Mittwoch, 28. Dezember 2011

Schalom Ben-Chorin: In der M a a b a r a




Gedenktafel am Geburtshaus Schalom Ben Chorins in München, Zweibrückenstr. 8 (Blanka Wilchfort, 2011)


- Weihnachtsgeschichten allerorten Folge II -


Eine der seltsamsten Christnacht-, also G e b u r t s-Fest-Geschichten
stammt von

Schalom Ben-Chorin:

In der M a a b a r a


So einen Sturm habt ihr noch nicht erlebt! Er fauchte und zischte, rüttelte an den dünnen Bretterwänden der Holzbaracken, ließ die Blechdächer schaurig durch die Nacht rasseln und heulte wie eine Schar verdammter Seelen. Die wenigen Zelte, die es irgendwo an dem in Morast sich auflösenden Rande der Maabara - ganz gegen alle Programme gab, waren einfach davongeflogen. Und die »Badonim«, die Leinwandhäuser, blähten sich wie die Segel steuerloser Schiffe. Der elektrische Strom hatte ausgesetzt, das Kabel war von den furchtbaren Regengüssen undicht geworden. Nacht, tiefe undurchdringliche Nacht lag über der Maabara.
Plötzlich setzte der Regen aus. Der Mond brach durch das treibende Gewölk, und ein milder Stern wurde sichtbar, der über der Maabara zu stehen schien, wie ein Bote der Tröstung. Wetterleuchten ließ die unbefahrbare Straße hinüber nach Bethlehem aufscheinen. Dann war es wieder dunkel und still. Aus einer der elendsten Baracken drang ein leises Stöhnen.
Der alte Mosche setzte sich auf und lauschte. War es soweit, drüben beim Nachbarn Joseph, dem arbeitslosen Zimmermann, der aus einer anderen Maabara in Galiläa gekommen war aber auch hier keine Arbeit finden konnte? Der alte Mosche hatte sich oft über diesen stillen Joseph gewundert. So grau und unscheinbar stand er immer in der Ecke und blickte fast scheu auf seine junge Frau, die stets ein wenig lächelte und die Not des Tages, die drückende Armut kaum zu beachten schien. Es lag so etwas wie ein Geheimnis um diese Mirjam, von der niemand in der Maabara wußte, wie sie zu diesem einfältigen Manne kam, der mehr wie ihr Vater wirkte. Aber jedermann hatte seine eigenen Sorgen, und so kümmerte man sich nicht um den arbeitslosen Zimmermann und seine stille Frau. Sie gingen einen nichts an. Sehe jeder, wo er bleibe - sehe jeder, wie er's treibe.
Dennoch mußte Mosche jetzt auf das lauter werdende Stöhnen aus der Baracke der Joseph lauschen. Hatte Mirjam schon ihre schwere Stunde? Und kein Doktor war da. Telefon gab es nicht. Der Sturm hatte die Leitungsdrähte heruntergerissen. Wie sollte man da Hilfe herbeirufen? Ach was, dachte Mosche, ich habe nichts gehört. Wenn der Nachbar Hilfe braucht, wird er schon an meine Tür pochen.
Die Geburt war überraschend schnell vor sich gegangen. Mitten im ärgsten Sturm und Regen hatten die Wehen eingesetzt. Joseph hoffte, daß der Himmel doch noch ein Einsehen haben und das Unwetter nachlassen werde, so daß er Hilfe herbeirufen konnte.
Wie gelähmt hockte der stille Mann in der Ecke und blickte auf die Frau, die sich in ihren Nöten wand. Er wußte nicht, wie er helfen sollte, kauerte frierend und verängstigt in der eisigen Nacht, die nur von einer elenden Ölfunzel matt erleuchtet wurde.
Hätte nicht die grobknochige alte Kurdin von nebenan plötzlich im Eingang der Hütte gestanden, wäre Mirjam allein geblieben. Die Frau hatte sich einen groben Sack umgeworfen, um sich vor dem peitschenden Regen zu schützen. »Jihje tov, jihje tov« (wird schon gut werden), murmelte sie und stellte Wasser auf dem Primus-Kocher auf. Sie hockte neben Mirjam nieder und trällerte heiser etwas vor sich hin.
Plötzlich bäumte sich die junge Frau - wie von einer Welle hochgerissen auf und sank dann aschfahl zurück. Ihr Wimmern erstarb, aber eine andere, ganz leise Stimme weinte in der Nacht.
Die alte Kurdin packte zu. Da war es, das Kindlein. Ein Knabe, rosig und lieblich. Ein Wunder in dieser Nacht ohne Erbarmen. »Jeled, Jeled!« fauchte die Kurdin begeistert und breitete die blau gemusterten Finger gegen den bösen Blick über dem Neugeborenen. »Ein Sohn, ein Sohn ist uns geboren!« Sie begann das Kind zu waschen und bereitete der erschöpften Mutter einen Tee.
Joseph half, wo er konnte, aber die Alte stieß ihn zur Seite. »Männer haben hier nichts zu suchen«, maulte sie gaumig. Sie achtete nicht auf Joseph und nicht auf die zwei vierbeinigen Gäste, die in die Hütte kamen: der Esel des Nachbarn, der sich losgerissen hatte und Schutz vor Nässe suchte, und Josephs eigene Ziege, die näselnd meckerte, als wollte sie das Neugeborene begrüßen. Aus einem alten verbeulten Blechkoffer holte Joseph das strahlend weiße Leinenzeug, das Mirjam für diese Stunde verwahrt hatte. Und nun lag das Kindlein, ordentlich gewickelt, neben der lächelnden Mutter auf dem dürftigen Bett. Die Alte hatte ihr Werk vollbracht. »Masal tow, Glück zu«, sagte sie so laut, daß es sogar der schwerhörige Mosche nebenan hören konnte. Da raffte er sich auf, holte die Flasche mit dem Prompfenschnaps unterm Bett hervor und schlurfte hinüber zu Joseph, zaghaft an die Tür pochend. »Nur herein, liebe Nachbarn«, sagte Joseph und strahlte den alten Mosche an. Und kaum war dieser eingetreten, da fand sich auch Jiche, der dunkle Jemenite, ein, und Chaim, der Mann aus Bulgarien, der einst bessere Tage gesehen hatte. Und sie hatten alle etwas mitgebracht. Eine Kleinigkeit, eine Nichtigkeit - mehr hatten sie nicht. Und sie legten es wie eine Huldigung nieder vor dem kleinen Menschensohn, der da mitten in dieser Nacht der Verlorenheit selig lächelte. Mosche holte seine Flasche hervor und füllte die Gläser, die Joseph ihm reichte, und begann leise die alte chassidische Weise zu singen: »Rebbe du, wus wer'n mir trinken, wenn Maschiach wird kummen?«

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Zur E r k l ä r u n g :

Maabara war die Bezeichnung für die Übergangslager der Neueinwanderer in Israel in den Jahren nach der Staatsgründung 1948 1960. Die größte Maabara in Jerusalem lag unmittelbar an der Straße nach Bethlehem, das damals zu Jordanien gehörte. Die Neueinwanderer mußten oft viele Jahre in diesen elenden Behausungen zubringen, bis menschenwürdigere Wohnungen für sie erstellt werden konnten. Aus der Situation der fünfziger Jahre ist diese kleine Skizze entstanden.
(Aus: Und überall weihnachtet es sehr. Geschichten und Erinnerungen. Herausgegeben von Manfred Baumotte. Hannover 2001: Lutherisches Verlagshaus. S. 123-127. - Der Herausgeber Baumotte führt als Quelle dieser sonst nirgendwo gedruckten Erinnerungs-Geschichte eine persönliche Zueignung durch den Autor an.)

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Schalom Ben-Chorin (1913-1999) ist einer der bekanntesten jüdischen Religionsphilosophen und Schriftsteller deutscher Sprache im 20. Jahrhundert. Er gilt als Gründer des Reformjudentums in Israel.
Mit mehr als 30 Büchern und Hunderten von Artikeln und Essays hat er das deutsch-israelische und das christlich-jüdische Gespräch geprägt.
Sein Leben war ein Zeugnis für Begegnung und Verständigung.
Das letzte Interview mit Tobias Raschke und viele Informationen über

URL: http://www.ben-chorin.de/

Oder: http://www.hagalil.com/ben-chorin/

Nachruf von Inka Bohl: Sein Name war "Frieden": Zum Tode von Schalom Ben-Chorin

http://www.judentum.net/kultur/ben-chorin-1.htm

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Porträt:

http://plattpartu.de/gott/gott_biller/benchorin.jpg

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A r b e i t saufträge (die ich als Lehrer zu der Geschichte einmal verteilte....):

* Erzähle die Geschichte dieser ?Christnacht? in Israel nach.

* Erläutere die Charakterisierungen der Personen.

* Und vergleiche den Text mit der klassischen Bibel+überlieferung
(Lk 2,1-14)

und mit den Kurzgeschichten von

Wolfgang B o r c h e r t: "Die drei dunklen Könige"?

und von

Josef R e d i n g: "An der Stalltür".


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