Donnerstag, 23. Januar 2020

Edurd Mörike: Jubiläum 2004

                                         - Der Wetterhahn, vom Cleversulzbarer Kirchturm, graf. verändert -


Dieser Aufsatz ist mir - und meinem MörikeGeschmack - ein Lieblingsessay aus dem Jahre 2004. Noch immer gut genug, um hier ausgehoben zu werden. -

Jürgen Wertheimer:

- "O Eduard, was ist aus mir geworden"

Neo-biedermeierliche Nostalgiker entdecken im Werk des Jubilars Eduard Mörike ein zauberfadengeheftetes Lustobjekt für lyrische Weihestunden. Warum bloß?
(Ursprünglich in Literaturen 07-2004. S. 50f.)

Eduard Mörikes 200. Geburtstag könnte gar nicht besser terminiert sein: Deutsches Biedermeier und die neue deutsche Lust an der Milde reichen einander mit höflicher Verbeugung die Hände; selten ein Jubiläum, das auf eine solch bereitwillige Öffentlichkeit getroffen wäre wie dieses. Und das nicht trotz, sondern wegen der Biederkeit des Sujets.
Grillparzer, Büchner, Heine, Lenz, alles schön und gut. Aber keiner, der derzeit in solch rührselig-bemühter Verklärung beweihräuchert würde wie der Ludwigsburger Theologe, Pfarrer, Vikar, Bibliothekar und Lyriker Eduard Mörike. Zugegeben – er selbst «tümelt nicht». Weder deutsch noch teutsch noch sonstwie. Und hinter all der Idyllik lauern auch in seinem Fall, wie denn auch anders, Ängste, Verwerfungen, Spannungen. Doch dass man ob dieser neueren Erkenntnis in schwärmerische Verzückung gerät und blauäugig aufs blaue Band glotzt, das durch laue Lüfte weht, ist eine andere Geschichte: Da brennt es in der halben Welt, die Globalisierer ziehen dem Sozialstaat das Fell über die Ohren, und wir dudeln Mörike-Verslein. Etwa: «Am Samstag muß ein Pfarrer fein / Daheim in seiner Klause sein.» Oder: «Jetzt ist der liebe Sonntag da. / Es läut’t zur Kirchen fern und nah.»
Allenthalben macht sich die Tendenz breit, den Schein-Idylliker zum Psychologen des Unwirklichen, zum psychischen Grenzgänger, Abgrund-Erspürer und Todessehnsüchtigen umzufrisieren, ja, diesen sogar als den eigentlichen, den tief-sinnigen Mörike zu lesen. Was anderswo nur nachempfundener Talmi war – hier wird es zum Reflex auf bitter Selbst-Erfahrenes erklärt. Und schon zucken auch erste Abwehrfeuer gegen den brillanten Heine und den Titanen Jean Paul, nach dem Motto: «Seht, das Kleine liegt so nah».
Alles bei Mörike sei hinreißend schön, «zauberfadengeheftet», poetische Landschaftsmalerei, wie «kein anderes Jahrhundert sie schöner hervorgebracht hat», säuselt die Germanisten-Autorität Helmut Koopmann, und so schwärmen sie alle dahin: im Stil des geliebten 19. Jahrhunderts. Man hat den Eindruck, man wachse in die Welt wehmütig lächelnder Weisheit und gebildet-gedämpfter Empfindungsreste zurück. Auf Isolde Kurz wird verwiesen und ihr schmerzlich-schönes Bild vom schwäbischen Landpfarrer mit den etwas schlaffen Zügen und den gräulichen Falten, die jedoch nur eine Maske seien, hinter der sich «ein feiner, jugendlicher Griechenkopf oder ein lächelnder Ariel verberge». Und so immer fort.

Der Seminarist und seine «Dark Lady»
So taucht denn Mörikes bebrilltes Poesiebeamtengesicht derzeit landauf landab, meist blassblau getönt, in Parteienwerbungsdichte auf und thront über Kolloquien, lyrischen Abenden, elegischen Feierstunden, kuriosen Ausstellungen und liebevoll arrangierten Lesungen. Ob Tübingen, Urach, Schwäbisch Gmünd oder Cleversulzbach – kaum ein Stift, eine Pfarrei, ein Friedhof, ein Kloster, wo nicht in historischem Ambiente von gediegenen Mimen, ernst und besinnlich, manchmal auch ein klein wenig heiter oder sogar ein bisschen frivol, Mörike zur Verlesung und Vertonung käme: «Wer sich die Musik erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen …» Und dann sitzen sie da, mit diesem gewissen Lyrikblick zwischen sanfter Betroffenheit und passiver Ergebenheit, in hellen Scharen, und lauschen andachtsvoll den Weihestunden neo-biedermeierlicher Nostalgie.
Hölderlin wäre derzeit viel zu anstrengend, den müsste man erst zum romantischen Mythos umdichten. Mörike dagegen ist bereits sanft domestiziert: zur Zauberformel für Poesie ohne Risiko, Milde mit Tiefgang, tiefgläubigen Agnostizismus. Und wenn dann noch ein melancholisch gedimmtes Leben dazukommt … Von ganz fern kann man bisweilen das garstige Donnergrollen der französischen Juli-Revolution ahnungsvoll erlauschen. Freunde werden verhaftet. Eduard dichtet, das Herz voll «Sehnsucht nach Liebe, nach Poesie».
Eine rechtzeitig zum Fest erschienene Monografie meldet treuherzig: «Es wurde Eduard immer klarer, was seine eigentliche Bestimmung war: Ein kleines Haus, ein Dorf, eine Wiese dahinter – und dichten, ohne durch irgendetwas eingeengt zu sein.» Das liest man in Christa Schmid-Lotz’ Mörike-Biografie, die mit dem Untertitel «Ein Leben auf der Flucht» in diesem Jahr erschienen ist und nach Buchhändlerauskunft «ganz gut geht». Mit seiner wissenschaftlich aufgemachten Soap-Dokumentation – erschienen immerhin im renommierten Verlag C. H. Beck – steht der Augsburger Literaturprofessor Mathias Mayer ganz vorne in der Hitliste der Mörike-Biografien, wenn er verspricht, tollkühn den Schleier des Geheimnisses zu lüften, der über den fünf «Peregrina»-Gedichten liegt: Der 18-jährige Seminarist und die «Dark Lady» der deutschen Literatur! Im Ton zwischen Kolportage und Moritat verheißt der Klappentext : «Die Geschichte der abgründigen Liebe des gerade 18-jährigen Eduard M. zur erfahrenen Maria Meyer, einer geheim­nisvollen, zigeunerhaften Mignon-Gestalt.»
«O Eduard, was ist aus mir geworden / Der Einklang stob in wirrenden Accorden», tönt ein Gedicht des dritten Partners dieses schwäbischen Liebes-Terzetts. Absurderweise müssen immer wieder Shakespeares Sonette den Vergleich mit den «Peregrina»-Gedichten erdulden, was letztlich nur eine Aussage über den erbärmlichen Zustand der Literaturkritik ist: Fünf Gedichtchen gelingt der Durchbruch in die «Weltliteratur». Dunkle Schatten über dunkler Liebe, melancholisch verschlucktes Schluchzen («Zuletzt brach ich in lautes Schluchzen aus, / Und Hand in Hand verließen wir das Haus») und dann die tragische Schluss-Sequenz: «Doch weh! o weh! Was soll mir dieser Blick? / Sie kehrt sich ab und kehrt nie mehr zurück.»

Der Meisterdichter des «Ein bisschen»
Tatsächlich erstaunlich, wie es diesem Minimalisten der Begabung gelang, als einer der ganz Großen, an dem man nicht nur nicht vorbeikommt, sondern den man lieben muss, gehandelt und jetzt auch gefeiert zu werden. Vielleicht ja wirklich nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Defizite. Wie charakterisiert Mörike-Apologet Mayer seinen Helden so schön? Als einen, «der immer mit seiner Wahrheit hinterm Berg hält».
Und dazu kommt von allem eine Prise: deutsche Idyllik und internationaler Weltschmerz, klassische Anakreontik und etwas Antike, Hölderlins Höhen und Jean Pauls Witz, Heines Frotzeleien und Lewis Carrolls Absurditäten, E. T. A. Hoffmanns Mozart-Magie – wenn es je den Vertreter einer Poetik des «Ein bisschen» gegeben haben sollte: Mörike war es. Und genau darum feiern wir ihn heute so vehement, und eben nicht nur ein bisschen. Da ist ein schmerzliches Sich-Wiedererkennen im verkleisterten Riss durch die Welt, ein Vordenker und Wiedergänger der Halbheit. Selbst die Mörike seit Peter Härtling immer wieder zugesprochene «Unbehaustheit» ist auf bekömmliches Regionalformat zurechtgestutzt.
Natürlich dürfen wir ihn, den angeblich «irrwitzig Mäandernden», gegenwärtig auch immer wieder an die authentischen Stätten seiner Wanderschaft begleiten. Hier sein niedliches rotes Husarenjäckchen, dort ein Holzklötzchen an seinem Schultischlein; ein bisschen Hölderlin, den er, natürlich wehmütig-kitschig, idyllisierte und dessen Nachlass er waschkorbweise beseitigen ließ. Und weiter geht’s: Möhringen, Nürtingen, Esslingen, hier ein bisschen Vikar, dort ein bisschen Verlobter, Owen, Ochsenwang, Öthingen; am «Maler Nolten» wird geschrieben (ein Preis für den, der diesen Roman je wirklich durchgelesen, durchgestanden hat).
Und endlich Cleversulzbach, der magische Ort mit dem magischen Turmhahn: «Mein alt praßhafter1
Leib schier brach / Da er mit mir fuhr ab dem Dach …» Ein blendender Beginn, doch dann verplätschert das Ganze didaktisch-melancholisch, sechs Seiten lang. Schließlich Stuttgart, Winsheim, Wermutshausen – «Mit Mörike von Ort zu Ort», heißt ein erfolgreiches Bilderbüchlein zum Festtag.
«No nix forciere!»
Stets auf Reisen, nie weg von zu Haus – auch hierin scheint Meister Mörike ein gegenwartstaugliches Vorbild zu sein. So etwas wie politisches Exil – für Heinrich Heine unausweichlich – scheint für den notorischen Für-sich-Behalter ja ohnehin nie zur Diskussion gestanden zu haben. Obwohl da bis in die fünfziger Jahre ein bisschen Politik durchaus vorkam, Veronika Beci und Ehrenfried Kluckert haben es in ihren aufwändigen Biografien, wie die Buchbinden stolz verkünden, detailliert dargestellt.
Für alle, die in dieser rauen Welt innehalten wollen, gilt wohl nach wie vor der vom «innerlich exilierten» Dichter Albrecht Goes 1938 kolportierte Leitspruch dieses «Mo­zart der deutschen Sprache» und Knüpfers eines lyrischen «Flors aus zartem Goldgespinst» (Th. Vischer): Mörikes Wahlspruch «No nix forciere!»
Eine böswillige Verzerrung? Nein. Mörike hat eine Hand voll guter Gedichte geschrieben. Kein Grund, sentimental zu werden und nun partout einen ganz Großen entdecken zu wollen. Große Literatur zeichnet sich dadurch aus, dass sie Verwerfungen der Zeit, der Gesellschaft, des Individuums zur Kenntlichkeit bringt, nicht sie verbirgt oder abflacht. Und Mörike ist fast immer ein wenig zu früh vor dem, was er eigentlich hätte schreiben wollen oder können, zurückgeschreckt. Vielleicht eine Folge seiner Lebensform, auf halbem Wege zwischen Kleriker und Agnostiker. So bleibt er: fast ein Poet. «Ein Tännlein grünet wo, / Wer weiß, im Walde / Erlesen schon / Denk es, o Seele / Auf deinem Grab zu wurzeln / Und zu wachsen.»



Jürgen Wertheimer ist Professor für Literaturwissenschaften in Tübin­gen und Herausgeber der Tübinger Celan-Ausgabe. Zuletzt ver­öffent­lichte er «Strategien der Verdummung. Die Infantilisierung in der Fungesellschaft» und «Krieg der Wörter. Die Kulturkonfliktslügen».

Bücher zum Mörike-Jubiläum (2004)
Udo Quak
Reines Gold der Phantasie. Eduard Mörike. Eine Biographie
Aufbau TB, Berlin 2004. 292 S., 9,95 €
Christa Schmid-Lotz
Eduard Mörike. Ein Leben auf der Flucht
Ernst Kaufmann, Lahr 2004. 144 S., 16,95 €
Veronika Beci
Eduard Mörike. Die gestörte Idylle. Biographie
Artemis & Winkler, Düsseldorf 2004. 420 S., 26 €
Mathias Mayer
Mörike und Peregrina. Geheimnis einer Liebe
C. H. Beck, München 2004. 254 S., 16,90 €
Ehrenfried Kluckert
Eduard Mörike. Sein Leben und sein Werk
DuMont, Köln 2004. 304 S., 24,90 €
Irene Ferchl, Wilfried Setzler
Mit Mörike von Ort zu Ort. Lebensstationen des Dichters in Baden-Württemberg
Silberburg, Tübingen 2004. 320 S., 22,90 €
Helmut Koopmann (Hg.)
Eduard Mörike. Gelassen stieg die Nacht ans Land. Erzählungen und Gedichte
Artemis & Winkler, Düsseldorf 2004. 334 S., 24,90 €
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Die Literaturliste muss man verlängern; den kleinen Essay möchte ich zu meinen Lieblingsaufsätzchen ad MÖRIKE rechnen:

1] preßthafter (…) / bresthafter (…) muss man wohl ergänzen aus dem Gedicht (3. Str.)

                                          Radierung Mörikes...: spasshaft, kritisch, grotesk.
Wertheimer: zm Autor: 
 

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