Peter S t a m m:
Der Aufenthalt
Wir saßen auf dem Bahnsteig auf unseren Reisetaschen. Daniel und ich hatten unsere T-Shirts ausgezogen und saßen mit nackten Oberkörpern da, Marianne trug abgeschnittene Jeans und ein Bikini-Oberteil. Wir schwitzten. Das Blechdach knackte, und über den Gleisen flimmerte die in der Hitze heiße Luft. Der Zug habe Verspätung, hatte der Stationsvorsteher gesagt, mindestens zwei Stunden. Wir hatten uns nicht einmal geärgert, es schien wie ein Wunder, daß bei dieser Hitze überhaupt Züge fuhren.
»Schade, daß wir keine Musik haben«, sagte Marianne.
Das Bahnhofscafé war geschlossen. Daniel sagte, er gehe ins Dorf, Eis holen. Er blieb lange weg, und als er endlich zurückkam, war das Eis schon ganz weich geworden, und wir aßen es in großen Bissen. Dann hörten wir eine Lokomotive pfeifen. Es war noch keine Stunde vergangen. Weit entfernt erschien ein Zug im grellen Licht. Es sah aus, als schwebe er über dem Gleis. Ganz langsam kam er auf uns zu. Der Bahnhofsvorsteher trat aus seinem Büro. Er trug ein kurzärmliges Hemd und eine Mütze. Der Zug fuhr langsam in den Bahnhof ein, schob sich an uns vorbei. Die Bremsen schrien laut und unendlich lange. Die Waggons waren alt. Sie waren weiß gestrichen, und an den Seiten waren rote Kreuze. Alle Sonnenblenden waren heruntergezogen. Endlich hörte das Kreischen auf, und der Zug hielt mit einem Ruck. Dann war es still.
Der weiße Zug stand da, und nichts geschah. Nur im Stationsbüro klingelte das Telefon immer wieder, und endlich ging der Bahnhofsvorsteher zurück in sein Büro, und kurz darauf hörte das Telefon zu klingeln auf. Über den Parkplatz neben dem Bahnhof kam rasch ein dicker, schwarz gekleideter Mann. Er schwitzte und wischte sich mit einem weißen Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Kurz bevor er den Zug erreichte, öffnete sich eine Tür, der Mann stieg ein, und die Tür schloß sich wieder.
»Du bist ganz schön rot am Rücken«, sagte Marianne. »Soll ich dich einreiben?«
Sie zog eine Tube mit Sonnencreme aus ihrem Rucksack, schob ihre Sonnenbrille auf die Nasenspitze, um besser zu sehen, und begann, meinen Rücken einzureiben.
»Was ist mit dem Zug?« fragte Daniel. Er stand auf und ging den Bahnsteig entlang bis zum Ende des Zuges.
»Alles Kranke«, sagte er, als er zurückkam, »Sonderzug nach Lourdes.«
Ich bemerkte, daß eine der Sonnenblenden etwas nach oben geschoben worden war. In dem schmalen Spalt erschien ein Gesicht. Jemand schaute uns an. Dann wurden auch an anderen Fenstern die Blenden hochgeschoben, und Menschen sahen heraus. Einige ließen ihre Arme aus den Fenstern hängen. Aus manchen Abteilen schaute niemand, aber auch dort waren die Blenden jetzt geöffnet, und ich sah, daß auf den Pritschen Menschen lagen, daß sie sich bewegten. Ich sah einen Rücken, einen Kopf, ein Bein, einmal ein Kissen, das umgedreht wurde. Die Kranken bewegten sich unentwegt, es schien ihnen nicht wohl zu sein, sie mußten Schmerzen haben, unter der Hitze leiden. Es war mir, als seien sie sehr weit von uns entfernt. Aus einem Fenster schaute eine Nonne in heller Tracht und mit einer weißen, geflügelten Haube. In ihrem Gesicht war ein triumphierender Ausdruck.
»Lauter Kranke«, sagte Marianne. »Man könnte meinen, die haben noch nie einen Bikini gesehen.« Sie hatte aufgehört, meinen Rücken einzureiben, wandte sich vom Zug ab und zog ein T Shirt über.
»Es muß mörderisch heiß sein da drinnen«, sagte ich.
»Das steht uns auch bevor«, sagte Marianne. »Meinst du, die sind ansteckend?«
»Warum starren die uns so an?« sagte ich.
Es war totenstill. Nur manchmal hustete jemand. Ich zündete mir eine Zigarette an.
»Manchmal denke ich, das Leben wäre einfacher, wenn man krank wäre«, sagte Daniel. »Dann wüßte man, woran man ist.«
»Denkst du, die Kranken glauben wirklich daran?« fragte Marianne.
»Klar«, sagte ich, »aber es hilft natürlich nichts.«
Am Fenster direkt vor uns stand eine alte Frau. Ihr Arm hing schlaff herunter. Sie bewegte die Finger, als prüfe sie einen Stoff oder lasse Sand durch die Finger rieseln. Hinter uns ertönte ein lautes Rattern. Die Blechjalousie des Bahnhofscafés wurde hochgezogen. Ein Mann in einer weißen Weste trug ein paar Plastiktische, und Stühle auf den Bahnsteig. Als er im Lokal verschwand, stand ich auf und folgte ihm.
»Wasser«, rief Marianne mir nach, und Daniel: »Für mich auch.«
An der Bar stand der Bahnhofsvorsteher, er mußte durch den Seiteneingang gekommen sein.
»Ein Toter«, sagte er zu mir und deutete mit dem Kopf in die Richtung des weißen Zuges, "bei der Hitze."
»Einer Tante von mir hat es geholfen«, sagte der Barmann, »Gürtelrose. Und als sie von Lourdes zurückkam, war es weg. Aber anerkannt wurde es nicht. Die hat sich geärgert, das kannst du mir glauben.«
Ich bestellte die Getränke.
»Sie sind noch jung«, sagte der Bahnhofsvorsteher zu mir. »In Ihrem Alter dachte ich noch nicht an solche Sachen. Aber eine gute Gesundheit, das ist das größte Geschenk.«
Als ich aus dem Café trat, sagte Marianne: »Die holen einen raus.«
»Ein Toter«, sagte ich, »ich weiß.«
Die Tür eines Waggons war geöffnet worden. Dort stand mit dem Rücken zu uns ein Mann in einer leuchtend orangefarbenen Weste. In seinem Nacken glänzte der Schweiß. Vorsichtig stieg er die Treppe herunter, dann folgte eine Bahre, dann ein zweiter Mann mit orangefarbener Weste. Am Schluß kamen der dicke Mann mit dem schwarzen Anzug und eine Nonne. Die Kranken schauten jetzt zu der kleinen Gruppe, die neben dem Zug stehengeblieben war. Da rannte die Nonne mit kurzen Schritten an den Waggons entlang, rief etwas und wedelte mit den Händen, als wolle sie Hühner verscheuchen. Einige der Kranken zogen die Köpfe zurück. Daniel lachte.
Die beiden Sanitäter trugen die Bahre weg. Der Priester folgte ihnen.
»Schwitzen Tote eigentlich?« fragte Daniel. "Oder hört das gleich auf?"
»Sie haben es alle gewußt«, sagte Marianne, »und dabei haben sie mich angeschaut. Ist das nicht furchtbar.«
»Mit Verlusten muß man rechnen«, sagte Daniel.
»Es ist schrecklich«, sagte Marianne, »da stirbt einer vor unseren Augen, und ich reibe dir den Rücken ein wegen einem lächerlichen Sonnenbrand.«
»Der war schon tot, als sie hier angekommen sind«, sagte ich, »darum haben sie überhaupt gehalten. Darum sind sie so langsam gefahren.«
»Was hat das denn damit zu tun?« sagte Marianne. Als der Zug sich wieder in Bewegung setzte, zogen auch die letzten Kranken die Köpfe zurück. Die Sonnenblenden schlossen sich.
"Ich möchte wissen, wann die ankommen«, sagte Marianne. »Wie weit, glaubt ihr, ist es von hier nach Lourdes?"
"Ich weiß nicht", sagte ich. "Vor morgen früh sind sie bestimmt nicht da.«
»Alle sind immer irgendwohin unterwegs«, sagte Daniel, »sogar die Kranken. Sogar die Toten. Den bringen sie bestimmt zurück. Als ob es eine Rolle spielt. «Ich stellte mir vor, wie der Zug durch die Nacht fuhr, wie er durch Dörfer und Städte fuhr, wo die Menschen in ihren Häusern schliefen und nichts ahnten von diesen Kranken, die nicht schlafen konnten vor Schmerz und Aufregung. Und wie am Morgen am Horizont die Pyrenäen auftauchten im Dunst.
»Ein Zug voller Kranker«, sagte ich, und Marianne schüttelte den Kopf.
*
(Peter Stamm: In fremden Gärten. Erzählungen. Arche Verlag.
Zürich u.Hamburg: 2003. S. 103-109; späer auch in: P. St.: Der Lauf der Dinge. 2014. S. 206-210. - Diese Gsechichte widme ich meine Muter, die zweimal im Reisezug nach Lourdes unterwegs war, im hohen Alter, wo sie ein unerschöpfliches Friedenseslebnis in den Lichterprozessionen fand.
* ~* ~*
Arbeitsanregungen [zu einer Unterrichtsvorbereitung]:
Interpretieren Sie das erzählte Geschehen, benennen Sie die Personen (bzw. Personengruppen) und kennzeichnen Sie Unterschiede in Bewusstsein, Handlung, Kleidung und Gestik nach diesen Begriffspaaren:
innen - außen, wartend - fahrend, jung - alt, fragend - wissend, krank - gesund, laut - leise.
Hinweis: Die letzten Sätze enthalten einen Hinweis, eine literarische Anregung: Kurt Tucholsky hat 1927 sein "Pyrenäenbuch" veröffentlicht, den Bericht einer privaten Reise mit seiner Frau Mary, in dem auch eine Schilderung des Wallfahrtsorts Lourdes enthalten ist. (Den Text gibt es als Taschenbuch und innerhalb der Gesamtausgabe der Texte und Brief, im Band 9, 1998 bei Rowohlt erschienen.)
** Der Schweizer Autor Peter Stamm (* 1963) studierte Anglistik, Psychologie und Informatik und verbrachte längere Aufenthalte in Paris, New York und Skandinavien. Seit 1990 ist er freier Autor und hatte mit seinen Publikationen, dem Roman "Agnes" (1998), der Erzählsammlung "Blitzeis" (1999), dem Kurzroman "Ungefähre Landschaft" (2001), beachtliche, literarische Erfolge. Der neueste Band, die Erzählungen "In fremden Gärten", bringt wieder kurze, überraschende, aber nicht sensationell dargestellte Texte, die in ihrem einfachen, ruhigen, unaufgeregten-dialog-nahen Stil sich auch eigenartiger, ja, "unerhörter" zwischenmenschlicher Ereignisse annimmt.
Aus genauen, manchmal wie absichtslos gesetzten Verben und Nomen seiner Erzählgewebe setzen sich Charakterbilder zusammen, die die Nähe oder Ferne, das Pathologische oder Heilsame in den Beziehungen von Menschen spiegeln, zwischen Nachbarn, zwischen Geschäftspartnern, zwischen Mann und Frau.
< Leider hab eich kein Aautorenbilcd von Petr Stamm; Ich sell mir vor: Autor: sehend/stehend vor dem Ännchen vonTharau, in Klepida >
Für Peter Stamm; anlässlich "Blitzeis":
Wem man niemandem .. was oder irgendwie-was vergisst:
Storys von Tschechowschem Format
Ab/oderBeiFall für: „Träumereien von Lust und Liebe“ (Rezension zu Peter Stamms „Blitzeis“) von Thomas Kraft, taz vom 13./14. 11. 99
Nicht nur die zwei Geschichten, die Kraft gefielen, sind meisterlich, auch noch drei andere erreichen ein erstaunliches Niveau, aber man muss sich als Leser ihre Langsamkeit, ihre Melancholie, ihre Unaufddringlichkeit erst erschließen.
Die leise Weihnachtsgeschichte („In den Außenbezirken“) ist die beste seit Bölls „Monolog eines Kellners“ (1963) – oder noch weiter zurückgefragt, seit Anton Tschechows Geschichte „Wanka“; und die heftige, aber unterkühlt erzählte Liebesgeschichte der Frau, die an Morbus Crohn leidet („Was wir können“), ist beispielhaft für Sehnsucht und Zurückgewiesenwerden sensibler Menschen im Einsamkeitsmilieu unserer Tage – wichtiger zum Beispiel als Bachmannsche (der Ingeborgenden) Verlautbarungen zu diesem Frauenthema. Stamms Storys sind von Tschechowschem Format; das sage ich ganz ohne materielle, nur mit lehrermäßigen Interessen: Storys, die die kontroverse Diskussion befördern. Rezensent Kraft müsste sich seine literarische Geschmacks- und Traditionsbildung noch einiges kosten lassen. Oder muss Lesermensch es als Sensation feiern, dass überhaupt ein nicht aufdringlicher Dichtertyp wie Stamm wahrgenommen wird in der taz? Also: mal weniger Dampf-Droste und Touché-Lärm-Konsorten, stattdessen ein paar intuitive Sensibelchen fördern, die das Kommunikative in den Gräben und Umleitungen auf der „Schmerzen & Herzen“-Baustelle zwischen Mann-Frau aufblitzen lassen! AStR. RE
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