Ernst Weichert:
Die Gebärde (1946)
- Ernst Wiechert (1928) -
Liebet euch untereinander!"i
Diese
Textfassung folgt der Gesamtausgabe der Werke Wiecherts aus dem Jahre
1957.
Ich
habe die mir
wichtigen
Begriffe angemerkt und kommentiert.
Es war ein nichtiger Anlaß, und kein andrer als der
alte Doktor war imstande, eine Geschichte daran zu knüpfen. Es war
schon nach dem Essen, und wir saßen vor dem Kamin. Der Wind ging
durch die Bäume des Gartens, und wenn niemand sprach, hörte man den
Wald hinter der Gartenmauer brausen. Der Kamin war der Anlaß des
kleinen Festes. Jahrelang hatte die kleine Hausfrau ihn sich
gewünscht, und nun sprangen die Funken aus dem Buchenholz, und
der Wind, der über den Dächern war, hob die Flamme zu sich empor
und ließ sie wieder fallen, wenn es ihm gefiel. Es brannte kein
Licht im Zimmer, und wir alle hatten die Hände um die Knie gefaltet,
müßige, behütete Hände, und sahen zu, wie der rote Schein
über ihre Gliederung spielte.
Aber niemand antwortete. Jeder blickte lächelnd vor
sich hin, mit dem lächelnden Wissen der Zugehörigen, als hätte man
von Weihnachten gesprochen, oder von der ersten Liebe, oder von einem
Schubertlied.
Nur der Hausherr hatte den Kopf in beide Hände
gestützt. »Heute, in der Stadt«, sagte er, »sprach mich ein armer
Teufel an. Er holte mich ein und blieb einen Augenblick an
meiner Seite, dicht, aber doch mit einem gleichsam innerlichen
Abstand. 'Ein stellungsloser Musiker, mein Herr ... ', sagte er. 'Ich
habe Hunger ...'. Ein zerfallenes Gesicht, frisch zerfallen
gleichsam, als habe er noch vor acht Tagen nichts als Beethoven
gekannt. Augen wie verirrte Tiere am Waldrand, dicht vor den
Bezirken der Menschen. Vielleicht war es, daß ich mich meiner guten
Kleidung schämte, oder weil Bekannte mir entgegenkamen...
oder... ja, wahrscheinlich war es, weil ich an den Kamin dachte und
an heute abend... 'Das geht nicht', sagte ich; 'auf der Straße ...
das ist ungehörig ...' Und dann war er fort, untergetaucht,
zurückgefallen in die Menge, wie ein Mensch die Hände von einem
Bootsrand losläßt und ins Meer versinkt ..."
Es war ein bedrückendes Schweigen. Das Schweigen einer
gemeinschaftlichen Scham, eines gemeinschaftlichen Trotzes, der
leere, schweigende Raum um eine gemeinsame Lüge. Und in diesem
Augenblick geschah es. Bevor jemand den Mut hatte, eine der flachen
Tröstungen auszusprechen, hob die Hausfrau ihre rechte Hand, und
ihre leise geöffneten Finger glitten einmal von links nach
rechts, mit jener waagrechten Bewegung, mit der wir etwas
abschließen, wegwischen, auslöschen. Ein Gespräch, einen Zustand,
eine Handlung, eine Reue. Aber noch während die Hand schwebend
im rötlich beglänzten Raum lag, beugte der Doktor sich vor,
umschloß mit seiner alten Hand die junge, führte sie langsam den
Weg der Gebärde zurück und legte sie sorgsam in den Schoß der
Hausfrau nieder. »Sie dürfen das nicht tun«, sagte er leise. »Man
löscht nichts aus in der Welt... es ist, als ob man ein Kind zu den
Ungeborenen schieben wollte ... «
»Aber Doktor ... «, sagte sie schüchtern.
»Das letzte Mal, als ich diese Gebärde sah«, fuhr er
fort und es sah aus, als spreche er in das Feuer hinein ,
»beschloß sie das Leben eines Menschen. Seither kann ich sie nicht
mehr sehen... Ja, es fing also auf der Schule an, wo alle unsre
Grausamkeiten anfangen. Auch diese, das Auslöschen. Die kleine
Mördergebärde. Verzeihen Sie... Wir hatten einen jüdischen iv]
Mitschüler. Den einzigen Juden unsrer Klasse. Er hieß Eli v].
Eli Kaback vi].
Es war kein Wunder, daß schon der Name uns reizte, die wir
bürgerliche, kompakte Namen, sozusagen anständige Namen hatten. Eli
war eine Herausforderung. Und Kaback, nun, das war eben etwas, das
nicht gesprochen, sondern nur gegrinst werden konnte. Einer von uns
hieß Kußmaul und einer Rindfleisch. Aber das war eben Humor,
indogermanischer vii]
Sprachhumor gleichsam, aber das andre war eine Groteske, wie ein
Negertanz viii]
oder eine Hottentottenarie.
Und so erschien er uns selbst. Das Ganze von ihm. Er war
klein, schwächlich, kränklich. Ein blasses, immer geängstigtes
Gesicht unter schwarzem Haar. Alle Bewegungen wie am Rand einer
Höhle, sprungbereit, dicht am schützenden Dunkel. Und um Mund
und Augen trug er die Falten eines ganzen Volkes. Des demütigen
Teiles eines Volkes. Denn jedes Volk besteht aus den Lauten und
Leisen. Der 'Rotte' und den Stillen. Fünftausend Jahre Geschichte
waren um seinen Mund. Geschichte eines geprügelten Hundes, wie
wir die Geschichte eines Raubtieres um unsre Lippen trugen. Er war
sanft, hilfsbereit, gütig, und seine traurigen Hände sahen wie
gekreuzigt aus.
Sein Verhängnis war, daß er sich nicht wehren konnte,
nicht mit dem Geist und nicht mit den Fäusten. Vielleicht wäre es
anders gewesen, wenn unsre Meute unter den Lehrern ein Opfer ix]
gefunden hätte. Aber sie herrschten mit brutaler Gewalt, und kein
Tag verging, an dem nicht die Unerschrockensten unter uns Striemen
auf der Innenseite der Hände gehabt hätten. So warf sich die Meute
auf Eli... 'Itzig!' x]
johlte die Meute. 'Itzig' stand auf allen Seiten seiner Bücher, auf
Zetteln an seinem Rücken, auf Briefen, die man ihm zuschob. In den
Pausen spielte man 'Judenball' xi],
indem einer ihn auf den andern stieß, in einem engen,
undurchbrechlichen Kreise, durch dessen Mittelpunkt Eli mit
geschlossenen Augen taumelte, ein ohnmächtiges Tier unter den
funkelnden Augen junger Wölfe.
Selten, sehr selten kam es vor, daß so etwas wie die
Würde der Menschheit sich in ihm empörte. Dann warf er sich mit
geschlossenen Augen auf die Gegner, wie in einen Abgrund, oder er
rieb die Innenseite seines Brotes dem Feind auf den Anzug, eine
groteske Rache, die die Sachbeschädigung anstelle der blutigen
Vergeltung setzte. Er wurde furchtbar verprügelt, wie ein Sklave,
der gewagt hatte, die Hand gegen das Gesicht des Herrn zu heben, und
am nächsten Tag war seine Haltung noch demütiger, und der Blick
seiner Augen ging an uns vorbei, so weit zurück, als reiche er bis
an die Schwelle des Tempels Salomonis xii].
Das Niedrigste aber, ja das Verruchte dieses ganzen
Treibens war, daß alle Lehrer davon wußten. Daß sie es schweigend
und nicht ohne Beifall duldeten, wie die Aufsicht auf dem Hof,
die sich abwendete und den Spatzen zusah, wenn Judenball
gespielt wurde. Ja, daß sie in seine Wunden, mit denen seine Seele
vor ihnen blutete, das Gift ihres Hohnes langsam und ätzend
träufelten. Daß ihre Knechtsseelenxiii
dasselbe taten wie die Knechte auf den Höfen, die die Hofjungen
im Hemde antreten ließen, um ihre Knechtsmacht an ihnen zu erproben,
wie der Herr seine Herrenmacht an ihnen erprobte.
Und ich? Ja, auch ich war ein junger Wolf xiv].
Nicht daß ich ihn mißhandelte. Ich hatte eine Scheu vor der
Berührung xv]
andrer Körper... weswegen ich wahrscheinlich Arzt geworden bin...
aber ich duldete schweigend, lächelnd, mit einer Art von süßem
Grauen, das ich mir heute biologisch erkläre. Und noch jetzt, in
dieser Sekunde, brennt meine Stirn vor Scham, indem ich dies alles
erzähle.
Eli ging mit dem 'Einjährigem' ab. Ohne Abschied, wie
ein junges Tier, das aus dem Stall zum Markt geholt wird. Er wurde
Zahnarzt, und niemand sah etwas von ihm. Er fiel aus unsrem Leben
heraus, aus unsrem Gedächtnis, wie ein zertretener Grashalm aus dem
Gesicht einer Straße.
Wir sahen ihn ein einziges Mal wieder, zehn Jahre nach
der Entlassung, als unser Jahrgang sich zu einem 'Jubiläum'
zusammenfand. Natürlich hatte das 'Komitee' ihn nicht eingeladen,
und niemand wußte später, wie er es erfahren hatte. Wahrscheinlich
hatte er nichts vergessen in diesen zehn Jahren, wahrscheinlich war
er sehr alt geworden in diesem Zeitraum, weil nichts so alt
macht wie der Gram. Und er hatte wohl gedacht, daß auch wir
aufgehört haben würden, wie die jungen Wölfe zu leben. Und so war
er eben gekommen. Ein Ausgestoßener, Mittelpunkt eines leeren
Raumes, der wieder in einen Kreis treten wollte, in das Glück der
Peripherie.
Ich werde nicht vergessen, wie Eli Kaback in unsren
kleinen Hotelsaal trat. Er trug einen Smoking, und sein
magerer, mißhandelter Körper sah wie die traurige Verkleidung
eines Clowns aus. Aber was erschütternd und unvergeßlich war, das
war der Ausdruck seines Gesichtes und der ernste xvi]
Blick seiner Augen, mit dem er über unsre Augen tastete. Ich habe
solche Augen später in meinem Sprechzimmer gesehen, wenn die
Untersuchung beendet war, auf Krebs etwa, in der Pause zwischen dem
leisen Ton, mit dem die Tür hinter der Schwester zufiel, und meinem
ersten Wort, das ich sprach. Augen, die vor der Schwelle zwischen Tod
und Leben stehen, die in einem Krampf der Tapferkeit sich öffnen und
durch deren Hintergründe schon das Dunkel des Urteils lautlos
bricht.
Alle Gespräche verstummten. Alle Augen sammelten sich
in seinem Gesicht wie in einer Wunde. Die Kellner sahen ihn an. Die
Musiker sahen ihn an. Nichts regte sich im Raum als das leise Surren
des Ventilators, und ich weiß, daß ich drei Sekunden lang die
Vorstellung eines Fallbeils hatte, das aus der unendlichen Höhe
eines dunklen Gerüstes niederrauschte. Sie müssen bedenken,
daß es die Zeiten waren, in denen der Reserveoffizier das
Lebensziel des Untertanen xvii]
war, und in denen für einen bürgerlichen Menschen mehr Mut
dazu gehörte, von Lassalle xviii]
mit Achtung zu sprechen, als in einen Löwenkäfig zu treten.
Dann stand Kußmaul auf und ging ihm entgegen. Kußmaul
war Bankdirektor. Er hatte einen Rennstall und einen Harem. Wenn er
betrunken war, ließ er sich einen Bettler von der Straße holen, gab
ihm zwanzig Mark und zwang ihn dafür, drei Stück Toilettenseife
aufzuessen. Kußmaul war sehr groß, und er trat so dicht an Eli
heran, daß er durch sein Einglas von oben her in das weiße Gesicht
blickte. Ich sah, daß die Kellner zu lächeln begannen, und ich sah
Gesichter an unserm Tisch, die plötzlich so aussahen wie vor zehn
Jahren.
'Verzeihung, mein Herr', sagte Kußmaul sehr deutlich:
'dies ist eine geschlossene Gesellschaft ...'
Eli sank zusammen wie unter dem Schlag eines Beiles, und
in der Totenstille, die wieder im Raum war, hörte ich etwas, das ich
nicht anders als eine akustische Vision nennen kann: ich hörte den
Schlag seines Herzens, wie den Herzschlag eines Vogels, der das
Gesicht der Katze sich seinem Käfig nähern sieht.
'Erinnerst du... erinnern Sie sich nicht, Herr
Bankdirektor?' fragte er leise. 'Ich bin doch... wir waren doch
Schulkameraden ... ?'
'Pardon', erwiderte Kußmaul und drehte sich um. 'Ist
der Herr jemandem bekannt? Ich stelle fest, daß ein Irrtum in
den Räumlichkeiten vorzuliegen scheint. Die Synagoge befindet sich
nächste Querstraße links.'
Er machte eine leichte Verbeugung und kehrte auf seinen
Platz zurück.
'Ich bitte Sie, sich zu entschuldigen, Herr
Bankdirektor', sagte Eli Kaback flüsternd. Aber es war niemand im
Raum, der nicht jede Silbe verstanden hätte. 'Ich bitte Sie, sich zu
entschuldigen', wiederholte er vor Kußmauls Sessel.
In dem weißen Licht der elektrischen Lampen sah sein
Gesicht aus, als habe man es hinter unsichtbaren Kulissen mit Kreide
eingerieben, und durch den weißen Staub rieselten seine Tränen.
Jeder von uns sah sie, und jeder von uns beugte sich vor, um sie zu
sehen: die Musiker der Kapelle, die Kellner, der Kreis der
Wölfe.
'Du... Judchen ... ', sagte Kußmaul leise, fast
zärtlich. Er hob die Hand zur Kapelle, und mit einer schrecklichen
Plötzlichkeit warfen die grellen Klänge des Schlagers jener Zeit
sich in das furchtbare Schweigen: 'Ha'm Sie nich den kleinen Cohn
gesehn ... ?' xix]
Ich weiß nicht, ob es eine Perfidie, eine Servilität
des Kapellmeisters, ob es ein Zufall, ob es die nächste Nummer des
Programms war. Aber es war der Fall des Beiles. Und unter den Klängen
dieser furchtbaren Musik wich Eli Kaback Schritt um Schritt vor
den Augen Kußmauls, vor unseren Augen zur Tür zurück. Seine
Tränen hatten aufgehört zu fließen, und in den blauen Wolken des
Zigarrenrauchs sah es aus, als versinke ein Stein langsam, ganz
langsam in einem dunklen, unermeßlich tiefen Wasser.
Man lachte, man tadelte, man empörte sich. 'Geh ihm
nach', sagte jemand, 'schnell ... ' Und in diesem Augenblick,
zurückgelehnt in seinen Sessel, hob Kußmaul die Hand und löschte
mit einer einzigen waagerechten Bewegung Schande, Tränen, Schuld und
Mord von der Tafel der Zeit, löschte Eli Kaback aus, ein ganzes
Menschenleben, und bestellte Champagner für die ganze Tafelrunde.
Es half keinem von uns, daß ich zwei Tage später ein
Duell xx]
mit Kußmaul hatte. Mein Brief an Eli kam zurück. Er hatte die
Annahme verweigert. Drei Jahre später hat er sich aus dem
Bodenfenster seines Hauses gestürzt.«
»Mein Gott ... «, sagte eine leise Stimme.
»Gott?« wiederholte der Doktor und schüttelte langsam
den Kopf. »Sehen Sie, es gibt so etwas wie einen Kollektivmord
xxi]
... in der Schule, beim Militär, in der Gesellschaft, in
Zuchthäusern. Niemand weiß, weshalb Eli es getan hat, aber wir alle
waren seine Mörder. Schatten, die hinter ihm herschlichen,
jahrelang, und jeder trennte einen Nerv seines Lebens durch. Und
bei dem letzten Schnitt stürzte er ins Bodenlose... Kinder schon
haben diese Gebärde, Lehrer, Staatsanwälte, Väter,
Präsidenten... nur das Tier hat sie nicht... und diese Hand«
dabei legte er seine Hand auf die der Hausfrau »diese Hand
soll sie nie wieder haben... damit ihre Kinder sie vergessen haben
für alle Geschlechter...«
(Ich habe eine kommentierte Ausgabe des Textee
erstellt: Nachfragen bei anton@reyntjes.de
)
]
Ein besonderes Leitmotto - auf religiöse Traditionen bezogen, die
allgemein christlich bestimmt sind – oder als Anspruch gegen das
Glaubensersatz-Neureich der Nazitümelei sein sollten. – Es gibt
tatsächlich wenig Literatur im Deutschen, die sich explizit auf die
Bergpredigt mit dem Geboten der Nächstenliebe, gar auf die
Feindesliebe und die Verpflichtungen des Johannes-Evangeliums
beziehen:
Kap.
15;12-17:
15;
12 Dies ist mein Gebot, daß ihr einander liebet, gleichwie ich euch
geliebt habe. 13 Größere Liebe hat niemand, als diese, daß jemand
sein Leben läßt für seine Freunde. 14 Ihr seid meine Freunde,
wenn ihr tut, was irgend ich euch gebiete. 15 Ich nenne euch nicht
mehr Knechte, denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut; aber
ich habe euch Freunde genannt, weil ich alles, was ich von meinem
Vater gehört, euch kundgetan habe. 16 Ihr habt nicht mich
auserwählt, sondern ich habe euch auserwählt und euch gesetzt, auf
daß ihr hingehet und Frucht bringet, und eure Frucht bleibe, auf
daß, was irgend ihr den Vater bitten werdet in meinem Namen, er
euch gebe. 17 Dies gebiete ich euch, daß ihr einander liebet. (...)
*
Ein
anderes historisches Beispiel ist Hermann Melvilles Erzählung
„Bartleby. Ein Schreiber in einer Advocatur an der Wall-Street“.
Die erste englischsprachige, moderne Novelle, die einen expliziten
Verweis auf das Gebot der Nächstenliebe impliziert.
ii]
Die Dichternamen Andersen
und – in der nächsten Zeile - Stifter
(sowie das spätere kulturspezifische Stichwort "Schubertlied")
werden von den namenlosen Teilnehmern der
abendlichen Gesellschaft gewollt kunstsinnig ins Gespräch gebracht
und sind Begleit- und Kontraststimmen zu der Perspektive des
erzählenden "alten Doktors"; sie werden als
Versatzstücke, als Stichworte einer nicht mehr zeit-gerechten,
zeitgemäßen Bildung, einer nicht ausreichenden politischen und
literarischen Übereinkunft - hier also schon in den frühen
Weimarer Demokratie-Wirren - zurückgewiesen von der erzählerischen
Leitfigur. Für die Gesamtgruppe als gesellschaftlicher Ausschnitt
gilt: Im einbezogenen, expliziten "Wir" der später
atemlos zuhörenden und nicht widersprechenden Runde muss sich auch
E.W. (als Zeitgenosse autobiografisch und als Autor intentional)
einbezogen haben, der in dieser indirekten Charakterisierung
sicherlich die stärkste, frühe Stellungnahme zum Antisemitismus
der Vorzeit von 1933 geschrieben hat, die später in seinen
bekannten Widerstandsreden (von 1933, 1935), seiner Gestapohaft und
seiner Verurteilung zu einer KZ-Strafe in Buchenwald (die er - auch
mit Hilfe der Mitgefangenen - nur durch Zufall überleben konnte)
ihre Konsequenzen hatten. - Eine direkte anläßliche Vorlage (als
Erlebnis, als Dokument oder als Bericht) für Wiecherts Geschichte
von der "Todes-Gebärde" und dem Suizid ist aus seinen
biografischen Aufzeichnungen nicht bekannt.
-
Zum Märchendichter "Andersen": Ich halte es für
wahrscheinlich, dass E.W. neben den weltbekannten, häufig auf
Kinder-Lektüre beschränkten Dichter auch den anderen Autor kannte;
z.B. den Verfasser der Geschichte "Das Judenmädchen"
(enthalten auch in den "Märchen"-Ausgaben) oder der
Geschichte "Das stumme Buch".
*
Zu
erinnern ist hier an E. W.s Essay "Dichterglaube", aus dem
Jahre 1931:
"Gleichviel,
welchen Namen Gott bei den Dichtern führt, Gott hat viele Kleider,
gleichwie viele Wohnungen in seinem Reich sind, und es ist
nicht nötig, daß er der »Verhüllte« ist und sie ihre Hand
ausstrecken können, um einen dunklen Mantelsaum zu berühren. Für
den Dichter der Psalmen war er der Bekannte, und für Nietzsche war
er der Unbekannte. Goethe wollte ihn nicht nennen, für Dostojewski
war er der weiße Heiland, und für Rilke war er der »Dunkle«.
Für die Dichter des Krieges hieß er »Vaterland«, und für
die Dichter der Revolutionen hieß er »Freiheit«. Aber für
alle war er die dunkle, kühle Erde, in die sie ihre Wurzeln
tauchten. Sturm war um das Leben ihrer Alltage, Frost und Hitze,
Hunger und das Beil des Nächsten. Aber ihr Blut stieg aus dem
Dunklen, aus dem Behüteten und Unzerstörbaren, wo ihre Mütter
wohnten, immer bereit für den Heimkehrenden, mit Speise und Trank,
mit Balsam für die Wunden, mit einem neuen Lied für die
Ausgeschöpften."
Diese
umfassendste Poetik, die auch eine pantheistische Philosophie und
eine Sozialwahrnehmung umfasst, ist die "fortschrittlichste",
"offenste" Darstellung Wiecherts hinsichtlich seiner
ästhetischen und religiösen Möglichkeiten und Intentionen; sie
ist das für die konkretisierende Erzählung "Die Gebärde"
m.E.s gültige und kundigste Fundament des dichtenden Glaubens als
eines religiösen Wollens der Gläubigkeit als Liebe und
Brüderlichkeit für alle abendländischen Religionsausformungen, in
Abwehr der Judenfeindlichkeit.
(Aus:
E.W. "Dichterglaube". Stimmen religiösen Erlebens. Hrsg.
v. Harald Braun. Berlin-Stieglitz 1931: Eckart-Verlag. 341- 344; G.
Reiner gibt in seiner Bibliografie (Teil I; 1972) an: 2. Aufl.
Berlin 1932. Text nach: E.W.: Sämtliche Werke. Bd. 10.1957. S. 854
- 858; hier S.854f.)
-
Zur Figur des erzählenden Arztes als eines humanistischen
Menschenfreundes ergibt sich m. E.s die Begründung aus W.s
poetologischem Konzept des "Dichterglaubens", in dem er
kirchlich präsentierten Priestern keine Glauben vermittelnde und
sozial überzeugende Rolle mehr zuspricht:
"Ich
glaube, daß Gott der Baum ist, an dessen Wurzeln die Dichter wohnen
müssen. Ich glaube nicht, daß es ihnen gut ist, beim Sohn
auszuruhn und zu sagen: 'Niemand kann zum Vater kommen.' Und ich
glaube, daß sie aufhören, die Künder der letzten Dinge zu
sein, wenn sie zu den Dienern der Kirche gehen, um zu fragen, wie es
Gott gehe. Denn ein Dichter, der zu einem Pfarrer geht, um Gottes
Wort zu hören, ist gleich einem Astronomen, der in ein Planetarium
geht, um die Sterne zu sehen." (E.W.: SW. 10; 858)
iii]
Die Namensnennungen von Hans Christian Andersen und Adalbert Stifter
(dem postklassischen, nicht realistischen Landschaftsvirtuosen, der
noch in den 1950er Jahren beliebte Klassenlektüre war - zur
Langeweile neugieriger, lerneifriger Schüler) folgen einer
bürgerlich-traditionellen, kunstverständig agierenden,
affirmativ-doktrinären, konservativen Gesellschaftsschicht, die in
Gemütlichkeit und Politikferne ihr fehlendes demokratisches Gehabe
zelebrierte.
Dass
beide Autoren ihre anderen, ihre Konflikte und Schatten
vermittelnden Lebens- und Buchseiten und virtuose, weithin
unbekannte Texte uns geschenkt haben, erfuhr nur, wer diese Dichter
als Gesamterscheinungen wahrnahm, nicht als Vorlagen für Spiele und
Vorlesungen von Gesinnungsmärchen oder Weihnachtsstimmungen oder
politisch anachronistischen Gruppenabenden.
iv]
Der semantische und kommunikative Wert des Adjektivs „jüdisch“
bzw. des entsprechenden Nomens „der Jude/die Jüdin“ ist schwer
zu bestimmen. Ich beziehe mich vorerst für eine Kontextanalyse auf
eine allgemeine, baltische Nuance, die humorvoll, volkstümliche, im
östlichen Erzählraum präsent gewesen – und allgemein
verständlich zu sein vorgibt:
Ein baltisches „Pratchen“
(Vertellje, Erzählchen, Anekdote), erzählt von Hans von Schroeder:
„Ein in allen drei
Herzogtümern (Est-, Liv- und Kurländer) gar beliebter Mann war der
Berliner Arnold Vogel, Weinreisender und Versicherungsagent in
einer Person, Draufgänger - elegant - so recht nach dem Herzen der
altlivländischen „Kempffer und Dempffer“. Er lieferte
hervorragenden Bordeaux, gut abgelagerte Mikosch-Witze und brachte
alljährlich heim ins Reich eine gefüllte Brieftasche und bestes
baltisches Pratchen-Material für Roda-Roda. Dabei sehr
geschäftstüchtig, wie wir sehen werden. Was aber niemand vermutet
hatte, erwies sich als Tatsache. Arnold war mosaisch! Das bedauerte
nun doch ein Freundeskreis, mit dem er auf Du und Du stand.
„Arnold, nichts zu machen -
du mußt dich schmaddern [taufen] lassen!“ Und der schien
nicht abgeneigt, loyal wie er
war. Kurzum, eines Tages hatte sein Freundeskreis sich zu diesem
löblichen Zweck versammelt, ein solennes [festlich] Frühstück
sollte den Taufakt beschließen.
Es meinte nun der Pastor, noch
vor dem Taufakt mit dem Neophyten ein kleines theologisches Gespräch
ex officio führen zu müssen. - Nun schön, zehn Minuten, ein
Viertelstündchen ... Aber es vergingen eine halbe Stunde, ja noch
mehr, bis die Tür zur Clausur der beiden Hauptbeteiligten sich
öffnete. Freund Vogel erschien mit strahlender Siegermiene, der
Pastor aber bleich, geradezu „bedribst“ [berunken].
„Nun, Hochehrwürden, ist
alles in Butter, haben Sie Vogel geschmaddert?!“
„Nein“,
gestand der Pastor mit Bittermandel-Lächeln, „leider nicht —
aber er hat mein Leben versichert!“ - Tableau.
Ja tüchtig, tüchtig war der Arnold Vogel schon.
(Aus:
Hans von Schroeder: Kleine Geschichten aus den baltischen Landen.
Stuttgart o. J.: Klett Verlag. S. 148)
v]
Eli: Kurzform des männlichen, jüdischen Vornamens Elias
(nach dem alttestamentarischen Propheten Elia oder Elias); für
Wiechert ist sicherlich anzunehmen, dass er auch wusste, dass es
einen jüdischen Hohepriester Eli gibt, dessen Übersetzung "Hoch"
meint und die Adoration für "Gott ist hoch"
bedeutet. Nach Lk 3,23 meint "Eli" einen Vorfahren
Christi. - Für die hebräische Urform des Kreuzesausrufes "Mein
Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen (Mt. 27,46 und Mk
15,34) ist bekannt die allerentsetzlichste christliche Interjektion
"Eli, Eli [oder, aramäisch: Eloi, eloi] lama, sabachthani?"
Diese Worte bilden im AT den Anfang von Ps 22. In
der Sprache Luthers, die für den Protestanten Wiechert
Lebenslektüre darstellte: "Ein Psalm Davids.... Mein Gott,
mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich schrei, aber meine
Hilfe ist ferne." Der Schüler Eli wird hier in seinem
Schicksal mit dem Menschensohn Christus gleichgesetzt - in den
Entsetzensworten am Kreuz - des
Menschensohnes, irgendwie...Mein Gott, mein Gott...? „Eli, Eli,
lama“ - siehe Mt 27,46 oder Mk 15,34) Ja, bei Mk steht im griech.
Text die aramäische Form „Eloi, Eli, lama sabachthani?“)
-
Wer eine fundamentale, theologische, uns heutige Christen
bereichernde Erörterung zu den letzten Worten Christi am Kreuz
nachlesen will, vom Wiechert-Freund Schalom Ben-Chorin, schlage nach
in Ben-Chorims Darstellung "Bruder Jesus", aus dem Jahre
1967, besonders das Kapitel "I.N.R.I. oder der Fluch des
Gehenkten". (In: Sch. B.-Ch: Bruder Jesus. Der Nazarener in
jüdischer Sicht. München 1967. dtv 1253. S. 175 - 188). – Zur
Freundschaft zwischen E.W. und Ben-Chorin vgl. dessen Aufsatz
„Begegnung am Starnberger See“, in: Bekenntnis zu Ernst
Wiechert. Ein Gedenkbuch zum 60. Geburtstag des Dichters. München
1947: Kurt Desch Verlag. S. 36-44.
Wie
ein abschließender Kommentar zu "Die Gebärde" liest sich
Ben-Chorins Aussage in seinem Gedenkartikel für E.W. zu seinem 60.
Geburtstag: "Und indem der echte Dichter sagt, was er leidet,
sagt er zugleich, was wir alle leiden und litten, wir, das über
alle Grenzen des Woher und Wohin im Leiden geeinte Volk der
Menschheit." (Ibid. S. 44)
vi]
Kaback: ein jüdisch-deutscher Familienname, sowohl für die 30er in
Berlin, als auch für heute (im Internet) nachweisbar. Von der
Etymologie und Onomastik her habe ich keinen Aufschluss erfahren für
diesen Namen.
vii]
Für jeden Historiker und/oder Humanisten wurden schon vor 1933 in
Deutschland das "Germanische" und das "Arische"
als angeblich ursprüngliche Einheit und Besonderheit zu einer
bestimmten indogermanischen Sprachfamilie unerträglich
mystifiziert. (Es hätte auch für Verantwortliche in den Kirchen
offenkundig sein müssen...) In der Rassenforschung wurden die
Pseudo-Begriffe im Sinne von ‚nordisch’ und/oder
‚indo-europäisch’ schon als Schlagwörter gegenüber ‚jüdisch’
gebraucht. Dieser pseudohistorische Rückgriff sollte den
ideologischen Rassismus im deutschen Antisemitismus kaschieren.
viii]
"Negertanz", "Hottentottenarie": Ausdrücke aus
der deftig-kolonial durchsetzten Umgangssprache der 30er Jahre
(vergleichsweise wie im heutigen Rest-Deutsch mit amerikanischem
Slang); E.W. liebte diese sparsam angewendete, umgangssprachliche
Aktualität und humorvolle Anschaulichkeit; anderswo, in "Die
Hirtennovelle" (1935) verwendete E.W. z.B. den heute
vergessenen Ausdruck "Botokude" (als gutmütig spottende
Interjektion); der Duden aus dem Jahre 1934 bucht diese Ausdrücke
alle ohne Angabe einer pejorativen Konnotation.
ix]
Im Gegensatz zur nazi-offiziellen Terminologie (Gefallene,
insbesondere später an der Ostfront Gefallene, als Opfer zu
benennen und lügnerisch zu ehren und zu entschulden) benutzt E.W.
hier den Begriff in dem Sinne, wie er ihn in der Erzählung "Der
Todeskandidat" prägte. Die Opfer-Problematik unter Lehrern und
Schülern, infolge von rottenhaft keilenden (1934 im Duden für
„prügeln’) Tätern oder auch im zerstörerischen
Kollegen-Verhalten war ihm offensichtlich eine wichtige Intention,
seit seinem Erstling "Die Flucht". Dort stellt er einen
Direktor und seine Günstlinge bzw. Erfüllungsgehilfen
entlarvend-kritisch als destruktive Pseudopädagogen dar.
x]
"Itzig": häufiger, von den Nazis wiederbelebter,
antijüdischer Schimpfname. Sprachhistorisch gesehen, gab es ihn als
Vor- und als Zunamen, vornehmlich in jüdischen Familien. Vgl.
Duden-Eintrag von 1934: "Itzig: verächtliche Bezeichnung des
Juden oder des jüd. Händlers". In: Der Große Duden.
Rechtschreibung. Leipzig 1934. S. 252)
-
Der bekannteste "Fall" des Nachnamens in der
nicht-antisemitischen, deutschen Literatur ist in Gustav Freytags
Roman "Soll
und Haben" zu
finden: Anton
Wohlfart und Veitel Itzig, Söhne eines kleinen Beamten und eines
armen Juden, beginnen gleichzeitig in Breslau ihre Lehre. Anton
tritt schon früh in das angesehene Handelshaus T. O. Schröter ein
und beginnt eine Karriere als ehrbarer Geschäftsmann; Veitel Itzig
dagegen, skrupellos und habgierig, sucht sein Glück bei dem Makler
und Spekulanten Hirsch Ehrenthal, doch er richtet nach erfolgreichen
Anfängen seine Laufbahn selbst zugrunde.
xi]
Der unangenehm-destruktive, anschaulich gewalttätige Begriff
"Judenball" ist in meinen Wörterbüchern nicht
nachweisbar; er scheint der saloppen Jugendsprache der 30er Jahre
entnommen zu sein, in der sich E.W. als Lehrer in Königsberg und
Berlin auskannte und aus dem öffentlichen Dienst verabschiedete. -
Die anderen Wortbildungen zu "jüdisch" sind damals
generationstümlich, zeittypisch und nicht alle
geringschätzig-pejorativ; die bösartig vorgetäuschte
Vertraulichkeit im Vokativ "Du... Judchen" ist so
eindringlich eindeutig und deutlich als bösartig und ironisch
gekennzeichnet, dass der Erzähler, "der alte Doktor",
innerhalb seiner humanistischen, menschenfreundlichen Wiedergabe der
judenfeindlichen Vorfälle uns diese Akzentuierung als "fast
vertraulich" - also als bedrohliche Einschleichung und
Vorbereitung einer Hassaktion - uns vermittelt.
Zum
Verb "jüdeln": Seit dem 18. Jh. belegt als "schachern",
also gemeint als ‚bösartig mißbrauchen’, pejorativ öffentlich
verbreitet als eine vermeintlich jüdische Berufsbezeichnung. Die
Bezeichnung für die "Sprechweise der Juden" ist zwar
einerseits neutral, aber auch belegt als misslich-denunziatorische
Kennzeichnung für die ironisch oder zynisch menschenverachtende
Nachahmung der Sprechweise des Jüdischen oder Jiddischen bei
osteuropäischen Angehörigen des jüdischen Glaubens. (Belege bei
Heinz Küpper: Illustriertes Lexikon der deutschen Umgangssprache.
Bd. 4. Stuttgart 1983: Klett Verlag.)
- Zu: Juden- und Christentum - Manfred Franke hat
auch die jüdischen oder antijüdischen Aspekte bei Wiechert
untersucht:
"Wiechert macht auf seine Freundschaften mit
Juden aufmerksam, darunter mit Max Picard. Gegen Prominente lässt
sich schlecht argumentieren, mag Wiechert gedacht haben und weist
weiter auf die meist positiven Zuschriften von Juden zum "Totenwald"
hin. Die kritischen dagegen, die mit Adlers Einwänden identisch
waren, führt Wiechert "vielleicht" auf
"Überempfindlichkeit" zurück, eine Einschätzung, die
nicht von der Hand zu weisen ist, jedoch durch das Vielleicht eine
unbedachte, die Realität fahrlässig außer acht lassende
Einschränkung erfährt. Denn wer den Holocaust überlebt und
wie Adler viele Angehörige verloren hatte, wird bestimmt und
nicht vielleicht überempfindlich. Wiechert hat das
offensichtlich eingesehen. Er gibt zu, unbedacht im TOTENWALD
'davon' gesprochen zu haben, (daß 'das ganze Volk [der Juden]
schuldiger sein [mochte] als andere Völker...') Daraus
Antijudaismus oder christlichen Antisemitismus abzuleiten, ist
leicht. Um diesen Vorwurf zu entkräften, argumentiert Wiechert
nicht mehr, er beschwört Adler geradezu: 'glauben Sie vor allem
niemals, daß in meiner Seele ein Rest von Antisemitismus lebe',
eine Formulierung, die immerhin den Schluß zuläßt, daß in
früheren Jahren gewisse antisemitische Relikte vorhanden
gewesen sind. Dann geht Wiechert mit bemerkenswerter Entschiedenheit
in die Offensive.
Allgemein spricht er davon, kein Volk sei ohne
Schuld, und weist im besonderen auf die Lebensweise der Berliner
Intellektuellen und Künstler Anfang der 30er Jahre hin, einer
„bestimmten Schicht", wie Wiechert sich ausdrückt, die
gefährlich lebte, nicht so, „Wie man leben sollte". Die
gerügte Lebensweise der Intellektuellen und der Boheme macht
Wiechert für den Haß der primitiven Menschen verantwortlich. Und
wenn er feststellt, alles sei voraussehbar gewesen, ist im
Zusammenhang mit Adlers zu vermutenden Vorwürfen zu folgern,
daß Wiechert die Juden meint, deren Einfluß im Kulturleben der
Hauptstadt um 1930 groß war. Am Schluß kommt Wiechert auf die
DP-Lager für Juden nach Kriegende in Bayern zu sprechen. Er zeigt
Verständnis für das Leid und die Entbehrungen derer, die in
den Lagern ihr Dasein fristen, mißbilligt aber das Streben nach
materiellen Gütern und stellt erneut bei der deutschen Bevölkerung
deren negative Reaktionen heraus, die „zu denselben
Folgerungen ... wie ehemals" führen. Mit anderen Worten: am
wenn auch primitiven Antisemitismus sind, zumindest
teilweise, die Juden nicht gänzlich unschuldig.
Anders sieht es ein heutiger Beobachter, der
evangelische Theologe Jürgen Fangmeier. Er resümiert in einem 1999
gehaltenen Vortrag: „Das [jüdische] Thema begegnet uns bei ihm
[EW] nicht aufdringlich, durchaus nicht schwärmerisch, aber
kontinuierlich, deutlich, ohne Scheu, positiv ohne unangenehme
Nebentöne, offen und frei im Ja wie im Aber.' In dem Brief
Wiecherts an Adler vermißt man allerdings das Fehlen unangenehmer
Nebentöne." (M. Franke: Jenseits der Wälder. Köln 2003:
S-H-Verlag. S. 116ff.)
*
Andererseits
gibt es bei E.W. unangenehme Töne der Wiedergabe von Wahrnehmungen
oder Charakterisierungen - gegenüber Juden wie gegenüber
Kommunisten oder vermeintlichen Kommunisten. Ich weise hin auf E.
W.s Begegnung und Auseinandersetzung mit Alexander Graf
Stenbock-Fermor. Ernst Wiechert hat in seiner Lebensgeschichte
"Jahre und Zeiten" erzählt, dass er mit Alexander Graf
Stenbock-Fermor zusammentroffen und -gestoßen sei, der als
"kommunistisch" abgestempelt ist. (In Wiecherts Zeit
seiner Unterrichtstätigkeit in Berlin, die 1931 endete.) E. W.:
"Auch kommunistische Tendenzen mir zuzuschreiben, fiel nicht
schwer. Ich hatte im »Eckart« Kreis, den damals Harald Braun
leitete, die Bekanntschaft eines jungen Grafen gemacht. Er hatte ein
paar Wochen als Bergarbeiter verbracht und über das Elend des
Proletariats ein Buch veröffentlicht, das ich trotz seiner Mängel
und betonten Absichtlichkeiten mit Teilnahme gelesen hatte. Ich
lud ihn ein, vor den Oberklassen der Schule über seine Erlebnisse
zu sprechen, und setzte es gegen allen Widerstand durch. Der
Direktor nahm an der Vorlesung nicht teil, aber er stand oben an der
Treppe, um sich in sein Gedächtnis zu prägen, welche von seinen
Schülern daran teilnahmen. Es waren leider viel mehr, als er
angenommen hatte.
Der
junge Graf tauchte dann noch ein paarmal in meinem Gesichtskreis
auf, nicht immer auf eine angenehme Weise. Und als er mich
vergeblich vor der Schule anzuborgen versucht hatte, verschwand
er mir aus den Augen. Er war einer der dekadenten Söhne alter
Geschlechter, die ohne Halt zwischen extremen Polen schwankten,
begabt aber schwach, und schließlich wohl nicht mehr wählerisch in
den Mitteln, die sie für ihre nicht bescheidener gewordene
Existenz aufzutreiben versuchten." (Aus: Jahre und Zeiten.
(1945/46 geschrieben; 1948 erschienen. Zitiert nach "Stimme...".
S. 461f. – Diese Diffamierung hat E.W. nie mehr behandelt; der
„Graf“ – der kein Adelsrudiment sein wollte - war kein „Jude“
für ihn.)
Dem
Dichter kann man persönlichen Unwillen zuschreiben und ihm
attestieren, in einer unangenehmen, öffentlichen Situation
gegenüber dem bettelnden Grafen gewesen zu sein. Aber, den
Humanisten, den sozialen Demokraten Stenbock-Fermor als "dekadent"
zu diffamieren, ist arg und wenig intelligent - und politisch
ausgewiesen - konservativ-nationalistisch; Stenbock-Fermors
Lebenswerk, auch vor 1933, gibt anderen Aufschluss, als das, was
E.W. seinen Lesern und Freunden für immer buchmäßig mitteilten
wollte, ohne es nach 45 zu korrigieren.
-
Kurz zu St.-F.s Lebensdaten, wie bei etwa zehn anderen Autoren
seiner Generation: Freiwilliger der Baltischen Landeswehr. 1920
Übersiedlung nach Deutschland, Bergarbeiter im Ruhrgebiet. Ab 1929
freier Schriftsteller und Filmautor, Verfasser von Sozialreportagen
und Hörspielen. Nach dem Kriege, ab 1945/46 Oberbürgermeister von
Neu-Strelitz. Stenbock-Fermor gehört zu den "Balten",
über die sich E.W. häufiger unappetitlich, insbesondere politisch
negativ äußerte, obwohl er von 1933 bis 1945 eine explizit
politische Auseinandersetzung, weder mit den Ursachen der sozialen
Bewegungen, noch mit Ausblicken auf Veränderungen in der
faschistischen Abwärtsentwicklung, leistete. Auch seine
vielbeachteten und würdig kritischen Reden an die Jugend und sein
Widerstand waren nicht politisch fundiert, sondern
ethisch-humanistisch, entsprechend dem wiederholten Diktum von
seiner dichterischen, nicht politischen Beruf(-ung).
xii]
Tempel Salomonis: Bis in den äußeren Vorhof des Tempels von König
Salomon konnten Juden dieses Haus Jahwes betreten, wenn sie ihre
Kinder zu rituellen Zeremonien oder Gaben zum Opfer brachten. Die
inneren Bereiche waren den Priestern vorbehalten. Aus dem AT wusste
jeder Jude - und hier bei E.W. auch ein als
verantwortungsbewusst-christlich ausgewiesener Arzt - aber von der
Fülle der inneren Ausstattung mit seinen Kunstwerken. Die
"Schwelle", bis zu der sich das jüdische Volk dem
Heiligen Tempel des Königs Salomon nähern durfte, bezeichnet den
Übergang vom äußeren zum inneren Vorhof des Tempels, den
israelische Männer nur für das Übergeben zur Darbringung ihrer
Opfer betreten durften. Der innere oder obere Vorhof war den
Priestern vorbehalten (vgl. Jer 3,10; 2 Chron 4,9). Von der äußeren
Sicht über den Vorhof hinweg auf das Heiligste und Allerheiligste -
das mit Zedernholz ausgestattete, mit Edelsteinen und Gold
überzogene Innere - ist die Ehrfurcht der Redensart "von der
Schwelle des Tempels" geprägt. In all dem Glanz des Tempels
mußte das Bauwerk trotz seiner verhältnismäßig geringen Größe
wie eine sichtbare Widerspiegelung der Herrlichkeit des jüdischen
Gottes wirken. - Unsere heutigen Redensarten, rekurrierend auf die
Bibel - z. B. "Salomo in seiner Pracht" oder "die
Weisheit Salomos" oder ein "salomonisches Urteil" -
geben nicht mehr die Ehrfurcht gebietende Distanz gegenüber dem Ort
der Gottes-Repräsentation wieder, wie sie dem Arzt am Herzen liegt.
E.W. gibt sich hier als biblischer Vermittler, als Traditor der
alttestamentarisch- jüdischen Kultur; die in der rhetorisch nicht
als unbewußte, sondern als absichtsvoll gekennzeichnete Anrufung
und
wehmütige
Anklage gegen die Anrufung "Gottes" ("'Mein Gott ...
', sagte eine leise Stimme. - 'Gott?' wiederholte der Doktor und
schüttelte langsam den Kopf.") ist die nicht leichtfertige
Kritik des Gottesbildes seiner, nämlich der demokratischen Weimarer
Kultur Zeit in der Perspektive des toleranten, konsequent in der
Forderung der Nächstenliebe kritischen Arztes.
xiii]
Ich verstehe hier Wiechert, als hinter dem Erzähler stehenden,
personalen Dichter nicht so, dass er die biblisch-katholisch
Signatur des "Knechtes Gottes" (im AT Josua in Jos 24,29;
im NT Paulus (Tit 1,1) oder in den Psalmen 18,1 oder 105,6.42)
aufgreifen will. Ebenso wird hier nicht angespielt auf die sog.
"Gottesknechtschaftslieder" bei Jesaja (42,1-4 u. a.;
fortgesetzt etwa bei Mt 8,17 u. a.). E.W. greift vielmehr eine in
die deutschen Literatur, in die mindestens seit dem Realismus
kritisierte, klassisch gefügte Topik vom Herrn und Knecht, etwa bei
Theodor Storm:
"So unterscheidet sich der Herr
vom
Knecht...."
E.W.
verdeutlicht die würdelose, herrisch-sklavenhalterische
Beziehungsstruktur Lehrer und Schüler in den Schulen seiner Zeit;
vergleichbar einem militärischen Verhältnis von Herrschenden,
Kommandieren und Ergebenen, den Ausführenden, die sich auf einen
Befehl berufen können. Verallgemeinert bedeutet hier die wahn- und
volkhafte Vollstreckung des Antisemitismus - im totalitären
Nationalsoszialismus - eine eingeübte Gehorsamshandlung in der
Misshandlung von jüdischen Opfern - eine Kraft, eine Erlebnis, eine
Gewalt, eine Lust (auch des Tötens), die sich nach 1933 durch alle
Führungsschichten und abhängige Mannschaften (einschließlich von
mordenden Frauen als Verbrecherinnen in Frauen-KZ.s) wie ein
sehnlich erwarteter Vollzug des Ausgrenzens, der Verachtung, des
Erniedrigens, der Vertreibung, der Tötung als Opferungen, als
Massenrituale, in den Handlungen von Millionen Mitmachern, samt der
Nicht-Verantwortung und Schuld-Losigkeit der Machteliten, die nach
1945 in der Wehrmacht, der Politik, der Justiz, den Verwaltungen,
der Kirchen, als sie sich als nicht-schuldig propagierten und für
sein Seelenheil ex culpa verlangt wurde - obwohl dort ja, in der
Elite der Laufbahnhierarchien, die Qualifikation des deutschen
Abiturs verlangt war, als eines geistigen, humanistischen
Führungsnachweises und als eines Charakter- und
Leistungsausweises.(Er war in der Kaiserzeit und (politisch gewollt)
in der Nazizeit nicht
mit dem Reifezeugnis vermittelt worden.)
xiv]
Das Sustantiv und der Name "Wolf" - ein bezogenes Beispiel
der tiernahen, das Männliche, gar das Tierische betonenden Sprache
des NS; aus dem Bündischen und dem naturverbundenen
Wanderjugend-Leben war schon ein Begriff wie "Wölfling"
bekannt. In dieser Ausdrucksweise kritisiert der Erzähler sich
selbst und zeitbedingte Zuweisungen, die als geschlechtsspezifische
Deformation, als un-menschlich assoziiert wird.
xv]
Dass das Körpergefühl der Distanz des Menschen vom Menschen als
ein Instrumentarium der Friedfertigkeit gegenüber anderen erlebt
und "eingesetzt" wird und hier als ein Schuld des
"Nicht-Helfen-Könnens" beschrieben wird, erhöht die
Übereinstimmungen der Erzählers und der Kritik an einer
verächtlichen, bedenkenlose, ja sogar deplatziert unmenschlichen
"Gebärde". – Zur Gebärdik vgl. folgenden Text: E.W.
erzählt von „Gebärden“ bei seiner ersten Begegnung mit einem
Schuldirektor in Königsberg:
Später
hat man mir erzählt, daß er »der Löwe« genannt wurde, und daß
vom kleinsten Nonaner* bis zum ältesten Professor jedermann vor ihm
erzitterte. Auch soll er einen Siegelring getragen haben, in dessen
Stein »Glaube, Liebe, Hoffnung« eingeschnitten waren, und wenn er
Ohrfeigen austeilte, was vom frühen Morgen an seine
Lieblingsbeschäftigung war, so soll er den Stein nach innen
gedreht und die Ohrfeigen mit Glaube, Liebe und Hoffnung gegeben
haben.
Kein
Wunder, daß wir vor ihm erstarrten, und daß er uns nicht wie der
Stellvertreter des lieben Gottes, sondern wie sein Vorgesetzter
erschien. Aber desjenigen Gottes, von dem wir mit einem Schauer der
Ehrfurcht gelernt hatten, daß er ein eifriger und zorniger
Gott
sei.
Mein Vater versuchte, mit einer sicherlich unzulänglichen
Beredsamkeit, dem Löwen zu wiederholen, was der »Letzte der
Mohikaner« von unsren Geistesgaben und unsrer Ausbildung
behauptet hatte, und daß wir nach Meinung dieses unsres
letzten Erziehers für die Untertertia dieser so hochangesehenen
Anstalt reif sein müßten. Wahrscheinlich hatte er niemals in
seinem Leben eine so lange Rede halten müssen, und sicherlich
war ihm wohler zumute gewesen, als er einmal, wie er uns oft erzählt
hatte, vor einem krankgeschossenen Keiler auf einen Baum hatte
flüchten müssen.
Auch
glitt kein Widerschein seiner verzweifelt lobenden Worte über das
steinerne Gesicht des Löwen. Er betrachtete uns regungslos, und ich
glaube heute, daß er feststellen wollte, ob wir drei aus Europa
oder aus Asien stammten. Und nachdem er darüber zu einer
unsichtbaren Entscheidung gekommen war, stieß er plötzlich,
ohne Ankündigung, seinen Zeigefinger in die Gegend meines Bruders
und fragte: »Was heißt französisch: 'Ich gebe es dir?'« Nun weiß
jedermann, daß dahinter eine Falle verborgen ist, die zu stellen
man als pädagogisch oder auch als niederträchtig empfinden kann,
und mein Bruder, an Mensch ' fallen nicht gewohnt, antwortete
schnell und fröhlich: »Je te donne!« Worauf ich, von derselben
Gebärde aufgefordert, etwas langsamer sagte: »Je le donne.«
In der Meinung, eines von beiden werde doch wohl richtig sein.
**
Da
aber nach den Gesetzen dieser vertrackten Sprache keines von beiden
richtig war, so fiel hinter der unbewegten Stirn des Löwen
eine schnelle Entscheidung, und mit einer majestätischen
horizontalen Handbewegung sagte er wahrhaft gelassen: »Quarta!«
Womit denn auf eine so schnelle wie entschiedene Art unsre
Feuerprobe beendet war und wir drei als völlig Geschlagene das
unheimliche Schlachtfeld verlassen konnten.
(Aus: E.W.: Wälder und Menschen. Eine
Jugend. 1935. Zuerst 1936 erschienen. In: E.W.: Sämtliche Werke in
zehn Bänden. Bd. 9. Wien/München 1957. S. 81ff. Aus dem Kapitel
"Das Dornenfeld".)
Anmerkungen: * "Nonaner" -
Vorschüler, der erst zum Einstieg aufs Gymnasium noch einsortiert
werden muss in die "humanistische" Schuklassenlordnung,
noch in der Vorstufe v o r den Sextanern und Octanern. - ** Ob
Herr Direktor „Löwe“ die Antwort "Je t'en donne"
zugelassen hätte?
- Eine kommunikativ und
literaturwissenschaftlich verstandene „Gebärdik“, pardon:
Gestologie, müsste auch auf die Gebärdensprache
(körperliche Zeichen, Mimik, Augensprache, Motorik, Bewegungen und
Veränderungen im Gehabe ) der Todesfiguren und Sterbensankündiger
z.B. in T. M.s Novelle „Der Tod in Venedig“ (1911 geschr., ;
veröffentl. 1912) verweisen, vielleicht protokollarisch
zurückgreifen. – Für E.W. fehlen aber Zeugnisse, dass er die
moderne, deutsche und europäische Literatur ab 1900 zur Kenntnis
genommen hat.(Sein Leseinteresse war bürgerlich-konservativ
beharrend, affirmativ, nicht innovativ inspiriert und
entdeckungsfreudig. Er begnügt sich hier in der Kurzgeschichte mit
dem verhaltensmäßig normüblichen Repertoire des Mitmenschlichen,
wobei er hier in der Figur des Arztes ein humanistisches und
medizinisches und politisch-moralisches Modell gestaltet.
xvi]
„Der erste
Blick...“ – so überliefern uns die gedruckten Ausgaben. Ich
schlage vor zu emendieren: „der ernste
Blick seiner Augen...“ - sonst hätte der Satz nur stilistische
Redundanz zu bieten, keine Eindringlichkeit des Physiognomischen -
der menschlichen Verständigung gegenüber den „wölfischen“
Verhaltensweisen, die E.W. in den dichterischen Kontrast stellt.
xvii]
E.W. verweist hier also, in der Gesprächsintention des "alten
Doktors", auf Heinrich Manns Roman "Professor Unrat oder
Das Ende eines Tyrannen", aus dem Jahre 1905. In ihm hat H. M.
der deutschen Literatur exemplarisch die "sozialkritische
Karikatur eines wilhelminischen Professors geschenkt, der in später
Leidenschaft einer Kleinstadtkurtisane verfällt und aus Rache für
seine gesellschaftliche Ächtung seine Mitbürger moralisch und
gesellschaftlich ruiniert". (Zitiert nach dem Standardwerk von
H.A. u. E. Frenzel: Daten deutscher Dichtung. Bd. 2. 1962. S. 545) -
Wiechert
als Leser und literarischer Lehrling bei Heinrich Mann, noch eine
offene Frage:Bei H. M. findet sich folgende Parallelszene aus dem
Roman "Der Untertan" ( geschrieben. bis 1914; teilweise in
der "Modernen illustrierten Wochenschrift", Jg. 12. 1 -
8/1914, in Fortsetzungen veröffentlicht; als Buch 1918 erschienen):
"Einmal
nur, in Untertertia, geschah es, daß Diederich jede Rücksicht
vergaß, sich blindlings betätigte und zum siegestrunkenen
Unterdrücker ward. Er hatte, wie es üblich und geboten war,
den einzigen Juden seiner Klasse gehänselt, nun aber schritt er zu
einer ungewöhnlichen Kundgebung. Aus Klötzen, die zum Zeichnen
dienten, erbaute er auf dem Katheder ein Kreuz und drückte den
Juden davor in die Knie. Er hielt ihn fest, trotz allem Widerstand;
er war stark! Was Diederich stark machte, war der Beifall ringsum,
die Menge, aus der heraus Arme ihm halfen, die überwältigende
Mehrheit drinnen und draußen. Denn durch ihn handelte die
Christenheit von Netzig. Wie wohl man sich fühlte bei geteilter
Verantwortlichkeit und einem Schuldbewußtsein, das kollektiv war!
Nach dem Verrauchen des Rausches stellte wohl leichtes Bangen sich
ein, aber das erste Lehrergesicht, dem Diederich begegnete, gab ihm
allen Mut zurück; es war voll verlegenen Wohlwollens. Andere
bewiesen ihm offen ihre Zustimmung. Diederich lächelte mit
demütigem Einverständnis zu ihnen auf. Er bekam es leichter
seitdem. Die Klasse konnte die Ehrung dem nicht versagen, der die
Gunst des neuen Ordinarius besaß. Unter ihm brachte Diederich es
zum Primus und zum geheimen Aufseher. (...)" (H. Mann. Der
Untertan. Roman. München 1974: dtv 256/257. S. 9f.)
Für
die Schulzeit dieses Prototypen Diedrich Heßling können wir 1878
bis 1890 ansetzen. Die Taktik dieser handgreiflichen
Judenfeindlichkeit, der Misshandlungen, die die Lehrer "mit
verlegenem Wohlwollen" zur Kenntnis nahmen, ist bei Heinrich
Mann nicht nur als Anekdote, sondern als Teil eines Antisemitismus,
einer Untertanen-Mentalität und einer immerzu bereiten Aggression
gegen Juden oder gegen Sozialdemokraten loszuschlagen.
*
Nach dem 2. Weltkrieg hat E.W. allerdings - aus
seiner biografischen Perspektive - diesen paradigmatisch modernen
Roman Heinrich Manns als – so wörtlich - "von Hass erfüllt"
abgelehnt.
-
Andererseits (und dies gehört zu den öffentlichen Geheimnissen für
den, der sich mit E.W. beschäftigt): Er kritisierte H. Mann in
einem groß angelegten, eigenartig widersprüchlichen Essay der
Nachkriegszeit, in "Grablegung und Auferstehung":
"Man
kann mit ätzendem Spott die Idole der Zeit vernichten, aber das
Ätzende bliebt Gift und das Geätzte wartet auf das Heilkraut, das
die Wunde schließt. Und man darf das Entscheidende nicht übersehen:
daß dieses alles ja gar nicht eine neue Kultur ist, sondern eine
Auflösungsform der alten. Daß Hohn eine Erscheinung sterbender
Kulturen ist. Junge Völker höhnen nicht, sondern sie
verehren. Die chinesischen Weisen, Homer, die Bibel, die
Upanishaden, die Edda, Cervantes, sie alle höhnen nicht. Erst
Luther verhöhnt, die französische Revolution, Swift und Goya,
Strindberg und Nietzsche, und dann immer mehr und mehr, bis zu
unsrer Zeit. Es ist kein Zufall, daß der Wahnsinn so viele von
ihnen geschlagen hat, daß der Freitod so viele von ihnen empfangen
hat. Sie haben gelacht über vieles, über fast alles, aber einmal
kam auch über sie das Weinen. Niemand entgeht der Träne, die aller
Kreatur bestimmt ist.
Nein,
auch dieser neue Weg ist nicht der Weg des Heiles. Ich kann die
schriftstellerische Leistung Thomas Manns nur bewundern, aber ich
habe nie einen Zweifel daran gehabt, daß er ein Deuter des
Absteigenden, des Zerbröckelnden, des Tödlichen einer Kultur
ist. Die Buddenbrooks waren es, der Zauberberg war es, gepflegte
Totentänze, mit großer Kunst gemalt, mit leuchtenden Farben, mit
großer Komposition, aber eben Totentänze: etwas, das in das
Chthonische zurückwies statt in das Magische, etwas, das mehr aus
einem überfeinerten Intellekt geboren war als aus einen
überquellenden Herzen, eine ziselierte Krone westlicher
Zivilisation, ohne einen Hauch der östlichen Unendlichkeit.
Und
was bei ihm noch vornehme Gelassenheit einer patrizischen Herkunft
war, ist bei Heinrich Mann schon entstellt durch das aller Kunst
tödlich Feindliche: durch den Haß. Den »Professor Unrat« hat der
Haß geschrieben, den »Untertan« hat der Haß geschrieben; und ich
erinnere mich einer Arbeit von ihm über das Dämonische von heute,
die kurz vor 1933 in der »Literarischen Welt« erschien. Und dieses
Dämonische von heute war die Prostituierte. Kann die Entwertung
eines einst heiligen Begriffes wie des Dämonischen
augenfälliger und. trauriger bewiesen werden als dadurch? Kann der
Zerfall einer bürgerlichen Kultur sich deutlicher enthüllen als
durch diesen nicht mehr bürgerlichen, sondern bourgeoisen
Standpunkt? Und was für ein Geschlecht muß es sein, daß sich
hiervon den Weg des Heiles erwartet?" (E.W.: Grablegung und
Auferstehung. 1946. In: S W 10; 924 - 942; hier S. 933f. - Der Text
ging 1948 später in die Erinnerungen "Jahre und Zeiten"
ein.) - Ein Dualismus der Kunst, also auch Literatur überhaupt:
Einerseits "heilsam", "heiligend", "wahrhaft
menschlich" und andererseits "höhnisch", "kritisch",
also negativ, unmoralisch, als nicht mitleidsfähig, inhuman zu
werten - ist eine romantische Simplifizierung, die wohl von
speziellen Bedürfnissen Wiecherts nach dem Krieg und Leiden
(Rechtfertigung? Idealisierung? Selbstbehauptung? Indolenz?)
diktiert war.
Ich
vermute, dass E.W. das Satirische - die intentio ex "negativo"
- dieses epochenmachenden Romans nicht aufschlüsseln und
ästhetisch genießen konnte - eben als eine ästhetisch
sozialisierte Aggression, deren Intention herleitend aus dem
verabscheuungswürdigen Beispiel vom Leser zu leisten ist. Hierin
aber liegt eine produktive, auch gerade pädagogisch große Chance
des Rezipienten, die E.W. zeit seines Lebens persönlich nicht zu
leisten vermochte. (Ich persönlich weiß keinen Schlüssel für
dieses hermeneutische Rätsel bei E.W. - innerhalb der modernen
Literatur und ihrer Grundlagen; war es die Zeit seines Lebens nicht
aufgegebene romantisch-konservative Grundstruktur seiner Denkens und
Dichtens?)
Ein anderes Beispiel, ein anderer Jude, ein anderer
Mensch - ähnliche Erfahrungen in der Schulzeit vor 1932/33: Hans
Keilson, der deutsch-niederländische Autor und Wissenschaftler
berichtete 2000:
"Deutschunterricht, Freienwalde anno 1925/26.
Jeder Schüler sollte einen Beitrag zu einem selbstgewählten Thema
zur Diskussion stellen. Ich trug, mit Einverständnis des
betreffenden Lehrers, eines frischgebackenen Assessors, sein
Name war Geisler, Die Weber von Heinrich Heine vor. Als ich mich
wieder auf meinen Platz begeben hatte, entstand eine Todesstille.
Auf die Aufforderung des Lehrers zur Diskussion erhob sich der
Klassensprecher und sagte: "Die Klasse lehnt es ab, über
dieses Gedicht zu diskutieren, es beschmutzt das eigene Nest",
und setzte sich wieder. Geisler erstarrte. Daß die Schulleitung und
ältere, erfahrene Lehrer nicht willens oder fähig waren, ihrem
jüngeren Kollegen bei der Lösung des Konflikts zu helfen,
kennzeichnet die historische Lage jener Zeit. Und das war für mich
das entscheidende Moment: die Unfähigkeit oder der Unwille der
Lehrerschaft um die Beschaffenheit und Tragweite der
Situation in einer soziologischen Analyse nicht weiter ausufern zu
lassen , sich mit diesem Konflikt zu befassen. Vielleicht
hielten sie Heine auch für einen Nestbeschmutzer. Sowas tut man
nicht im eigenen Land. Dafür ging man, bis vor kurzem, lieber in
die Kolonien oder in die Nachbarländer. Kurz danach verließ
Geisler die Schule. Ich blieb bis zu meinem Abitur zwei Jahre im
sogenannten Klassenverschiß: Niemand sprach mehr mit mir. (...)
Ich habe Hitler in der Wilhelmstraße ganz aus der
Nähe gesehen, als er Anfang 1933, aus der Reichskanzlei kommend,
wie ein Sieger neben seinem Fahrer im Wagen stand. Er fuhr zu den
Arbeitern in Siemensstadt. 'Die Siegestrompeten erschallen zu früh',
schrieb Ernst Wiechert damals. Ich habe die Szene in der
Wilhelmstraße im Tod des Widersachers dargestellt."
(Aus:
H.K.: "Sieben Sterne...".[Ein autobiografischer Vortrag]
In: Marianne Luzinger-Bohleber und Wolfdietrich Schmied-Kowarzik
(Hrsg.): "Gedenk und vergiß - im Abschaum der Geschichte".
Trauma und Erinnern. Hans Keilson zu Ehren. Tübingen 2001: edition
diskord. S217 -229; Zitate: 222 und 226)
xviii]
Lassalle: Ferdinand L.: Arbeiterführer; Mitbegründer der SPD; hier
als Repräsentant einer sozialdemokratischen Sozial- und
Weltanschauung charakterisiert, die vom gekennzeichneten und
kritisierten Bewusstsein der Allgemeinheit her als obsolet, als
nicht gesellschaftsfähig innerhalb der sich entwickelnden
Demokratie gilt.
xix]
"Cohn" oder "Kohn" ist hier als typischer,
jüdischer Nachname apostrophiert und in der deutschen Literatur
häufig; auch bei Th. Fontane, in seinem Geburtstagsgedicht "Als
ich 75 wurde..." heißt es als Einladung an einen Freund in der
Abschlußzeile:
"Alle
kannten mich lange schon,
Und
das ist die Hauptsache...,
kommen
Sie, Cohn."
(Th.
F.: Gedichte. Große Brandenburger Ausgabe. Bd. 2. S. 467).
"Cohn"
war auch ein namensmäßig gepflegtes Synonym für Geselligkeit und
Freundlichkeit in Person.
Ob
die Zeile "Der kleine Cohn" ist weg!" aus einem
Chanson als eine frühe, öffentliche Stellungnahme gegen das
Verschwinden von Juden aus der kulturellen Szene - schon vor 1933 -
war, wage ich nicht zu behaupten. Folgender Text legt es nahe: In
einem Medley der COMEDIAN HARMONISTS aus dem Jahre 1929 habe ich den
Titel "Ham se nicht den kleinen Cohn geseh'n?" (Recording
22.01.29 a)
Camillo
Morena in the Medley "Anno dazumal" part II:
Ha'm
sie nicht den kleinen Cohn jeseh'n?
Sah'n sie ihn denn nicht vorüberjeh'n?
In des Volkes Menge da kam er ins Gedränge.
Da ham'se nun den Schreck: Der Cohn ist weg!
Ha'm sie nicht den kleinen Cohn jeseh'n?
Sah'n sie ihn denn nicht vorüberjeh'n?
In des Volkes Menge da kam er ins Gedränge.
Da ham'se nun den Schreck: Der kleine Cohn ist weg!
Einst sang man gern vom kleinen Cohn,
heut' gibt's nur Fox und Char-les-ton!
Sing halleluja, halleluja [......].
Sah'n sie ihn denn nicht vorüberjeh'n?
In des Volkes Menge da kam er ins Gedränge.
Da ham'se nun den Schreck: Der Cohn ist weg!
Ha'm sie nicht den kleinen Cohn jeseh'n?
Sah'n sie ihn denn nicht vorüberjeh'n?
In des Volkes Menge da kam er ins Gedränge.
Da ham'se nun den Schreck: Der kleine Cohn ist weg!
Einst sang man gern vom kleinen Cohn,
heut' gibt's nur Fox und Char-les-ton!
Sing halleluja, halleluja [......].
*
Ein
jiddischer Witz:
Kurz
bevor Samuel Kohn dann doch starb, rief er nach einem katholischen
Priester. Alle sind bestürzt, aber es ist der letzte Wunsch und so
holt man einen Pfarrer. Samuel wünscht sich auch noch getauft zu
werden, der Priester führt die Zeremonie sofort durch. Danach
fragen ihn alle: "Samuel, was soll das?" Sagt Samuel: "Ich
hab mir gedacht, wenn ich schon sterben muss, soll's wenigstens
einen von denen erwischen!"
*
Auch
die sprachlich fast identische Bezeichnung "Cohen"
existiert für das religiöse Bewußtsein; hierzu zwei Belege aus
einer Fülle:
Margit
Siebner, 1932 als eine geborene Cohn in Berlin zu Welt gekommen,
berichtet in ihren Erinnerungen:
"Nun
sitze ich hinter Manja und hasse, hasse Lehrer Weiß. Lehrer Weiß
schaut na mir vorbei, übersieht mich völlig. Neulich hat er mich
plötzlich mit einem merkwürdigen Auftrag weggeschickt. Ulla hat
mir nach dem Unterricht erzählt, daß er etwas vorlesen mußte über
Gesetze zur Rassenschande. Das wollte er mir offensichtlich doch
ersparen.
„Wir
fahren sowieso nach Amerika", habe ich trotzig geantwortet.
Fräulein
Schulz, die Handarbeitslehrerin, die jedesmal seufzt, wenn sie
meinen Kreuzstich sieht, hat mich beiseite genommen und mich
ermuntert: „Kleine Cohn, sei nicht so traurig. Weißt du
überhaupt, was dein Name bedeutet? Das ist die Priesterkaste in
Israel. Das ist etwas Besonderes."
Papa
hat endlich mal wieder gelächelt. „So kann man es auch sehen..."
Aber mehr war nicht aus ihm rauszubringen. Vielleicht sollte ich
wieder weglaufen, damit ich etwas erfahre.
(...)
Endlich,
endlich ist heute eine Karte gekommen. Wovor, manche Leute nur
flüstern da ist Papa also im Konzentrationslager
Buchenwald.
„Da
hole ich ihn raus!" sagt Mutti bestimmt und liest zum x ten
Male die Karte.
(...)
Januar
1939. Nach ewig langer Zeit ist Papa wieder da! Ist er das wirklich,
dieser Mann, der da ganz still in sich zusammengesunken
dasitzt, noch nicht ein einziges Mal gelacht hat?
Nur
Mutti redet und redet: „Amerika klappt nicht. Du bekommst
kein Visum, nur nach China ist es möglich. Innerhalb von vier
Wochen aber mußt du Deutschland verlassen haben, sonst holen sie
dich wieder. Dann kann ich nichts mehr für dich tun. Außerdem
müssen wir uns scheiden lassen.
„’Scheiden
lassen scheiden lassen’, fährt Papa empört dazwischen.“
Aus: Margit Siebner: Kleine Cohn, sei nicht traurig.
In: Heil Hitler, Herr Lehrer!. Kindheit in Deutschland 1933 - 1939.
50 Geschichten und Berichte von Zeitzeugen. Hrsg. v. J. Kleindienst.
Berlin 2000. JKL-Publikationen. S.189 - 201.
*
Hierzu
holte ich mir noch Rat bei Ernst Simon. Er erläutert in seinem
Essay "Totalität und Antitotalitarismus als Wesenszüge des
überlieferten Judentums. (1977); in: „Entscheidung zum Judentum“.
Frankfurt/M. 1980. S. 45. "Der Grundsatz
der Reinheit als Vorbedingung der Heiligkeit wird im Judentum
nur in seltenen Ausnahmen zur Vollaskese.
Eine
teilasketische Figur ist der Nasiräer, hebräisch: Nasir. Das Wort
hängt mit »neser«, Abzeichen des Geweihten, Diadem, zusammen. In
unserem Falle bedeutet es die Krone der ungeschnittenen Haarfülle,
wie bei Simson, dem ersten »Nasiräer auf Lebenszeit«. Dem Nasir,
auch wenn er nur für begrenzte Zeit ein Sondergelübde abgelegt
hatte, war außer dem Haarschnitt unter anderem der Genuß von
Alkohol und Trauben verboten. Für den Nasir auf begrenzte Zeit
kommt noch hinzu, daß er nach deren Ablauf ein Schuldopfer zu
bringen hat. (Nm 6), wahrscheinlich wegen des Zusammenhanges
zwischen einer besonderen Verschuldung und ihrer asketischen Sühne.
Dieses Schuldopfer mußte von einem diensttuenden Priester
(Cohen) entgegengenommen und im Heiligtum dargebracht werden;
danach erst schnitt der Nasir sich seine Haare, er trank Wein: er
war seines Gelübdes ledig, und der Priester aß von dem
Opferfleisch." (S. 45)
-
Ein letzter Hinweis auf das nomen proprium: In Polgars und Friedells
satirisch einzigartiger Theaterszene "Goethe" wird der
geckenhaft lerneifrige, vorbildlich schleimende, „gute Schüler“
als „Kohn“ vorgestellt: Er ist der Schüler, der perfekt
auswendig gelernt hat, sich vordrängt, besserwisserisch agiert,
aber keine selbstständige Leistung erbringt..
xx]
Politisch und soziologisch eigenartig-verwirrend, ja
deliberativ-begrifflich fast unbestimmbar: dieser Satz über das
Duell;
dessen Bedingungen, Verlauf und Folgen werden auch vom Erzähler
nicht benannt werden; es ist sicherlich das letzte, verzweifelte,
auch komische Duell in der deutschen Literaturgeschichte. Die
Sozialhistorikerin Ute Frevert erwähnt diesen Fall in „Ehrenmänner,
ihrer Geschichte des „Duells in der bürgerlichen Gesellschaft“
(München 1995: dtv 4646) nicht.
Ihre letzten fiktionalen Beispiele zu Duellen stammen von Georg
Weerth und Theodor Fontane; im politischen Raume erlebte das Duell
in der Nazizeit nochmals männerspezifische Urständ in grotesken
Formen. Hitler behielt sich schließlich jegliche Duell-Genehmigung
vor für solcherlei Forderungen unter Offizieren, die eigentlich dem
Chef der Heeresleitung zustand. So ließ Hitler 1942 aufschreiben:
„Für solche Sachen“ sei „jetzt im Kriege ... kein Verständnis
und keine Zeit (in Pickers „Tischgesprächen“; s. Frevert S.
322).Der Oberste Parteirichter Walter Buch hatte vorformuliert:
„Schließlich könne es sich ein Volk, dessen ganze Zukunft davon
abhängt, dass ihm jeder gute und gesunde Blutstrophen zum Einsatz
für seine Weltgeltung erhalten bleibt“, nicht leisten,
„Führerblut“ zu vergießen. (Als Rede und gedruckt 1938; Zitat
nach Frevert S. 322) Militärische Vernichtung von Menschen und
Staaten im globalen Stil ja,
aber bitte – ohne Erlaubnis, ohne Befehl - keine
individualistischen Dummheiten! – E.W. erwähnt diesen
unbeholfenen, wenig ärztlich-ethisch passenden Ehren-Versuch aber
nicht als historischen Beleg in Details. Er wird auch nicht Helene
Langes kritische Schrift „Duellsitte und Patriarchalismus“ aus
dem Jahre 1912 gekannt haben. Ich verstehe des Arztes Protest und
Ehren-„Einklage“ als bürgerlich-ehrenhaft gut-gemeinten
Versuch, der allgmein geforderten und praktizierten, absolut
beschämenden Provokation und widerlichen, gesellschaftlichen
Machtübernahme des neuen Rassismus öffentlich-vorbildlich
entgegenzutreten.
Ist diese I n t e n t i o n – so frage ich –
eine missgeleitete Idealisierung vom Erzähler - also dem
Repräsentanten E.W.s; von niemandem in der Runde aufgenommen; von
jedem Zuhörer geteilt, weil kommensurabel und allgemein üblich?
E.W. gibt keinen Hinweis auf eine ethisch-politische Einschränkung
oder Relativierung innerhalb der Binnenhandlung. – Ich füge an
ein „Pratchen“: VEREINFACHTES
DUELL-VERFAHREN: Oberförster
Schmemann, [Schloss] Mitau, wurde ‚gefordert’. Als der
Kartellträger zu ihm kam, sagte er auf die Frage, zu welcher Zeit
er auf dem Kampfplatz erscheinen werde:
„Wissen Sie, ich
habe mir die Sache überlegt. Es kann um sieben Uhr sein, da schicke
ich meinen Buschwächter hin, der kann den Herrn X. dann
totschießen.“ (Hans von Schroeder: Kleine
Geschichten aus den baltischen Landen. Stuttgart o. J.: Klett
Verlag. S. 150)
Oder, abschließend, dieses Baltisches
Pratchen, erst nach dem Krieg tradiert und 1995 zuerst gedruckt:
Der Handkuß.
Es war wohl im Jahr
1940, da bereiste eine Kommission unter Führung eines
SS-Hauptsturmführers im Warthegau mit reichsdeutschen Verwaltern
die provisorisch besetzten polnischen Güter. Ziel war die Auswahl
eines Gutes für einen altern Herrn v. T. aus Kurland als
sogenannter Treuhänder.
Auf einem der Güter ergab
sich, daß die polnische Eigentümerin nicht wie ihre
Standesgenossen nach "Kongreßpolen", dem damaligen
Generalgouvernement, abgeschoben worden war, sondern ihr Gut noch
bewirtschaftete. Bei der Begrüßung küßte Herr v. T. der
Dame des Hauses die Hand, wie es nicht
nur im Baltikum,
sondern auch in Polen üblich war.
Eisiges Entsetzen beim
Hauptsturmführer, der Herrn v. T. unbeherrscht anfaucht und
beleidigt. Mit der prompten Forderung durch den Balten auf Pistolen
stehen sich zwei Welten feindlich gegenüber. Der Hauptsturmführer
hatte Glück, denn das Duell fand nie statt. (Aus:
Kaehlrandt, Lothar (Hg.): Baltische Pratchen. Köln 1995. S. 38)
xxi]
Zum Begriff "Kollektivmord"; die Prägung dieses
historisch auffälligen, in den 30er Jahren einmaligen Begriffs
stammt wohl persönlich von E.W. Die Heutigen, wir Leser als die
nachfaschistischen, demokratiebereiten Generationen, kennen nur den
Begriff "Kollektivschuld", den E.W. übrigens nie in
seiner Kritik an den willfährigen Mitläufern oder den kriminellen
Gestapo- oder SS-Verbrechern oder den in Mordkommandos Tätigen
oder an den Kriegsverbrechern - oder auch an Autorenkollegen - unter
den Deutschen angewendet hat - den politisch Schuldigen unter
Hitler, Himmler, Hess, Höss u.a. deutschen Volkskriminellen - nach
1945, als der immer noch als "ostpreußisch", als in der
deutschen Literatur fremdartig, abseitig geltende Dichter wieder
publizieren konnte - und alsbald in die Schweiz "emigrierte",
aus verschiedenen, hier nicht zum Thema gestellten Gründen. (Dass
heutzutage öffentlich Mitglieder und führende Figuren der IEWG
(z.B. Dr. P.) dem Dichter persönlich den Vorwurf machen, er habe d
e n Deutschen - nach 1945 - die Kollektivschuld "angetragen",
sie also pauschal der Mitschuld verdächtigt, habe ich selber im
Jahre 2003 auf einer Tagung der IEWG, in der Wolfsschanze, Mühlheim,
erlebt. Die schriftliche Form einer solchen argen Argumentation ist
allerdings noch nicht gelungen. Der Kollektivschuld-Vorwurf gegen
E.W. ist also ein typische Exculpation von der für Demokratie und
Wahrheitsliebe unfähigen Menschen. Heutzutage wird E.W. somit
- von lautstarken Angehörigen der IEW-Gesellschaft, z. B. dem
stellvertretenden Vorsitzenden, einem Herrn Dr. P., wohnend in
Taucha, die Anklage gemacht, er selbst, also der Dichter, habe
gegenüber "den Deutschen" den Vorwurf der Kollektivschuld
in der und für die Nazizeit erhoben - ein unerhörter Witz, ja,
eine kulturelle Schande, ein politischer Wahn, wie ihn
"Hohmann"-Typen pflegen, mit ihren Relavtivierungen der
faschistischen Politik, in der nationalistischen oder
antisemitischen Pointierung; eine psychopolitische
Entlastungspropaganda, die partiell "verständlich" wird,
wenn man diesen Herrn und einige ihm ergebene Gesinnungsgenossen auf
einer Tagung der IEWG öffentlich hat Werbung machen hören für die
fast vergessenen Edel-Nazi-Dichter Hans Grimm und Erwin Guido
Kolbenheyer.
Zum
Stichwort "Massenmord" gibt es von E.W. eine weitere
erstaunliche Feststellung. Er schrieb in seiner Autobiografie "Jahre
und Zeiten" (verf. 1945/46; veröff.
Zürich 1949) folgendes über den
Widerstandskämpfer Walter Husemann (den E.W. während seiner
Haftzeit im KZ Buchenwald kennen gelernt hatte): "Bei ihm sah
ich die heimlich gemachten Filme von den Massenermordungen der Juden
in Russland, und ich warnte ihn davor, sie im Hause zu behalten.
Aber er war unverwundbar in seiner Seele." (SW. 9, 683). Die
Besuche müssen zwischen 1938 und 1942 stattgefunden haben;
Husemann war nach der Verhaftung 1936 für zwei Jahre in Buchenwald;
wurde Sept. 1942 wieder verhaftet und am 13. Mai 1943 hingerichtet.
- Die Erwähnung dieser Verbrechen der SS, häufig in Zusammenarbeit
mit der Wehrmacht, war 1946/49 unbestritten; sie geschieht bei E.W.
ja auch nicht anlässlich eines äußeren Ereignisses, vergleichbar
der Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht" in unseren
Tagen. -
E.W.
erklärt den Suizid also psychologisch,
nicht abwehrend-unbeteiligt als
zufällige oder getrieben böse Schuld: Er glaubt, in den Worten
und mit der Empathie der Hauptfigur, dass es einen konkreten Anlass für
ihn gibt - und Umstände (der Tat, der Zeit, des sozialen Kontextes,
der gesellschaftlichen Umgebung), die als schuldige Faktoren
benennbar und anklagbar sind.
Die Baumscheibe der Goethe-Buche in Buchenwald; die Ernst Wiechert
noch erlebte in seinem KZ-Aufenthalt .
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