Montag, 16. Januar 2012

Unser aller gerechter Sheriff





ASR

Schulalltag
Story 6






Unser aller gerechter Sheriff (lebe lang)


- Dokumentarische Erzählung -


Vormittag, Alltag, Regentag, Brühwürfelmorgen für die Aktivierung des Kreislaufs! Trinkt der Vater mit seinem Sohne, aus Sympathie. Hilft den Bertrams auf die Beine.
Pitschnaß und mieskalt und schmutz- und uselig ist's! Der angenehme Effekt "des warmen Goldes", das in den Herbstferien "fließen" konnte, ist schon verblaßt.

Ein OStRat läßt sein Fahrrad im Keller, und geht zehn Minuten eher los, halb rechts die Tasche mit den Arbeiten zu Kästners "Fliegendem Klassenzimmer" in der Hand, links den Regenschirm.

Und wie die Schüler sich morgens auf die Schule zu bewegen, hat er schon lange nicht mehr beobachtet: ruhig, wie magisch dirigiert, kaum eine überflüssige Bewegung, keine Rempeleien. Keine Revolution. Kein Terror. Kein Churban.
Am Fahrradkeller ist nicht viel los. Heute fahren die Leutchen lieber mit dem Bus.
Wer sich trotzdem seine Hose auf dem Rad hat naß regnen lassen, darf sich in der ersten Stunde an die Heizung setzen.

Zuerst Deutsch in der 5 a, die Rückgabe der Arbeit; war ein Vergnügen, sie zu korrigieren; es gelingt mir, den Spaß weiterzugeben.

Dann die lausige 9, egal ob b oder c! Wo Peter es sich wieder einmal leistet, einen Beitrag eines Mädchens auszulachen. (Wie werden die Kollegen mit dem Kerlchen fertig?)

Dann: Klausur im LK Päd. 12. (Zwei Themen; ihre Verteilung: 3 zu 19, da könnte was schiefgelaufen sein...) In der Springstunde Vertretung in einer unbekannten 8: passend mit einem vergoldeten Ulmenblatt, das er sich vom Schulhof geholt hat, ein Herbstgedicht, nein, nicht von Rilke, sondern wieder mal von dem E.K.:

"Der Himmel ist kalt und weit.
Auf der Milchstraße hat's geschneit.
Man hört seine Schritte wandern.
als wären es Schritte von andern,
und geht mit sich selber zu zweit." (3. Strophe)

Den Titel "Exemplarische Herbstnacht" hat er erst mal weggelassen; die Strophen sind auf einer Kopie falsch angeordnet; in Partnerarbeit dürfen die Schülerinnen ihre Scheren zücken und einen Vorschlag zur sachlich-logisch richtigen Abfolge des Textes erarbeiten.
Es klappt. Die weitere Arbeit kann der Deutschlehrer der Klasse übernehmen; er wird ihn in der Pause informieren und ihm das Arbeitsblatt geben.

Nach der 6. Stunde kommt er wieder am Fahrradkeller vorbei. Drei Mädchen aus der 10c, schon pitschnass trotz der Regenjacken, ganz oben auf einer unsichtbaren Palme!

Sie holen, ja zerren mit ihren Bitten den Lehrer zu ihren Rädern. Die sind zusammengeschlossen mit einer rot-weißen Kette von etwa zwei Metern Länge, mit häßlich-dicken, unzerrreißbaren Gliedern und einem Kunststoffüberzug.


"Da habt ihr den Herrn G. wohl geärgert?"

"Ja, der Sheriff -!"

"Wer?"

"Unser aller Schulhofsheriff -"

"Der Sheriff-Unser hat rumgemeckert, als er heute Morgen an uns vorbeiging. Da blieb ihm wohl zu wenig Platz für seinen Prophetenbart."

"Aber die Markierung hier für die Außenständer, die könnt ihr doch berücksichtigen, wenn ihr die Räder abstellt? Na, wie war's?"

Helga gibt kneifend zu: "2 cm!" Helen spendiert noch 50 mm! Und Kirsten summiert:

"Alles in allem höchstens neuneinhalb cm jenseits des Strichs!"

"Der Sheriff will erst nach der 7. Stunde die Kette aufschließen. Und wir haben doch jetzt frei!"

"Und warum das?"

Er habe jetzt eben Unterricht. Der gehe vor. "Verstehen Sie: Religion. Da erklärt er den Oberstufenimis die Welt und wie man sich verhält aus lauter Nächstenliebe!" Und da wolle er in der Fünf-Minuten-Pause nicht gestört werden; habe er im Beisein des Direktors bekräftigt, bei dem sie sich schon beschwert haben.

"Jaja", nicke ich - und verschweige: Der Neue! So hat er sich schon eingeführt. Er will nicht Krach riskieren mit dem Stundenplan-Matador: Allroundkämpfer, mit der Zusatzqualifikation kath. Religion, Abteilung Werteorientierung und Vorbildfunktion.

Da kneift der Direx lieber. Aber die Kettenaktion hier ist unverschämt, keine Frage! Drei Kollegen gehen an uns vorbei zu ihren Autos auf den Parkplätzen, sie sehen nix.
Da schaut er, der stellvertretende Klassenlehrer der 10 c, die Straße hoch: 400 m weiter ist eine Tankstelle!
"Und wenn ihr euch von dort einen Bolzenschneider holt?"
"Oh, ja!"

Helen dreht sich noch mal um, obwohl sie schon losgerannt ist, und droht mit dem Zeigefinger: "Dem Sheriff werde ich eine Abschiedsvorstellung liefern!!"
Ich weiß, sie will mit der Mittleren Reife in ein paar Monaten abgehen.
"Aber, bitte nicht mit Dynamit!" Die Drei hören den Lehrer nicht mehr.

Nachmittags, Teepause und Telefon. Zwei Anrufe, nicht unerwartet: Helen erzählt ihm - unter Kichern, daß der Meister in der Tankstelle alle drei Tornister als Pfand da behalten habe, und, als sie den Bolzenschneider wieder abgaben, genau wissen wollte, welchen Unsinn sie denn da gemacht hätten. "Ich hab ihn angelogen. Es sei ein Scherz von unserem Klassendepp gewesen, an zwei zusammengeketteten Lehrerrädern!" „Okay, Helen, paß mal auf! Wenn du aus dem Kindergarten aussteigen und doch noch zur Uni willst, fahr ich dich zur Anmeldung fürs erste Semester hin! Notfalls mach ich in der Schule blau. - Versprochen!

Und der Kollege G., kurz nach drei, entsteigt entsetzt dem Hörer als Phantasma: „Ihr Eingreifen! - Was mussten Sie sich da einmischen?"
Ja, da fühl -Apostroph - ich mich durchaus zuständig für die 10c. „Schauen Sie mal in Ihre Listen, wenn Sie das vergessen haben, mit den Klassenlehrern und deren Vertretern. Den Namen und ihren Pflichten - ja?“

„Ich -! Ich werde -“


„Oder wollen Sie nur mit Rechtsanwälten sprechen? Und da haben die mich angesprochen. So - als Projektmethode, verstehen Sie mich? -, haben die sich selber helfen lassen. Im übrigen: Wenn Sie Schülern das Eigentumsrecht an ihren Rädern vorenthalten wollen, sind Sie eben selber dran. Und da gibt es für Sie keine Vorschrift aus der Hausordnung, auf die sie sich berufen können! Wovon Sie so gerne Gebrauch machen! Ein pädagogisch wertvoller Fall der Selbsthilfe. Hoch motivierend...!“
Ach – ich quatsche nur noch aus Gewohnheit in den Hörer:
„Und zur Nachahmung empfohlen, wenn eine neue Kette fortzeugend immer Böses muß gebären!"
"Aber die Kette habe ich selber bezahlt. Da gab es keinen Topf für in der Schule!"

Als er noch erklären will, wie teuer die Kette war, verliert der Angerufene das Interesse und fragt, wie lange er als Oberkoch ein Frühstücksei am Fronleichssonntag kochen läßt -.


Zwei Tage weiter erzählt ihm stolz und selbstgewiss Herr G., daß Brittas Mutter da war. Erst um sich zu beschweren wegen der beschlagnahmten Räder. Und die vernünftige Mutter habe, erklärt er mit überlegenem Lächeln, gesagt, als er beschrieb, wie sich Britta benommen habe: "Dann hat sie sich das ja selber zuzuschreiben! Was die in letzter Zeit ausheckt, seitdem ich ihr den Umgang mit ihrem Freund verboten habe!"
Aber von den zwei anderen Mädchen oder ihren Eltern habe er nichts gehört. "Wär ja auch noch schöner! Mischen sich in alles ein, die Eltern!"

Unzufrieden ist er mit sich, der Sheriff des Schulhofs. Von der längerfristigen Drohung wurde er nicht unterrichtet.
Abwarten, Herr Magister! Oder auf die übliche Entschärfung bei Abhängigen durch die langen Laufzeiten setzen!

Aber Helen ist intelligent... sinniert er: Die hat auch die PISA-Frage mit dem Benzinverbrauch für die Rennwagen auf der Drei-Kurven-Strecke richtig beantwortet. Ächt!

"Ächt kuhl, dat Gör!"

"Jau, total strong, dat Görl!"

"Da müsse'n wir ja noch abwarten - woll!"

"Dein Witzchen - später, ja!"

Er zeigt ihm das Blatt.

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