Donnerstag, 2. April 2020

Aus Petter Moens T a g e b u c h

Petter Moen (14.02.1901 - 8.09.1944): Sein differenziertes Credo

Aus Moens Gefängnistagebuch, 1944, in der Gestapohaft in Oslo geschrieben

Von der Menschenfeindlichkeit des Faschismus
Ein fortwährend lebendiges Tagebuch: Die Gefängnisaufzeichnungen des Norwegers Petter Moen


Die Umstände, die dieses Gefängnistagebuch gebaren, sind - auch ungefähr 60 Jahr nach seiner Entstehung - schockierend und beispielhaft für die Schulbuchverwendung:

Im Jahre 1944 wurde ein norwegischer Widerstandskämpfer, der Versicherung-smathematiker Petter Moen, der die widerständige, von den siegreichen Nazis „illegal“ genannte Presse zu organisieren suchte, verhaftet, verhört, gequält und gefangengesetzt.
Er unterlag - unter großen Gewissenskonflikten - der Folter der Gestapo, verriet Kameraden. Darüber legte er Rechenschaft ab, indem sich in seiner Einzelzelle eine Gelegenheit verschaffte, auf Toilettenpapierseiten ein fortlaufendes Tagebuch zu verfertigen, das er in einem Belüftungsschacht unter dem Fußboden verstecken konnte, ohne dass er selber je eine dieser in Papierrollen geschützten Seiten wieder einsehen konnte.
Von diesem geheimen Versteck berichtete er - auf einem Gefangenentransport auf der Überfahrt nach Deutschland - einem Mithäftling. Das Schiff ging unter, bis auf fünf Norweger, darunter der Mitwisser, ertranken alle; die Nachricht von diesem Gefängnistagebuch wurde nach der Befreiung Norwegens gesichert, das Tagebuch gerettet, die Umstände geklärt.

Neben dem Tagebuch der Anne Frank und vielen wichtigen Holocaust-Berichten, ist dieses „Über-Lebenswerk“ des Petter Moen eine Menschheitsquelle - von biblischem Range, ein Bericht von prophetischen Dimensionen, ein hochqualifiziertes „Buch Hiob“ in unseren Zeiten; ein Werk, in dem ein Mensch mit seinen Mitgefangenen, mit den deutschen Besatzern (Folterern und Gestapobeamten) - und mit Gott spricht, rechtet, ihn - in der sprachlich-mentalen Gewissheit der erlebbaren Hoffnung - anruft, seiner Mit- oder Gegen-Menschen Taten und Untaten anklagt - und einen - leider nur für Minuten und Stunden erreichbaren – Frieden erreicht, eine äußerst - von den deutschen NS-Gewalttätern immer wieder bedrängte - innere Freiheit des Geistes und Willens erlebt. Und Reflexionen auf politischem, psychologischem und theologischen Niveau des gesamten 20. Jahrhunderts niederschreibt.

In unseren Tagen, wo Neonazis ähnliche Untaten wie von 1933 bis 45 begehen - und in großem Maßstab wieder Mißhandlungen, Verfolgungen, Völkermord begehen würden, sind des Märtyrers und Philosophen Moens Einsichten - Fragen, Hoffnungen, Gewissheiten - über Menschenmögliches und politisch Aktuelles und Immerwiederkehrendes.

Mit einem Vorwort, in dem er die Umstände und die - für die Nachkriegszeit schockierenden, theologisch-freizügigen Reflexionen darstellt, hat der baltendeutsche Dichter Edzard Schaper den Text - nach dem norwegischen Original - für deutschsprachige Länder übersetzt und herausgegeben.

Zu Moens Biografie: Infolge der pietistisch-frömmelnd-ungerechten Erziehung der Eltern hat sich Petter Moen als Erwachsener nicht mehr mit Gott, schon gar nicht mehr mit Kirche (oder Kirchen) auseinandergesetzt. So bleibt in den gesamten Aufzeichnungen die konfessionelle Frage ausgeklammert.

Auszüge:

Textauszug vom 10.08.1944:

Donnerstag nachmittag

Ich muß in der Erinnerung besonders häufig zur Einzelzelle und der Zeit der Victoria Terrasse zurückkehren. Mit unbeschreiblicher Wehmut gedenke ich der Angst und der Trä­nen und der beinahe wilden Entschlossenheit, zu einer geistlichen Wiedergeburt zu gelangen. Von dieser Wiedergeburt - oder Bekehrung, wenn man so will - träumte ich, und nach ihr sehnte ich mich als nach einer großen Erneuerung meiner seelischen und leiblichen Kräfte zu Wachstum und Wohlergehen. »Jetzt oder nie! « sagte ich und schrieb ich und betete ich. »Der große Gewinn« glitt mir aus den Händen. Was dieser Spannung folgte, wirkt unheimlich banal und niederschmetternd. Ich sage zu mir selber: Du hast Fiasko gemacht. Was ich damit meine, ist wohl nichts anderes, als dass ich enttäuscht bin. Diese Enttäuschung betrifft am stärksten mich selbst und meine Eigenschaften und Fähigkeiten. Aus Schlacken wird kein Gold geschmolzen. Alles endet in diesem alten, verbrauchten, menschlichen »man muß sich durchschlagen, so gut man kann«. Pfui Teufel! Man gebe mir ein echtes Strindbergsches Inferno!

Ich habe hier im Gefängnis häufig in Rede und »Schrift« darauf hingewiesen, der ganze psychologische und historische Hintergrund zeige, dass Religion Menschenwerk und nichts anderes ist. Ihre »Wahrheiten« entbehren aller Kennzeichen der Objektivität: Kausalität, Meßbarkeit und Wiederholungsfreiheit.
Genau so verhält es sich mit der »Wahrheit« in dem eigentlichen religiösen Grundphänomen: Gottes Wirken im Menschen. Das vollzieht sich nicht nach einem Gesetz, dessen Wirkungen können nicht gemessen, und es kann nicht zum Gegenstand verifizierender Experimente gemacht werden.
Die Behauptung der Religion: es existiere ein »Gott« außerhalb des Menschen, und dieser Gott sei mächtig, ja allmäch­tig, in seinem Wirken im Menschen und in der Natur - diese Behauptung kann also mit keiner der uns bekannten Beweismethoden bewiesen werden. Der Intellekt hat hier eine un­geheuer starke Ausgangsposition. Er legt seine Grundregel vor: der Beweis obliegt dem, der die Behauptung aufstellt. Bis jetzt ist der Beweis ausgeblieben.
Den Gegenbeweis erbringt unsere ganze Natur- und Menschenkenntnis. Klarer als irgendeine Zeit vor uns sehen wir, dass der alte Jehovah nicht der Meister des großen Werkes ist, und ebensowenig irgendeiner seiner Nachfolger.
Die Geschichte Gottes zeigt uns vielmehr, dass er in vielen Formen vom Menschen erschaffen worden ist. Er hat viele Namen, aber nur eine Aufgabe: Träger des menschlichen Schuldbewußtseins, der Angst und der Wünsche zu sein.
Er gehört der magischen Welt an. Noch einmal: Gott ist ein Produkt der Wunschträume des Menschen. Das ist die ultima ratio in den Diskussionen um Gottes Existenz und Wesen.
Warum beschäftige ich mich hier so weitläufig mit dieser ab­genutzten Frage? Ich habe sehr gute Gründe dafür. Ich muß mit der Möglichkeit rechnen, dass mein Leben auf dem Spiel steht. Auf jeden Fall gehen mir viele bange Ahnungen durch den Sinn, wenn ich an die Unbarmherzigkeit des Gegners und die Raserei denke, welche die letzte Phase des Krieges prägt. Da muß auch ich »mein Haus bestellen«. Aber wenn auch das Exekutionskommando auf mich wartet - ich kann mir kein „Credo“ abzwingen. Ich versuchte das in der äußersten Not in der Einzelzelle.
Es war vergebens!


190. Tag Freitag, den 11. August

Nichts Böses wird mir widerfahren!
Dieses Wort hat Macht!!

Wenn über Religion diskutiert wird, kehrt beständig dieses »Argument« wieder: Es ist klar, dass derjenige, der an Gott glaubt, es gut hat. - Von den Einfältigen wird dieser Es-gut-haben-Zustand als Beweis für die Wahrheit der Religion genommen. Der »klügere Kopf« stellt die Sache häufig so dar. Wir können die Behauptungen von der Existenz Gottes weder beweisen, noch den Gegenbeweis führen. Für den Gläu­bigen existiert er. Wir können die Behauptung des Gläubi­gen, dass Gott ihn tröstet und ihm hilft, nicht bezweifeln.
(Aus: P.M.: Tagebuch. Übersetzt und herausgegeben von Edzard Schaper. (Deutsch zuerst 1950); Fi-TB Nr. 306; 1959., S. 104f.)

Was der einsame Held erreichte, war individuell eine psychische Leistung, eine Errungenschaft in barbarischen Zeiten.
Für die Leser der 50er Jahre war als Information und für Bildungszwecke eine Sensation, die sich aber in den allgemeinen politischen Bereich nicht fortsetzte.1959 publizierte der Fischer-Taschenbuchverlag eine Ausgabe (Fi-Tabu 306). Das Wissen dun die damaligen Bücher sind verschwunden.
In der Wikipedia-Auflistung zu Edzard Schapers Leben und Werk findet sich die Angabe zu der „Peter Moen“, ohne weitere Würdigung:

Peter Moen selber hatte, als Abschluss seines Gefängnisleben in der Manier eines auktorialen Erzählers notiert:
Petter Moen fuhr heute nach Deutschland. Um 3 Uhr kamen sie und holten ihn, es war traurig, jetzt dorthin geschickt zu werden. Heute ist der 6.9. O.B.R.“

Moen verstarb bei dem Untergang des Dampfers „Westfalen“, der in der Nacht vom 7. zum 8. September im Skagerrak auf eine Mine lief; ein Schiff, das 423 Norweger als Zwangsarbeiter in die Rüstungsindustrie des Deutsche Reiches in Hitlerscher Montur verbringen sollte.
1959 hieß es in der Taschenbuch-Werbung: „Die erschütternden Aufzeichnungen sind nicht nur ein Dokument der Vergangenheit, sondern auch ein Zeugnis der immerwährenden Frage des Menschen nach Gott.“ Von der politischen Dimension des Schicksals eines Individuum namens Petter Moen kein Wort!

Angekommen in Deutschland ist er nicht.

[Angabe für eine Publikation: Sechs Bilder - in der Taschenbuch-Ausgabe zwischen 96 und 97 – geben einen Eindruck der Zelle des Gefängnisses MØllergate in Oslo, des Autors Petter Moen, der räumlichen Situationen, der Papierrollen und einer Tagbuchseite.

Lesenswert: 
Gisela Schneemann hat das Tagebuch in einer neuen Übersetzung als pdf-Datei eingestellt:
Dort findet sich der erste Eintrag vom 10. Februar 1944:

DER 7. TAG MEINES GEFÄNGNISAUF ENTHALTS IN DER MØLLERGATE 19
(Donnerstag, 10. Februar)
Bin zweimal verhört worden. Wurde ausgepeitscht. Verriet Vic*. Bin schwach. Verdiene Verachtung. Habe furchtbare Angst vor Schmerzen. Aber keine Angst vor dem Sterben.
Ich denke heute abend an Bella. Weinen, weil ich Bella so viel Böses getan habe. Wenn ich am Leben bleibe, müssen Bella und ich ein Kind haben.
(Der Name „Vic“ war nicht mehr zu rekonstuieren.)

Aus: Petter Moens Tagebuch. Hrsg. v. Edzad Schaper. Frankfurt/M. 1959.
Hier das Fischer-Tagebuch im Bild:

Ergänzung.
Ich habe für eine religionskundliche Fachzeitschrift einen Artikel über Petter Moen publiziert:
Reyntjes, Anton Stephan: Petter Moens Aufzeichnungen aus der Haft.
- In: Religion heute, (2001) 48, S. 266-269 - Illustrationen - ISSN: 0722-9151 - deutsch

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