Entscheidung und Entschluß von sich gefordert.
Er fand die einzige Zuflucht. Gegen Mittag verließ er langsam das Haus, um in die Weichsel zu gehen.
Die Straßen wimmelten noch immer von Menschen­massen in grauen Uniformen. Aber statt der flachen Tellermützen oder der hohen Lammfellkappen tru­gen sie graue Helme mit Spitzen. Chaim achtete nicht auf sie, sondern setzte unbeirrt seinen Weg fort.
Fast war es das alte Lächeln voll Ruhe und Heiter­keit, das auf seinem blassen Gesicht lag.
An einer Straßenkreuzung staute sich Bettelvolk um einen Wagen mit Schornstein und großem, hoch­geklapptem Deckel. Ein Soldat schüttete gering­schätzig den Leuten übrig gebliebenes Essen aus einer großen Kelle in die bereitgehaltenen Näpfe und Eimer. Chaim blieb stehen, wie ein Tier überfiel ihn der Hunger. Im Schmutz der Straße sah er eine leere Konservenbüchse, hob sie auf und drängte sich an den Küchenwagen. Der Soldat blickte ihn an, grinste und füllte ihm die Dose. Chaim schlang das dampfende Gemenge hinunter. Dann kehrte er ent­schlossen um und ging wieder dem Hause seines Oheims zu.
Allein der erste eigene Entschluss, der sich seiner Dumpfheit entrungen hatte, der Gedanke des Ster­bens, geboren aus Hilflosigkeit und Verzweiflung, war gedacht und hatte Leben gewonnen. War aus ihm hinausgetreten und wirkte.
Die Granaten, welche die Geschütze der weichenden Russen über die Weichsel warfen, haben in Warschau wenig Schaden angerichtet. Eine von ihnen aber er­füllte das Schicksal des Chaim Pruzanski.
(Aus: W.B.: Baltische Erzählungen. München 2000: nymphenburger verlag. S. 124 - 130)
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Die Herausgeberin N. Luise Hackelsberger, Bergengrüns Tochter, gibt als Entstehungszeit dieser bis 2000 nicht veröffentlichten Geschichte im Nachwort "um 1918" an. Sie schreibt dort näherhin: "Die früheste der Erzählungen 'Der grüne Kasten' in der Zeit des Ersten Weltkriegs geschrieben, wird hier erstmals veröffentlicht. In prägnanter und zupackender Sprache erscheint uns Heutigen das Geschehen so aktuell wie zur Zeit der Entstehung."
- Ich sehe in der Erzählung eine exemplarische Auseinandersetzung mit dem Schicksal des jüdischen Volkes als der fremden, unerwünschten Ethnie, die "nur" die Gemeinschaft einer "anderen", unbekannten Religion im Grenzbereich zwischen Deutschland, Polen und Russland war. Die tödliche Auseinandersetzung ist hier durch die Soldaten gekennzeichnet, von denen im mörderischen Schluss die russischen Uniformen und Waffen explizit benannt sind.
Die Symbolik des "grünen Kastens" erscheint mir als eine kleine, magisch ersehnte Allegorie eines auf das Sehen und ungestalten Sprechen eingeschränkten, tauben Armen, der in der wundervollen Gestaltung des "Bauchladens" eines Hausierers eine kleine Sehnsucht aufblitzen sieht, die ihm in der gemalten, ungewöhnlich farbigen "violetten Dame" und ihrer strahlenden Herrlichkeit ein Stückchen Paradies, ein wenig Heimat, im entsetzlichen Alltag im Warschau des Ersten Weltkriegs. Die offensichtlich erschütternden Worte "Spitschki! Zapalski!" wurden von Bergengrün nicht übersetzt. Dem Leser, wenigstens mir, ist die Geschichte eine Psychohistorie, ein Organon, das mir, wie dem Chaim in der Geschichte, in dieser Imagination und Intention meine "Seele" "stärken", meine Achtung vor anderen Religionen und ihren Betern fordern kann. )

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Anmerkungen:
Das Jüdische Ghetto in Warschau heisst Nalewski. Der Historiker Emanül Ringelblum beschreibt in seinen Tagebüchern aus dem Ghetto in begeisternder Sprache das kulturelle Leben dort, die Atmosphäre zwischen Schulen, Universität und den vielen Geschäften entlang der Leschnostasse und Nalewski Strasse (Nalewski ist auch eine Strasse, die es immer noch gibt). Weiter schreibt er über die Atmosphäre nach Feierabend, von Konzerten und Dichterlesungen wie z.B. von Sholem Alejchem. Ringelblum wörtlich: "An jedem Tag in dieser Zeit wurde mit voller Kraft gelebt".
Die schwersten Angriffe und grössten Vernichtungen durch die Nazis fanden zwischen Nalewsi und Muranowski Square statt - Wer einen Stadtplan hat - die Nalewski Strasse geht vom Muranowski Square ab.
Zapalki heisst Streichholz auf Polnisch. Spicka ("Spitschka" gesprochen) heisst Streichholz auf Tschechisch. So wird die Erzählung ein Exempel, nicht als Märchen von den Schwefelhölzern, sondern eine einmalige Geschichte zur Geschichte der Menschen.

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Die Nalewki ist eine einen großen Teil des jüdischen Hitlerghettos durchziehende Straße. Mit ihren Seiten- und Nebenstraßen wurde das ganze Gebiet (Nowolipki-Swietojerski, Gesia - Franziskanska, Mila, Muranowska, Niska ) zum letzten Widerstandsnest in den grauenvollen Tagen des Aufstandes im Warschauer Ghetto.
Hier stand nach der Befreiung Polens durch die Rote Armee kein Stein mehr auf dem anderen. Ganz wenige Häuser in der Panska ( Nähe Hauptbahnhof ) und eine Markthalle erinnern an die "echten" zeitgenössischen Häuser. Übrigens Jugendstil-Vorderhäuser mit vielen, vielen Hinterhöfen. Vor der Ghettoisierung lebten in dieser Gegend, die sich im Westen bis zur Mlynarska erstreckte sehr viele Juden, aber auch Menschen anderen Glaubens. Viele v.a. reichere assimilierte Juden wohnten aber auch in allen anderen Stadtteilen Warschaus, bis sie eben unter unmenschlichen Hygiene- Wohn- und Grundnahrungssicherungen in dem mit Mauer umgebenen Ghetto zu leben, zu vegetieren gezwungen wurden.
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Vgl. Zborowski, Mark und Herzog, Elisabeth "Das Städtl". Die untergegangene Welt der osteuropäischen Juden. Beck, 1992.
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Was ich in dieser Geschichte, die ja im ersten Weltkrieg spielt, nur ahnte, kann ich jetzt belegen - auch mit der genannten Literatur, z.B. B. Singer und Emil Francos. Diese Geschichte "Der grüne Kasten" ist vom Thema und dem realistisch knappen Stil her untypisch für W. Bergengrün und von ihm selber gar nicht veröffentlicht worden, sondern erst von seiner Tochter im Jahre 2000. Wahrscheinlich vermochte Bergengruen die Wirkung einer solchen Geschichte - insbesondere nach der Judenverfolgung, ja, des europäischen Holocausts - nicht einzuschätzen. (Andere Texte mit jüdischen oder christlich-antijudaistischen Themen sind mir von Bergengruen nicht bekannt.)
Tatsächlich muss der Krüppel Chaim täglich mit einigen Päckchen Streichhölzern in einem Weidenkörbchen los und muss sie in der Bahnhofsgegend tschechisch und polnisch anpreisen.
Den Bezirk Nalewski hat W. B. als Zentrum des jüdischen Lebens in Warschau beschrieben, der auch schon beim damaligen Einmarsch der Russen sehr gelitten hat. Und der Chaim wird von den Granaten "der weichenden Russen" noch getroffen und getötet.
Eine Erzählung, die lange v o r dem Holocaust spielt und uns trotzdem von den Leiden der einfachen und armen Juden in ihrem Viertel mitteilt; lange bevor 1943 der SS-General Stroop das Ghetto liquidierte und nach dem Massaker abschließend mitteilte: "Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr."

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Vgl. neuerdings: den Film von Roland Polanski: "Der Pianist":

Wladyslaw Szpilman , Wolf Biermann (Mitarbeiter): Der Pianist.
Berlin: Ullstein Taschenbuchverlag 2002.
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http://www.3sat.de/3sat.php?http://www.3sat.de/kulturzeit/tips/38265/index.html

"Der Pianist" ist Polanskis persönlichster Film...Der Film spielt im Warschauer Ghetto und zeigt die Judenvernichtung dramatischer, realitischer und humanistisch-versöhnlicher Absicht.

Darin, im Roman und im Film:

Ein Lehrer und ein Soldat und ein vergessener "Retter seiner jüdischen Mitmenschen":
Lehrer Wilm Hosenfeld wurde am 2. Mai 1895 als viertes von sechs Kindern
eines katholischen Lehrers in dem Rhöndorf Mackenzell geboren. Nach Abschluss seiner pädagogischen Ausbildung nahm er von 1914 an als Infanterist am ersten Weltkrieg teil. Er kehrte 1917 schwer verwundet in die Heimat zurück.
Ab 1918 wirkte er sozial und christlich engagiert als Dorfschullehrer, zunächst im Spessart, dann in Thalau, bei Fulda.
1920 heiratete er Annemarie Krummacher, Tochter eines Worpsweder Malers. Aus dieser Ehe gingen fünf Kinder hervor, die später alle medizinische Berufe ergriffen.
Bei Ausbruch des zweiten Weltkrieges kam Wilm Hosenfeld, inzwischen 44-jährig, mit einem Landesschützenbataillon nach Polen. Von 1940 bis 1944 gehörte er als Reserveoffizier der Oberfeldkommandatur in Warschau an. Er leitete dort die Sportschule der deutschen Besatzer.
Mit dem unaufhaltsamen Näherrücken der russischen Truppen auf Warschau wurde Wilm Hosenfeld im Herbst 1944 Kompanieführer und geriet im Januar 1945 in russische Kriegsgefangenschaft. Von seiner Schuldlosigkeit überzeugt, gab er freimütig an, dass das von ihm geführte Sportamt organisatorisch der Abteilung Ic unterstand. Neben der Truppenbetreuung nahm diese Abteilung auch nachrichtendienstliche Aufgaben wahr. Um von Wilm Hosenfeld Informationen über seine vermeintliche geheimdienstliche Tätigkeit zu erzwingen, setzte man ihn dem sogenannten "strengen Verhör" im Untersuchungsgefängnis Minsk aus. Nach sechs Monaten Isolierhaft war er ein gebrochener Mann. Er erlitt den ersten Schlaganfall.
Ohne den geringsten Nachweis eines Vergehens, allein aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Abteilung Ic wurde er 1950 als Kriegsverbrecher zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt.
Mehrfach bemühte er sich vergeblich um eine Auslieferung nach Polen, weil er der Bürgschaft mehrerer Polen und Juden vertraute, denen er das Leben gerettet hatte.
Halbseitig gelähmt und seelisch verzweifelt starb Wilm Hosenfeld am 13.8.1952 im Alter von 57 Jahren im Kriegsgefangenenlager Stalingrad.

Fazit...?

Geprägt wurde Wilm Hosenfeld durch die Prinzipien seiner streng katholischen, aber warmherzigen Familie, durch die preussisch patriotische Erziehung der damaligen Lehrerausbildung und vor allem durch die Ideale des Wandervogels. Später beeinflusste ihn die protestantisch-pazifistische Denkweise seiner Frau Annemarie.
In Polen suchte er oft den Kontakt zur einheimischen Bevölkerung.
Er lernte polnisch und wurde von polnischen Familien häufiger eingeladen.
In seiner Eigenschaft als Sportoffizier unterstanden ihm eine Anzahl
polnischer Arbeiter, die für die Pflege der Anlagen zu sorgen hatten. Dies ermöglichte ihm, einige Polen und Juden, die von der Gestapo verfolgt Wilm wurden, unter falschen Namen zu beschäftigen und sie zu retten.
Soldat Hosenfeld - ein Einzelfall im katholischen Milieu; vergleichbar mit vielen Fällen, in denen junge Kapläne mehr riskierten, als es ihre Vorgesetzten, die Bischöfe als Vertreter der päpstlichen Kurie leisten dürfen sollten.
Einzelfälle – die mahnen:
Wilm Hosenfeld, Karl Leisner, Anton Schmidt - Namen aus dem katholischen Potential der christlichen Liebe und Leidenschaft und Widerstandskraft...

Ich verweise auf folgenden Dokumentationen:
* "Retter in Uniform". Hrsg. v. Wolfram Wette. Fitabu 15221. (Insbesondere Arno Lustigers Porträt des Feldwebels Anton Schmid. (dort S. 45 -65) und Dirk Heinrichs Aufsatz über "Hauptmann a. D. Wilm Hosenfeld". Retter in Warschau. (Dort S. 6987)
*
"Die anderen Soldaten". Hrsg. v. Nobert Haase und Gerhard Paul. 1995. Fitabu 12769.


*
Johannes Bobrowski: Das Mäusefest

*

Szpilman, Wladyslaw: Der Jude

Szpilman, Wladyslaw: Begegnung mit dem Lehrer Wilm Hosenfeld

Böll, Heinrich:
Bölls Erzählung Todesursache Hakennase

Bölls Roman Der blasse Hund. 1995


Fink, Ida: Der Verrückte
(Aus: Eine Spanne Zeit. Erzählungen. Zürich 1983)

Frank, Anne: "Tagebuch"
(Ausschnitt, der belegt, dass die Familie Frank schon 1942 von den Vergasungen wußte, also auch von dem ihnen drohenden Schicksal)

Hoffmann, Friedrich: Das Jesuskind von Ostrowice

Keilson, Hans: Kömodie in Moll
(Eine Novelle; zuerst bei Querido in Amsterdam 1947)

Klemperer, : Aufzeichnungen (Ausschnitt)

Klieger, Bernhard: Der Weg, den wir gingen
(Reportage einer höllischen Reise. Verlag Codac Juifs. Bruxelles-Ixelles. 1957. Originalausgabe auf Französisch 1946: "Le cemin que nous avons fait...")

Klüger, Ruth: Der Kamin

Kor, Eva Mozes: Wahrheit heilt

Moen, Petter: Petter Moens "Aufzeichnungen" Übersetzt und hrsg. von Edzard Schaper – (s. dort)

Langgässer, Elisabeth und Cordelia Edvardson:
"Cordelias leises Lachen halt durch die Jahrhunderte" - Lebenszeugnisse

Langgässer, Elisabeth: Saisonbeginn
und Kurt Tucholsky: Saisonbeginn
(Zwei Texte, eine Reportage aus dem Jahre 1922 und eine exemplarische Kurzgeschichten)

Schnurre, Wolfdietrich: Laterne, Laterne
(In: W. Sch.: Als Vater sich den Bart abnahm. Erzählungen aus dem Nachlass. Herausgegeben von Martina Schnurre. Berlin Verlag 1995: Berlin. S. 177 - 194)


Taylor, Kressmann: Adressat unbekannt


Winters:
Mine Winters "Auschwitz-Lied" (aus ihrem Bericht "Jeden Tag sahen wir den Tod vor Augen")

*

Wiechert, Ernst: Der Totenwald
(Wiecherts - fast unbekannte - Aufzeichnungen aus dem KZ Buchenwald. 1946 in Zürich bei Rascher erschienen. Jetzt lieferbar als Ullstein-TB 24038)

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Für Informations- und Unterrichtszwecke sammle ich Erzählungen, Protokolle, Lyriktexte über Antijudaismus, Antisemitismus, Verfolgung der Juden aus religiösen (rassistischen) Gründen, über Deportation, KZ-Erfahrungen, die "Endlösung" (wie Nazis sie sich vorstellten), Holocaust (oder Shoah, also überhaupt Beispiele für diese extremste Form der Menschenverachtung und -vernichtung, aber auch Beispiele für die Vorgeschichte dieser christlichen (oder allgemein anthropogenen?) Menschheitspest.


Ernst Wiechert: Die Gebärde
Siehe hier:
https://stephanus-bullin.blogspot.com

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Anmerkung:

Zum Thema "Auschwitz" gibt es das gute Textbuch von

Sascha Feucht: Holocaust-Literatur. Auschwitz. Stuttgart 2000. Reclam UB 15047.

- Dieses Materialienbuch ist ausgezeichnet und umfangreich als Hinführung und Diskussiongrundlage für alle: sehr zu empfehlenswert...



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