Anthologie
Sprach-GeLüste
- Text IV -
Sigismund von Radecki:
PRIVATLEBEN DER VENUS VON MILO
Δις και τρις το καλον…
Sie war anfangs eine glutflüssige Masse von Kalziumkarbonat. Und zugleich eine Idee, die irgendwo außer Zeit und Raum „weste“. Eines Tages kristallisiert die Glutmasse zu Marmor, unter ungeheurer Dampfentwicklung. Darauf vergehen Millionen Jahre, was für Kristalle und Ideen gar nicht langweilig ist, sondern vorüberschwebt wie ein moment musical ...
Darauf kommt ein Grieche, gewahrt den Stein und schaut in ihm den einen Körper, den er noch nie erblickte.
„So wird das Wunderbild der Venus fertig:
Ich nehme hier ein Aug', dort einen Mund,
hier eine Nase, dort der Brauen Rund.
Es wird Vergangenes mir gegenwärtig“...
Seine Idee sieht er hinausverbannt in den Marmorblock, und er bewaffnet sich mit Hammer und Meißel zum Befreiungswerk! Mit Leidenschaft bricht, splittert, und feilt er die Steinkruste vom atmenden Leibe weg, immer in der entsetzlichsten Angst, ihn zu verletzen.
Nun steht sie da. Sie wird bekränzt, angebetet, geraubt, verkauft, umgestürzt, vergessen, wieder entdeckt. Bei einem Handgemenge stürzt sie ins Meer, wird mit einer Seilwinde weiß und tropfend emporgehoben wie Aphrodite aus dem Meeresschaum, endlich unförmig mit Werg umwunden wie ein Brandverunglückter - und nach Paris geschafft. Nach Lutetia, der ville lumière, in die Stadt des Drecks und des Lichtes.
Wieder steht sie da, einsam im dunkelausgeschlagenen Eckzimmer des Louvre. Sie regt keinen Finger (sie hat ja bloß Arinstümpfe) und erzeugt dennoch fortlaufend ästhetische Diskussionen sowie Tausende kleiner Gipskinder, die von glutäugigen Straßenverkäufern auf dem Kopf getragen werden. Berühmt geworden wie Hamlet, gibt sie täglich, außer Montags, Audienz von neun bis drei. Hören wir zu:
Es erscheinen Mister Babbitt und Frau, das rote Büchel in der Hand. Beide vertiefen sich in den Baedeker und rufen a tempo: „Aoh ... Venus of Milo ...!“ Pause. Babbitt, mit einem scheuen Seitenblick auf seine Frau: „She’s great!“
(Ab)
Zwei junge Mädchen, Arm in Arm. Sie sind groß, kräftig, hübsch. Sprachlos bleiben sie stehen.
Jetzt stößt die eine die andere heimlich an: „Du, so schön sind wir auch ....
(Ab)
Ein Bildhauer und ein Schriftsteller. Zuerst genieren
sie sich, weil die Statue so bekannt ist.
Der Bildhauer (nach einer Pause): „Sehen Sie, die Zeit - das ist der gewaltigste Kunstkritiker aller Zeiten! Sie hat ihr die Arme wegkritisiert - das war es, was zur Vollkommenheit noch fehlte. Ägyptische Statuen brechen nie ab. Dieser Körper ward mit dem Stein erschaffen - er blieb; ihre Arme wurden gegen den Stein geschaffen - sie brachen ab."
Schriftsteller (im Weggehen): „Aber die Nasen brechen ja doch auch ab..."
(Ab)
Ein Abbè. Er schreitet vorsichtig, wie auf fremdem Gebiet.
Er denkt: Als sie noch angebetet wurde, damals, wohnte ein Dämon in ihr. Das bezeugen die Kirchenväter. Dieser Dämon muß das Häßlichste gewesen sein: scheußlich wie ein strahlendes Auge, dessen Lider man blutigrot zurückklappt. Aber jetzt ist sie nichts als schön! Dennoch könnte man sich vorstellen, daß diese fehlenden Arme das Jesuskind tragen? Welch eine Blasphemie ... heilige Maria, hilf! ... Aber man müßte das ganze Christentum an diesem Leibe entwickeln können.
(Ab)
Ein Maler und ein Schriftsteller.
Der Maler: „Unfaßbar, daß sie einmal bemalt gewesen ist. Parischer Marmor, leicht aquarelliert, hahat Die Venus von Milo, geschminkt, mit rosa Bäckchen!..."
Schriftsteller: „Nein, wissen Sie, ich kann mir das vorstellen. Das ist wie beim Schreiben. Stil muß natürlich Marmor sein - aber Marmor, der gerade im Begriffe steht zu erröten . . ."
Maler: „Von Literatur verstehe ich nichts. Doch das Parthenon mit koloriertem Gesimse - brrr ... !"
(Ab)
Eine Fliege. Sie kommt von den Giorgiones geflogen und setzt sich der Venus auf die Nase. Jetzt kriecht sie über die Wange zum Mundwinkel hinüber. Plötzlich bekommt das Götterantlitz eine Mouche, und sie genügt, den Körper seiner Nacktheit zu entkleiden. Er wird gepudert, galant, unanständig.
Die Fliege (mit dem Rüssel eifrig tupfend): , Ich scheine mich getäuscht zu haben. Dieser weiße Mensch ist noch nicht einmal aus Stearin. Völlig fettlos. Gut wenigstens, daß er nicht kitzlig scheint. Doch was tue ich da - gestern geboren, muß ich morgen sterben - ich habe noch zu heiraten, noch zu dinieren - und gebe mich statt dessen mit Marmor ab ... lächerlich.
Seltsam, wie hier alle Leute stehenbleiben und mich bewundern man könnte wirklich eitel werden. Halt! ich wittere ganze Berge von Käse hinter der Portiere. Muß doch mal nachsehen..."
(Ab)
Der Museumsdiener. Er würdigt die Venus keines Blickes, sondern steuert durch den Raum auf sein But
terbrot zu, das hinter der Portiere verborgen liegt. Museumsdiener (im Vorbeigehen murmelnd): olle Dicke...“
(Ab)
Ein Dichter. Er schlendert zerstreut durch den Raum, bleibt stehen und erblickt sie plötzlich.
Der Dichter: „- - Göttin! Also das ist es, was uns zur Welt bringt ... welch ein schimmerndes Gartenbeet. Mit abgebrochenen Armen steht sie da, wehrlos wie alle Schönheit - nichts mächtiger als diese marmorne Ohnmacht! Aus ihren Hüften steigt sie empor, ein kühler Stein, und doch ist nichts so köstlich Fleisch wie diese Schultern dicht an den Bruchstellen ... Aphrodite, Kind des Überflusses und der Armut, des Wassers, auf dem man verdurstet, weißer Meeresschaum! Fortpflanzung, der Sinn der Liebe? - wie öde...; ihr Sinnbild! - wie tief... Man müßte vor jedem Weib der umgekehrte Pygmalion sein: erst wenn die Pulse zu Marmor erstarren, kann ich vor ihr auf die Knie stürzen! Wenn ich jetzt auf die Knie stürze, werden die Leute lachen. Göttin ... Göttin ... sonderbares Wort: als ob das Wort Gott auf einmal Körper bekommen hätte ... was reimt sich auf Göttin? (er versucht verschiedene Reime) - merkwürdig, ich finde keinen anderen Reim als Hundsföttin, wirklich sonderbar.
(Ab)
Eine englische Gouvernante mit einem kleinen Knaben. Er lauert sanft auf Teufeleien wie ein Drahthaarterrier. Beide lieben sich und stehen in fortwährendem Kampf miteinander.
Sie treten Hand in Hand ins Audienzzimmer. Ihr hagerer Zeigefinger schnellt vor, weist auf die Armstümpfe: - „See, what comes of biting your nails!“ (Siehst du, das kommt vom Nägelkauen.)
(Ab)
Die Uhr schlägt drei. Alles geht weg. Sie ist allein. Es wird immer dunkler. Jetzt bleibt nur noch ein letztes Leuchten ihres Leibes. Und jetzt ist alles dunkel.
(Zitiert nach dem Erstdruck: S. v. R.: Alles Mögliche. Stuttgart/Berlin 1939. Rowohlt Verlag. - Mit Genehmigung der Nachlasshüterin Frau Ruth Weilandt-Mattheus. Gladbeck; nach dem Tod der vom Dichter Beauftragten liegt das © bei der Literaturkommission für Westfalen, Münster i. Westf.)
Anthologie der
SprachGelüste:
nochmals Sigimund von Radecki - Text II -
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Montag, 9. Januar 2012
PRIVATLEBEN DER V E N U S V O N M I L O
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