Freitag, 29. März 2024

Buch IV: F a l l a d a, Hans

 


IV. Buch

Hans Fallada: Gute Krüseliner Wiese, rechts. Und 55 andere Geschichten. Aufbau Verlag. Berlin 1991.


Hans Fallada, nicht seine bewunderungswürdigen Weihnachtsgeschichten (Lüttenweihnachten), aber:


Aber, eine Geschichte, die auf unserem Pannofen hätte spielen könne: auf dem Bauernhof, auf dem ich als siebtes von acht Kindern aufwuchs; und den Umgang mit Sand, Steinen; Tier und Pflanzen; mit Erwachsen&Kinder; mit Zeugen Jehovas; mit Dorfpolizisten und mit den Geschichten meiner Mutter lernte: Wie sie einmal erschossen werden sollte, von zwei versprengten SS-Leuten, die ihren Panzer, den Tiger (dem letzten Modell deutscher  Panzerei) verlassen mussten, einige Bauernhäuser weiter; die von meiner Mutter verlangten Hilfe und Versteck verlangen (wohl in der Feldscheune, im Heu): Und Mutter zum Keller (mit Kindern und Kartoffeln und Rüben) hinunter schrie: Kinder, kommt: Hier sind Soldaten, die eure Mutter erschießen wollen; und die verschüchterten Mörder verschwanden ...):

Hans Fallada:

Blanka, eine geraubte Prinzessin

(In: H. F.: Gute Krüseliner Wiese, rechts. Und 55 andere Geschichten. Aufbau Verlag. Berlin 1991. S.


Mitten im Trubel der Silvesternacht sagte der Vater: „Nun komm.“ Der Sohn schlich hinter dem Alten aus dem lärmenden Haus über die Hofstatt zum Kuhstall.

Es fror leicht, die Sterne funkelten. Der Vater zog die Tür auf, und sie kamen in warmes Dunkel. Überall knisterte Stroh, eine Kuh käute wieder, Halfterketten rasselten. Die Stallaterne wurde angebrannt, ein Fenster geöffnet. Die kalte Winter­luft drang ein, kämpfte mit der Wärme und war plötzlich überall. Der Junge stand im Schatten beim Rübenschneider und schwieg. Da deutete der Vater zum offenen Fenster: Die Glocken begannen zu läuten, Silvester vorbei, das neue Jahr hatte begonnen.

Der Vater ging zur ersten Kuh, er sagte kein Wort, aber er verbeugte sich vor ihr und be­kreuzte sie dreimal. So tat er bei der nächsten, bei der dritten, bei der vierten. Bei der fünften, der einzigen, die stand, stutzte er einen Augenblick, der Knabe sah es wohl. Aber dann ging er weiter, reihauf, reihab, zweiundzwanzigmal. Das Jungvieh beachtete Vater nicht, auch nicht die Pferde. Er ging wieder ans Fenster und schloß es.

„So, nun darfst du wieder reden, Alwert*)“, sagte der Vater und nahm den Jungen bei der Hand. „Jetzt will ich dir etwas zeigen.“

Die beiden kletterten über die Krippen weg, gingen zwi­schen zwei Kühen durch und zu jener fünften, die gestan­den hatte und noch stand. Da sah Alwert freilich gleich, um was es ging: Die Kuh bekam ein Kalb. Die Vorderpfoten und der Kopf schauten schon heraus, der Vater faßte die Pfoten, zog leicht, und nun war es, als schlenkere er etwas unendlich Langes, Schwarzweißes auf die Erde. Da lag das Kälbchen, auf der Seite, den Kopf von sich gestreckt und atmete hastig. „Lauf und hole Schrot", sagte der Vater, und Alwert lief und holte Schrot. Damit wurde das Kalb be­streut und der Kuh zum Ablecken hingelegt. Der Vater sprach: „Grade zur zwölften Stunde in der Silvesternacht hat es das Licht erschaut, das wird kein gewöhnliches Kalb.“ Und nun zeigte er dem Sohn, daß es auch nicht wie die andern einen weißen Fleck, einen Stern, auf der Stirn trug, sondern eine Krone. Man konnte es ganz leicht erken­nen, daß es eine Krone war, und jetzt wurde es noch siche­rer, daß dies kein gewöhnliches Kalb war.

„Es ist ein Kuh­kalb“, sagte der Vater, und beide gingen wieder in das Haus hinüber. Die Magd wurde in dem Stall zum Ausmelken und Tränken geschickt. Sie aber traten wieder in das Wohnzim­mer, wo der Besuch war.


Viel Geschrei und Gelächter, der dicke Gemeindevorste­her rief: „Du alter Heide, kannst du gar nicht von deinen Heidentücken*) lassen?!"

Es war wohl gar nicht so sicher, daß er selbst erhaben über Heidentum war, wer weiß, vielleicht hatten sein Sohn oder seine Frau daheim zur gleichen Stunde das gleiche getrieben, vielleicht hatten sie sich gar unter eine aufgestellte Egge gesetzt und versucht, in die Zukunft zu schauen. Aber zugegeben durfte dies keines­falls werden, und Alwert war ganz glücklich, als der Vater antwortete: „Heidentücken? Was meinst du denn, Adolf? Meine Klio*) hat eben gekalbt, darum bin ich mit dem Jun­gen in den Stall gegangen. Sind das Heidentücken?“

Wel­ches Geschrei, welcher Unglaube! Sie zogen alle in den Kuhstall, und da sahen sie nun freilich das Kalb und muß­ten still sein. Sie taxierten es auf achtzig Pfund und fanden, es sei ein strammes Kalb, das war alles.

Alwert verachtete sie tief, sie hatten die Krone nicht ge­sehen, das Geheimnis nicht erraten. Das Geheimnis war ge­heim geblieben, es war nicht verlorengegangen.

Alwert brauchte sich nur in den frühen Dämmerstunden, wenn die Kühe satt und still waren, in dem Stall zu setzen und sein Kalb anzuschauen, dann war das Geheimnis wieder da. Das war keine Kunst, dachte Alwert,, zu entdecken, daß hinter den Augen einer Kröte eine verzauberte Prinzessin wohnt, jeder, der diese schönen, traurigen Augen in dem häßli­chen Leibe sah, mußte es gleich erraten. Aber die Ver­zauberung seines Kalbes, das Wunderland, aus dem seine Seele sicher kam, war viel schwerer zu erraten. Daß sie mit Menschen nichts zu tun hatte, war sicher. Mit menschli­chen Wundern hatte sie nichts gemein. Da war nun die Wanderung der Kinder Israel durch das Rote Meer, von der sie solches Geschwätz in der Schule machten. Das war doch nur ein menschliches, ein ausgerechnetes Wunder. Diese Mauern, die das Wasser bildete, und sie gingen trockenen Fußes über den Sand, Gott ja, aber ein Tunnel war ebensolch ein Wunder. Es war alles einfach, es war gar nicht rät­selhaft und geheimnisvoll.

Nimm nun einmal ein Kalb, das ist es, was ich ein Wun­der nenne! Kann man sich etwa einbilden, es hätte je schon auf einer Graswiese, über die Menschen hingehen können, geweidet? Das war einfach lachhaft. Man nehme die fein­ste, zarteste Prinzessin, die Krötenprinzessin etwa: Schon aus der Art, wie eine Kröte hüpft, sich hinsetzt, das Maul auftut, sieht man, sie weiß auf der Erde Bescheid, sie ist immer hier gewesen. Aber sieh nur ein Kalb aufstehen, die ersten Torkelschritte machen, nach einem Euter tasten, und du begreifst sofort, daß es ganz neu auf der Erde ist, daß es alles von Anfang an erlernen muß. Es ist eben einfach nicht auszudenken, wie es früher war. Vorstellen läßt sich da nichts, man muß das träumen.


Selbstverständlich kamen auch sehr schwere Zeiten für Alwert und das Kuhkalb. Es kam die Zeit, wo es nicht mehr saugen durfte, wo es Milch aus dem Eimer zu trinken be­kam, und da trieb es natürlich Unfug mit allem, was es von Alwert zu fassen bekam. Es saugte an Händen, Haaren und dem Rock, es leckte die Wichse von den Stiefeln ab, von oben bis unten machte es ihn mit seinem Speichel naß. Es wäre ganz zwecklos gewesen, darüber böse zu werden und nach ihm zu schlagen, alles kam daher, daß es noch nie auf dieser Welt gewesen war. Langsam mußte es sich an sie ge­wöhnen, und vielleicht würde es sich nie ganz an sie gewöhnen können, keine Möglichkeit lag zu solcher Verände­rung seiner Augen vor.


Dann kam die Zeit, wo der Vater den Entschluß fassen mußte, ob das Kalb angebunden werden sollte oder ob es der Fleischer bekam. Alwert wurde weiß vor Angst, aber er verbarg es und wurde dafür belohnt: Das Kalb sollte hier­bleiben. Die Mutter schalt zwar darüber, über das viele un­nütze Jungvieh, diese Fresser, aber der Vater nickte Alwert zu. Nun wurde er glühend rot, er verkroch sich mit seinem Kopf unter den Tisch: Hatte der Vater etwas von seinen Besuchen im Kuhstall gemerkt? Aber er beruhigte sich wieder, der Vater sprach davon, daß dies Kalb in der Neu­jahrsnacht geboren sei und daß er es deshalb behalten wolle. Nichts wußte man von seinen Besuchen, er konnte sich weiter In den Stall schleichen zur stillen Stunde und mit ihm sprechen und bei ihm träumen und mit ihm spie­len. Ganz ruhig konnte er den Vater fragen, wie denn dies Kalb heißen solle, und der Vater war einverstanden, daß es einen Namen bekam, da es doch nun unter den Nach­wuchs des Stalles aufgenommen sei. Und als Alwert den Namen Blanka vorschlug, war er auch damit einverstan­den. Es war ein sehr vornehmen: Name für ein Dreimonats­kalb, nun mußte es sich zeigen, ob es dieses Namens auch wert sei.

Jetzt vergingen zwei glückliche Jahre für Alwert und Blanka. Alwert wurde vierzehn Jahre alt und konfirmiert, aber das war gar nichts, wenn man bedachte, wie Blanka wuchs und gedieh. Sie wurde eine starke und schöne Quene*), eine wahre Pracht. Den ganzen Sommer, solange sie auf der Weide getüdert wurde, lag er bei ihr mit seinen Büchern, und sie lernten alles sozusagen gemeinsam. „Nun höre einmal zu, Blanka, was das wieder ist“, konnte Alwert sagen, und dann kam ein schreckliches Wort aus seinem Chemiebuch. Blanka hörte zu, sie hob den Kopf hoch und sah ihn an, sie stieß den warmen Laut aus, den sie nur für ihn hatte, sie hörte das Wort an, und auch ihr erschien es ganz ungeheuer, was sich diese Menschen da wieder ausgedacht hatten. Dann senkte sie den Kopf und fraß weiter. Blanka mußte alles hören über die Perser- und Griechenkriege, sie wußte, was der Kleine und der Große Katechismus war, sie ertrug auch eine Rechnung mit drei Unbekannten. Und das Schönste war, daß dies beider Geheimnis blieb, kein Mensch ahnte, daß Blanka und Alwert überhaupt etwas miteinander zu tun hatten. Wer weiß, wie der Junge es fer­tigbrachte, wieviel hundert Lügen er ersann, um sein ewi­ges Fortsein, sein Nie-Zeit-Haben zu erklären, er brachte es fertig, und es sollte sich ja dann zeigen, daß er später noch viel Schwereres für Blanka fertigbrachte. Aber dies waren doch die glücklichsten Jahre.

Für seinen Vater waren sie nicht so glücklich. Er hatte Pech gehabt auf den Feldern, ein Pferd war ihm gefallen, das Geld ging aus. Eines Tages hieß es beim Mittagessen, daß es nun nichts mehr hülfe, morgen käme der Händler, alles Jungvieh, das bloß fresse, sollte verkauft werden. Der Junge neigte die Stirn, er verbarg sein Gesicht im Schatten. Blanka fort! Blanka verkauft! Es war unmöglich. Er fühlte, wie stark sein Herz pochte, und auch dieses Pochen sagte ihm, daß es unmöglich sei. Blanka war nicht zu verkaufen. Den ganzen Nachmittag lag er bei ihr und weinte. „Da gehst du, Blanka“, schluchzte er, „und frißt. Du weißt nichts von dieser Welt, dein Herz sehnt sich erst, wenn wir getrennt sind."

Er zerbrach sich den Kopf, hundert Pläne waren da, aber keiner ausführbar. Wie, wenn man zum Va­ter ginge und alles gestände, daß er Blanka liebte? Aber der Vater würde ihn nur auslachen. Und selbst wenn er ihn ver­stehen würde, da war die Geldnot, sie war ja nur eine Fres­serin, die nichts brachte. „Blanka! Blanka!“ schluchzte er und legte die Arme um ihren Hals. Und da wußte er es, plötzlich wußte er es. Nun hatte er immer diese Bücher ge­lesen, den Robinson, den Karl May, den Stevenson, große Abenteuer geschahen, und er hatte gemeint, daß sie drau­ßen seien, auf den Meeren, an fremden Küsten, unter wil­den Völkern. Aber nein, das Abenteuer war hier wie dort, es war auf jedem Hof und in jedem Wald, am Grugenteich war’s und in Vaters Kuhstall. War nicht Abenteuer genug, was ihm schon geschehen? Er liebte eine verzauberte Prinzessin aus fernen Landen, er allein wußte um sie, und sie stand als Kalb in seines Vaters Stall. Welchem andern Jun­gen geschah dies? Und darauf kam es nun an, sich dies Abenteuer nicht fortnehmen zu lassen, nicht zu werden wie die andern. Alle Abenteuer kamen zu uns. Robinson hätte auch zu Haus bleiben und Kaufmann werden können, nichts zwang den Arzt Gulliver, sich immer von neuem einzuschiffen: Sie wollten das Abenteuer! Auch er wollte es! Seine Blanka, seine ... Auch er wollte es.


Am nächsten Morgen war der Kuhstall erbrochen und Blanka gestohlen. Es war eine Sache, von der das Land noch nach Monaten redete. Der dicke Landjäger kam jeden Tag auf den Hof und sprach mit dem Vater. Dann betrach­teten sie das Vorhängeschloß, das so seltsam zerschlagen war, so unsinnig zerwütet mit einer Axt, und kamen wieder zu dem Schluß: „Ein Neuling hat das getan.“ Aber diese Kalbe*) war ja nicht zu verkennen, sie mußte wieder auftau­chen, hatte Alwert nicht den Vater daran erinnert, daß sie eine Krone auf der Stirn trug, eine weiße, etwas verwischt gezeichnete Krone? Nun, an dieser Krone würde man sie wiedererkennen. Und in der Folge machte der Vater man­che lange Reise über das Land, wenn ihn das Gerücht über ein Auftauchen seiner Blanka irgendwohin rief.


Unterdes lag der Knabe im Wald, und Blanka graste bei ihm. Dar Wald war groß und dicht, hier fand sie keiner. Nur der Großvater hatte gewußt, daß sich durch dieses Tannendickicht ein Wildwechsel schlängelte, der zum Grugenloch führte. Das war ein Teich, ein kleiner Teich, mit­ten in den Tannen. Hierher war Alwen mit dem Großvater gekommen, und die beiden hatten sich auf den Grugenstuhl gesetzt, eine abgehauene Tanne. Und der Großvater, dieser seltsame Mann, mit dem langen weißen Bart, dieser Mann, der nie Hosen trug, sondern die Enden seines unmä­ßig langen Leibrocks in die Schäfte seiner Stiefel steckte, der Großvater hatte ihm von den Grugen und Quacken er­zählt, die an diesem Teich ihre Wunder trieben.

Nun waren die andern Wunder gekommen. Der Großva­ter war gestorben, und mit ihm waren die ein wenig künstlichen Wunder der Quacken- und Grugengeister vergan­gen, nun hatte Alwert sich seine echten Wunder selbst ge­holt.

Da graste Blanka, schon hatte sie sich an das härtere, spärliche Waldgras gewöhnt. Sie sah prall und voll aus, ihr ging nichts ab, das sah man. Und neben ihr liegend, in der Sonne, unter dem leisen Rauschen der Tannenzweige, durch die raschelnd die Vögel schlüpften, träumte Alwert davon, wie er jahraus, jahrein zu seiner Blanka kommen würde, zu diesem blauen Geheimnis, an dem niemand teil­hatte. Er begriff nicht, daß man anderes lieben könnte als dieses Tier. Das war ein Wunder. Menschen lieben? Men­schen sind der Alltag, sie sagen etwas, sie tun etwas, und man konnte sie erraten, man konnte hinter sie kommen, und plötzlich scheint die Sonne klar durch sie hindurch: Menschen sind nichts. Wer aber kam hinter Blanka? Da lag sie und käute wieder, aber das war nur ihr Vorwand, den man nicht beachten durfte. Wenn man in ihre Augen sah, begriff man, daß sie dies alles, Bäume, Sonne, Wasser und Alwert dazu nur obenauf sah, was aber sah sie tiefer drin, was sah sie wirklich?

Nicht, daß alles leicht war. Gewiß, dort war Blanka, und hier im Bett lag Alwert. Aber diese Blanka war so unver­nünftig, da lag sie nun in der dunklen Nacht allein im Walde, konnte nicht die Sehnsucht nach den andern, nach Alwert, sie überkommen? Konnte sie sich nicht losreißen und auf den Hof laufen? Das war es, daß man ihr nicht er­zählen konnte, sie wurde verkauft. Sie war eben eine Prin­zessin, sie begriff nichts von diesem Leben, alles mußte man für sie tun. Und indes der Regen gegen die Fenster­scheiben strich, sagte er immer wieder zu sich: „Da liegt sie draußen, die Blanka, und ich hier.“ Auch das war ein Rätsel, daß man eines liebt, an es dachte und getrennt war von ihm. Es war so eine dicke greifbare Sache, die die andern sich ausgedacht hatten. Gewiß, nach den Augen, mit dem Verstande war es wahr, daß sie dort war und er hier. Aber war es nicht vielleicht doch unwahr? Lag er nicht etwa auch neben ihr in der Mulde, die er für sie gegraben, unter dem Tannendach, das er für sie geflochten? Er war hier und war dort, das war die eigentliche Wahrheit, ebenso wie Blanka hier und in einer andern Welt war. So ging das zu.


Es war ein glücklicher Sommer! Es war ein seliger Som­mer! Endlose Träumereien des Knaben auf dem Grugenstuhl, indes oben langsam Wolken dahinzogen, sich ballten, zergingen. Dann schien die Sonne. Sie waren wunderbar, diese Wolken, aber sein größeres Wunder hatte er sich aus seines Vaters Kuhstall geholt. Er hatte es gezwungen, wahr zu sein, und gegen sie alle hatte er es behauptet. Die klei­nen Grashalme um ihn, die Tannenzweige um ihn, das Wasser vor ihm, der Himmel über ihm, sie bestätigten es. Da graste sie, sie war schwarzweiß, in einer Neujahrsnacht war sie geboren, sie trug eine Krone auf ihrer Stirn. Sie hätte ein Kalb wie alle Kälber werden können. Er hatte sie vereinzelt. Er hatte ein Schicksal geschaffen, abseits von al­len andern. Da saß er auf seinem Grugenstuhl, mit seinem langen braunen Jungengesicht voller Sommersprossen, ein Bauernjunge wie alle andern, der in die Dorfschule bis zu seinem sechzehnten Jahr lief und sommertags barfuß ging: ein Junge wie keiner. Solch endloser Sommer! Die kleinen Fliegen schwirrten und die kleinen Mücken sangen: Ji-ji, und die Zeit rauschte ganz fern. Oh, meine Blanka!


Dann kam. der Herbst mit seinen langen sonnigen Tagen, und das Futter wurde knapp. Er hatte daran gedacht, für den Winter Heu zusammenzutragen, aber das wenige, was er herbeigeschafft hatte, war im Umsehen zu Ende. Was Blanka auch fraß! Und es war natürlich ausgeschlossen, daß man ihr etwas abgehen ließ, nun mußte man eben jede Nacht mit einer Traglast Heu zu ihr. Dann war er den gan­zen Tag müde, er wurde blaß, er wurde mager, er schlief ewig, wenn er zu Haus war. Und sie paßten so auf, nun! Eines Nachts war der Vater im seinem Zimmer gewesen und hatte sein Bett leer gefunden, da mußte er nun endlose Lügengeschichten erfinden, um sich zu retten. Nun blieb nichts, als ein paar Nächte zu Haus zu bleiben, aber dann das Muhen, mit dem ihn Blanka empfing! Er zitterte, er kroch zu ihr, er sprach sanft zu ihr. Es quälte ihn namenlos, daß sie leiden mußte um seinetwillen. Wo waren die sor­genfreien Sommertage hin? Und dies war erst der Herbst.

Aber noch gab er den Kampf nicht auf, noch gab er sich nicht zu, daß er sich zuviel vorgenommen hatte. Dies war zu sehr Teil seines Lebens, als daß er es hätte aufgeben können. Nun blieb eben nichts anderes, als wach zu liegen, bis der Vater gekommen war, und dann zu gehen. Aber das hieß die ganze Nacht opfern, überhaupt nicht mehr schla­fen. Und doch führte er es durch. Er gewöhnte sich auch daran, er stahl sich am Tage die Stunden, er war ein Nacht­tier geworden. Und alles war belohnt, und alles war gut, wenn er bei Blanka war, Blanka war nicht mehr Blanka, Blanka war der Weg, aber Blanka war auch das Ziel, Blanka war seine Stellung zu den Menschen, gab er Blanka auf, gab er sich auf.


Dann fiel der erste Schnee. An ihn hatte er nicht ge­dacht. Nun waren Spuren da, jeder konnte ihm nachgehen, jeder konnte Blanka finden. Er wurde eiskalt, als er dies dachte. „Nun ist das Ende da“, sagte er, aber er glaubte es noch nicht. „Ich werde etwas finden“, beharrte er. „Ich habe jedesmal etwas gefunden. Auch diesmal muß es mir glücken.“

Der einzige Ausweg, auf den er geriet, war der, Blanka vorläufig im hintersten Keller des Hauses zu verstecken. Dorthin kam niemand. Es war ein schlechter Ausweg, das wußte er, ein besserer würde ihm später einfallen.

In der Nacht nahm er Blanka am Strick, er führte sie auf den Hof, er führte sie die Treppe hinauf ins Haus, die Treppe hinab in den Keller. Auf dieser Treppe glitt Blanka aus und fiel. Es gab einen ungeheuren Lärm. Mit der Lampe stand der Vater da und fragte: „Was machst du in aller Welt da mit der Kuh?“ Der Junge starrte ihn totenbleich an. Der Schein der Lampe fiel auf Blankas Stirn. „Aber das ist ja Blanka! Das ist ja Blanka!“


Es war eine Katastrophe. Es war ein maßloser Skandal. Niemand glaubte dem Jungen, daß er das Tier „nur so" ge­liebt habe. Zuerst begriff er nicht, was sie meinten, was sie alle meinten, aber sie sorgten schon dafür, daß er begriff.


Blanka, seine Blanka, und er! Von da an war ihm alles gleich. Er wurde von der Schule gejagt, am liebsten hätte man die Konfirmation rückgängig gemacht. Und dann war natürlich kein Gedanke daran, daß er je den Hof bekam, ein Mensch, der sich in so jungen Jahren schon so schwer verging. Man gab ihn auf ein Schiff und schickte ihn auf fremde Meere, daß die Schande nur aus den Augen kam. Oh, meine Blanka!

* * *

 (Aus: Hans Fallada: Gute Krüseliner Wiese rechts… und 55 andere Geschichten. Berlin 1991. Aufbau Verlag. S. 95 -104)

*) Zum Tiernamen „Blanka“: Blanka von Kastlien war eine spanische Prinzessin. Im Jahre 1200 - als sie gerade 12 Jahre alt war - wurde sie mit dem späteren König Ludwig VIII. von Frankreich verheiratet. Als der König 1226 starb, musste sie für den erst 11-jährigen Sohn die Regentschaft übernehmen, die sie während der folgenden zehn Jahre mit Besonnenheit, Klugheit und großem Verständnis für politische Vorgänge wahrnahm. Dabei achtete sie auch darauf, ihren Sohn, den späteren König Ludwig IX., den Heiligen, im christlichen Glauben zu einem verantwortungsbewussten, vorbildlichen Herrscher zu erziehen. Während ihrer Regentschaft sorgte sie dafür, dass zahlreiche Hilfseinrichtungen für Arme und Bedürftige geschaffen wurden. Außerdem kümmerte sie sich um Hospize und Spitäler und setzte sich großzügig für die Unterstützung von Kirchen und Klöstern ein. - Die vom Volk geliebte und hoch verehrte gütige Landesmutter starb im Jahre 1252.

(Es ist zwar unwahrscheinlich, dass der Junge und der Vater den Königinnen-Namen Blanka kennen; aber Fallada selber mag dafür bürgen.)

*) Alwert = seltener Vorname in Deutschland (mit Albert verwandt)

*) Heidentücken = eigentümliche Verhaltensweise (wie „Tücke“), die man abwehrend heidnisch nannte, wegen des unnormalen, soz. quacksalberischen Gehabes; die man aber in der Landschaft, in der Fallada aufwuchs (im Mecklenburgischen) noch pflegte, um wertvollen Tieren gegenüber eine quasi religiöse Achtung zu erweisen.

*) Klio = Seltener Name für eine Kuh: Klio oder Kleio (gr. Κλειώ: „die Rühmerin“, aus κλεῖν: rühmen, preisen) ist in der griechischen Mythologie eine der neun Musen. Sie war die Muse der Heldendichtung und Geschichtsschreibung. – Fallada verweist hier also auf die mythische Besonderheit des Muttertiers.

*) Kalbe und Quene = eine junge Kuh, welche noch nicht gekalbt hat, aber zum Stier gelassen werden soll.

Ein Hörspiel:

http://www.dradio.de/dlr/sendungen/kinderhoerspiel/332510




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