Yeah: Vor zwanzig Jahren geschrieben:
Lieber
Reinhold, Meister der Lüfte: Herr Ahr! (oder ähnlich; auch Vorfahren
namens Aquila müßten zu Deinem Stammbaum gehören...)
Buchleser ...
Anbei
ein paar schriftliche Gaben. Der Aufsatz über die Bergarbeiter-Lyrik an Rhein und Ruhr ist gerade
in der Festschrift meiner alten Schule erschienen. Ich hoffe, ich
werde Dich in Erinnerung behalten als den, der die Pfarrergestalten
bei Ernst Wiechert schmählich im Stich gelassen hat, um den
Grundtypus selber zu realisieren. Nenn mal bitte einen Text, in dem
so ein Pfarrer besonders charakterisiert wird. Ich weiß bei Wiechert
nicht Bescheid.
*
Einige
Kitteleien:
Im
Bauernmuseum in Rusne/Pl.: (Erzählte ich Dir schon davon? Wenn ja, so ist’s
für meine eigene Wahrnehmung von Funktionärsmentalität gut
aufzuschreiben)
-
Da steht der Funktionär vor einer Brauttruhe. Er hört den
Erläuterungen zu: Damals nähten oder webten oder strickten und
häkelten die Mädchen für ihre zukünftige Rolle im Haus des
Mannes. Dazu die Kittel-Frage (gefertigt auf dem immensen Hintergrund
der beleidigten, deutsch-memelländischen Männlichkeit und
neuzeitlich schmählicher Benachteiligung infolge der obwaltenden
Emanzipation): Und
was bringen heute die jungen Frauen in die Ehe mit!- als Ausruf
gestellt, wenn auch mit der Frageform eingeleitet.
Eine
Frau, Rosa, antwortet: Die Ausbildung. Und Irena: Oder z. B. einen
Doktor-Titel.
Andere
Ergänzungen, als ich von der Kittelei erzählte: „Und ihre
Erfahrungen bringen sie mit.“ „Und den Führerschein.“ „Und
noch viel, worüber nur Mann und Frau sich einigen müßten.“
*
In
Bitthenen, auf der Paradiesstraße: Memel-Meister Kittel erzählt
mir, dass Lena Grigoleit Geld hatte, sich in Sibirien eine Erdhöhle
zu kaufen. Ich entgegnete: „Und ob man da überlebte, war nun
ziemlich unwahr-scheinlich!“ Kittel (wirklich mit dem Ton des
Rechtsbelehrenden!): „Sie wurde des Landes verwiesen.“ Ich,
versuchsweise dagegen haltend: „Sie wurde deportiert. Sie wurde
verschleppt!“
*
Auf
dem Helden-Friedhof in Klaipeda:
Hier
mit einer Art Heiligenblick, rezitierend, aber nicht ablesend: Die
Inschrift der Steinplatte: Hier starben im Abwehrkampf gegen den
Kommunismus in den Jahren 1944/45 20.000 junge Deutsche.
Die
Inschrift lautete (etwa, ich habe vergessen, sie zu notieren; man
weiß ja oft erst nachträglich, was wichtig wird.) „Hier ruhen
deutsche Soldaten, die in den Jahren 1939 - 1945 hier starben.“
Ein
bißchen Utopie, um der wackeren Heldenverehrung zu begegnen:
Ich
würde - als Vorschlag für Gedenktafeln- zu bedenken geben: Hier
ruhen deutsche Soldaten, die 1939 in dieses friedliche Land kamen,
Land und Leute bedrohten und nur durch große Opfer der den Deutschen
östlichen Nachbarn besiegt werden konnten. Dieser Friedhof wurde zur
Mahnung angelegt, daß keiner mehr des anderen Mörder oder Herrscher
werden solle: Friede den Toten und Friedfertigkeit den Lebenden!
*
Zur
Zeit sitze ich an einem Beitrag für die Religions-Zeitschrift, unter
dem Titel: Johannes Bobrowski - Mahner christlich-jüdischer
Gemeinschaft (oder Verantwortung?). „Die Spur im Sand“ werde ich
als zentrales Gedicht des Gedenkens herausstellen. Etliches von der
„Spur“ habe ich im Gebiet Klaipeda gesehen. Von einem eigenen
Gedichtversuch zur Reise nach Memal werde ich Dir später mal
schreiben.
So,
ich hoffe, ich habe die Regeln der neuen Rechtschreibung gebührend
beachtet, auf dass ich ein gutes Beispiel gebe...
* *
Spuren im Himmel
* *
Spuren im Himmel
Johannes
Bobrowski:
Die
Spur im Sand
Der
blasse Alte
im
verschossenen Kaftan.
Die
Schläfenlocke wie voreinst. Aaron,
da
kannte ich dein Haus.
Du
trägst die Asche
im
Schuh davon.
Der
Bruder trieb
dich
von der Tür. Ich ging
dir
nach. Wie weht um den Fuß
der
Rock! Es blieb mir eine Spur
im
Sand.
Dann
sah ich
manchmal
abends
von
der Schneise
dich
kommen, flüsternd.
Mit
den weißen Händen
warfst
du die Schneesaat
übers
Scheunendach.
Weil
deiner Väter Gott
uns
noch die Jahre
wird
heller färben, Aaron,
liegt
die Spur
im
Staub der Straßen,
find
ich dich.
Und
gehe.
Und
deine Ferne
trag
ich, dein Erwarten
auf
meiner Schulter.
(Zuerst
in „Sarmatische Zeit“, 1961; aus Gesammelte Werke. Bd. I. S. 28;
Erläuterungen. Bd. V. S. 35)
Reflexion
und Erläuterungen zum Gedicht:
Kaftan:
langer, vorn offener Überrock; mit langen Ärmeln
In
einer frühen Fassung: hieß es „Vater“, statt „Bruder“.
„Schneesaat“:
Die Saat der zwischenmenschlichen, irdisch-natürlichen Kälte, d.h.
den Anfang des Judenhasses, wirft Aaron über das Dach der Höfe, in
die er nicht mehr einzutraten wagt.
Eine
Möglichkeit des Verständnisses: Das lyrische Ich repräsentiert den
christlichen Bruder des Juden, dessen Existenz nur noch in Spuren zu
finden ist; dessen (und unser) Gott uns „noch die Jahre wird heller
färben“ - wenn wir das Erwarten des jüdischen Mitbruders
aufzunehmen bereit sind, an dieser Schuld zu tragen gewillt sind.
Aaron, von Gott berufener Sprecher des jüngeren Bruders Moses;
erster Priester.
Bobrowskis
Gedicht ist ein komplexes Prisma unterschiedlicher, auch zeitlich
diachroner Spurenfindungen, die zwar unterschiedlich sind, aber
einander ergänzen.
Die
drei Lebens- und Zeitkreise der Spurenfindungen in Bobrowskis Parabel
sollen den Leser, den Beter, den Interpreten, den Finder ermuntern,
seine Suche nach Brüdern, nach raren Spuren, nach Intentionen
aufzunehmen - und davon zu berichten.
Ein
gegenwärtiger Merksatz zu dem Problem der religiösen
Identitätsfindung: „Denn wie will man anders entdecken, dass
Religion nichts anderes ist als erfahrene Heimatkunde der Seele, wenn
man nie die konkrete Heimat (...) von innen sah?“ (Jürgen Fliege:
Auch ein Lindenbaum kann ein heiliger Ort sein. In: DS 39/1999. S.
38)
* ~ *
Im Übrigen gilt was Isaac Newton sagte:
"Selbst wenn es sonst überhaupt keinen Beweis gäbe, würde alleine der Daumen mich von der Existenz Gottes überzeugen".
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen