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K i r c h e n f u n k - Beiträge ##
N o l l , Bernhard | DLF 05. März 2024, 06:35 Uhr
Ausgedructk hier:
[…] Die Erzählung vom Geheimen Wunder schlägt dazu eine ungewohnte Möglichkeit vor: Hier macht Gottes Handeln einen riesigen Unterschied, und für eine einzige Person ist das auch vollkommen unbezweifelbar. Jaromirs Herzenswunsch geht in Erfüllung. Er kann das eine große Werk vollenden, an dem ihm so viel liegt. Er darf in der Gewissheit sterben, dass seine Mühen, ja, dass sein ganzes Leben nicht vergeblich war. Aber niemand, wirklich niemand sonst ahnt davon auch nur das Geringste – nicht die Soldaten, die ihn ermorden, und genauso wenig die Freunde, die um ihn trauern. Gerade als gläubiger Christ kann ich mit dieser Sicht der Dinge gut leben. Gott lässt sich nicht so leicht in die Karten schauen. Es wird ganz oft nicht offensichtlich sein, wie er die Leidenden tröstet und den Unterdrückten Gerechtigkeit verschafft. Wir werden nie mit mathematischer Sicherheit beweisen können: hier hat er gehandelt und dort nicht. Aber wir dürfen ihm alles zutrauen.
https://www.deutschlandfunk.de/das-geheime-wunder-dlf-a4222687-100.html
Erzähler. Noll: Das geheime Wunder:
Jaromir
Hladik, Autor der unvollendeten Tragödie Die Feinde,
einer Ehrenrettung der Ewigkeit und einer Untersuchung der indirekten
jüdischen Quellen bei Jakob Böhme, träumte in der Nacht des 14.
März 1939 in einer Wohnung in der Zeltnergasse in Prag von einer
großen Schachpartie. [...] Es war früher Morgen; die Panzervorhut
des Dritten Reichs rückte in Prag ein.
Am
neunzehnten ging bei den Behörden eine Denunziation ein; am gleichen
neunzehnten wurde Jaromir Hladik verhaftet. Man schaffte ihn in eine
aseptisch saubere, weiß gekalkte Kaserne am anderen Ufer der Moldau.
Er konnte keine einzige Anschuldigung der Gestapo widerlegen; der
Familienname seiner Mutter war Jaroslawski, er war jüdischen Blutes,
seine Untersuchung über Böhme war angejudet, seine Unterschrift
verzögerte die Schlussredaktion einer Liste von Proteststimmen für
den Anschluss. 1928 hatte er das Sepher Ye tzira für
den Verlag Hermann Barsdorf übersetzt; der überschwengliche
Prospekt dieses Hauses hatte aus Geschäftsgründen den Namen des
Übersetzers in den Himmel gehoben. Diesen Prospekt hatte Julius
Rothe, einer der Gestapoführer in dessen Händen Hladiks Schicksal
lag, durchgeblättert. Es gibt keinen Menschen, der nicht außerhalb
seines Spezialgebietes leichtgläubig ist; zwei oder drei Adjektive
in gotischen Lettern genügten, um Julius Rothe von Hladiks Bedeutung
zu überzeugen - er befahl, ihn zum Tode zu verurteilen, "pour
encourager les autres". Die Hinrichtung wurde auf den
neunundzwanzigsten März, neun Uhr morgens, festgesetzt.[...]
Er
kleidete sich an; zwei Soldaten betraten die Zelle und befahlen ihm,
ihnen zu folgen.
Jenseits der Tür hatte Hladik sich ein Labyrinth
von Galerien, Treppen und Seitengängen vorgestellt. Die Wirklichkeit
war nicht so reich; sie stiegen über eine einzige Eisentreppe in
einen Hinterhof hinab. Mehrere Soldaten - einer in einem
aufgeknöpften Uniformrock - untersuchten ein Motorrad und
diskutierten darüber. Der Sergeant sah auf die Uhr: Es war acht Uhr
vierundvierzig. Es hieß warten, bis es neun schlug. Hladik setzte
sich, mehr unbedeutend als unglücklich, auf einen Holzstoß. Er
bemerkte, dass die Augen der Soldaten seinen auswichen. Um ihm das
Warten zu erleichtern, streckte der Sergeant ihm eine Zigarette hin.
Hladik rauchte nicht; aus Höflichkeit oder Demut nahm er sie. Als er
sie anzündete, merkte er, dass seine Hände zitterten. Der Tag
bewölkte sich; die Soldaten sprachen gedämpft, als sei er schon
tot. Vergeblich versuchte er, sich an die Frau zu erinnern, deren
Symbol Julia von Weidenau war ...
Das Pikett1 formierte
sich, richtete sich aus. Hladik erwartete aufrecht vor der Wand die
Salve. Jemand äußerte Besorgnis, die Wand könnte Blutspritzer
abbekommen; da befahl man dem Delinquenten, ein paar Schritte
vorzutreten. Absurderweise musste Hladik an die langwierigen
Vorbereitungen beim Fotografen denken. Ein schwerer Regentropfen
streifte Hladiks Schläfe und rollte langsam seine Wange herab. Der
Sergeant schrie den Schussbefehl.
Das
physische Universum blieb stehen.
Die Gewehre waren auf
Hladik gerichtet, aber die Männer, die ihn töten sollten, waren
unbeweglich. Der Arm des Sergeanten verewigte eine unabgeschlossene
Gebärde. Auf eine Fliese des Hofs warf eine Biene einen festen
Schatten. Wie auf einem Bild hatte der Wind zu wehen aufgehört.
Hladik versuchte einen Schrei, eine Silbe, die Drehung einer Hand. Er
begriff, dass er gelähmt war. Kein noch so schwacher Laut erreichte
ihn mehr aus der lahm gelegten Welt. Er dachte: Ich bin in
der Hölle, ich bin tot. Er dachte: Ich bin
wahnsinnig. Er dachte: Die Zeit ist stehen geblieben.
Dann überlegte er, dass in diesem Fall ja auch sein Denken mit
stehen geblieben wäre. Er wollte die Probe machen: ohne die Lippen
zu bewegen, sagte er sich die geheimnisvolle vierte Ekloge von
Vergil2 vor. Er meinte, die schon fern
gerückten Soldaten müssten sein Angstgefühl teilen; es drängte
ihn, sich mit ihnen ins Benehmen zu setzen. Es erstaunte ihn, dass er
keinerlei Ermüdung empfand, nicht einmal ein Schwindelgefühl durch
das lange unbewegliche Stehen. Nach einer unbestimmten Zeit schlief
er ein. Als er aufwachte, war die Welt noch immer unbeweglich und
taub. Auf seiner Wange dauerte
der Wassertropfen, im Hof der Schatten der Biene; der Rauch
der Zigarette, die er fortgeworfen hatte, kam nicht dazu sich zu
verflüchtigen. Es verging ein weiterer Tag, bevor Hladik
begriff.
Ein volles Jahr hatte er von Gott erbeten, um sein Werk
zu beenden; ein Jahr gewährte ihm seine Allmacht. Gott vollbrachte
für ihn ein geheimes Wunder: das Blei der Deutschen würde ihn zur
bestimmten Stunde töten, aber in seinem Geist würde ein Jahr
vergehen zwischen dem Befehl zum Feuern und der Ausführung des
Befehls. Von der Bestürzung ging er zu fassungslosem Staunen, von
dem Staunen zur Ergebung, von der Ergebung zur Dankbarkeit über.
Er
verfügte über kein schriftliches Zeugnis außer seinem Gedächtnis.
Das Abwägen jeden Hexameters3 , den er
hinzufügte, nötigte ihn zu einer vorteilhaften Strenge, von der
jene nichts ahnen, die vorläufige und verwaschene Sätze aufs
Geratewohl hinsudeln und vergessen. Er arbeitete nicht für die
Nachwelt, nicht einmal für Gott, über dessen literarische
Lieblingskost er wenig wusste. Peinlich genau, unbeweglich, geheim
spann er in der Zeit ein hohes unsichtbares Labyrinth. Zweimal
überarbeitete er den dritten Akt. Er tilgte das eine oder andere
allzu deutliche Symbol: die wiederkehrenden Glockenschläge, die
Musik. Kein Einzelumstand machte ihm zu schaffen. Er ließ fort,
kürzte, erweiterte; in einem Fall kam er auf die erste Fassung
zurück. Er gewann schließlich den Hof, die Kaserne lieb; eines der
Gesichter ihm gegenüber änderte seine Auffassung vom Charakter
Roemerstadts. Er entdeckte, dass die grellen Missklänge, die
Flaubert4 so erschreckten, bloßer
Augenaberglaube sind: Schwächen und Beschwerden des geschriebenen,
nicht des klingenden Wortes... Er beendete sein Drama: nur die Frage
eines einzigen Beiwortes galt es noch zu lösen. Er fand es: der
Wassertropfen rollte über seine Wange herab. Er stieß einen
Schrei aus, wandte sein Gesicht, die vierfache Salve warf ihn
nieder.
Jaromir Hladik starb
am neunundzwanzigsten März, um neun Uhr zwei Minuten.
(aus: Jorge Luis Borges, Sämtliche Erzählugen. Aus dem Spanischen überragen von Karl August Horst sowie von Eva Hessel und Wolfgang Luchting, München 1970: Carl Hanser Verlag, S. 243 - 250)
*
Jorge Luis Borges; 1899- 1986; argentinischer Schriftsteller; Gegner des Peronismus; verlor mit 39 Jahren nach Unfall teilweise das Augenlicht; seit Ende der 50 er Jahre gänzlich erblindet
Worterklärungen:
1Pikett:
Vorposten, Kompanie, Bereitschaft
2Vergil: röm.
Dichter, 70 v. Chr. - 19 v. Chr.; beeinflusst mit seinem Werk
»Äeneis« nachhaltig die europäische Epik
3Hexameter:
Vers bestehend aus 6 Versfüßen (meist Daktylen)
4Flaubert:
Gustave Flaubert, frz. Schriftsteller 1821-1880; Klassiker des frz.
Romans
* * *
Mir kommt das 'komisch' vor [beim Zuhören/Lesen]; was Borges beschreibt, ist das letale Einfrieren, bei der Erschießung, das Still-Werden - wie es auch anderwärts beschrieben wird, auch von J. L. B.: Er hat keine Heiligenlegenden geschrieben. - Es herrscht eine Erschöpfung des lebendig-irdischen Individuums vor, ohne Rang von etwas Jenseitigen.
Vgl. folgende Zitate zum Stil von J.L.B..:
"Wir werden alle Augenblicke unseres Lebens wiedererlangen und sie kombinieren, wie es uns gefällt. Gott und unsere Freunde und Shakespeare werden unsere Mitarbeiter sein." - Die Zeit und J.W. Dunne, 1940, aus: Borges, Eine neue Widerlegung der Zeit, Frankfurt am Main 2003
"Ich habe mir das Paradies immer als eine Art Bibliothek vorgestellt." - Blindheit, in: Die letzte Reise des Odysseus, Fischer-TB, 2. Aufl. 2001, Übers. Gisbert Haefs, S. 18 ("Siempre imaginé que el Paraíso sería algún tipo de biblioteca.")
"Im Unterschied zu den Nordamerikanern und fast allen Europäern identifiziert sich der Argentinier nicht mit dem Staat." - Unser armer Individualismus, in: Inquisitionen, Fischer-TB 1992, Übers. Gisbert Haefs, S. 43
"Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn." - zitiert in: Borges, J.L. und Osvaldo Ferrari: Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn - Gespräche über Bücher & Borges, Arche 1990, Übers. Gisbert Haefs, S.84. Paraphrase eines Ausspruchs von Schopenhauer: "LESEN heißt mit einem fremden Kopfe, statt des eigenen, denken." Parerga und Paralipomena II, HaffmansTaschenBuch 1991, S.438 - Vgl. die Angaben bei Wiki: https://de.wikiquote.org/wiki/Jorge_Luis_Borges
* * *
Ich glaube, man kann den Stil und Intentionen des Dichters J. L. Borges realistisch verstehen, im konzentrierten Sinne der Wahrnehmung und des Denkens - auch im überzeitlichen Sinne des GeDenkens - verstehen.
In diesem schönen Laden, der in RE-Hillerheide besteht, erlebe ich, an den Stofftierchen, die auch von Kindern erlebt und textlich erarbeitet werden können - dass man sie <lebendig> werden lassen kann; solange man sie benennt und versprachlicht. >> Nicht anders hat Borges die Welt erlebt: ohne sie zu sakralisieren: MAGISCH ja, aber nicht theologisch.
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