Sonntag, 8. Januar 2012

Von einer "F ü r s t e n a b f i n d u n g"











Sprach - GeLüsten

- Kapitel II –


Kurt Tucholsky:

Fürstenabfindung





Im Kriege stand in Berlin ein Blinden-Lazarett, in dem lagen die unglücklichsten der Soldaten. Das besuchte von Zeit zu Zeit die Frau eines Hohenzollernprinzen, huldvoll lächelnd und stramm begrüßt von den klirrenden Stabsärzten. Die hohe Frau ging von Bett zu Bett und richtete Ansprachen an die Blinden. Gut, und was noch –? Sie verteilte. Nämlich –?
Ihre Fotografie mit Unterschrift.

Verlorenes Augenlicht kann nicht wiederkommen. Aber wenn das deutsche Volk noch einen Funken Verstand hat, dann gibt es für die blinden Kameraden eine andre kleine Ansichtskarte mit Unterschrift ab: einen Stimmzettel.

Als Dank, Quittung und Anerkennung für ein taktvolles Fürstenhaus.

*

KT als Ignaz Wrobel, in der "Weltbühne" vom 06.04.1926, Nr. 14, S. 552 - so versuchte KT das soziale Nirwana in einem Stück Papier aufblitzen zu lassen, zur Durchleuchtung von pseudokratischen, fürstlichen Ansprüchen und demokratischen Spielregeln..

Anmerkungen:

• Die kurze und höfliche Aufforderung zu einer parlamentarischen Arbeit und Klärung einer Jahrhundertaufgabe kann nur ermessen, wer die Umstände nachliest: KT: Gesamtausgabe Texte und Briefe. Bd. 8. S. 199. (Der Abdruck hier wurde korrigiert nach dieser schriftlichen Fassung.)

• Die „Frau des Hohenzollernprinzen“ war die Frau des Kronprinz Wilhelm Friedrich, Cecilie von Mecklenburg-Schwerin. [Auskunft KT: GTB. D. 8. S. 698]

Das Fürstenvolk im Deutschen Reich wagte es noch lange Jahre sich so zu präsentieren - nach der jahrhundertlangen Ausbeutung, Versklavung und Verdingung der Arbeiter zu Tagelöhnerei oder Arbeitslosigkeit. Von deren Schicksal wusste ein KT mehr als ein Lied - auch fürs Kabarett - zu singen:


Kurt Tucholsky:
Arbeit für Arbeitslose

Herrn Ebermayer zur Beschlagnahme
freundlich empfohlen

Stellung suchen Tag für Tag,
aber keine kriegen.
Wer kein Obdach hat, der mag
auf der Straße liegen.
Sauf doch Wasser für den Durst!
Spuck aufs Brot – dann hast du Wurst!
Und der Wind pfeift durch die Hose –
Arbeitslose.
Arbeitslose.

Schaffen wollen – und nur sehn,
wie Betriebe schließen.
Zähneknirschend müßig gehn ...
Bleib du nicht am Reichstag stehn –!
Geßler läßt was schießen.
Zahl den Fürsten Müßiggang;
Friere nachts auf deiner Bank.
Polizeiarzt. Diagnose:
Arbeitslose.
Arbeitslose.

Wart nur ab.
Es kommt die Zeit,
darfst dich wieder quälen.
Laß dir von Gerissenheit
nur nichts vorerzählen:
Klagen hilft nicht,
plagen hilft nicht,
winden nicht und schinden nicht.
Dies, Prolet, ist deine Pflicht:
Hau sie, dass die Lappen fliegen!
Hau sie bis zum Unterliegen!
Bleib dir treu.
Die Klasse hält
einig gegen eine Welt.
Auf dem Schiff der neuen Zeit,
auf dem Schiff der Zukunft seid
ihr Soldaten! Ihr Matrosen!
Ihr – die grauen Arbeitslosen!

(Theobald Tiger in Die Weltbühne, 09.03.1926, Nr. 10, S. 382)

http://www.textlog.de/cgi-bin/search/proxy.cgi?terms=Arbeit%20f%FCr%20Arbeitslose&url=http%3A%2F%2Fwww.textlog.de%2Ftucholsky-arbeitslose.html

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