Freitag, 28. Februar 2020

Ein Brief von M ö r i k e (?)

Ein Angebot für treues Lesen und ein posthumes Bisschen wissenschaftliche Beschäftigung:

Ein vielleicht letzter, bisher unbekannter Mörike-Brief, der nicht in der großen Marbacher Ausgabe der „Werke und Briefe“ steht, die die Brief-Bände abgeschlossen hat… - ist erst kürzlich aufgetaucht:
Als Datum ist genannt 13. Juni; Jahreszahl und Ort aber sind nicht angegeben. Angeredet sind sicherlich die Hartlaubs.
Es gibt eine Anspielungen auf Zeit und Ort, auf Gegebenheiten und Kontext, z.B. auf Wermutshausen; andererseits spricht Mörike von der „Aussicht aus großer Höhe“, was für Wermutshausen im Flachland nicht passen mag.

Veröffentlicht wurde der Brief von Professor Hermann Bausinger, Reutlingen; im „Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft“. Band. LII. 2008. Wallstein Verlag Göttingen. 2008. S. 684ff.


Hier der Brief  Eduard  M ö r i k e s:

Herzliebe Freunde,

es scheint unverantwortlich und unbegreiflich, daß ich so lange kein Wort des Danks gefunden, und wahrlich ich könnt diesen ganzen Brief mit dem Pater peccavi füllen. Lang haben die widrigsten Umstände meinerseits eine gemüt­liche Mitteilung nicht aufkommen lassen, doch hat es auch ruhige Tage gegeben - wenn man sich nur nicht selber im Wege war! Aber das Paket, das schon vor einer Woche angekommen, bringt mich nun endlich dazu, mein epistolarisches Dintenfaß aufzurühren und meinen >armen Dank< zu übersenden. Ihr dürft mir's glauben, so schön die Aussicht von hier oben auf das Gewimmel drunten ist, greift einem doch mehr ans Herz, was man an Nachrichten von guten alten Freunden erhält.
Und was seid Ihr für herzgute Leute! Ihr müßt denken, daß wir in unserem Wehmutshausen Hungers leiden, so reichlich ist der Proviant, den Ihr uns zuge­dacht; aber ich muß gestehen, daß mich alles in der Seele gefreut hat - auch das herrliche Confect und der türkische Tabak zumal, ein trefflich Geräuch, auch wenn das Rauchen hier nicht mehr so gern gesehen ist. Aber was denkt Ihr, wenn ich Euch auf den Kopf zu sage, daß ich in der Zwischenzeit ein Paket bei kommen habe, das Eures noch übertrifft - und Ihr werdet mir, ich weiß es, nicht gram sein über den Vergleich.
Gestern morgen flattert mir aus einer geistlichen Blumenlese, die ich lange nicht mehr in der Hand gehabt, ein Zettelchen entgegen mit einem Verslein, das unsere Kleinen gerne aufgesagt haben:

Weißt Du auch, wo Stugart liegt,
Stugart liegt im Thale,
Wo's so schöne Mädle giebt,
Aber so brutale.

Der so un-weihnachtliche Vers ist mir oft durch den Kopf gegangen, obwohl in meinen Klassen im Katharinenstift recht liebenswerte Geschöpfe saßen. Vielleicht habe ich mit dem Vers meine Abneigung gegen das oft allzu laute Getriebe dieser Stadt festgehalten.
Gestern aber kam nun just aus dieser Stadt, aus Stuttgart, eine Sendung, wie sie merkwürdiger und erfreulicher nicht hätte sein können. Von einem Stuttgarter Verleger kam eine Riesenschachtel, die der Fuhrknecht den verschneiten Weg entlang auf dem Buckel hereinschleppte und mit meiner Hülfe auf dem Sofa absetzte. Ich gab ihm ein großes Trinkgeld, unsicher, ob es durch den Inhalt aufgewogen würde; aber wie staunte ich, als in dem Packen elf dicke Bände, vornehm in Leinen ge­bunden, aufgeschichtet waren; und ich erstaunte noch mehr, als ich meinen Na­men auf dem Titel las: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Ich hätte mir zwar den minder anspruchsvollen Ausdruck Schriften statt Werke gewünscht; aber nichts konnte mir erwünschter seyn als meine Schriften in einer so sichern Hut unter­gebracht zu sehn, und Ihr könnt Euch Vorstellen, wie's mich in freudvoller Überraschung traf, hier alle meine Sachen schön gedruckt vor mir zu haben, auch solche, für die ich seinerzeit keinen Verleger suchte oder fand.

Was mir in dem Paket zuging, waren die Briefe, alle meine Briefe, von den al­lerersten an die Geschwister bis zu den letzten, die ich der Schwester nur noch mühsam diktieren konnte. Bisher hab ich nur da und dort herumgefischt und manch schöne Erinnerung an gute Freunde gefunden, habe auch mit Befriedigung bemerkt, daß ich beim Schreiben der Briefe die poetische Phantasie nicht grundsätzlich an die Kette gelegt habe. Freilich war ich, offen gestanden, ein wenig kon­sterniert, wie viel Dinte man doch verbraucht für Nichtigkeiten wie Bitten, Mah­nungen, leere Höflichkeiten. Könnte man die Briefe in Stücke tranchieren und nach ihren Inhalten ordnen, so wäre gewiß mindestens ein Band mit dem Titel Entschuldigung zustande gekommen; mit einer Mischung aus Scham und Über­mut habe ich bemerkt, daß meine Gründe für das non scripsisse sich verdächtig wiederholen und daß ich mit schöner Regelmäßigkeit behauptet habe, ich hätte eigentlich alsbald zur Feder greifen wollen, nachdem ich aber zunächst gehindert worden, sei mir die Antwort immer schwerer gefallen. Und so vergnüglich es ist, in die vertrauliche Wärme vergangener Herzensbeziehungen einzutauchen - es ist auch höchst merkwürdig für mich, ganz ähnliche Liebesbekenntnisse an ver­schiedene Personen nun nebeneinander vorzufinden.

Direkt nebeneinander stehen sie glücklicherweise nicht, da die Editoren allen Fleiß und allen Scharfsinn aufgewendet haben, um die Briefe in die richtige chronologische Folge zu bringen. Und nicht nur dies: Sie haben zu jedem der Briefe einen Kommentar verfaßt, der oft mehr als doppelt so lang ist wie der Text. Es gibt eine besondere Klammer für Niederschriften, von denen sie anneh­men, ich hätte sie nur versehentlich nicht getilgt - hätte ich's zu entscheiden gehabt, wäre diese Rubrik bestimmt größer ausgefallen, und manchmal kom­men mich Zweifel an, ob ich nicht all mein Geschriebenes versehentlich nicht getilgt habe. Die Herausgeber spüren bei jeder Äußerung der Situation nach, in der sie entstanden, geben Hinweise auf Personen und Namen, erklären inzwi­schen veraltete Wendungen und suchen für jeden dunkleren Satz eine Erklä­rung - ich muß gestehen, daß es mich geradezu beruhigt, daß ab und zu ver­merkt ist: Unbekannter Sachverhalt. Ich sage dann laut vor mich hin, was da steht, zum Beispiel: Der Schneider ist doch ein Erz-Schmauder daß er ein Art von Öhringer Dozsch in mir besorgt - und freue mich, daß ich das den Dutzenden auf mich wie in einer Treibjagd angesetzten Gelehrten zum Trotz für mich be­halten darf.
Was mich aber am meisten fasziniert, ist der alle Vorstellungen und banalen Erwartungen übertreffende Ordnungssinn, mit dem hier gesammelt, sortiert und erklärt wurde. Wenn ich etwas verlegt hatte - nicht nach Jahrzehnten, son­dern schon nach Tagen oder Stunden - war immer das tröstliche Sprichwort meiner Frau: »Das Haus verliert nichts«; aber wiedergefunden wurde es immer nur aus Zufall. Hier dagegen, in diesen Bänden, bleibt nichts ungeordnet und unbemerkt; wenn mein Joli über einen Brief getappt ist und ein paar Buchstaben verwischt hat, findet sich bestimmt eine kluge Reflexion zu den besonderen Lesarten, die daraus scheinbar entstanden sind; und kaum ein Brief dürfte unentdeckt geblieben sein. Ordnungssinn bringt die Dinge, und sei's nach Jahren und in elf Bänden, zu einem Ende; für mich, ich gestehe es, blieb selten etwas am angestammten Platz, für mich war Ordnung eine unendliche Geschichte.
Doch nun genug. Ich hoffe, Ihr könnt Euch bald selbst den einen oder andern Band besorgen. Ich sende tausend Grüße an Euch alle und bleibe dankbar

Euer getreuer Eduard Mörike.


[Ende des zitierten Briefes von Eduard Mörikes]

*

Wer mag mitlesen und mit nachdenken bei diesem kryptischen Brief, der kaum Reales enthält?

**

Z. Zt. mögliche Anmerkungen:
„Joli“ ist Mörikes Hund, ein Spitz

Der Schneider ist doch ein Erz-Schmauder daß er ein Art von Öhringer Dozsch in mir besorgt.“ – Der Satz gleicht einer Wendung (im Brief vom 2. Mai 1843): „Der SCHMAUDER ist doch ein Erz-Schmauder daß er ein Art von Öhringer Dözsch in mir besorgt.“
„ErzSchmauder“ oder Erz-Schmauler:
Abgeleitet von SCHMAUDELN, SCHMAUELN, verb. bairisch schmaunln, schmu'ln, schwäb. schmulen, schmuelen, schmeicheln, streicheln SCHM.2 2, 541, wo schmunzeln, schmotzen, schmutzen verglichen werden. (GWb)

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