Märchen-Studien I
Ein Fall von Autismus:
"Hans der Igel"
oder
Der Mann als unerlöster Störenfried
In europäischen Märchen ist - neben den Zaubermärchen - der Erzähltypus des entwicklungspsychologischen Einzelfalles sehr häufig; wir finden etliche Beispiele für die starke Beziehungs- und Kommunikationsstörungen und für kindliche Bewältigungsstrategien bei massiven Wahrnehmungs- und Reifestörungen:
Die vielfältigen Symptome sind wie aus einem Handbuch für Entwicklungspsychologie oder einem Index der Kinderpsychiatrie entnommen:
Besonders krasse Krankheitsbilder, gehäuft bei Jungen oder jungen Männern, wurden früher dem Typ des Wechselbalges oder allgemein undifferenziert des Idiotes, auch des Narren, zugeordnet; später, zuletzt mit Beginn des 20. Jahrhundert wurden Forschungen und Diagnosen erarbeitet, z.B. die unterschiedliche Krankheitsbilder wie Autismus, geistige Behinderungen, spezifiziert nach Ursachen.
In der mitteleuropäischen Märchenwelt gibt es viele interessante Motive, die entwicklungspsychologische Momente des Reifens aufzeigen, meist der männlichen Verhaltensstörung oder Liebesunfähigkeit. Eines der sonderbarsten ist das Motiv des Igel-Mannes, sowohl im deutschen als auch in litauischen Märchen. Nach der Darstellung der Texte erfolgt die Analyse.
Deutsch-litauischer Märchen-Vergleich in soziologischer und entwicklungspsychologischer Sicht: Der sog. Dunkel- oder Igel-Mann
(Nach der Typen-Klassifikation von Aarne und Thompson Typ 441; vgl. KHM 108)
Diese Textanalysen sind ein Ausschnitt aus der Arbeitmappe
Frühkindlicher Autismus" von A.S. Reyntjes; erhältlich über den Verband der Pädagogiklehrer; vgl. www.vdp.org/mm26.htm - 5k -
1.: Zwei Märchen und ihre geheime/offenkundige Botschaft (AT 441): des sogenannten Igel-Mannes als Beispiel der Entwicklung eines behinderten Menschen in unterschiedlichen Sprachen und Landschaften
Gliederung:
1.1. Grimms Kinder- und Hausmärchen Nr. 108: "Hans mein Igel"
1.2. Litauisches Märchen "Der Igel, der Schwiegersohn des Königs" (Ausgabe: Märchen aus Litauen. Hrsg. v. Jochen D. Range. Frankfurt/M.: Fitabu 11798. S. 62 - 69). Litauischer Titel: "Ezys karaliaus zentas". Aus: Lietuviu tautosaka. Bd. 3. Vilnius 1965. (Märchen Nr. 127. S. 325ff.)
1.3.: Zur vergleichenden Märchenforschung
1.4. Ingrid Riedel: Des Igels Menschwerdung (Arbeitstext)
1.5. Entwicklungspsychologische Leitideen der Entwicklung des Kindes im deutschen Märchen; abschließende Erfassung der Reifungsmomente aufgrund der heilenden Momente, die sich auswirken
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1.1.
Das Grimmsche Märchen "Hans mein Igel" (KHM 108)
Es war einmal ein Bauer, der hatte Geld und Gut genug, aber wie reich er war, so fehlte doch etwas an seinem Glück: er hatte mit seiner Frau keine Kinder. öfters, wenn er mit den andern Bauern in die Stadt ging, spotteten sie und fragten, warum er keine Kinder hätte. Da ward er endlich zornig, und als er nach Haus kam, sprach er: »Ich will ein Kind haben, und sollt's ein Igel sein.« Da kriegte seine Frau ein Kind, das war oben ein Igel und unten ein junge, und als sie das Kind sah, erschrak sie und sprach: »Siehst du, du hast uns verwünscht.« Da sprach der Mann: »Was kann das alles helfen, getauft muß der junge werden, aber wir können keinen Gevatter dazu nehmen.« Die Frau sprach: »Wir können ihn auch nicht anders taufen als Hans mein Igel. «Als er getauft war, sagte der Pfarrer: "Der kann wegen seiner Stacheln in kein ordentlich Bett kommen.« Da ward hinter dem Ofen ein wenig Stroh zurechtgemacht und Hans mein Igel daraufgelegt. Er konnte auch an der Mutter nicht trinken, denn er hätte sie mit seinen Stacheln gestochen. So lag er da hinter dem Ofen acht Jahre, und sein Vater war ihn müde und dachte, wenn er nur stürbe; aber er starb nicht, sondern blieb da liegen. Nun trug es sich zu, daß in der Stadt ein Markt war, und der Bauer wollte hingehen, da fragte er seine Frau, was er ihr sollte mitbringen. »Ein wenig Fleisch und ein paar Wecke, was zum Haushalt gehört«, sprach sie. Darauf fragte er die Magd, die wollte ein paar Toffeln und Zwickelstrümpfe. Endlich sagte er auch: "Hans mein Igel, was willst du denn haben?" "Väterchen«, sprach er, "bring mir doch einen Dudelsack mit." Wie nun der Bauer wieder nach Haus kam, gab er der Frau, was er ihr gekauft hatte, Fleisch und Wecke, dann gab er der Magd die Toffeln und die Zwickelstrümpfe, endlich ging er hinter den Ofen Lind gab dem Hans mein Igel den Dudelsack. Und wie Hans mein Igel den Dudelsack hatte, sprach er: "Väterchen, geht doch vor die Schmiede und laßt mir meinen Göckelhahn beschlagen, dann will ich fortreiten und will nimmermehr wiederkommen.« Da war der Vater froh, daß er ihn loswerden sollte, und ließ ihm den Hahn beschlagen, und als er fertig war, setzte sich Hans mein Igel darauf, ritt fort, nahm auch Schweine und Esel mit, die wollt er draußen im Walde hüten. Im Wald aber mußte der Hahn mit ihm auf einen hohen Baum fliegen, da saß er und hütete die Esel und Schweine, und saß lange Jahre, bis die Herde ganz groß war, und wußte sein Vater nichts von ihm. Wenn er aber auf dem Baum saß, blies er seinen Dudelsack und machte Musik, die war sehr schön. Einmal kam ein König vorbeigefahren, der hatte sich verirrt und hörte die Musik; da verwunderte er sich darüber und schickte seinen Bedienten hin, er sollte sich einmal umgucken, wo die Musik herkäme. Er guckte sich um, sah aber nichts als ein kleines Tier auf dem Baum oben sitzen, das war wie ein Göckelhahn, auf dem ein Igel saß, und der machte die Musik. Da sprach der König zum Bedienten, er sollte fragen, warum er da säße und ob er nicht wüßte, wo der Weg in sein Königreich ginge. Da stieg Hans mein Igel vom Baum und sprach, er wollte den Weg zeigen, wenn der König ihm wollte verschreiben und versprechen, was ihm zuerst begegnete am königlichen Hofe, sobald er nach Haus käme. Da dachte der König: "Das kann ich leicht tun, Hans mein Igel versteht's doch nicht und ich kann schreiben, was ich will. Da nahm der König Feder und Dinte und schrieb etwas auf, und als es geschehen war, zeigte ihm Hans mein Igel den Weg, und er kam glücklich nach Haus. Seine Tochter aber, wie sie ihn von weitem sah, war so voll Freuden, daß sie ihm entgegenlief und ihn küßte. Da gedachte er an Hans mein Igel und erzählte ihr, wie es ihm gegangen wäre und daß er einem wunderlichen Tier hätte verschreiben sollen, was ihm daheim zuerst begegnen würde, und das Tier hätte auf einem Hahn wie auf einem Pferde gesessen und schöne Musik gemacht; er hätte aber geschrieben, es sollt's nicht haben, denn Hans mein Igel könnt es doch nicht lesen. Darüber war die Prinzessin froh und sagte, das wäre gut, denn sie wäre doch nimmermehr hingegangen.
Hans mein Igel aber hütete die Esel und Schweine, war immer lustig, saß auf dem Baum und blies auf seinem Dudelsack. Nun geschah es, daß ein anderer König gefahren kam mit seinen Bedienten und Laufern, und hatte sich verirrt und wußte nicht, wieder nach Haus züi kommen, weil der Wald so groß war. Da hörte er gleichfalls die schöne Musik von weitem und sprach zu seinem Laufer, was das wohl wäre, er sollte einmal zusehen. Da ging der Laufer hin unter den Baum und sah den Göckelhahn sitzen und Hans mein Igel obendrauf. Der Laufer fragte ihn, was er da oben vorhätte. Ich hüte meine Esel uni Schweine; aber was ist Euer Begehren?« Der Laufer sagte, sie hätten sich verirrt und könnten nicht wieder ins Königreich, ob er ihnen den Weg nicht zeigen wollte. Da stieg Hans mein Igel mit dem Hahn vom Baum herunter und sagte zu dem alten König, er wolle ihm den Weg zeigen, wenn er ihm zu eigen geben wollte, was ihm zu Haus vor seinem königlichen Schlosse das erste begegnen würde. Der König sagte ja und unterschrieb dem Hans mein Igel, er sollte es haben. Als das geschehen war, ritt er auf dem Göckelhahn voraus und zeigte ihm den Weg, und gelangte der König glücklich wieder in sein Reich. Wie er auf den Hof kam, war große Freude darüber. Nun hatte er eitle einzige Tochter, die war sehr schön, die lief ihm entgegen, fiel ihm um den Hals und küßte ihn und freute Sich, daß ihr alter Vater wiederkam. Sie fragte ihn auch, wo er so lange in der Welt gewesen wäre, da erzählte er ihr, er hätte sich verirrt. und wäre beinahe gar nicht wiedergekommen, aber als er durch einen großen Wald gefahren wäre, hätte einer, halb wie ein Igel, halb wie ein Mensch, rittlings auf einem Hahn in einem hohen Baum gesessen und schöne Musik gemacht, der hätte ihm fortgeholfen und den Weg gezeigt, er aber hätte ihm dafür versprochen, was ihm am königlichen Hofe zuerst begegnete, und das wäre sie, und das täte ihm nun so leid. Da versprach sie ihm aber, sie wollte gerne mit ihm gehen, wann er käme, ihrem alten Vater zuliebe.
Hans mein Igel aber hütete seine Schweine, und die Schweine bekamen wieder Schweine, und wurden ihrer so viel, daß der ganze Wald voll war. Da wollte Hans mein Igel nicht länger im Wilde leben und ließ seinem Vater sagen, sie sollten alle Ställe im Dorf räumen, denn er käme mit einer so großen Herde, daß jeder schlachten könnte, der nur schlachten wollte. Da war sein Vater betrübt, als er das hörte, denn er dachte, Hans mein Igel wäre schon lange gestorben. Hans mein Igel aber setzte sich auf seinen Göckelhahn, trieb die Schweine vor sich her ins Dorf und ließ schlachten; hu! da war ein Gemetzel und ein Hacken, daß man's zwei Stunden weit hören konnte. Danach sagte Hans mein Igel: "Väterchen, laßt mir meinen Göckelhahn noch einmal vor der Schmiede beschlagen, dann reit ich fort und komme mein Lebtag nicht wieder." Da ließ der Vater den Göckelhahn beschlagen und war froh, daß Hans mein Igel nicht wiederkommen wollte.
Hans mein Igel ritt fort in das erste Königreich, da hatte der König befohlen, wenn einer käme auf einem Hahn geritten und hätte einen Dudelsack bei sich, dann sollten alle auf ihn schießen, hauen und stechen, damit er nicht ins Schloß käme. Als nun Hans mein Igel dahergeritten kam, drangen sie mit den Bajonetten auf ihn ein, aber er gab dem Hahn die Sporn, flog auf, über das Tor hin vor
des Königs Fenster, ließ sich da nieder und rief ihm zu, er sollt ihm geben, was er versprochen hätte, sonst wollt er ihm und seiner Tochter das Leben nehmen. Da gab der König seiner Tochter gute Worte, sie möchte zu ihm hinausgehen, damit sie ihm und sich das Leben rettete. Da zog sie sich weiß an, und ihr Vater gab ihr einen Wagen mit sechs Pferden und herrlichenl Bedienten, Geld und Gut. Sie setzte sich ein und Hans mein Igel mit seinem Hahn und Dudelsack neben sie, dann nahmen sie Abschied und zogen fort, und der König dachte, er kriege sie nicht wieder zu sehen. Es ging aber anders, als dachte, denn als sie ein Stück Wegs von der Stadt waren, da zog ihr Hans mein Igel die schönen Kleider aus und stach sie mit seiner Igelhaut, bis sie ganz blutig war, sagte: »Das ist der Lohn für eure Falschheit, geh hin, ich will dich nicht«, und jagte sie damit nach Haus, und war sie beschimpft ihr Lebtag.
Hans mein Igel aber ritt weiter auf seinem Göckelhahn und mit seinem Dudelsack nach dem zweiten Königreich, wo er dem König auch den Weg gezeigt hatte. Der aber hatte bestellt, wenn einer käme wie Hans mein Igel, sollten sie das Gewehr präsentieren, ihn frei hereinführen, Vivat rufen und ihn ins königliche Schloß bringen. Wie ihn nun die Königstochtcr sah, war sie erschrocken, weil er doch gar zu wunderlich aussah, sie dichte aber, es wäre nicht anders, sie hätte es ihrem Vater versprochen. Da ward Hans mein Igel von ihr bewillkomnet und ward mit ihr vermählt, und er mußte an die königliche Tafel gehen, und sie setzte sich zu seiner Seite, und sie aßen und tranken. Wie's nun Abend ward, daß sie wollten schlafen gehen, da fürchtete sie sich sehr vor seinen Stacheln; er aber sprach, sie sollte sich nicht fürchten, es geschähe ihr kein Leid, und sagte zu dem alten König, er sollte vier Mann bestellen, die sollten wachen vor der Kammertüre und ein großes Feueranmachen, und wann er in die Kammer einginge und sich ins Bett legen wollte, würde er aus seiner Igelshaut herauskriechen und sie vor dein Bett liegen lassen; dann sollten die Männer hurtig lierbeispringen und sie ins Feuer werfen, auch dabeibleiben, bis sie vom Feuer verzehrt wäre. Wie die Glocke nun elfe schlug, da ging er in die Kammer, streifte die Igelshaut ab und ließ sie vor dem Bette liegen; da kamen die Männer und holten sie geschwind und warfen sie ins Feuer; und als sie das Feuer verzehrt hatte, da war er erlöst und lag da im Bett ganz als ein Mensch gestaltet, aber er war kohlschwarz wie gebrannt. Der König schickte zu seinem Arzt, der wusch ihn mit guten Salben und balsamierte ihn, da ward er weiß und war ein schöner junger Herr. Wie das die Königstochter sah, war sie froh, und am andern Morgen stiegen sie mit Freuden auf, aßen und tranken, und ward die Vermählung erst recht gefeiert, und Hans mein Igel bekam das Königreich von dem alten König.
Wie etliche Jahre herum waren, fuhr er mit seiner Gemahlin zu seinem Vater und sagte, er wäre sein Sohn; der Vater aber sprach, er hätte keinen, er hätte nur einen gehabt, der wäre aber wie ein Igel mit Stacheln geboren worden und wäre in die Welt gegangen. Da gab er sich zu erkennen, und der alte Vater freute sich und ging mit ihm in sein Königreich.
Mein Märchen ist aus, und geht vor Gustchen sein Haus.
1.2.
In Litauen überlieferter Märchentext:
Der Igel, der Schwiegersohn des Königs
Einst lebten arme Eltern, die hatten lange keine Kinder. Schließlich bekamen sie einen jungen. Sie gaben ihn den Taufpaten, die ihn zur Kirche bringen sollten. Unterwegs begann das Kind zu schreien, und die Paten riefen ärgerlich: »Pssst, wirst du wohl aufhören zu schreien, du Igel!« Als sie wieder nach Hause kamen, war das Kind zuni Igel geworden. Was sollte man da tun? Seine Eltern zogen ihn groß, weiter nichts.
Als er schon etwas älter war, begann das Igelchen die Schweine zu hüten. Er war aber ein heller Kopf, verstand alles mögliche. Also verabschiedete er sich von seinen Eltern und trieb die Schweine vor sich her in den größten Wald. Dort hütete er sie vielleicht drei Jahre lang und zog in dieser Zeit eine Menge Schweine auf!
Einmal hatte sich der König, der in diesem Wald auf der Jagd war, verirrt und ritt den ganzen Tag dort umher. Am Abend stieß er auf die Schweineherde des Igels, und als er den Igel sah, fragte er: »Du weißt doch Bescheid, zeig mir den Weg. «
»Gib mir deine Tochter zur Frau, dann zeige ich ihn dir.«
Der König wurde böse: »Meine Tochter will der! Weidet seine Schweine in meinem Wald! Ich werde dir was, meine Tochter geben!« und er ritt fort. Der Igel lachte sich eins. Er blieb in dem Wald und hütete seine Schweine.
Am nächsten Tag irrte der König immer noch umher. Er stieß wieder auf den Igel mit seinen Schweinen und bat ihn, ihm den Weg zu zeigen. Der Igel sagte: »Du gibst mir deine zweite Tochter zur Frau und ich zeige ihn dir.«
Der König ritt erzürnt davon. Er irrte auf seinem Pferd einen dritten Tag herum und war bereits ganz schwach, weil er nichts zu essen hatte. Wieder stieß er auf den Igel mit den Schweinen, und er bat ihn, ihm den Weg zu zeigen. Der Igel sagte: »Du wirst mir deine dritte Tochter zur Frau geben, dann zeige ich dir den Weg.«
Der König wollte nicht recht, aber was blieb ihm übrig? lin Wald konnte er verhungern. Also versprach er sie ihm, wenn auch nur zum Schein.
Der Igel sagte: »Dann komme ich also morgen zu dir geritten.« Der König sagt: »Das kannst du machen.« Der Igel begleitete den König bis an den Weg hinaus, und der ritt heim.
Nun rief der Igel die Schweine zusammen, und die liefen zum Hof seines Vaters. Der Vater erschrak - wo kamen die vielen Schweine her? Doch da kam auch der Igel.
Seine Eltern freuten sich: »Wir haben gedacht«, sagten sie, »du lebst schon nicht mehr, dabei hast du offenbar die Schweine gehütet.« Seine Eltern verkauften die Schweine und waren nun einigermaßen wohlhabend.
Nachdem er eine Nacht geschlafen hatte, erbat sich der Igel von seiner Mutter den roten Hahn und ritt zum König. Fr kam zum Schloß geritten und der Hahn krähte los. Die Schloßhunde begannen zu bellen, die Nachtwächter kamen, nahmen den Igel und den Hahn und brachten sie zum König: »Was sind das hier für Tierchen?«
Der König sagte: »Das sind keine Tierchen, da ist mein Schwiegersohn geritten gekommen. Ich habe nicht versprochen, dir meine Tochter zu geben, aber da du nun schon einmal hier bist - wenn sie dich heiraten will, soll sie es meinetwegen tun.«
Der König brachte den Igel zu seiner ältesten Tochter, doch die ‑ wo wird die ihn heiraten! Sie macht sich nur über ihren Vater lustig: "Ja, wenn ein Esel einen Igel findet, dann wird das ein Mann für mich sein! «
Der König sagt: »Komm morgen wieder, vielleicht heiratet dich die mittlere." Der Igel ritt fort, ritt zu seinen Eltern, übernachtete dort, und am Morgen erbat er sich von seiner Mutter den blauen Hahn. Als er ihn bekommen hatte, stieg er auf und ritt davon. Er kam in den Schloßhof. Das Hähnchen krähte, die Hunde bellten, der Nachtwächter kam und trug sie hinein. Er sagte: »Was ich da für ein Tierchen gefunden habe.«
Der König sagt: »Das ist kein Tierchen, sondern mein Schwiegersohn«, und brachte ihn zu seiner zweiten Tochter. Als der Igel die Königstochter sah, leckte er sich gleich das Maul: wie schön die war! Doch sie sagte zu ihrem Vater: »Diesen Schwiegersohn kannst du ins Gebüsch tragen, aber nicht zu mir bringen.«
»Macht nichts«, sagte der König, »komm morgen noch einmal wieder.«
Der Igel ritt nach Haus, und der König freute sich, daß seine Töchter ihn nicht wollten.
Am Morgen erbat sich der Igel von seiner Mutter das gelbe Hähnchen, nahm einen wunderschönen Ring, den er gefunden hatte, als er im Wald d 1 e Schweine hütete, stieg auf und ritt los. Er kam zum Schloß, da stand die jüngste Tochter des Königs gerade vor dem Tor. Als der Igel den Ring glitzern ließ, da erstrahlte das ganze Schloß, sogar die Königstochter mußte loslachen. Der Hahn krähte, und der Nachtwächter kam gelaufen und brachte den Igel zum König. Er sagte: »Schau, was ich hier für ein Tierchen habe.«
Der König sagte: »Das ist kein Tierchen, das ist mein Schwiegersohn«, und er brachte ihn zu seiner dritten Tochter. Er sagt: »Nimmst du den Igel zum Mann? Ich habe dich ihm versprochen.« Als sie diese Worte hörte, war die Königstochter zunächst traurig, doch nach einiger Zeit sagte sie: »Wenn du es ihm versprochen hast, was bleibt da übrig? Dann nehme ich ihn, oder?«
Sofort reichte der Igel der Königstochter seinen Ring, und sie freute sich sehr. Und von ihr bekam er auch einen Ring. Ihm lief schon das Wasser im Mund zusammen. Fröhlich flatterte er mit seinem Hähnchen nach Haus.
Der König lud nun die Verwandtschaft und viele Gäste zur Hochzeit ein. Alle waren fröhlich, nur die Königstochter war traurig, daß sie solch einen Mann heiraten muß. Am nächsten Morgen hörte sie den Hahn krähen, sie schaut ‑ der Igel ist da. Die Musikanten laufen hinaus, sie spielen einen schönen Marsch, und der Igel sitzt auf seinem Hahn und wartet, daß es zur Trauung in die Kirche geht. Pferde werden vor eine Kutsche gespannt, die Königstochter steigt ein, und der Igel nimmt mit seinem Hahn ebenfalls darin Platz. Die Königstochter weint bitterlich, daß sie solch einen Mann bekommt. Und ihre Schwestern lachen, sie sagen: »Warum hast du ihn genommen?«
Sie fuhren irgendwohin zur Trauung. Schon ist es Zeit in die Kirche reinzugehen. Der Igel verschwand mit dem Hahn für einen Augenblick, zog sich sein Igelhemd aus. und nun stand dort ein unbeschreiblich schöner junger Mann. Das Hemd gab er dein Hähnchen und sagte: »Versteck es gut, damit du es mir, wenn ich es brauche, wieder bringen kannst.«
Das Hähnchen flog zu den Eltern des Igels zurück, der Igel aber ging zur Hochzeit. Man wartet schon auf ihn. Alle schauen, wo der Igel nur bleibt, da kommt plötzlich ein schöner schöner Jüngling. Als den die Königstochter ,sah, dachte sie: "Für solch einen als Mann würde ich die ganze Welt absuchen."
Und wie ihn alle anschauten, da kam der Igel und trat neben die Königstochter. Die Königstochter wurde fast ohnmächtig vor Freude! Nach der Trauung fuhr die Königstochter nach Hause, umarmte und küßte ihren Gatten. Die Schwestern wurden aber vor Herzeleid zu Kuckucksvögeln und riefen in Erinnerung an ihre glücklichen Mädchenjahre ihr Leid in die Welt hinaus, sie spuckten ob ihrer Dummheit aus und trauern bis zum heutigen Tag.
Das ganze Hochzeitsfest über lärmten und vergnügten sich alle, besonders aber die Königstochter. Nach dem Fest ging der Igel hinaus und rief das Hähnchen, und das brachte ihm das Igelhemd. Das zog er nun wieder an. Die Königstochter war wieder traurig. In der Nacht kriecht der Igel unter das Bett, legt dort sein Hemd ab und schläft bei der Königstochter, doch tagsüber wird er wieder zum Igel.
Nachdem sie eine Zeitlang so gelebt hatten, weckte die Mutter der Königstochter früh am Morgen, als der Igel noch schlief, ihre Tochter und sagte: »Such sein Igelhemdchen, wirf es ins Feuer, soll es verbrennen, und er wird es nie wieder anziehen.«
Der Rat der Mutter gefiel der Königstochter, sie kroch unter das Bett und fand die Igelhaut. Sie warf sie ins Feuer und verbrannte sie. Am Morgen erhob sich der Igel, kroch unter das Bett, und als er sein Gewand dort nicht fand, kam er hervor und sprach: »All mein Leid wäre in Kürze vorübergewesen«, sagte er, »und ich wäre dann immer so gewesen. Was habt Ihr mir da angetan ‑ Ihr habt mein Leidenshemd verbrannt! Von nun an werdet Ihr mich nicht mehr sehen. Und wenn du mich sehen willst, darin laß dir eiserne Schuhe schmieden ‑ drei Zoll dick, und einen Stab - drei Ellen lang, und back dir drei Körbe Brot, und dann zieh in die Welt hinaus. Wenn die Schuhe kaputt, der Stock abgenutzt und das Brot gegessen ist, dann wirst du mich finden.« Kaum hatte er das gesagt, da kam ein Wirbelwind und der Igel war verschwunden.
Der Königstochter tat es schrecklich leid, obwohl ihre Mutter sie auf alle erdenkliche Art zu trösten versuchte: »Du kannst doch wieder so einen schönen Mann bekommen!« Aber - das nützte alles nichts. Und die Königstochter beschloß, ihn suchen zu gehen. Sie befahl dem Schmied, die Schuhe zu schmieden, ließ den Stock machen, buk sich drei Körbe Brot und zog in die Welt hinaus.
Sie ging eine Welle - ein Jahr, vielleicht auch länger, und die Schuhe waren um einen Zoll dünner, der Stock um eine Elle kürzer, und von dem Brot war ein Korb gegessen. Sie kam an ein Häuschen, dort bat sie um ein Nachtlager. Es lebte dort niemand außer einer alten Frau. Nachdem die Königstochter erzählt hatte, wohin sie ginge, fragte sie die Alte, ob sie nichts von ihrem Mann wüßte. Die Alte sagt: »Ich weiß es. Deinen Mann hat eine Hexe geraubt. Aber bis zu ihm ist es noch weit. Noch zwei Jahre zu gehen.«
Als sie am Morgen aufbrach, schenkte ihr die Alte einen schönen goldenen Fingerhut, so schön, daß man ihn nicht genug bewundern konnte. Und wieder zog die Königstochter durch die Welt, schon waren die Schuhe um das zweite Zoll dünner, der Stock um eine weitere Elle kürzer, und vom Brot war der zweite Korb gegessen. Und wieder kam sie an ein Häuschen, bat sie um ein Nachtlager. In dem Häuschen lebte nur eine alte Frau und die nahm sie auf. Die Königstochter erzählte ihr, wohin sie gehe, und sie fragte die Alte, ob sie nicht etwas von ihrem Mann wüßte. Die Alte sagt: 4ch weiß es. Eine Hexe hat ihn geraubt. In einem Jahr kannst du bei ihm sein.«
Als die Königstochter am anderen Morgen aufbrach, schenkte ihr die Alte einen Seidenapfel, aber einen so schönen, daß man sich vor Freude nicht zu lassen wußte. Und die Königstochter zog wieder los. Sie ging ein ganzes Jahr, die Schuhe waren völlig zerrissen und der Stock war kaputt, das ganze Brot war gegessen. Und sie kam wieder an ein Häuschen. Sie bat um ein Nachtlager. Nur eine alte Frau war dort und die nahm sie auf. Sie erzählte, wohin sie ginge, und fragte die Alte nach ihrem. Mann, ob sie nicht etwas wüßte. Die Alte sagte: » Ach! Sicher weiß ich etwas ‑er ist hier, im Schloß der Hexe.« Und die Alte schenkte ihr ein goldenes Hähnchen, so schön, daß man es nicht genug bewundern konnte. Sie sagte: "Wenn du in das Schloß gehst, wirst du deinen Mann nicht sehen, denn die Hexe wird ihn verstecken. Laß dein Hähnchen frei, und wenn es zu krähen beginnt, wird die Hexe großen Gefallen an ihm haben. Sie wird es dir abkaufen wollen. Gib ihr den Hahn aber nur, wenn sie dir erlaubt, eine Nacht bei deinem Mann zu schlafen. Alles andere mußt du dann schon selber wissen, meine Tochter.«
Nachdem die Königstochter der alten Frau für ihren Rat gedankt hatte, ging sie am Morgen zu dem Schloß und ließ das Hähnchen fliegen. Das hat so schön gekräht! Die Hexe kam heraus und wollte es kaufen. Aber die Königstochter will es ihr nur verkaufen, wenn sie sie bei ihrem Mann schlafen läßt. Die Hexe erlaubt es schließlich, doch sie schickt ihren Mann in einen festen Schlaf. Als die Königstochter ihren Geliebten sah, umarmte sie ihn und küßte ihn ab, bat und bettelte, aber er machte kein Auge auf. Schließlich merkte sie, daß er fest schläft. Sie zog und zerrte an ihm, umsonst.
Am Morgen ließ die Hexe die weinende Königstochter aus der Kammer des Mannes heraus. Als der Igel erwachte, fragte er die Hexe: »War jemand in der Nacht bei mir, daß ich wie gerädert bin?«
»Nein! Niemand.«
Die alte Frau belehrte die Königstochter. Am nächsten Tag ging sie also wieder im Schloßhof umher, hatte den Fingerhut auf den Finger gesteckt und nähte. Als die Hexe diesen schönen Fingerhut sah, wollte sie ihn haben. Die Königstochter sagt: »Wenn du mich eine Nacht mit deinem Mann schlafen läßt, will ich ihn dir geben.« Die Hexe erlaubte es zwar, aber sie schickte ihren Mann in einen so festen Schlaf, daß die Königstochter ihn nicht wach bekam: sie kniff und zwickte ihn, und was sie sonst noch anstellte, alles war umsonst.
Am Morgen ging sie wieder weinend zu der alten Frau. Die Alte belehrte sie, und sie ging zum Schloß und spielte dort mit ihrem seidenen Apfel. Die Hexe sah das und wollte ihr den Apfel abkaufen. Aber die Königstochter verkaufte ihn nicht, sie sagt: "Wenn du mich eine Nacht bei deinem Mann schlafen läßt, will ich ihn dir geben." Die Hexe erlaubte es zwar, aber sie schickte ihren Mann in einen tiefen Schlaf. Der Igel, der schon zwei Nächte zu leiden gehabt hat, merkte, wie jemand in der Nacht zu ihm kam. Er stellte sich schlafend, in Wirklichkeit schlief er aber nicht. Als die Königstochter zu ihm kam, begann sie ihn gleich heftig zu kneifen. Er umfing sie und sagt: »Warum kneifst du mich?« Die Königstochter küßte ihren Geliebten und beide weinten vor Freude.
Am Morgen ging die Königstochter wieder raus, der Igel nahm aber ein Schwert und schlug die Hexe nieder. Sofort wurde das ganze Schloß zu einem See, und auf ihm schwamm ein schmuckes Schiffchen. Die Königstochter und der Igel gelangten mit Hilfe des Hähnchens glücklich auf das Schiff und kamen so ans Ufer. Dann befahl das Hähnchen der Königstochter und dein Igel, sich auf es draufzusetzen, und in Windeseile flogen sie in das Land der Königstochter zurück. Der Apfel und der Fingerhut fanden sich auch bei der Königstochter! Wie freuten sich da alle! Und der König gab ein großes Fest und übergab dem Igel sein ganzes Königreich.
Auch ich war dort, auf diesem Fest. Darum habe ich alles gesehen und erzählt, was dort geschehen ist.
(Aus: Märchen aus Litauen. Hrsg. v. Jochen D. Range. Frankfurt/M.: Fitabu 11798. S. 62 - 69)
1.3.
Walter Scherf:
HANS MEIN IGEL
1. Das Märchen von dem Jungen, der durch eine Verwünschung seines Vaters halb als Igel und halb als Mensch zur Welt kommt, aber durch die vorbehaltlose Liebe einer Königstochter seine Dunkelgestalt abstreifen kann, wurde Jacob und Wilhelm Grimm am 29.Juni 1813 von Dorothea VIEHMANN, geh. PIERSON (1755 bis 1815), für den zweiten Band der Erstausgabe mitgeteilt und 1815 in den Kinder- und Hausmärchen als Nr. 22 veröffentlicht. Seit der Zweitauflage von 1819 führt es die Nr. 108. Die eindrucksvollsten bildlichen Darstellungen verdanken wir Otto UBBELOHDE (im 2. Band der von ihm illustrierten vollständigen KHM-Ausgabe S. 253, dazu noch zwei weitere Bilder S. 255 und 258: Der Hahnreiter vor den paradierenden Soldaten) und Maurice SENDAK (im 1. Band seiner deutschen KHM-Auswahl S. 25).
2. Ein reicher Bauer wird verspottet, weil er keine Kinder hat. Er verschwört sich: Und sollte es ein Igel sein! Und wirklich bringt seine Frau ein Kind zur Welt, halb ein junge, halb ein Igel. Es wächst auf dem Stroh hinter dem Ofen auf, und es findet sich weder ein Gevatter, noch kann die Mutter es nähren. Dem Vater wäre es am liebsten, wenn der Junge stürbe. Da geschieht etwas Merkwürdiges, das an den Eingang des Märchens von der Schönen und dem Tier erinnert (AT 425 C) und womit auch Das singende springende Löweneckerchen (AT 425 A, KHM 88) beginnt: Der Vater geht auf den Markt und fragt, was er mitbringen solle. Die Mutter braucht dies und das für den Haushalt, die Magd Pantoffeln und Zwickelstrümpfe da meldet sich unerwarteterweise auch der Igel und bittet um einen Dudelsack. Er erhält ihn, bittet den Vater, einen Hahn beschlagen zu lassen, nimmt Schweine und Esel und reitet auf Nimmerwiedersehen fort. Die Herde wird groß, der Vater weiß nichts mehr von ihm, aber Hans 'nein Igel sitzt auf seinem Hahn in einem Baum und spielt wunderschöne Weisen auf dem Dudelsack. Als sich eines Tages ein König in seinen Wald verirrt, zeigt er ihm unter der Bedingung den Weg, daß er ihm gibt, was ihm daheim zuerst begegnet. Das geschieht bald darauf ebenso mit einem zweiten König (und wird gewöhnlich von drei Königen so erzählt). Der Zuhörer weiß schon vorher, daß ihnen zuerst die Töchter begegnen werden. Der erste König steht jedoch nicht zu seinem Wort (in den Dreierfassungen die beiden ersten Könige). Er befiehlt, daß beim Erscheinen von Hans mein Igel auf ihn geschossen, gehauen und gestochen wird. Ganz abgesehen davon, daß seine Tochter keineswegs dazu bereit wäre, das Versprechen des Vaters einzulösen. Der andere König jedoch, dessen Tochter dem Vater zuliebe das gegebene Wort halten will, befiehlt, Hans mein Igel willkommen zu heißen und ins Schloß zu führen.
Doch zuerst muß Hans mein Igel seine große Schweineherde unter Dach und Fach bringen ‑jedenfalls will es der Erzähler Josef HALTRICH SO (vgl. Abschnitt 3). Der Igel treibt die Herde heim, und sein Vater, der gehofft hat, den Igelsohn ganz abschreiben zu können, scheint sich nicht einmal über den Schweinesegen zu freuen. Er läßt den Hahn noch einmal beschlagen und sieht es offenbar recht gern, daß sein Sohn nun wirklich nicht mehr erscheinen will.
Hans mein Igel wird vom ersten König als Feind empfangen. Er fliegt auf des Königs Fenster und droht Vater und Tochter den Tod an. Darauf geben die beiden nach, und Hans fährt mit der Hochmütigen im Wagen fort. Aber unterwegs zieht er ihr die Kleider aus, zersticht sie, bis sie blutig ist, und jagt sie samt ihrem Heiratsgut heim. Die Königstochter des anderen Reiches erschrickt zwar über sein Aussehen, doch heißt sie ihn willkommen und setzt ihn neben sich an die Hochzeitstafel. Als sie zur Schlafkammer gehen, bestellt Hans mein Igel vier Männer, die in der Nacht seine ausgezogene Igelhaut verbrennen (ähnlich wird das Federkleid des Taubenpadischahs in dem türkischen Märchen von Semsi Bani verbrannt, AT 432). Hans mein Igel liegt erlöst von seiner Igelgestalt im Bett, aber kohlschwarz wie verbrannt, er muß gesalbt werden - aber dann ist er weiß und schön. Das Ereignis wird gefeiert, und er erbt das Reich. Und schließlich besucht er mit seiner Frau nicht nur den Vater, sondern nimmt ihn sogar mit heim zu sich in sein Königreich.
3. Ob zu dieser Erzählung ursprünglich ein zweiter Teil gehört, das übertreten eines Gebotes und der bis an die Grenzen des Menschenmöglichen gehende Einsatz der Liebsten des Mannes in Igelgestalt, ist eine offene Frage. Bei Josef HALTRICH (DVSS 44 Das Brstenkind) gibt es einen solchen zweiten Teil . Nachts legt der Königssohn das Borstenkleid ab und trägt seiner Frau auf, Schweigen ZL, bewahren. Sie läßt sich jedoch von ihrer Mutter, die so viel Aufhebens macht um ihr armes, mit einem borstigen Eber verheiratetes Kind, überreden zu erzählen, wie es wirklich um ihren Mann bestellt ist. Am Ende ist sie sogar überzeugt davon,
tut, wenn sie heimlich in der Nacht das Borstenkleid verbrennt. Aber damit zerstört sie die junge, verletzliche Bindung und muß eine Preise bis an das Ende der Welt antreten. Das ist allerdings der voll ausgebaute zweite Teil einer Amor- und Psyche-Erzählung (AT 425 B ‑ Östlich von der Sonne und westlich vom Mond). Obendrein verlangt dieser Teil einen Perspektivenwechsel. Eingang und Fortentwicklung des Märchens vom Igelsohn gründen auf Verwünschung und Austreibung eines Sohnes durch seinen Vater und oft eine überbetonte Mutterbindung. Und so erzählen sie von dem Zu-sich-selbst-Finden eines jungen Mannes. Der zweite Teil des Haltrich‑Märchens vom Borstenkind aber berichtet von der Suchwanderung der sich nun endgültig von Vater und Mutter trennenden jungen Frau. Damit wechselt der zweite Teil über zu einem Märchentyp mit einem Mädchen als Hauptgestalt. Der Perspektivenwechsel aber erwirkt einen Identifikationswechsel. Ob eine solch zweiteilige, durch eine Tabuverletzung bedingte dramatische Struktur einmal die ursprüngliche Zielform des Erzählens gewesen sein könnte (in BASILEs Erzählung Die Schlange wird die Suchwanderung durch ein Kernmotiv des Märchens vom Geliebten in der Vogelgestalt eingeführt, AT 432), oder ob das Igelsohnmärchen ursprünglich nur einteilig aufgebaut war und mit dem Aus-der-Welt-Schaffen der Stachelhaut und damit einer Dunkelgestalt, in die man sich flüchten kann, sein natürliches Ende gefunden hat, läßt sich nicht entscheiden und muß auch nicht entschieden werden. In der ältesten bekannten Fassung ‑ Der verzauberte Brahmanensohn, die im ersten Buch des altindischen Paficatantra steht (es wird auf die Zeit um das Jahr 3oo n. Chr. datiert), einer Fassung freilich, die als Verhaltensbelehrung gestaltet und nicht als Zauber‑
märchen gemeint ist, verbrennt der Vater, nachdem er die Verwandlung seines Tiersohnes beobachtet hat, die Schlangenhaut. Die nächstbekannte Literaturfassung ist in den Ergötzlichen Nächten (im ersten Band von 155o) des venezianischen Renaissance‑Erzählers Gianfrancesco STRAPAROLA nachzulesen ‑ König Schwein.
Hier bricht die junge Frau allerdings das Schweigegebot und verrät der Schwiegermutter, daß sie nicht mit einem wilden Borstentier, sondern mit einem schönen jungen Mann schläft, lädt die Eltern sogar ein, ihre Kammer zu betreten, und der Vater läßt das Borstenfell seines Sohnes in Stücke reißen, ohne daß die Tabuverletzung neues Unheil brächte. Il re porco hat die Überlieferung merklich beeinflußt. Auf STRAPAROLA gründet auch der Baronin d'Aulnoys Erzählung vom Frischling (Le Prince Marcassin). Und da der Baronin d'Aulnoys Märchen sowohl in französischer Sprache als auch in deutschen Übersetzungen hierzulande weit verbreitet waren, sind die entsprechenden Einflüsse verständlicherweise in späteren Fassungen nachzuweisen ‑ z. B. in Johann Wilhelm Wolfs erster Märchensammlung von 1845 (DMS 3: Das wilde Schwein). Daß es bei Josef Haltrich ebenfalls um ein Schwein geht und daß anderseits Hans mein Igel, die Grimmsche Titelgestalt, Hirt und Herr über eine große Herde Schweine ist, kann selbstverständlich auch bedeuten, daß mündliche Überlieferung und literarische Fassungen aus den gleichen Quellen schöpfen.
Die Motivverbindung Hirt in der Igelgestalt und fruchtbare Schweineherde im Wald ist ausgiebig zu belegen: so in der slowenischen oder der litauischen Überlieferung. Else Byhan hat Sin je;~, das Märchen vom Sohn Igel nach der Veröffentlichung in der Zeitschrift Slovenski glasnik von 18 5 9 übersetzt. Da hütet ein von der Mutter in die Igelgestalt verzauberter Sohn die Schweine im Wald, zeigt einem Mann, der sich immer wieder in diesem sonderbaren Wald verirrt, dreimal den Weg hinaus ‑ gegen das Versprechen, ihm eine seiner drei Töchter zur Frau zu geben. Der Ausgang zeigt dann die naheliegende Übereinstimmung mit dem Märchen vom Bärenhäuter auf (AT 361). Die aus dem Land der Auktaiten stammende, 1895 aufgezeichnete Fassung ‑ Von einem Igel und den Herrentöchtern macht es nicht viel anders. Erstens bekommen kinderlose Eltern erst auf ihr in das Stampffaß gesprochene Wort Und sollte es ein Igel sein! ein Kind (eine wunderbare Empfängnis, die besonders in eigentlichen Kindermärchen häufig auftaucht). Und zweitens müssen sich der Reihe nach drei Reiter (Herren, Gutsherren wohl) gegen das Versprechen freikaufen, dem wehrhaften Igel-Herrn über die wütenden Schweine ihre Töchter zur Frau zu geben. Doch während sich der slowenische Igel auf dem Kirchgang zur Hochzeit in einen hübschen jungen Mann verwandelt, muß dem litauischen Igelsohn, auf den Rat der Mutter, in der Hochzeitsnacht die Stachelhaut zerkocht werden. Der Igelsohn als wehrhafter, ja Schrecken verbreitender Hahnreiter ist also in unserem Erzähltyp zu Hause. Die aus der heutigen schottischen Erzählüberlieferung fahrender Leute stammende Fassung Duncan Williamsons, die einen jungen Mann, halb Mensch, halb Schwein, als König über seine Tierherden im weglosen Wald schildert (in den sich sein zukünftiger Schwiegervater verirrt), sollte beim Vergleich ihrer aktuellen Unmittelbarkeit halber nicht außer acht gelassen werden (The hedgehurst, Williamson Fto Tchi).
Die Hinweise, daß hierzulande zahlreiche volkstümliche Darstellungen vom Hahnreiten bekannt sind und Spottlieder von einem reisigen Igel, der gegen einen Leineweber zu Felde zieht, ließe auf Entlehnungen der Erzähler schließen. Aber die Hinweise, die Albrecht Dieterich 1897 zur Geschichte des antiken Theaters, zu griechischen Vasenmalereien, pompejanischen Terrakotten, Maskentanz‑ und Possenreißerdarstellungen und insbesondere zur Volksfigur des Pulcinella im griechischen, oskischen und lateinischen Unteritalien gegeben hat, lassen noch ganz andere, mythologische Hintergründe ahnen, die bis in die große Zeit der Commedia dell'arte reichen, die ihre Spuren ja auch in anderen europäischen Ländern hinterlassen hat. Wir können lediglich festhalten: Die Vorstellungen des Hahnreiters und des gewappneten Igels waren bekannt und den Märchenzuhörern vertraut.
(Aus: Walter Scherf: Das Märchen-Lexikon. Bd. 1. München 1995. S. 564 -568; dort weitere Literatur im Artikel)
1.4.
Interpretation:
Arbeitstext:
Des Igels Menschwerdung
»Wie's nun Abend ward, daß sie wollten schlafen gehen, da fürchtete sie sich sehr vor seinen Stacheln: er aber sprach, sie sollte sich nicht fürchten, es geschähe ihr kein Leid, und sagte zu dem alten König, er sollte vier Mann bestellen, die sollten wachen vor der Kammertüre und ein großes Feuer anmachen, und wann er in die Kammer einginge und sich ins Bett legen wollte, würde er aus seiner Igelshaut heraus kriechen und sie vor dem Bett liegen lassen: dann sollten die Männer hurtig herbeispringen und sie ins Feuer werfen, auch dabei bleiben, bis sie vom Feuer verzehrt wäre.«
Gewiß steht Hans nun schon auf neuem Boden, "den das Zutrauen des Königs und der Prinzessin ihm erschlossen haben, aber es ist dennoch ein nie erprobtes und ungeheures Wagnis, daß er den Entschluß faßt, in der nächsten Nacht, ehe er der Prinzessin begegnet, die Tierhaut abzulegen. Dieser Entschluß kommt genauso aus der Mitte seiner selbst wie jener erste, aus dem Elternhaus auszuziehen. Bei allem, was er an kleinen Wohltaten und Zuwendungen von seiten des Königs und der Prinzessin bis dahin erfahren hat: Damit ist es noch lange nicht getan. Doch fragt sich, ob das Ablegen der Tierhaut je hätte vollzogen werden können ohne die positive Wandlung des Vaterbildes unseres Hans, die durch die Begegnung mit dem zweiten König möglich geworden war. Durch diesen König, der die positive Seite des Vaterbildes in ihm restauriert hatte, wurde die weitere Entwicklung möglich.
Sehr viel Kraft und Entschlossenheit allerdings ist nötig, um die Igelhaut nun wirklich verbrennen züi können. Es bedarf eines großen Feuers und dazu der vier Männer. die den Vorgang ausführen und bewachen. Der Igel galt in Mesopotamien und Zentralasien, gelegentlich auch in Afrika, wegen des sonnenhaften Bildes seiner aufgestellten Stacheln übrigens auch als sonnenhaftes Tier, das mit dem Fetter und damit mit der Zivilisation in Verbindung stand. Hier geht es letztlich auch um die Umwandlung unseres rauhen Igel-Hans in einen »zivilisierten«, einen kultivierten Menschen, der die Tierseite endlich in ein volles Menschsein integriert. An dieser Stelle betont das Märchen ausdrücklich: Niemand anders als Hans selber vermag die Haut, abzulegen. Keiner kann es für ihn tun, und es tut es auch keiner für ihn. Doch kennt er selbst die Gefahr, die Haut wieder zurückholen zu wollen, nachdem er selbst sie abgelegt hat. In einer Variante zu unserem Märchentyp, dem Grimmschen Märchen »Das Eselein«, wird diese Gefahr akut. Hans aber bestellt vier Männer, um sich selbst vor diesem Rückfall zu bewahren. Ausschlaggebend für seinen Mut, die Haut wirklich abzulegen, ist die Beziehung zu der Königstochter: Als sie ihre Angst ausdrückt, vermag er ihr zu sagen, sie brauche sich nicht zu fürchten. Ihr zuliebe vermag er, was eigentlich über seine Kraft geht. Er legt ab, was ihn hinderte, je einem Menschen ganz nahe zu kommen, die Igelhaut. die aber doch zugleich sein einziger Schutz war; er wagt es, sich verwundbar zu machen, schutzlos zu sein, damit Beziehung möglich werden kann ‑ nach der vertrackten Geschichte von Ablehnungen, die sein Leben darstellt. Der Mut unseres Hans, die Igelhaut abzuwerfen - und verwunde er sich selbst dabei ‑, erweist sich zugleich als die Lösung für die Knoten seiner Lebensgeschichte. Gewiß wird ihm diese Tat nur möglich durch die Wärme, ja die Hitze des Feuers, die der Wärme seiner Emotion und seiner Leidenschaft für die Prinzessin entspricht. Schon zu Anfang erfahren wir, daß er zum Überleben Wärme, wenigstens am Ofen, brauchte. Jetzt brennt er selbst, das Feuer ist ein Bild für seine starken Gefühle für diese Frau, die es mit ihm wagt. Doch wenn wir genau lesen, nehmen wir wahr, daß er die Haut ablegt. noch ehe das Feuer angefacht ist. Das mag bedeuten, daß die Geste, die Haut abzuwerfen, als spontane Antwort auf den Mut der Frau zu verstehen ist, die es ins Unbekannte hinein mit ihm riskiert. Er weiß ja besser als sie, daß sie wirklich in Gefahr ist. wenn sie sich auf seine Stacheln, auf das Verletztwerden einläßt. Seine Antwort, noch ehe sie einander nahe gekommen sind, ist der radikale Schritt der Selbstveränderung, um sie damit vor ihm zu schützen. Hans opfert als erster, er bringt die »Vorleistung«, um einen wichtigen Begriff der Friedensbewegung zu verwenden. Er tut den ersten Schritt auf sie zu. Indem er das tut, brennt das Feuer erst richtig auf, erhebt sich die Leidenschaft in ihm, die sein Schutzverhalten auflöst und ablöst. Doch weiß er genau um die Gefahr, wir bedachten es schon, diese Haut womöglich nachträglich doch wieder zurückhaben zu wollen. So zwingt er sich selbst, indem er Zeugen und Mithelfer anstellt, bei seinem Entschluß zu bleiben.
(Aus: Ingrid Riedel: Des Igels Menschwerdung. [Textauszug aus]: Hans mein Igel. Wie ein abgelehntes Kind sein Glück findet. Zürich: Kreuz Verlag 1984. S. 100 - 103.)
Aufgabenstellung:
Erarbeiten Sie die Entwicklung des Hans zum Menschen, wie sie die Autorin erklärt!
2. Ordnen Sie dem Vorgang die entsprechenden phasenspezifischen Verhaltensmodalitäten nach der sozialpsychologischen PSA Eriksons zu! 3. Beschreiben Sie die Auslösesituation und die Endphase der Entwicklung des Hans im Sinne der Deutung Riedels!
*
1.4.
Abschließende Interpretation (in Stichworten)
Zur entwicklungspsychologischen Symptomatik des Märchen-Falls
vom igelhäutigen, entwicklungsgestörten Kind:
Eine Typologie der Krankheitssymptome, der im Märchen überlieferten physischen oder psychischen Krankheitsbilder gibt es nicht; lediglich in der Reifungs- und Ablösungs-Psychologie, in der Analyse der Verdrängungs- und in der Identifikationsproblematik kenne ich eine Anwendung des modernen, realitätsgerechtmedizinischen Blicks auf althergebrachte Vorbilder und Symptome als Übertragung medizinischer und psychologisch/psychiatrischer Begriffe.
Folgende Teilleistungsschwächen und Defizite aufgrund sozial desintegrierender, medizinisch anormaler und/oder psychisch auffälliger Fakten oder häufig nachweisbare oder wahrscheinliche Risiken lassen sich ermitteln für die unterscheidbaren Altersstufen des igelhäutigen Kindes in Abhängigkeit von den umgebenden Faktoren:
Auffälligkeiten/Störungen:
* Hohes Alter der Eltern, besonders der Mutter, als Risikofaktor für die Gesundheit des Kindes in der modernen Medizin erkannt,
* Ablehnung des Kindes durch den Vater (deprivierende Etikettierung
* auffällige Hautprobleme, als atavistische, starke Behaarung oder Verschuppung des Körpers oder großer Flächen (denkbar: Neurodermitis, Hautanomalie)
* Schwierigkeiten beim Stillen, meist Störung der Mutter-Kind-Dyade in der oralen Phase (Spuckkind; Blähungen als Störungen des kindlichen Nahrungsaufnahme und Verdauungsvorgänge oder des Schlafrhythmusses
* Fehlende Elternakzeptanz: Abwehr, Unwillen, Fluch und Verwünschung als langandauernde Stigmatisierung, die eine Entwicklungsstörung beim Kind verursacht
* Entwicklungsstillstand über einige (hier: sieben) Jahre hinweg als Retardation
* Änderung des babyhaften "Einrollens" mit acht Jahren (zu deuten als verspäteter Eintritt in die Entwicklungsstufe des sich bewegenden Kleinkindes, gestörte Einverleibungsprozesse)
* Verhaltensstörungen, soziale Unruhe, altersuntypische Anforderungen an die Eltern als gewährende, liebende Urfiguren
* Manien, Zwänge, Stereotypien in Handlungen statt kreativen Spiels
* Regression in die innere Welt, die Traumwelt; auffällig infantile, psychische Befriedungsmechanismen
* Fixierung, Wahrnehmungsspezialisierung auf klanglich starke Reize, Schwierigkeit der selbstkontrollierten Einübungsformen, der Habitualisierungen
* Begabung für musikalische Phänomene (seltene, als genial eingestufte Fähigkeiten bei äußerer Anregung, bei Förderung vorhandener Kapazität)
* Erprobung, Leistung und Belohnung selbständiger Arbeit außerhalb des Elternhauses als soziales Akzept
* Nachgeholte Reifungsschritte bis zur Adoleszenz
* Erwachsenwerdung in der Suche (= Selbstfindung) und Liebe zur gewährenden, akzeptierenden Frau als Überwindung der eigenen Behinderung (der abstoßenden, gefährdenden "Igelhaut" als Symptom der Introvertiertheit und Aussenseiterrolle) in der Liebesbindung, speziell in der intimen, sexuellen Begegnung als abschließende Bestätigung der Identität und Möglichkeit der Liebesbindung an die gefundene Frau
Eine Zusammenfassung, implizit ein Vergleich mit den früheren Symptomen, (häufig fehlenden) Behandlungsmöglichkeiten und dem erhofften oder imaginierten Glück der Heilung und Erlösung durch Liebe ergibt sich aus den Märchen und läßt sich bis heute als eine besonders qualifizierte, menschenfreundliche Strategie im Umgang mit geistigen oder körperlichen Krankheitsbildern festhalten: eine positive Einstellung dem Nicht-vollendet-Entwickelten gegenüber, die - entgegen einer abschließenden, festlegenden Abqualifizierung des Anormalen - Entwicklungschancen ermöglicht, die auch Wunder, überraschende Wandlungen zeitigt.
Von diesem Märchenhaften können wir uns immer wieder überraschen lassen - als einem Potential des Humanen, einer Liebe und einem - vielleicht wunderbaren - Happy-end.
Exkurs zum Wechselbalg:
Wechselbalg (m.; Wechseling, Wechselbutte, Kielkropf, Kaulkopp).
Als Wechselbalg wird ein der Mutter durch ein dämonisches Wesen untergeschobener bzw. vertauschter Säugling bezeichnet, der sich durch seine Häßlichkeit, Unförmigkeit, Unersättlichkeit und Zurückbleiben in der Entwicklung auszeichnet. Es sind meist die Elementischen, Unterirdische, Wassergeister, Waldfrauen, die sich auf diese Weise eines Menschenkindes bemächtigen, indem sie es gegen das eigene austauschen. Bei Luther heißt es: Wechselbälge und Kielkröpfe legt der Satan an der rechten Kinder Statt, damit die Leute geplaget werden. Etliche Mägde reißet er oftmals ins Wasser, schwängert sie und behält sie bei ihm, bis sie des Kindes genesen, und legt darnach dieselben Kinder in die Wiegen, nimmt die rechten Kinder draus und führet sie weg. Aber solche Wechselbälge sollen, wie man sagt, uber 18 oder 19 Jahre nicht leben." (Tischreden 20.4.1539) Obwohl Luther hier, seiner Tendenz zur Diabolisierung gemäß, den Teufel als Urheber verantwortlich macht, wird deutlich, daß er einen Wassermann meint, der nach der Volksüberlieferung die Kinder austauscht. Wechselbälge sind meist unproportioniert und häßlich und gedeihen trotz ihrer Freßsucht nicht; sie lernen nicht laufen oder sprechen und schreien ständig. Oft ist dies aber nur Verstellung. Die elbischen Wesen vertauschen die Kinder, um über den menschlichen Säugling Anteil an seiner Seele zu erlangen. Der Glaube an den Wechselbalg ist von Skandinavien bis Nordfrankreich und bis Westrußland, d. h. im germanischen und keltischen Bereich verbreitet.
Die größte Gefahr für die Mutter und den Säugling besteht in den ersten sechs Wochen nach der Entbindung. Wie die Wöchnerin bis zu ihrer Aussegnung, so ist auch das Neugeborene in dieser Zeit besonders gefährdet. Mit Amuletten und anderen Schutzmaßnahmen sucht man zu verhindern, daß es von elbischen Wesen, Wassermännern, Zauberern oder Zwergen geraubt und gegen dessen mißtrestaltiges Kind ausgetauscht wird. Man hat den Glauben an den Wechselbalg aus seiner Mißgestalt, der anormalen Körperbildung durch Rachitis, Kretinismus und Hydrocephalle usw. zu erklären versucht. Nach dem Volksglauben kann man sich des Wechselbalgs entledigen, indem man ihn quält oder zum Lachen reizt bzw. ihn dazu bringt, seiner Verwunderung Ausdruck zu geben.
Luther berichtet von einem Wechselbalg, den der Vater wieder seinem Element überantwortet: „In Sachsen, bei Halberstadt, hat ein Mann auch einen Kielkropf gehabt, der seine Mutter und sonst fünf Mumen [Ammen] gar ausgesogen und uber das viel gefressen hatte und seiner seltsam begunnt. Diesem Manne haben die Leute den Rath gegeben, er sollte ihn zur Wallfahrt gen Hockelstadt zur Jungfrau Maria geloben und daselbst wiegen lassen. Diesem folget der Bauer und trägt ihn dahin in einem Korbe. Wie er ihn aber uber ein Wasser trägt und auf dem Stege oder der Brücke gehet, so ist ein Teufel unten im Wasser, der rufet ihm zu, und spricht: Kielekropf, Kielekropf! Da antwortet das Kind, so im Korbe saß und zuvor nie kein Wort geredt hatte: Ho ho!' Deß war der Bauer ungewohnet und sehr erschrocken. Darauf fraget der Teufel im Wasser ferner: Wo willt du hin?' Der Kielekropf sagt: Ich will gen Hockelstadt zu unser heben Frau und mick laten wiegen, dat ick möge gediegen [gedeihen].' Wie solchs der Bauer höret, daß das Wechselkind reden kann, welchs er zuvor nie von ihm vermerkt, wird er zornig und wirft das Kind alsbalde ins Wasser, mit dem Korbe, darinne ers trug. Da waren die zweene Teufel zusammen gefahren, hatten geschrien: Ho ho ha!' mit einander gespielet und sich uberworfen, waren darnach zu gleich verschwunden." Diese Sage wird in verschiedenen Versionen erzählt.
Eine andere Möglichkeit, den Wechselbalg zu erkennen und sich
seiner zu entledigen besteht darin, ihn zum Sprechen zu bringen, indem man ihm etwas zeigt bzw. etwas tut, z. B. Bier in Eierschalen brauen, worüber er sich wundert. Zugleich gibt er dann sein hohes Alter zu erkennen. Dieser Alterspruch' lautet etwa: Ich bin so alt/ wie der Westerwald [Böhmerwald]/ doch ich sehe zum erstenmal/ daß man Bier braut in der Eierschal."
Wenn der Wechselbalg gesprochen hat, kann man ihn entfernen oder die Dämonen holen ihn selbst zurück und tauschen ihn gegen das richtige Kind aus.
Wie lebendig die Vorstellungen vom Wechselbalg im 17. Jh. waren, zeigt ein Prozeß auf Gotland aus dem Jahre 1690, den j. Arens und B. Klintberg mitteilen: „In dem Prozeß angeklagt war ein EIternpaar, das am Weihnachtsabend einen zehnjährigen Sohn auf den Dunghaufen gelegt hatte, woraufhin das Kind erfroren war. Die Eltern glaubten, das Kind sei ein Wechselbalg. Es sollte vertauscht worden sein, als es ein halbes Jahr alt war und die Mutter es mit hinaus aufs Feld genommen hatte. Das Kind war seitdem kränklich gewesen und hatte Tag und Nacht geschrieen, und nur sein Kopf war gewachsen. Man meinte, die unterirdischen Elfen (underbyggarna) hätten das Kind vertauscht. Als es starb, glätteten sich seine verzerrten Gesichtszüge und Glieder, und da glaubten die Eltern, sie hätten ihr eigenes Kind zurückbekommen."
Auf ihre Handlungsweise waren die Eltern durch einen Bootsmann verfallen, der in einem Bauernhof im Kirchspiel drei Erzählungen von Wechselbälgern gehört hatte. (Rig, 1979, S. 89‑97)
(Aus: Leander Petzoldt: Kleines Lexikon der Dämonen und Elementargeister. München 1990. S. 175ff.; dort nähere Literatur)
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