Ein Angebot für treues Lesen und ein
posthumes Bisschen wissenschaftliche Beschäftigung:
Ein
vielleicht letzter, bisher unbekannter Mörike-Brief, der nicht in
der großen Marbacher Ausgabe der „Werke und Briefe“ steht, die
die Brief-Bände abgeschlossen hat… - ist erst kürzlich
aufgetaucht:
Als
Datum ist genannt 13. Juni; Jahreszahl und Ort aber sind nicht
angegeben. Angeredet sind sicherlich die Hartlaubs.
Es
gibt eine Anspielungen auf Zeit und Ort, auf Gegebenheiten und
Kontext, z.B. auf Wermutshausen; andererseits spricht Mörike von
der „Aussicht aus großer Höhe“, was für Wermutshausen im
Flachland nicht passen mag.
Veröffentlicht
wurde der Brief von Professor Hermann Bausinger, Reutlingen; im
„Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft“. Band. LII. 2008.
Wallstein Verlag Göttingen. 2008. S. 684ff.
Hier
der Brief Eduard M ö r i k e s:
Herzliebe
Freunde,
es
scheint unverantwortlich und unbegreiflich, daß ich so lange kein
Wort des Danks gefunden, und wahrlich ich könnt diesen ganzen Brief
mit dem Pater peccavi füllen. Lang haben die widrigsten Umstände
meinerseits eine gemütliche Mitteilung nicht aufkommen lassen,
doch hat es auch ruhige Tage gegeben - wenn man sich nur nicht selber
im Wege war! Aber das Paket, das schon vor einer Woche angekommen,
bringt mich nun endlich dazu, mein epistolarisches Dintenfaß
aufzurühren und meinen >armen Dank< zu übersenden. Ihr dürft
mir's glauben, so schön die Aussicht von hier oben auf das Gewimmel
drunten ist, greift einem doch mehr ans Herz, was man an Nachrichten
von guten alten Freunden erhält.
Und
was seid Ihr für herzgute Leute! Ihr müßt denken, daß wir in
unserem Wehmutshausen Hungers leiden, so reichlich ist der Proviant,
den Ihr uns zugedacht; aber ich muß gestehen, daß mich alles
in der Seele gefreut hat - auch das herrliche Confect und der
türkische Tabak zumal, ein trefflich Geräuch, auch wenn das Rauchen
hier nicht mehr so gern gesehen ist. Aber was denkt Ihr, wenn ich
Euch auf den Kopf zu sage, daß ich in der Zwischenzeit ein Paket bei
kommen habe, das Eures noch übertrifft - und Ihr werdet mir, ich
weiß es, nicht gram sein über den Vergleich.
Gestern
morgen flattert mir aus einer geistlichen Blumenlese, die ich lange
nicht mehr in der Hand gehabt, ein Zettelchen entgegen mit einem
Verslein, das unsere Kleinen gerne aufgesagt haben:
Weißt Du auch, wo Stugart liegt,
Stugart liegt im Thale,
Wo's so schöne Mädle giebt,
Aber so brutale.
Der
so un-weihnachtliche Vers ist mir oft durch den Kopf gegangen, obwohl
in meinen Klassen im Katharinenstift recht liebenswerte Geschöpfe
saßen. Vielleicht habe ich mit dem Vers meine Abneigung gegen das
oft allzu laute Getriebe dieser Stadt festgehalten.
Gestern
aber kam nun just aus dieser Stadt, aus Stuttgart, eine Sendung, wie
sie merkwürdiger und erfreulicher nicht hätte sein können. Von
einem Stuttgarter Verleger kam eine
Riesenschachtel, die der Fuhrknecht den verschneiten Weg entlang auf
dem Buckel hereinschleppte und mit meiner Hülfe auf dem Sofa
absetzte. Ich gab ihm ein großes Trinkgeld, unsicher, ob es durch
den Inhalt aufgewogen würde; aber wie staunte ich, als in dem Packen
elf dicke Bände, vornehm in Leinen gebunden, aufgeschichtet
waren; und ich erstaunte noch mehr, als ich meinen Namen auf dem
Titel las: Eduard Mörike, Werke und
Briefe. Ich hätte mir zwar den
minder anspruchsvollen Ausdruck Schriften statt Werke gewünscht;
aber nichts konnte mir erwünschter seyn als meine Schriften in einer
so sichern Hut untergebracht zu sehn, und Ihr könnt Euch
Vorstellen, wie's mich in freudvoller Überraschung traf, hier alle
meine Sachen schön gedruckt vor mir zu haben, auch solche, für die
ich seinerzeit keinen Verleger suchte oder fand.
Was
mir in dem Paket zuging, waren die Briefe, alle meine Briefe, von den
allerersten an die Geschwister bis zu den letzten, die ich der
Schwester nur noch mühsam diktieren konnte. Bisher hab ich nur da
und dort herumgefischt und manch schöne Erinnerung an gute Freunde
gefunden, habe auch mit Befriedigung bemerkt, daß ich beim Schreiben
der Briefe die poetische Phantasie nicht grundsätzlich an die Kette
gelegt habe. Freilich war ich, offen gestanden, ein wenig
konsterniert, wie viel Dinte man doch verbraucht für
Nichtigkeiten wie Bitten, Mahnungen, leere Höflichkeiten.
Könnte man die Briefe in Stücke tranchieren und nach ihren Inhalten
ordnen, so wäre gewiß mindestens ein Band mit dem Titel
Entschuldigung zustande
gekommen; mit einer Mischung aus Scham und Übermut habe ich
bemerkt, daß meine Gründe für das non scripsisse sich verdächtig
wiederholen und daß ich mit schöner Regelmäßigkeit behauptet
habe, ich hätte eigentlich alsbald zur Feder greifen wollen, nachdem
ich aber zunächst gehindert worden, sei mir die Antwort immer
schwerer gefallen. Und so vergnüglich es ist, in die vertrauliche
Wärme vergangener Herzensbeziehungen einzutauchen - es ist auch
höchst merkwürdig für mich, ganz ähnliche Liebesbekenntnisse an
verschiedene Personen nun nebeneinander vorzufinden.
Direkt
nebeneinander stehen sie glücklicherweise nicht, da die Editoren
allen Fleiß und allen Scharfsinn aufgewendet haben, um die Briefe in
die richtige chronologische Folge zu bringen. Und nicht nur dies: Sie
haben zu jedem der Briefe einen Kommentar verfaßt, der oft mehr als
doppelt so lang ist wie der Text. Es gibt eine besondere Klammer für
Niederschriften, von denen sie annehmen, ich hätte sie nur
versehentlich nicht getilgt - hätte ich's zu entscheiden gehabt,
wäre diese Rubrik bestimmt größer ausgefallen, und manchmal
kommen mich Zweifel an, ob ich nicht all mein Geschriebenes
versehentlich nicht getilgt habe. Die Herausgeber spüren bei jeder
Äußerung der Situation nach, in der sie entstanden, geben Hinweise
auf Personen und Namen, erklären inzwischen veraltete Wendungen
und suchen für jeden dunkleren Satz eine Erklärung - ich muß
gestehen, daß es mich geradezu beruhigt, daß ab und zu vermerkt
ist: Unbekannter Sachverhalt. Ich
sage dann laut vor mich hin, was da steht, zum Beispiel: Der
Schneider ist doch ein Erz-Schmauder daß er ein Art von Öhringer
Dozsch in mir besorgt - und freue
mich, daß ich das den Dutzenden auf mich wie in einer Treibjagd
angesetzten Gelehrten zum Trotz für mich behalten darf.
Was
mich aber am meisten fasziniert, ist der alle Vorstellungen und
banalen Erwartungen übertreffende Ordnungssinn, mit dem hier
gesammelt, sortiert und erklärt wurde. Wenn ich etwas verlegt hatte
- nicht nach Jahrzehnten, sondern schon nach Tagen oder Stunden
- war immer das tröstliche Sprichwort meiner Frau: »Das Haus
verliert nichts«; aber wiedergefunden wurde es immer nur aus Zufall.
Hier dagegen, in diesen Bänden, bleibt nichts ungeordnet und
unbemerkt; wenn mein Joli über einen Brief getappt ist und ein paar
Buchstaben verwischt hat, findet sich bestimmt eine kluge Reflexion
zu den besonderen Lesarten, die daraus scheinbar entstanden sind; und
kaum ein Brief dürfte unentdeckt geblieben sein. Ordnungssinn bringt
die Dinge, und sei's nach Jahren und in elf Bänden, zu einem Ende;
für mich, ich gestehe es, blieb selten etwas am angestammten Platz,
für mich war Ordnung eine unendliche Geschichte.
Doch
nun genug. Ich hoffe, Ihr könnt Euch bald selbst den einen oder
andern Band besorgen. Ich sende tausend Grüße an Euch alle und
bleibe dankbar
Euer getreuer Eduard Mörike.
[Ende
des zitierten Briefes von Eduard Mörikes]
*
Wer
mag mitlesen und mit nachdenken bei diesem kryptischen Brief, der
kaum Reales enthält?
**
Z.
Zt. mögliche Anmerkungen:
„Joli“
ist Mörikes Hund, ein Spitz
„Der
Schneider ist doch ein Erz-Schmauder daß er ein Art von Öhringer
Dozsch in mir besorgt.“ – Der Satz gleicht einer Wendung (im
Brief vom 2. Mai 1843): „Der SCHMAUDER ist doch ein Erz-Schmauder
daß er ein Art von Öhringer Dözsch
in mir besorgt.“
„ErzSchmauder“
oder Erz-Schmauler:
Abgeleitet
von SCHMAUDELN, SCHMAUELN, verb.
bairisch schmaunln, schmu'ln, schwäb. schmulen,
schmuelen, schmeicheln, streicheln SCHM.2
2, 541, wo schmunzeln, schmotzen, schmutzen verglichen
werden. (GWb)
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