„... ich
werd Ärger kriegen mit meinem Gott.“
(Letzter
Satz des jüdischen Kaufmanns Moise Trumpeter in seinem verwüsteten
Laden, in Anwesenheit eines jungen deutschen Soldaten (in: J.
Bobrowskis Kurzgeschichte „Mäusefest“, die den Feldzug gegen
Polen, besonders gegen polnischen Juden beurkundet.)
*
Shylock (zu Salarino): (...) Ich bin ein Jude. Hat nicht ein Jude
Augen? hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne,
Neigungen, Leidenschaften? mit derselben Speise genährt, mit
denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit
denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von eben dem
Winter und Sommer als ein Christ? Wenn ihr uns stecht, bluten wir
nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns
vergiftet, sterben wir nicht? Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir
uns nicht rächen? Sind wir euch in allen Dingen ähnlich, so wollen
wir's euch auch darin gleichtun. Wenn ein Jude einen Christen
beleidigt, was ist seine Menschlichkeit? Rache. Wenn ein Christ
einen Juden beleidigt, was muß seine Geduld sein nach christlichem
Vorbild? Nu, Rache. Die Bosheit, die ihr mich lehrt, die will ich
ausüben, und es muß schlimm hergehn, oder ich will es meinen
Meistern zuvortun.
(W. Shakespeare: Der Kaufmann von Venedig (III,1) (Übersetzung
von August Wilhelm Schlegel)
Die religiösen und politischen Seuchen des Antisemitismus
Religiöse Verfolgung –
rassistische Verleumdung, ethnische Ausgrenzungen, Tötungen im 19.
und im 20. Jh.: jüdische Opfer – und christliche - atheistische -
humanistisch-freigeistige Schicksale -
Erzählungen und Gedichte, die den
* Antijudaismus, den Antisemitismus und die Shoah thematisieren
Paul Mayer: Den Unbeirrten
(1944)
Sie haben euch in
die Höllen gezerrt
Und eure Gesichter
zu Fratzen verzerrt.
Sie haben euch
Hirne und herzen zerkrallt
In Dachau, in
Belsen, in Buchenwald.
Und wenn man uns
fragt, wo Deutschland denn war,
Wir weisen auf
euch als heilige Schar.
- Paul Mayer (geb. 1889 in Köln, lebte 1948 noch im Exil in Mexiko. - Das Gedicht wurde veröffentlicht in der Anthologie „Das Wort der Verfolgten. Anthologie eines Jahrhunderts.“ [Erstauflage 1945; in der Schweiz] Hrsg. von Bruno Kaiser. Berlin 1948: Verlag Volk und Welt S. 313)
Schoah,
Shoa, Shoah: (neuhebräisch) Tötung einer großen Zahl von Menschen,
eines Volkes (Genozid), v. a. Bezeichnung für die Verfolgung,
Gettoisierung und insbesondere Vernichtung der europäischen Juden
während der NS-Herrschaft in Deutschland und Europa (1933 bis 1945).
Vorläufer
der Holocaust-Nachrichten, -Berichte, -Erzählungen sind schon seit
dem Endes des 19. Jhs. literarisch aufgegriffen worden. Aber die
blieben Erzeugnisse von jüdischen Deutschen für ihre Freunde und
Mitgläubige.
Oder der Begriff Churban :
Jüdische
Schriftgelehrte sprachen nach dem Exil im Rückblick vom Churban. Das
Wort bedeutet Zerstörung. Am Beginn des Exils stand ja die
Zerstörung des Tempels Salomos im Jahre 587. Und dann gab es einen
Zweiten Churban, die Zerstörung des Tempels des Herodes durch den
römischen Kaiser Titus im Jahre 70 nach Christus. Zweimal zielten
Feinde mit der Zerstörung des Tempels auf die Vernichtung des
Judentums - und scheiterten. Einige Rabbiner nennen Hitlers Versuch,
das Judentum zu vernichten, den Dritten Churban. Und wieder
scheiterten Menschen an der Macht Gottes. Deshalb stirbt bei ihnen
die Hoffnung nicht.
Manès Sperber
wählte als Titel von Essays "Churban oder Die unfaßbare
Gewißheit". Erläutert wird zum Begriff Churban: Das Wort
bezeichnet "Verwüstung, Vernichtung". Es meint
insbesondere die Zerstörung des ersten Tempels durch Nebukadnezar
(587 v. Chr.), die des zweiten Tempels durch Titus (70 nach Chr.) und
die ab 1940 von den Nationalsozialisten organisierte Ausrottung der
europäischen Juden (dtv 10071).
*
Jüdisches
Gebet für die Shoah-Opfer:
G'tt
voller Erbarmen, in den Himmelshöhen thronend,
es
sollen finden die verdiente Ruhestätte
unter den Flügeln Deiner Gegenwart, in den Höhen der Gerechten und Heiligen, strahlend wie der Glanz des Himmels, all die Seelen der Sechs-Millionen Juden, Opfer der Shoah in Europa, ermordet, geschlachtet, verbrannt, umgekommen in Heiligung Deines Namens; durch die Hände der deutschen Mörder und ihrer Helfer aus den weiteren Völkern.
Sieh
die gesamte Gemeinde betet für das Aufsteigen ihrer Seelen,
so berge sie doch Du, Herr des Erbarmens, im Schutze deiner Fittiche in Ewigkeit und schließe ihre Seelen mit ein in das Band des ewigen Lebens.
G'tt
sei ihr Erbbesitz,
und im Garten Eden ihre Ruhestätte, und sie mögen ruhen an ihrer Lagerstätte in Frieden. Und sie mögen wieder erstehen zu ihrer Bestimmung am Ende der Tage. Amen
Zum Gedicht:
Die Schreibweise G’tt
spiegelt in
jüdischer Tradition die Ehrfurcht des Gläubigen, die dem
biblischen Bilderverbot für Gott entspricht.
Quelle des Textes: 1999
veröffentlicht unter der Internet-Adresse der HaGalil:
|
Mein Interesse an deutschen oder anderen Literaten in
Mitteleuropa, welcher Religion und Kultur und Politik auch, will ich
mit einem Zitat von Albrecht Goes beschreiben, dem Priester, dem
Poeten, dem Propheten, dem (fast) Vergessenen...
Albrecht Goes beschloß (am 19. Juli 1957) eine
Gedenkrede für die Helden und Opfer des 20. Juli 1944, in
Berlin-Plötzensee und bezeichnete das Vermächtnis und die
Lebensidee der Widerständler und Attentäter als Auftrag für die
Lebenden:
Lassen Sie mich von diesem Auftrag zuletzt in einem
Gleichnis sprechen, einem Bericht folgend, den wir Martin Buber
verdanken. Martin Buber schreibt: »Als ich ein Kind war, las ich
eine alte jüdische Sage, die ich nicht verstehen konnte. Sie
erzählte nichts weiter als dies: 'Vor den Toren Roms sitzt ein
aussätziger Bettler und wartet. Es ist der Messias.' Damals kam ich
zu einen, alten Mann und fragte ihn: 'Worauf wartet er?' Und der alte
Mann antwortete mir etwas, was ich damals nicht verstand und erst
viel später verstehen gelernt habe; er sagte: 'Auf dich.'«
Albrecht Goes: Das
Unvollendete will Vollender. ( In: A. G.: Aber im Winde das Wort.
Prosa und Verse aus zwanzig Jahren. S. 223 - 228)
*
Ich möchte diesen Auftrag
und diese "Erscheinungen" mit meinen eigenen Worten
erklären:
Da hat ein Religionswissenschaftler, ein Übersetzer
des AT, ein Sprachschöpfer als Kind eine alte Sage gelesen,
natürlich eine widerständige, jüdische, geheimnisvoll anrührende,
und sie ein Leben lang nicht mehr vergessen: Vor den Toren Roma - da
durfte einer nicht in die Heilige Stadt, da regierten und reagierten
die Christen - ohne daß sie den Ernst und die Liebe der Bergpredigt
realisieren wollten - und ließen ihn draußen sitzen, den
Aussätzigen, den Nicht-Gewünschten, den, der irgendwie sterben und
irgendwo verscharrt werden mag .
Aber dieser Elende sei der Messias - den Buber in
seinem Leben sucht, ihn aufsucht - in der Gestalt eines alten Mannes,
den er anspricht...
Er habe, sagt der Alte, auf ihn, suchenden, fragen,
zuhörenden, den
Buber gewartet. So erlebte Buber diesen Mann als seinen Messias.
Solche Vollendungen des Unvollendeten durch
unvollendeten Menschen - möchte Goes - geleistet wissen.
Ich habe vor zwei Jahren an Goes' Grab gestanden;
Fünf Schritte von Mörikes Grab entfernt. In Stuttgart. Auf dem
Prager Friedhof. Dem Großzügigen, dem noch viel Platz-habenden (in
der Grabkultur derer, die Poeten und Propheten suchen und nicht
locker lassen....., ihnen Plätze, Orte, anzubieten..., dass sie mit
uns sprechen..
Ich las, nochmals! - bei Albrecht Goes:
dass sie - um dieses Segens willen - bleiben, was
sie sind: Abrahams Kinder.
Der Zusammenhang - er wird erarbeitet von jedem, der
bereit ist, einen Atta-Massenmörder in seiner menschlichen Genese
verstehen zu wollen.
*
Albrecht Goes:
Genesis -
Wir
fragen: wie oder genauer: als was ist dieses Buch zu lesen? Es
ist dies zuerst zu lesen als das erste Buch des Alten
Testaments, als älteste Urkunde über Israels Weg. Wir finden elf
Kapitel Urgeschichte und jene neununddreißig Kapitel, die dann
folgen, die die Stammesgeschichte der Patriarchen, der Erzväter
Israels, erzählen: Geschichte Abrahams, Isaaks, Jakobs und Joseplis.
Die Urgeschichte wird, einem großen Wandteppich gleich, zu
Häupten aufgerichtet für alle, die da kommen die
Urbilder von Erschaffung und Fluch, Brudermord, Sintflut und
Errettung; vom zweiten Menschheitsbeginn unter Noah, von der
Zusammenrottung der geretteten Welt und von ihrer Zerstreuung in
Völker und Sprachen. Dann, mit dem Abraham angehenden 'Gehe!'
beginnt: die Geschichte. Geschichte von einem, der, aus den Völkern
kommend, ein einzelner wird, nicht um dieser einzelne zu bleiben,
sondern um hernach - in der Freiheit Gottes - ein Stammvater zu
werden, ein Erster und Ältester in der Geschichte des Volkes, das
sich aus den Stämmen bildet.
Unlöslich
verflochten ineinander sind beide: das Geheimnis der Schöpfung und
das Geheimnis des Bundes. Der Ewige durchbricht die Welteinsamkeit
und schafft das Du, das Ebenbild. Hochaufgerichtet über allem
Menschenweg bleibt die Vollmacht der göttlichen Freiheit, der es
in ja und Nein - um diesen Menschen zu tun ist. Auch das "Nein"
ist allezeit bei Gott: als ein Nein zu seiner Schöpfung - in der
Sintfluterzählung; als ein Nein zu einer einzelnen Stadt so
in der Geschichte von Sodoms Untergang; als das Nein zum Aufrührer
und Widersacher; aber dem Nein zur Seite - und hoch über ihm! -
steht das ja: alle Lebensnot und alle Angst, Verwirrung, Unruhe
und Wanderschaft, ja alle Bosheit und auch die Sünden -'etiam
peccata' - sollen dies nicht aufhalten können, daß Israel dem
heiligen Gedanken des Sinai entgegengeht, dem großen Gottkönigtum
des 'Ihr sollt mein Volk sein, so will ich euer Gott sein'.
Es
ist möglich, das große Erzählungswerk der Genesis zu lesen
als die kühne Schrift der Rechtfertigung, als Botschaft des Stolzes
in Israel; aber die eigentliche Herrlichkeit dieser Texte erschließt
sich doch nur dem, der das Wort "Segen" gehört und
angenommen hat als Gottes Wort: "Ich will dich segnen, und du
sollst ein Segen sein", und der so denn nicht die nationalen
Triumphe zuerst feiert, sondern das unerschöpfliche und
unauslöschliche Geschenk des Ewigen, gültig für die Zeiten:
von Abraham bis zu Salomo in seinem Glanz, und weiter zu Jeremia, zur
babylonischen Gefangenschaft; neu aufleuchtend in Judas Makkabäus,
und überdauernd auch die dürren Tage der Synagoge von Hannas und
Kaiphas und die Jahrhunderte dann: segnend Jehuda Halevi, den Dichter
Israels, und den erneuerten Ursprung in der Geschichte der Chassidim,
ein Wander und Leidvolk begleitend ins Ghetto von Warschau und
in die Todeslager von Auschwitz und Maidanek, und weiter bis
"Erez Israel", Vertraute und Fremde gleichermaßen
erinnernd an ihre wirklichste Wirklichkeit: daß sie um dieses
Segens willen bleiben, was sie sind: Abrahams Kinder.
Und
weiter: dieses Buch ist zu lesen als das erste Buch der Heiligen
Schrift, das heißt als die Geschichte, die Christus entgegengeht.
'Hier in Mose haben wir die rechte güldene Fundgrube, daraus
genommen ist alles, was im Neuen Testament von der Gottheit
geschrieben ist. Es liegt das Erz noch halb in der Gruben.' So
Luther. Es ist nicht die Meinung, daß dieser Text zuerst das
bedeute, was nicht ausdrücklich dasteht. Genug, wenn uns zum
Bewußtsein kommt, wie durchsichtig die Vorhänge hier allerwege
sind, wie sehr zu dem Wort des sterbenden Jakob: ,Herr, ich
warte auf dein Heil!' der Lobgesang des Simeon gehört, das große
Nunc dimittis', und wie die verborgene Gegenwart vom 'Sohn des
Vaters' diesen ältesten Zeugnissen eine geheime Helligkeit, ja
eine in der Liebe gegründete Heiterkeit zumittelt, jene verborgene
Gegenwart, von der das Wort des Johannesevangeliums spricht: 'Ehe
denn Abraham war, war ich.'
Endlich
aber: es ließe sich die Genesis lesen als Menschheitsurkunde
schlechthin. Nicht nach der Weise, wie man stoische Philosophie lesen
würde als Einübung in die Lebenskunst, wohl
aber
so: daß die Erkenntnisse über Gut und Böse, über Wagnis und
Vertrauen, Wahl und Willensfreiheit allen zugute kommen können.
(Albrecht Goes: "Genesis" - als Vorwort zu
"Aber im Winde das Wort. Prosa und Verse aus zwanzig Jahren.
Stuttgart 1966. S. 12)
**
Ludwig
Börme. Briefe aus Paris.
Achtundsechzigster Brief
Paris,
Mittwoch, den 11. Januar 1832
Voilà
ce roi chrétien, que sa mère appelait
Ferdinand cœur de tigre et tête de mulet :
Ferdinand cœur de tigre et tête de mulet :
*
Einige
Shoah-Berichte oder –Erzählungen möchte ich nach und nach
vorlegen als
Erinnerungen an Täter und Opfer:
(Beiträge
sind natürlich sehr erwünscht.)
Die
„Nalewski“ heißt eine lang gestreckte, einige Male stumpfwinklig
gewundene Straße in Warschau. Hier wohnt das Volk Israel Haus an
Haus, Laden an Laden, in Enge, Gerüchen und Geschrei. Buntfarbige
Namen prahlen auf grellen, mit primitiver Eindringlichkeit
gemalten Firmenschildern. Viel Armut und Elend ist hier, viel
Herzenshärtigkeit und Geldgier, viel ängstlich versteckter
Wohlstand, aber auch viel verborgenes Sehnen und Ausschauen nach dem
heiligen Sterne Zions.
Eins
der niedrigen hölzernen Hinterhäuser in dieser Straße gehörte dem
Händler Aaron Zitron. Es sah aus, als sei noch kein Strahl einer
höheren und reicheren Freude in seine Fenster gefallen. Zwischen
zwei mehrstöckige Nachbargebäude eingezwängt, blickte es scheu und
geduckt wie ein verprügelter Hund auf den engen, schmutzigen, übel
riechenden Hof.
Im
Keller dieses Hauses wohnte in einem feuchten, halb finsteren
Gelass Chaim Pruzanski, der taube Narr. Außer Aaron Zitron, dem
Bruder seiner Mutter, gab es keinen Menschen, der sich um ihn
kümmerte. Da er zurückgeblieben am Geiste und verkrüppelt
am Körper war, galt er den Leuten als der
von
Gott Gezeichnete, der gestraft ist um der Sünden seiner Väter
willen. Denn die Juden von Nalewski sind ein frommes Volk.
Chalms
kleine verwachsene Gestalt mit dem großen, tief zwischen den
Schultern ruhenden Kopf, dem leicht gekrümmten Rücken und dem
seltsam schleifenden Gang war allen Bewohnern der umliegenden
Straßen vertraut. Täglich um dieselbe Stunde ging er denselben Weg
und immer lag derselbe Zug von gelassener und gegenstandsloser
Heiterkeit um seine großen, etwas vorstehenden Augen, um den stets
geöffneten, länglichen Mund mit den fahlen Lippen. Chaims Dasein
drehte sich um zwei Pole. Der eine war Aaron Zitron. Er kleidete,
nährte, beherbergte ihn und flößte ihm Furcht ein. Chaim empfand
jedoch diese Furcht als notwendig, verwachsen mit seinem
Leben. jeden Morgen empfing er von Aaron einige Pack Streichhölzer
und jeden Abend lieferte er den Erlös und den Rest seiner Ware ab.
Der Oheim war ein misstrauischer Rechner und zählte beides genau
durch.
Verkörperten
sich so für Chaim alle trüben Notwendigkeiten in Aaron Zitron,
so sprang auf der anderen Seite eine unversiegliche Quelle, die ihn
immer wieder mit Trost und Heiterkeit tränkte. Das war der
andere Pol im Leben des tauben Narren und er bestand in nichts
mehr als dem hölzernen Warenkasten eines alten Juden, der mit
Schuhwichse, Schnürsenkeln, Zigaretten und Apfelsinen hausierte.
Chaim hatte seinen Standplatz am Wiener Bahnhof und auf dem
Wege
dahin begegnete er täglich dem Alten. Nie hatte er ihm einen Blick
geschenkt, nie seine Züge sich einzuprägen gesucht. Er war ihm nur
der zufällige Träger, der gleichgültige Diener eines
Gegenstandes von unerhörter Kostbarkeit. Aber der Kasten, der
Kasten! Breit und massig war er gebaut, prachtvoll grün
gestrichen, innen und außen. Und die Innenseite des stets
geöffneten Deckels zeigte auf giftgrünem Grunde ein
himmelblaues Stück Meer neben einem schneeweißen Hause, dessen
vorspringendes Dach von zwei Säulen gestützt wurde. Und zwischen
Haus und Meer stand in fröhlicher Unbekümmertheit um alle
Gesetze der Perspektive eine violett gekleidete Dame mit
rabenschwarzem Haar und hielt in der hoch erhobenen Hand eine Dose
mit Schuhwichse zum Himmel empor. Diese sandte ihrerseits zwei
grelle, breite Strahlen in Gestalt eines schwefelgelben und
eines knallroten Balkens aus, die an der grünen Umrahmung wie
abgebrochen aufhörten.
Dieses
Bild war für Chaim der Inbegriff des Schönen und Erhabenen. Die
violette Dame, das blaue Meer, das säulengeschmückte Haus und nicht
zuletzt der gelbe und der rote Strahl erschienen seinem armen Geiste
als Bürgschaft einer höheren Welt, Verheißung einer
unfassbaren, leuchtenden Herrlichkeit, die irgendwo bereitliegen
musste. Einmal, das fühlte er, musste sie offenbar werden und ihren
Glanz auch über ihn ausgießen. Nie hätte er gewagt, sich diesen
Kasten in Gedanken an Stelle des armseligen, geflochtenen
Weidenkorbes zu wünschen, in welchem
er
seine Streichhölzer trug. Ihm genügte es, ihn täglich im
Vorbeigehen anzusehen und alles an ihn zu verschwenden, was an
Fähigkeit zu Liebe und Verehrung im aschenhaften Düster seiner
Natur flackerte. So betet der primitive Mensch ein selbst
geschnitztes Stück Holz an, in welchem er doch in höheren
Augenblicken Ausdruck und Träger seiner eigenen, noch
unerschlossenen Empfindungswelt ahnt.
Chaim
Pruzanski spürte es nicht, dass die Zeit ein anderes Angesicht
gewann. Wie immer stärkte er seine arme Seele im Anschauen des
grünen Kastens, wie immer rief er klagend: »Spitschki! Zapalki!«Wie
immer tauschte er seine Waren gegen die großen kupfernen Geldstücke
und nahm es ohne Neugier hin, dass die Soldaten in den grünlich
grauen Hemden immer mehr in der Zahl seiner Kunden überwogen.
Er achtete kaum darauf, dass das Leben in der Stadt hastiger und
nervöser wurde; bis ein Tag kam, der ihm das ganze Bild der Welt
zerriss.
Riesige
graue Menschenmassen hasteten durch die Straßen, Wagenzüge, Reiter,
Geschütze. Mit Offizieren überfüllte Autos suchten sich einen
Weg zu bahnen, oft vergebens trotz aller Rücksichtslosigkeit.
Betrunkene Soldaten schleppten Waren aus den Läden. Die Häuser
schlossen sich. Das Volk verschwand von den Straßen, die sich
immer mehr mit den Scharen der Soldaten füllten.
Und
der Taube, dem sich das Geschehen um ihn nicht so deutlich
mitzuteilen vermochte wie den anderen, fühlte sich plötzlich vom
Strudel erfasst, verschlagen, abgeschnitten von allem Vertrauten.
Eine jähe Bestürzung sprang ihn an, eine ratlose Furcht vor dem
Unbekannten und Unbegreiflichen, das um ihn geschah.
In
dieser Not fiel ihm der grüne Kasten ein. Er war Trost, Ebenmaß und
Harmonie in dieser toll gewordenen Welt. So schnell ihn die
schwächlichen Beine schleppten, eilte Chaim der Straßenkreuzung zu,
an welcher der Alte zu stehen pflegte. Dort herrschte der gleiche
Wirrwarr. Soldaten, Soldaten, Soldaten. Einige stießen und drängten
sich auf dem Bürgersteig, kniend, suchend, aufhebend. Und als
Chaim näher kam, sah er im Rinnstein zertrümmert den grünen Kasten
liegen, in dessen verstreuten Inhalt sich gierige Fäuste teilten.
Einen
Augenblick stand der Narr wie versteinert. Dann bückte er sich, um
die Bruchstücke zu retten. Heißer, nach Schnaps riechender Atem
quoll ihm entgegen. Ein vollbärtiger, weißblonder Soldat mit rotem
Gesicht, der seine Mütze im Gedränge verloren hatte, brüllte
ihn an.
Der
Taube spürte die Feindseligkeit in Gesichtsausdruck und
Gebärde.
»Belieben
Sie doch, Herr, mich in Ruhe zu lassen«, flehte er, und als sei
damit alles erklärt, fügte er hinzu: »Das ... das ist doch der
grüne Kasten!«
Man
stieß ihn zurück, schlug ihm den Streichholzkorb aus der Hand
und die Mütze vom Kopfe. Grinsend warf ihn einer dem andern wie
ein Bündel zu. Schläge, Stöße, Fußtritte trafen ihn, bis er
endlich
blutend
einen Ausweg aus dem Gedränge gewann und nach Hause flüchtete.
Chaim
Pruzanski kauerte, noch an allen Gliedern zitternd, in seines Oheims
Stube und starrte durch das zerschlagene Fenster in den Hof, der sich
allmählich mit Dämmerung füllte. Im Hause sah es böse aus.
Die Möbel waren zertrümmert, Schränke und Kästen umgestürzt,
alles Brauchbare weggeschleppt. Wäschestücke, Lumpen,
zerbrochene Teller und Schüsseln lagen in wirrem Durcheinander
auf dem Fußboden. Von einem der trunkenen Plünderer vergessen,
stand in einer Ecke ein Gewehr.
Aaron
Zitron war nirgends zu finden. Die Nachbarn zuckten die Achseln.
Die
ganze Nacht hockte der Narr zwischen den Trümmern. Die Welt war
zerfetzt, es gab nichts Mehr, das sein Leben stützen und schmücken
konnte. Zitron ließ sich nicht blicken, der grüne Kasten war
zerschlagen.
Endlich
kam ihm der Gedanke, dass er etwas tun müsse, dass er nicht ewig
hier in der wüsten Stube kauern könne. Zum ersten Male sah er
Entscheidung und Entschluß von sich gefordert.
Er
fand die einzige Zuflucht. Gegen Mittag verließ er langsam das Haus,
um in die Weichsel zu gehen.
Die
Straßen wimmelten noch immer von Menschenmassen in grauen
Uniformen. Aber statt der flachen Tellermützen oder der hohen
Lammfellkappen trugen sie graue Helme mit Spitzen. Chaim achtete
nicht auf sie, sondern setzte unbeirrt seinen Weg fort.
Fast
war es das alte Lächeln voll Ruhe und Heiterkeit, das auf
seinem blassen Gesicht lag.
An
einer Straßenkreuzung staute sich Bettelvolk um einen Wagen mit
Schornstein und großem, hochgeklapptem Deckel. Ein Soldat
schüttete geringschätzig den Leuten übrig gebliebenes Essen
aus einer großen Kelle in die bereitgehaltenen Näpfe und Eimer.
Chaim blieb stehen, wie ein Tier überfiel ihn der Hunger. Im Schmutz
der Straße sah er eine leere Konservenbüchse, hob sie auf und
drängte sich an den Küchenwagen. Der Soldat blickte ihn an, grinste
und füllte ihm die Dose. Chaim schlang das dampfende Gemenge
hinunter. Dann kehrte er entschlossen um und ging wieder dem
Hause seines Oheims zu.
Allein
der erste eigene Entschluss, der sich seiner Dumpfheit entrungen
hatte, der Gedanke des Sterbens, geboren aus Hilflosigkeit und
Verzweiflung, war gedacht und hatte Leben gewonnen. War aus ihm
hinausgetreten und wirkte.
Die
Granaten, welche die Geschütze der weichenden Russen über die
Weichsel warfen, haben in Warschau wenig Schaden angerichtet. Eine
von ihnen aber erfüllte das Schicksal des Chaim Pruzanski.
(Aus:
W.B.: Baltische Erzählungen. München 2000: nymphenburger verlag.
S. 124 - 130)
Die
Herausgeberin N. Luise Hackelsberger, Bergengruens Tochter, gibt als
Entstehungszeit dieser bis 2000 nicht veröffentlichten Geschichte im
Nachwort "um 1918" an. Sie schreibt dort näherhin: "Die
früheste der Erzählungen 'Der grüne Kasten' in der Zeit des Ersten
Weltkriegs geschrieben, wird hier erstmals veröffentlicht. In
prägnanter und zupackender Sprache erscheint uns Heutigen das
Geschehen so aktuell wie zur Zeit der Entstehung." - Ich sehe in
der Erzählung eine exemplarische Auseinandersetzung mit dem
Schicksal des jüdischen Volkes als der unerwünschten, weil
beneideten Ethnie einer fremden Religion im Grenzbereich zwischen
Deutschland, Polen und Russland. Die tödliche Auseinandersetzung ist
hier durch die Soldaten gekennzeichnet, von denen im mörderischen
Schluß die russischen Uniformen und Waffen explizit benannt sind.
Die
Symbolik des "grünen Kastens" erscheint mir als eine
kleine, magisch ersehnte Allegorie eines auf das Sehen und
ungestalten Sprechen eingeschränkten, tauben Armen, der in der
wundervollen Gestaltung des "Bauchladens" eines Hausierers
eine kleine Sehnsucht aufblitzen sieht, die ihm in der gemalten,
ungewöhnlich farbigen "violetten Dame" und ihrer
strahlenden Herrlichkeit ein Stückchen Paradies, ein wenig Heimat,
im entsetzlichen Alltag im Warschau des Ersten Weltkriegs. Meine
Hoffnung ist, dass ich die offensichtlich erschütternden Worte
"Spitschki! Zapalski!" werde einmal übersetzen können.
Bis dahin ist mir die Geschichte ein Organon, das mir, wie dem Chaim
in der Geschichte, in dieser Imagination meine "Seele"
"stärken" kann. )
Kontakt
über:
*
Das Jüdische Ghetto in Warschau heisst Nalewski
Der
Historiker Emanuel Ringelblum beschreibt in seinen Tagebüchern aus
dem Ghetto in begeisternder Sprache das kulturelle Leben dort, die
Atmosphäre zwischen Schulen, Universität und den vielen Geschäften
entlang der Leschnostasse und Nalewski Strasse (Nalewski ist auch
eine Strasse, die es immer noch gibt). Weiter schreibt er über die
Atmosphäre nach Feierabend, von Konzerten und Dichterlesungen wie
z.B. von Sholom Aleichim. Ringelblum wörtlich: "An jedem Tag in
dieser Zeit wurde mit voller Kraft gelebt".
Die schwersten Angriffe und grössten Vernichtungen durch die Nazis fanden zwischen Nalewsi und Muranowski Square statt - Wenn Du an einen Stadtplan kommst - die Nalewski Strasse geht vom Muranowski Square ab. Ich hoffe dir ein wenig geholfen zu haben.
*
Noch ein kleiner Nachtrag: Ich habe zusammen mit anderen vor einigen Jahren mal einen jüdischen Reiseführer geschrieben und dabei das Thema Polen im speziellen recherchiert. Wenn Du ein paar tage Zeit hast, suche ich mir das Belegexemplar mal raus und werde versuchen, Dir noch eine Infos mehr zu geben. Ich muss nur suchen - die meisten meiner Bücher sind noch in Umzugskartons ...wenn Du andere Fragen hast - ich werde gerne versuchen, Deine Wissenslücken zu füllen.
Die schwersten Angriffe und grössten Vernichtungen durch die Nazis fanden zwischen Nalewsi und Muranowski Square statt - Wenn Du an einen Stadtplan kommst - die Nalewski Strasse geht vom Muranowski Square ab. Ich hoffe dir ein wenig geholfen zu haben.
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Noch ein kleiner Nachtrag: Ich habe zusammen mit anderen vor einigen Jahren mal einen jüdischen Reiseführer geschrieben und dabei das Thema Polen im speziellen recherchiert. Wenn Du ein paar tage Zeit hast, suche ich mir das Belegexemplar mal raus und werde versuchen, Dir noch eine Infos mehr zu geben. Ich muss nur suchen - die meisten meiner Bücher sind noch in Umzugskartons ...wenn Du andere Fragen hast - ich werde gerne versuchen, Deine Wissenslücken zu füllen.
©
Also ZAPALKI heisst Streichholz auf Polnisch. Spi´cka (Spitschka gesprochen) heisst Streichholz auf Tschechisch ... sagt das vielleicht ein Strassenverkäufer? Das Mädchen vom Sterntalermärchen? :-)
Ich hatte mal einen Kollegen aus Prag, der mit Familiennamen Spi´cka hiess, sprach man den Namen mit zuuu langer Betonung aus, hiess es eher etwas ziemlich unanständiges :-)
Eine doppelte Bedeutung weiss ich so ad hoc nicht, ich werde sie aber mal erfragen.
*
Die Nalewski ist eine einen großen Teil des jüdischen Hitlerghettos durchziehende Straße. Mit ihren Seiten- und Nebenstraßen wurde das ganze Gebiet (Nowolipki- Swietojerski, Gesia - Franziskanska, Mila, Muranowska, Niska ) zum letzten Widerstandsnest in den grauenvollen Tagen des Aufstandes im Warschauer Ghetto.
Hier stand nach der Befreiung Polens durch die Rote Armee kein Stein mehr auf dem anderen. Ganz wenige Häuser in der Panska ( Nähe Hauptbahnhof ) und eine Markthalle erinnern an die "echten " zeitgenössischen Häuser.- Übrigens Jugendstilvorderhäuser mit vielen vielen Hinterhöfen- Vor der Ghettoisierung lebten in dieser Gegend, die sich im Westen bis zur Mlynarska erstreckte sehr viele Juden, aber auch Menschen anderen Glaubens. Viele v.a. reichere assimilierte Juden wohnten aber auch in allen anderen Stadtteilen Warschaus, bis sie eben unter unmenschlichen Hygiene- Wohn- und Grundnahrungssicherungsverhältnissen in dem mit Mauer umgebenen Ghetto zu leben/ vegetieren gezwungen wurden.
Mein Mann und ich machten vor cirka 6 Jahren einen Sühnegang ( ich wage es nicht Spaziergang zu sagen ) durch das Gebiet. Es ist merkwürdig, dass das offizielle Polen recht wenig - nicht nichts - zum Gedenken ihrer jüdischen Mitbürger tut.
Meine Trauer war groß, meine Scham auch. Weiß ich doch nicht nur von Bergengruen, sondern vor allem aus der Lektüre der Werke Isaac B. Singers. An- Ski`s, Itzig Mangers, Manes Sperbers, Karl Emil Franzos ( Scholejm Alechem erwähnte Angelika schon) über das Leben im Städtl Bescheid.Ich weiß also, was Hitler vernichten ließ.
Sehr gut theoretische Kenntnisse kannst Du Dir auch hier besorgen.
Zborowski, Mark und Elisabeth Herzog: "Das Städtl" Die untergegangene Welt der osteuropäischen Juden. Beck, 1992
*
beherrschten „nachgeschichtlichen“ Menschen im Moment seines Unterganges (vgl. Klages: Vom Kosmogenischen Eros).*
Also ZAPALKI heisst Streichholz auf Polnisch. Spi´cka (Spitschka gesprochen) heisst Streichholz auf Tschechisch ... sagt das vielleicht ein Strassenverkäufer? Das Mädchen vom Sterntalermärchen? :-)
Ich hatte mal einen Kollegen aus Prag, der mit Familiennamen Spi´cka hiess, sprach man den Namen mit zuuu langer Betonung aus, hiess es eher etwas ziemlich unanständiges :-)
Eine doppelte Bedeutung weiss ich so ad hoc nicht, ich werde sie aber mal erfragen.
*
Die Nalewski ist eine einen großen Teil des jüdischen Hitlerghettos durchziehende Straße. Mit ihren Seiten- und Nebenstraßen wurde das ganze Gebiet (Nowolipki- Swietojerski, Gesia - Franziskanska, Mila, Muranowska, Niska ) zum letzten Widerstandsnest in den grauenvollen Tagen des Aufstandes im Warschauer Ghetto.
Hier stand nach der Befreiung Polens durch die Rote Armee kein Stein mehr auf dem anderen. Ganz wenige Häuser in der Panska ( Nähe Hauptbahnhof ) und eine Markthalle erinnern an die "echten " zeitgenössischen Häuser.- Übrigens Jugendstilvorderhäuser mit vielen vielen Hinterhöfen- Vor der Ghettoisierung lebten in dieser Gegend, die sich im Westen bis zur Mlynarska erstreckte sehr viele Juden, aber auch Menschen anderen Glaubens. Viele v.a. reichere assimilierte Juden wohnten aber auch in allen anderen Stadtteilen Warschaus, bis sie eben unter unmenschlichen Hygiene- Wohn- und Grundnahrungssicherungsverhältnissen in dem mit Mauer umgebenen Ghetto zu leben/ vegetieren gezwungen wurden.
Mein Mann und ich machten vor cirka 6 Jahren einen Sühnegang ( ich wage es nicht Spaziergang zu sagen ) durch das Gebiet. Es ist merkwürdig, dass das offizielle Polen recht wenig - nicht nichts - zum Gedenken ihrer jüdischen Mitbürger tut.
Meine Trauer war groß, meine Scham auch. Weiß ich doch nicht nur von Bergengruen, sondern vor allem aus der Lektüre der Werke Isaac B. Singers. An- Ski`s, Itzig Mangers, Manes Sperbers, Karl Emil Franzos ( Scholejm Alechem erwähnte Angelika schon) über das Leben im Städtl Bescheid.Ich weiß also, was Hitler vernichten ließ.
Sehr gut theoretische Kenntnisse kannst Du Dir auch hier besorgen.
Zborowski, Mark und Elisabeth Herzog: "Das Städtl" Die untergegangene Welt der osteuropäischen Juden. Beck, 1992
*
beherrschten „nachgeschichtlichen“ Menschen im Moment seines Unterganges (vgl. Klages: Vom Kosmogenischen Eros).*
„Gustav
Meyrink veröffentlichte 1915 den sehr erfolgreichen
Roman Der
Golem, der als Klassiker der phantastischen
Literatur gilt. Meyrinks Golem ist eine Art Gespenst,
das alle 33 Jahre im Prager Ghetto auftaucht, um Angst und Schrecken
zu verbreiten und wird als bleicher, mongolischer Typ beschrieben mit
gebeugtem schleichendem Gang und mittelalterlicher Kleidung: Meyrinks
Golem ist weit von der jüdischen Idee des Golems entfernt, er ist
eine ahasverische
Erscheinung, er verkörpert das Ghetto.“ Vgl.Wiki
Der
Tod als Endzeitfigur, früher, als wir leben - um uns – ja, in uns…
Ich
habe noch vor, zwei Artikel bzw. Geschichten vorzustellen, die nicht
nur einen Tod, einen Mord, eine Schandtat, sondern einen Völkermord,
eine Genozid.
(Natürlich
sind weiter hin Beiträge erwünscht; es gibt viele Erzählungen zu
diesem Thema…)
Die
erste ist eine historische Vorstufe des Völkermordes an den Juden.
Eine
eigenartige Kurzgeschichte, die in Stimmungen und Absurditäten lebt,
aber auch einen Ausblick auf ein Grauen gewährt.
Was
ich in der Geschichte, die ja im ersten Weltkrieg spielt, nur ahnte,
kann ich jetzt belegen - auch mit der genannten Literatur, von der
ich nur Singer und Francos kannte. Diese Geschichte "Der grüne
Kasten" ist völlig untypisch für W. Bergengruen und von ihm
selber gar nicht veröffentlicht worden, sondern erst von seiner
Tochter im Jahre 2000.
Tatsächlich
muss der Krüppel Chaim täglich mit einigen Päckchen Streichhölzern
in einem Weidenkörbchen los und muss sie in der Bahnhofsgegend
tschechisch und polnisch anpreisen.
Den
Bezirk Nalewski hat W.B. als Zentrum des jüdischen Lebens in
Warschau beschrieben, der auch schon beim damaligen Einmarsch der
Russen sehr gelitten hat. Und der Chaim, von dem W.B. einfühlsam
erzählt, wird von den Granaten "der weichenden Russen"
noch getroffen und getötet.
Eine
Erzählung, die lange v o r dem Holocaust spielt und uns trotzdem von
den Leiden der einfachen und armen Juden in ihrem Viertel mitteilt;
lange bevor 1943 der SS-General Stroop das Ghetto liquidierte und
nach dem Massaker abschließend mitteilte: "Es gibt keinen
jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr."
(Schon im Jahre
2003 gab es eine Diskussion hier im ST zu dieser Geschichte. Da sie
vom Copyright-Verlag noch nicht im Internet zugänglich gemacht ist,
ergreife ich die Gelegenheit. Ich habe schon 2010 vom Büro der
Bergengruen-Rechte-Verwaltung die Erlaubnis erhalten,
Bergengruen-Text in diesem Senioren-Treff anzubieten, auf ihre Quelle
hinweisen und dem Büro Mitteilung zu machen, über die
Veröffentlichung und über die Diskussion.)
Werner
Bergengruen: Der grüne Kasten (1918)
Nalewski
heißt eine lang gestreckte, einige Male stumpfwinklig gewundene
Straße in Warschau. Hier wohnt das Volk Israel Haus an Haus, Laden
an Laden, in Enge, Gerüchen und Geschrei. Buntfarbige Namen
prahlen auf grellen, mit primitiver Eindringlichkeit gemalten
Firmenschildern. Viel Armut und Elend ist hier, viel
Herzenshärtigkeit und Geldgier, viel ängstlich versteckter
Wohlstand, aber auch viel verborgenes Sehnen und Ausschauen nach dem
heiligen Sterne Zions.
Eins
der niedrigen hölzernen Hinterhäuser in dieser Straße gehörte dem
Händler Aaron Zitron. Es sah aus, als sei noch kein Strahl einer
höheren und reicheren Freude in seine Fenster gefallen. Zwischen
zwei mehrstöckige Nachbargebäude eingezwängt, blickte es scheu und
geduckt wie ein verprügelter Hund auf den engen, schmutzigen, übel
riechenden Hof.
Im
Keller dieses Hauses wohnte in einem feuchten, halb finsteren
Gelass Chaim Pruzanski, der taube Narr. Außer Aaron Zitron, dem
Bruder seiner Mutter, gab es keinen Menschen, der sich um ihn
kümmerte. Da er zurückgeblieben am Geiste und verkrüppelt
am Körper war, galt er den Leuten als der von Gott Gezeichnete, der
gestraft ist um der Sünden seiner Väter willen. Denn die Juden von
Nalewski sind ein frommes Volk.
Chaims
kleine verwachsene Gestalt mit dem großen, tief zwischen den
Schultern ruhenden Kopf, dem leicht gekrümmten Rücken und dem
seltsam schleifenden Gang war allen Bewohnern der umliegenden
Straßen vertraut. Täglich um dieselbe Stunde ging er denselben Weg
und immer lag derselbe Zug von gelassener und gegenstandsloser
Heiterkeit um seine großen, etwas vorstehenden Augen, um den stets
geöffneten, länglichen Mund mit den fahlen Lippen. Chaims Dasein
drehte sich um zwei Pole. Der eine war Aaron Zitron. Er kleidete,
nährte, beherbergte ihn und flößte ihm Furcht ein. Chaim empfand
jedoch diese Furcht als notwendig, verwachsen mit seinem
Leben. jeden Morgen empfing er von Aaron einige Pack Streichhölzer
und jeden Abend lieferte er den Erlös und den Rest seiner Ware ab.
Der Oheim war ein misstrauischer Rechner und zählte beides genau
durch.
Verkörperten
sich so für Chaim alle trüben Notwendigkeiten in Aaron Zitron,
so sprang auf der anderen Seite eine unversiegliche Qelle, die ihn
immer wieder mit Trost und Heiterkeit tränkte. Das war der
andere Pol im Leben des tauben Narren und er bestand in nichts
mehr als dem hölzernen Warenkasten eines alten Juden, der mit
Schuhwichse, Schnürsenkeln, Zigaretten und Apfelsinen hausierte.
Chaim hatte seinen Standplatz am Wiener Bahnhof und auf dem Wege
dahin begegnete er täglich dem Alten. Nie hatte er ihm einen Blick
geschenkt, nie seine Züge sich einzuprägen gesucht. Er war ihm nur
der zufällige Träger, der gleichgültige Diener eines
Gegenstandes von unerhörter Kostbarkeit. Aber der Kasten, der
Kasten! Breit und massig war er gebaut, prachtvoll grün
gestrichen, innen und außen. Und die Innenseite des stets
geöffneten Deckels zeigte auf giftgrünem Grunde ein
himmelblaues Stück Meer neben einem schneeweißen Hause, dessen
vorspringendes Dach von zwei Säulen gestützt wurde. Und zwischen
Haus und Meer stand in fröhlicher Unbekümmertheit um alle
Gesetze der Perspektive eine violett gekleidete Dame mit
rabenschwarzem Haar und hielt in der hoch erhobenen Hand eine Dose
mit Schuhwichse zum Himmel empor. Diese sandte ihrerseits zwei
grelle, breite Strahlen in Gestalt eines schwefelgelben und
eines knallroten Balkens aus, die an der grünen Umrahmung wie
abgebrochen aufhörten.
Dieses
Bild war für Chaim der Inbegriff des Schönen und Erhabenen. Die
violette Dame, das blaue Meer, das säulengeschmückte Haus und nicht
zuletzt der gelbe und der rote Strahl erschienen seinem armen Geiste
als Bürgschaft einer höheren Welt, Verheißung einer
unfassbaren, leuchtenden Herrlichkeit, die irgendwo bereitliegen
musste. Einmal, das fühlte er, musste sie offenbar werden und ihren
Glanz auch über ihn ausgießen. Nie hätte er gewagt, sich diesen
Kasten in Gedanken an Stelle des armseligen, geflochtenen
Weidenkorbes zu wünschen, in welchem er seine Streichhölzer trug.
Ihm genügte es, ihn täglich im Vorbeigehen anzusehen und alles
an ihn zu verschwenden, was an Fähigkeit zu Liebe und Verehrung
im aschenhaften Düster seiner Natur flackerte. So betet der
primitive Mensch ein selbst geschnitztes Stück Holz an, in
welchem er doch in höheren Augenblicken Ausdruck und Träger seiner
eigenen, noch unerschlossenen Empfindungswelt ahnt.
Chaim
Pruzanski spürte es nicht, dass die Zeit ein anderes Angesicht
gewann. Wie immer stärkte er seine arme Seele im Anschaun des grünen
Kastens, wie immer rief er klagend: »Spitschki! Zapalki!«Wie immer
tauschte er seine Waren gegen die großen kupfernen Geldstücke und
nahm es ohne Neugier hin, dass die Soldaten in den grünlich grauen
Hemden immer mehr in der Zahl seiner Kunden überwogen. Er
achtete kaum darauf, dass das Leben in der Stadt hastiger und
nervöser wurde; bis ein Tag kam, der ihm das ganze Bild der Welt
zerriss.
Bergengruen:
Der grüne Kasten (Fortsetzung)
Riesige
graue Menschenmassen hasteten durch die Straßen, Wagenzüge, Reiter,
Geschütze. Mit Offizieren überfüllte Autos suchten sich einen
Weg zu bahnen, oft vergebens trotz aller Rücksichtslosigkeit.
Betrunkene Soldaten schleppten Waren aus den Läden. Die Häuser
schlossen sich. Das Volk verschwand von den Straßen, die sich
immer mehr mit den Scharen der Soldaten füllten.
Und
der Taube, dem sich das Geschehen um ihn nicht so deutlich
mitzuteilen vermochte wie den anderen, fühlte sich plötzlich vom
Strudel erfasst, verschlagen, abgeschnitten von allem Vertrauten.
Eine jähe Bestürzung sprang ihn an, eine ratlose Furcht vor dem
Unbekannten und Unbegreiflichen, das um ihn geschah.
In
dieser Not fiel ihm der grüne Kasten ein. Er war Trost, Ebenmaß und
Harmonie in dieser toll gewordenen Welt. So schnell ihn die
schwächlichen Beine schleppten, eilte Chaim der Straßenkreuzung zu,
an welcher der Alte zu stehen pflegte. Dort herrschte der gleiche
Wirrwarr. Soldaten, Soldaten, Soldaten. Einige stießen und drängten
sich auf dem Bürgersteig, kniend, suchend, aufhebend. Und als
Chaim näher kam, sah er im Rinnstein zertrümmert den grünen Kasten
liegen, in dessen verstreuten Inhalt sich gierige Fäuste teilten.
Einen
Augenblick stand der Narr wie versteinert. Dann bückte er sich, um
die Bruchstücke zu retten. Heißer, nach Schnaps riechender Atem
quoll ihm entgegen. Ein vollbärtiger, weißblonder Soldat mit rotem
Gesicht, der seine Mütze im Gedränge verloren hatte, brüllte
ihn an.
Der
Taube spürte die Feindseligkeit in Gesichtsausdruck und
Gebärde.
»Belieben
Sie doch, Herr, mich in Ruhe zu lassen«, flehte er, und als sei
damit alles erklärt, fügte er hinzu: »Das ... das ist doch der
grüne Kasten!«
Man
stieß ihn zurück, schlug ihm den Streichholzkorb aus der Hand
und die Mütze vom Kopfe. Grinsend warf ihn einer dem andern wie
ein Bündel zu. Schläge, Stöße, Fußtritte trafen ihn, bis er
endlich blutend einen Ausweg aus dem Gedränge gewann und nach Hause
flüchtete.
Chaim
Pruzanski kauerte, noch an allen Gliedern zitternd, in seines Oheims
Stube und starrte durch das zerschlagene Fenster in den Hof, der sich
allmählich mit Dämmerung füllte. Im Hause sah es böse aus.
Die Möbel waren zertrümmert, Schränke und Kästen umgestürzt,
alles Brauchbare weggeschleppt. Wäschestücke, Lumpen,
zerbrochene Teller und Schüsseln lagen in wirrem Durcheinander
auf dem Fußboden. Von einem der trunkenen Plünderer vergessen,
stand in einer Ecke ein Gewehr.
Aaron
Zitron war nirgends zu finden. Die Nachbarn zuckten die Achseln.
Die
ganze Nacht hockte der Narr zwischen den Trümmern. Die Welt war
zerfetzt, es gab nichts mehr, das sein Leben stützen und schmücken
konnte. Zitron ließ sich nicht blicken, der grüne Kasten war
zerschlagen.
Endlich
kam ihm der Gedanke, dass er etwas tun müsse, dass er nicht ewig
hier in der wüsten Stube kauern könne. Zum ersten Male sah er
Entscheidung und Entschluß von sich gefordert.
Er
fand die einzige Zuflucht. Gegen Mittag verließ er langsam das Haus,
um in die Weichsel zu gehen.
Die
Straßen wimmelten noch immer von Menschenmassen in grauen
Uniformen. Aber statt der flachen Tellermützen oder der hohen
Lammfellkappen trugen sie graue Helme mit Spitzen. Chaim achtete
nicht auf sie, sondern setzte unbeirrt seinen Weg fort.
Fast
war es das alte Lächeln voll Ruhe und Heiterkeit, das auf
seinem blassen Gesicht lag.
An
einer Straßenkreuzung staute sich Bettelvolk um einen Wagen mit
Schornstein und großem, hochgeklapptem Deckel. Ein Soldat
schüttete geringschätzig den Leuten übrig gebliebenes Essen
aus einer großen Kelle in die bereitgehaltenen Näpfe und Eimer.
Chaim blieb stehen, wie ein Tier überfiel ihn der Hunger. Im Schmutz
der Straße sah er eine leere Konservenbüchse, hob sie auf und
drängte sich an den Küchenwagen. Der Soldat blickte ihn an, grinste
und füllte ihm die Dose. Chaim schlang das dampfende Gemenge
hinunter. Dann kehrte er entschlossen um und ging wieder dem
Hause seines Oheims zu.
Allein
der erste eigene Entschluss, der sich seiner Dumpfheit entrungen
hatte, der Gedanke des Sterbens, geboren aus Hilflosigkeit und
Verzweiflung, war gedacht und hatte Leben gewonnen. War aus ihm
hinausgetreten und wirkte.
Die
Granaten, welche die Geschütze der weichenden Russen über die
Weichsel warfen, haben in Warschau wenig Schaden angerichtet. Eine
von ihnen aber erfüllte das Schicksal des Chaim Pruzanski.
(Aus:
W.B.: Baltische Erzählungen. München 2000: nymphenburger verlag.
S. 124 - 130)
*
Die
Herausgeberin N. Luise Hackelsberger, Bergengrüns Tochter, gibt als
Entstehungszeit dieser bis 2000 nicht veröffentlichten Geschichte im
Nachwort "um 1918" an. Sie schreibt dort näherhin: "Die
früheste der Erzählungen 'Der grüne Kasten' in der Zeit des Ersten
Weltkriegs geschrieben, wird hier erstmals veröffentlicht. In
prägnanter und zupackender Sprache erscheint uns Heutigen das
Geschehen so aktuell wie zur Zeit der Entstehung."
- Ich
sehe in der Erzählung eine exemplarische Auseinandersetzung mit dem
Schicksal des jüdischen Volkes als der fremden, unerwünschten
Ethnie, die "nur" die Gemeinschaft einer "anderen",
unbekannten Religion im Grenzbereich zwischen Deutschland, Polen und
Russland war. Die tödliche Auseinandersetzung ist hier durch die
Soldaten gekennzeichnet, von denen im mörderischen Schluss die
russischen Uniformen und Waffen explizit benannt sind.
Die
Symbolik des "grünen Kastens" erscheint mir als eine
kleine, magisch ersehnte Allegorie eines auf das Sehen und
ungestalten Sprechen eingeschränkten, tauben Armen, der in der
wundervollen Gestaltung des "Bauchladens" eines Hausierers
eine kleine Sehnsucht aufblitzen sieht, die ihm in der gemalten,
ungewöhnlich farbigen "violetten Dame" und ihrer
strahlenden Herrlichkeit ein Stückchen Paradies, ein wenig Heimat,
im entsetzlichen Alltag im Warschau des Ersten Weltkriegs. Die
offensichtlich erschütternden Worte "Spitschki! Zapalski!"
wurden von Bergengrün nicht übersetzt. Dem Leser, wenigstens mir,
ist die Geschichte eine Psychohistorie, ein Organon, das mir, wie dem
Chaim in der Geschichte, in dieser Imagination und Intention meine
"Seele" "stärken", meine Achtung vor anderen
Religionen und ihren Betern fordern kann. )
*
Anmerkungen:
Das
Jüdische Ghetto in Warschau heisst Nalewski. Der Historiker Emanül
Ringelblum beschreibt in seinen Tagebüchern aus dem Ghetto in
begeisternder Sprache das kulturelle Leben dort, die Atmosphäre
zwischen Schulen, Universität und den vielen Geschäften entlang der
Leschnostasse und Nalewski Strasse (Nalewski ist auch eine Strasse,
die es immer noch gibt). Weiter schreibt er über die Atmosphäre
nach Feierabend, von Konzerten und Dichterlesungen wie z.B. von
Sholem Alejchem. Ringelblum wörtlich: "An jedem Tag in dieser
Zeit wurde mit voller Kraft gelebt".
Die schwersten Angriffe und grössten Vernichtungen durch die Nazis fanden zwischen Nalewsi und Muranowski Square statt - Wer einen Stadtplan hat - die Nalewski Strasse geht vom Muranowski Square ab.
Die schwersten Angriffe und grössten Vernichtungen durch die Nazis fanden zwischen Nalewsi und Muranowski Square statt - Wer einen Stadtplan hat - die Nalewski Strasse geht vom Muranowski Square ab.
Zapalki
heisst Streichholz auf Polnisch. Spicka ("Spitschka"
gesprochen) heisst Streichholz auf Tschechisch. So wird die Erzählung
ein Exempel, nicht als Märchen von den Schwefelhölzern, sondern
eine einmalige Geschichte zur Geschichte der Menschen.
*
Die
Nalewki ist eine einen großen Teil des jüdischen Hitlerghettos
durchziehende Straße. Mit ihren Seiten- und Nebenstraßen wurde das
ganze Gebiet (Nowolipki-Swietojerski, Gesia - Franziskanska, Mila,
Muranowska, Niska ) zum letzten Widerstandsnest in den grauenvollen
Tagen des Aufstandes im Warschauer Ghetto.
Hier stand nach der Befreiung Polens durch die Rote Armee kein Stein mehr auf dem anderen. Ganz wenige Häuser in der Panska ( Nähe Hauptbahnhof ) und eine Markthalle erinnern an die "echten" zeitgenössischen Häuser. Übrigens Jugendstil-Vorderhäuser mit vielen, vielen Hinterhöfen. Vor der Ghettoisierung lebten in dieser Gegend, die sich im Westen bis zur Mlynarska erstreckte sehr viele Juden, aber auch Menschen anderen Glaubens. Viele v.a. reichere assimilierte Juden wohnten aber auch in allen anderen Stadtteilen Warschaus, bis sie eben unter unmenschlichen Hygiene- Wohn- und Grundnahrungssicherungen in dem mit Mauer umgebenen Ghetto zu leben, zu vegetieren gezwungen wurden.
*
Vgl. Zborowski, Mark und Herzog, Elisabeth "Das Städtl". Die untergegangene Welt der osteuropäischen Juden. Beck, 1992.
*
Was ich in dieser Geschichte, die ja im ersten Weltkrieg spielt, nur ahnte, kann ich jetzt belegen - auch mit der genannten Literatur, z.B. B. Singer und Emil Francos. Diese Geschichte "Der grüne Kasten" ist vom Thema und dem realistisch knappen Stil her untypisch für W. Bergengrün und von ihm selber gar nicht veröffentlicht worden, sondern erst von seiner Tochter im Jahre 2000. Wahrscheinlich vermochte Bergengruen die Wirkung einer solchen Geschichte - insbesondere nach der Judenverfolgung, ja, des europäischen Holocausts - nicht einzuschätzen. (Andere Texte mit jüdischen oder christlich-antijudaistischen Themen sind mir von Bergengruen nicht bekannt.)
Hier stand nach der Befreiung Polens durch die Rote Armee kein Stein mehr auf dem anderen. Ganz wenige Häuser in der Panska ( Nähe Hauptbahnhof ) und eine Markthalle erinnern an die "echten" zeitgenössischen Häuser. Übrigens Jugendstil-Vorderhäuser mit vielen, vielen Hinterhöfen. Vor der Ghettoisierung lebten in dieser Gegend, die sich im Westen bis zur Mlynarska erstreckte sehr viele Juden, aber auch Menschen anderen Glaubens. Viele v.a. reichere assimilierte Juden wohnten aber auch in allen anderen Stadtteilen Warschaus, bis sie eben unter unmenschlichen Hygiene- Wohn- und Grundnahrungssicherungen in dem mit Mauer umgebenen Ghetto zu leben, zu vegetieren gezwungen wurden.
*
Vgl. Zborowski, Mark und Herzog, Elisabeth "Das Städtl". Die untergegangene Welt der osteuropäischen Juden. Beck, 1992.
*
Was ich in dieser Geschichte, die ja im ersten Weltkrieg spielt, nur ahnte, kann ich jetzt belegen - auch mit der genannten Literatur, z.B. B. Singer und Emil Francos. Diese Geschichte "Der grüne Kasten" ist vom Thema und dem realistisch knappen Stil her untypisch für W. Bergengrün und von ihm selber gar nicht veröffentlicht worden, sondern erst von seiner Tochter im Jahre 2000. Wahrscheinlich vermochte Bergengruen die Wirkung einer solchen Geschichte - insbesondere nach der Judenverfolgung, ja, des europäischen Holocausts - nicht einzuschätzen. (Andere Texte mit jüdischen oder christlich-antijudaistischen Themen sind mir von Bergengruen nicht bekannt.)
Tatsächlich
muss der Krüppel Chaim täglich mit einigen Päckchen Streichhölzern
in einem Weidenkörbchen los und muss sie in der Bahnhofsgegend
tschechisch und polnisch anpreisen.
Den
Bezirk Nalewski hat W. B. als Zentrum des jüdischen Lebens in
Warschau beschrieben, der auch schon beim damaligen Einmarsch der
Russen sehr gelitten hat. Und der Chaim wird von den Granaten "der
weichenden Russen" noch getroffen und getötet.
Eine
Erzählung, die lange v o r dem Holocaust spielt und uns trotzdem von
den Leiden der einfachen und armen Juden in ihrem Viertel mitteilt;
lange bevor 1943 der SS-General Stroop das Ghetto liquidierte und
nach dem Massaker abschließend mitteilte: "Es gibt keinen
jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr."
*
Vgl.
neuerdings: den Film von Roland
Polanski: "Der Pianist":
Wladyslaw Szpilman , Wolf Biermann (Mitarbeiter): Der
Pianist.
Berlin: Ullstein Taschenbuchverlag 2002.
*
Berlin: Ullstein Taschenbuchverlag 2002.
*
http://www.3sat.de/3sat.php?http://www.3sat.de/kulturzeit/tips/38265/index.html
"Der Pianist" ist Polanskis persönlichster
Film...Der Film spielt im Warschauer Ghetto und zeigt die
Judenvernichtung dramatischer, realitischer und
humanistisch-versöhnlicher Absicht.
Darin, im Roman und im Film:
Ein Lehrer und ein Soldat und ein vergessener "Retter
seiner jüdischen Mitmenschen":
Lehrer Wilm Hosenfeld wurde am 2. Mai 1895 als viertes
von sechs Kindern
eines katholischen Lehrers in dem Rhöndorf Mackenzell geboren. Nach Abschluss seiner pädagogischen Ausbildung nahm er von 1914 an als Infanterist am ersten Weltkrieg teil. Er kehrte 1917 schwer verwundet in die Heimat zurück.
eines katholischen Lehrers in dem Rhöndorf Mackenzell geboren. Nach Abschluss seiner pädagogischen Ausbildung nahm er von 1914 an als Infanterist am ersten Weltkrieg teil. Er kehrte 1917 schwer verwundet in die Heimat zurück.
Ab 1918 wirkte er sozial und christlich engagiert als
Dorfschullehrer, zunächst im Spessart, dann in Thalau, bei Fulda.
1920 heiratete er Annemarie Krummacher, Tochter eines
Worpsweder Malers. Aus dieser Ehe gingen fünf Kinder hervor, die
später alle medizinische Berufe ergriffen.
Bei Ausbruch des zweiten Weltkrieges kam Wilm Hosenfeld,
inzwischen 44-jährig, mit einem Landesschützenbataillon nach Polen.
Von 1940 bis 1944 gehörte er als Reserveoffizier der
Oberfeldkommandatur in Warschau an. Er leitete dort die Sportschule
der deutschen Besatzer.
Mit dem unaufhaltsamen Näherrücken der russischen
Truppen auf Warschau wurde Wilm Hosenfeld im Herbst 1944
Kompanieführer und geriet im Januar 1945 in russische
Kriegsgefangenschaft. Von seiner Schuldlosigkeit überzeugt, gab er
freimütig an, dass das von ihm geführte Sportamt organisatorisch
der Abteilung Ic unterstand. Neben der Truppenbetreuung nahm diese
Abteilung auch nachrichtendienstliche Aufgaben wahr. Um von Wilm
Hosenfeld Informationen über seine vermeintliche geheimdienstliche
Tätigkeit zu erzwingen, setzte man ihn dem sogenannten "strengen
Verhör" im Untersuchungsgefängnis Minsk aus. Nach sechs
Monaten Isolierhaft war er ein gebrochener Mann. Er erlitt den ersten
Schlaganfall.
Ohne den geringsten Nachweis eines Vergehens, allein
aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Abteilung Ic wurde er 1950 als
Kriegsverbrecher zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt.
Mehrfach bemühte er sich vergeblich um eine
Auslieferung nach Polen, weil er der Bürgschaft mehrerer Polen und
Juden vertraute, denen er das Leben gerettet hatte.
Halbseitig gelähmt und seelisch verzweifelt starb Wilm
Hosenfeld am 13.8.1952 im Alter von 57 Jahren im
Kriegsgefangenenlager Stalingrad.
Fazit...?
Geprägt wurde Wilm Hosenfeld durch die Prinzipien
seiner streng katholischen, aber warmherzigen Familie, durch die
preussisch patriotische Erziehung der damaligen Lehrerausbildung und
vor allem durch die Ideale des Wandervogels. Später beeinflusste ihn
die protestantisch-pazifistische Denkweise seiner Frau Annemarie.
In Polen suchte er oft den Kontakt zur einheimischen
Bevölkerung.
Er lernte polnisch und wurde von polnischen Familien häufiger eingeladen.
Er lernte polnisch und wurde von polnischen Familien häufiger eingeladen.
In seiner Eigenschaft als Sportoffizier unterstanden ihm
eine Anzahl
polnischer Arbeiter, die für die Pflege der Anlagen zu sorgen hatten. Dies ermöglichte ihm, einige Polen und Juden, die von der Gestapo verfolgt Wilm wurden, unter falschen Namen zu beschäftigen und sie zu retten.
polnischer Arbeiter, die für die Pflege der Anlagen zu sorgen hatten. Dies ermöglichte ihm, einige Polen und Juden, die von der Gestapo verfolgt Wilm wurden, unter falschen Namen zu beschäftigen und sie zu retten.
Soldat Hosenfeld - ein Einzelfall im katholischen
Milieu; vergleichbar mit vielen Fällen, in denen junge Kapläne mehr
riskierten, als es ihre Vorgesetzten, die Bischöfe als Vertreter der
päpstlichen Kurie leisten dürfen sollten.
Einzelfälle – die
mahnen:
Wilm Hosenfeld, Karl Leisner, Anton Schmidt - Namen aus
dem katholischen Potential der christlichen Liebe und Leidenschaft
und Widerstandskraft...
Ich verweise auf folgenden Dokumentationen:
* "Retter in Uniform". Hrsg. v. Wolfram Wette.
Fitabu 15221. (Insbesondere Arno Lustigers Porträt des Feldwebels
Anton Schmid. (dort S. 45 -65) und Dirk Heinrichs Aufsatz über
"Hauptmann a. D. Wilm Hosenfeld". Retter in Warschau. (Dort
S. 6987)
*
"Die anderen Soldaten". Hrsg. v. Nobert Haase
und Gerhard Paul. 1995. Fitabu 12769.
*
Johannes
Bobrowski:
Das Mäusefest
*
Szpilman,
Wladyslaw: Der Jude
Szpilman,
Wladyslaw: Begegnung mit dem Lehrer Wilm Hosenfeld
Böll,
Heinrich:
Bölls
Erzählung Todesursache
Hakennase
Bölls Roman Der
blasse Hund.
1995
Fink, Ida: Der
Verrückte
(Aus: Eine Spanne Zeit.
Erzählungen. Zürich 1983)
Frank,
Anne: "Tagebuch"
(Ausschnitt, der belegt, dass die Familie Frank schon
1942 von den Vergasungen wußte, also auch von dem ihnen drohenden
Schicksal)
Hoffmann, Friedrich: Das
Jesuskind von Ostrowice
Keilson, Hans: Kömodie
in Moll
(Eine
Novelle; zuerst bei Querido in Amsterdam 1947)
Klemperer,
: Aufzeichnungen (Ausschnitt)
Klieger, Bernhard: Der Weg, den
wir gingen
(Reportage
einer höllischen Reise. Verlag Codac Juifs. Bruxelles-Ixelles. 1957.
Originalausgabe auf Französisch 1946: "Le cemin que nous avons
fait...")
Klüger, Ruth: Der
Kamin
Kor, Eva Mozes: Wahrheit heilt
Moen, Petter: Petter
Moens
"Aufzeichnungen"
Übersetzt und hrsg. von Edzard Schaper – (s. dort)
Langgässer, Elisabeth und
Cordelia Edvardson:
"Cordelias leises Lachen
halt durch die Jahrhunderte" - Lebenszeugnisse
Langgässer,
Elisabeth: Saisonbeginn
und
Kurt Tucholsky: Saisonbeginn
(Zwei
Texte, eine Reportage aus dem Jahre 1922
und eine exemplarische Kurzgeschichten)
Schnurre,
Wolfdietrich: Laterne, Laterne
(In:
W. Sch.: Als Vater sich den Bart abnahm. Erzählungen aus dem
Nachlass. Herausgegeben von Martina Schnurre. Berlin Verlag 1995:
Berlin. S. 177 - 194)
Taylor, Kressmann: Adressat
unbekannt
Winters:
Mine
Winters
"Auschwitz-Lied" (aus ihrem Bericht "Jeden Tag sahen
wir den Tod vor Augen")
*
Wiechert,
Ernst: Der Totenwald
(Wiecherts
- fast unbekannte - Aufzeichnungen aus dem KZ Buchenwald. 1946 in
Zürich bei Rascher erschienen. Jetzt lieferbar als Ullstein-TB
24038)
**
Für
Informations- und Unterrichtszwecke sammle ich Erzählungen,
Protokolle, Lyriktexte über Antijudaismus, Antisemitismus,
Verfolgung der Juden aus religiösen (rassistischen) Gründen, über
Deportation, KZ-Erfahrungen, die "Endlösung" (wie Nazis
sie sich vorstellten), Holocaust (oder Shoah, also überhaupt
Beispiele für diese extremste Form der Menschenverachtung und
-vernichtung, aber auch Beispiele für die Vorgeschichte dieser
christlichen (oder allgemein anthropogenen?) Menschheitspest.
Ernst Wiechert:
Die Gebärde
Siehe hier:
https://stephanus-bullin.blogspot.com
https://stephanus-bullin.blogspot.com
**
Anmerkung:
Zum
Thema "Auschwitz" gibt es das gute Textbuch von
Sascha Feucht: Holocaust-Literatur. Auschwitz. Stuttgart
2000. Reclam UB 15047.
-
Dieses Materialienbuch ist ausgezeichnet und umfangreich als
Hinführung und Diskussiongrundlage für alle: sehr zu
empfehlenswert...
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